Nebenwirkungen erwünscht – Zu Testzentren, einem Erfahrungsbericht und Nebenwirkungen

Erzählen – Nebenwirkungen – Impfen

Nebenwirkungen erwünscht

Zu Testzentren, einem Erfahrungsbericht und Nebenwirkungen

Plötzlich waren sie in Berlin und Deutschland überall zu finden: Testzentren. Selbst an der Promenade von Steinhude bei Hannover im Restaurant Strandterrassen hatte ein „Covid Servicepoint“ eröffnet. Denn sogar im Café Moorgarten am Schloss Hagenburg des Prinzen von Schaumburg-Lippe wurde ein Antigentest für die Thüringer Bratwurst bzw. die Bewirtung gefordert. Dienstag, den 1. Juni 2021 um die Mittagszeit, hat der Berliner Senat beschlossen, dass ab dem 4. Juni für den Einzelhandel und die Gastronomie kein negatives Testergebnis mehr erforderlich sein werde. Wird ein schnelles, vermutlich lautloses Testzentrensterben einsetzen? Plötzlich sinken die Inzidenzen schneller als erwartet. Spielbetriebe laufen an. Auch für die Berliner Museen ist seit Freitag kein Testergebnis mehr erforderlich.

Die Erzählungen zu den Tests und dem Impfen werden absehbar allmählich versiegen. Nicht nur Berlin, ganz Deutschland und Europa will nach dem 2. Covid-19-Pandemie-Jahr nur noch hinaus in die Freiheit. Die Testzentren versprachen einerseits begrenzte Bewegungsfreiheiten, andererseits sorgten sie für Unfreiheiten, was den Zugang zu Orten und Veranstaltungen betraf. Ein Kontrollinstrument des Infektionsgeschehens waren und sind sie allemal. Lauteten im April 2020 bei der vergleichsweise flachen ersten Welle Anzeigen auf den Tafeln des Verkehrsleitsystems „Mit d. Rad zur Arbeit schützt vor Infektion #FlatenTheCurve“[1] und wurden zu Beginn der zweiten Welle die AHA-Regeln[2] in der ganzen Stadt z.B. mit „Ich will wieder tanzen. Dafür fahre ich jetzt meine Kontakte runter.“ beworben, so sind in der dritten Welle der „Kostenlose Bürgertest“ und die Impfkampagne verhaltensbildend geworden.

Sanktionierte Geschichten in Werbekampagnen, Aufklärungsblättern und Broschüren generieren zeitlich kaum versetzt sogleich alternative Geschichten. Die Covid-19-Pandemie lässt sich insofern als ein einziger narrativer Prozess betrachten, der beständig Geschichten und Gegengeschichten generiert. Der Streit der Fakten spielt in diesen Geschichten eine ebenso große Rolle wie rein empirische Erkenntnisse durch Statistiken oder völlig freie narrative Verkettungen wie das „Pferdeeiweiß“ als Argument gegen eine Impfung mit mRNA-Impfstoffen. Eine wichtige Funktion in den Gegennarrativen zur Impfung nehmen die Nebenwirkungen ein. Was sind eigentlich Nebenwirkungen? Mit welchen Verfahren werden Nebenwirkungen ermittelt? Müssen Nebenwirkungen auftreten?

Bei der Nebenwirkung, die meistens im Plural Nebenwirkungen gebraucht wird, handelt es sich um einen relativ jungen Begriff, der vor allem nach 1946 in Gebrauch kam, wie die Wortverlaufskurve des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache, kurz DWDS zeigt.[3] Dabei sind die Nebenwirkungen nicht begrenzt auf den Bereich von Medikamenten. Vielmehr führt das DWDS Zitate aus dem Bereich der „neuzeitlichen Forstwirtschaft“ von 1948, des Steuerrechts von 1953 oder dem Kapitalmarkt von 2015 an.[4] Nebenwirkungen werden erst in jüngerer Zeit für Medikamente ermittelt und öffentlich breit diskutiert. Im 19. Jahrhundert kommen zwar viele Kombinationen mit der Präposition neben in Gebrauch, aber die Nebenwirkung bleibt seit dem 17. Jahrhundert auf eine vormoderne Natur- und Temperamentenlehre beschränkt, wenn der populär-philosophische Schriftsteller Samuel Butschky in Pathmos schreibt: „aus dem unterschiede des geblüts, temperaments und anderer dinge, so unserer natur, mit ihrer neben-würckung, beispringen.“[5]

Für 2020 und insbesondere 2021 dürfte der Gebrauch der Nebenwirkungen in der Wortverlaufskurve abermals einen steilen Anstieg verzeichnen. Während die Nebenwirkungen breit gefächert in unterschiedlichen Wissensbereichen zwischen Umwelt, Sport und Finanzmarkt verwendet wurden, schnellt ihr Gebrauch nun auf die Nebenwirkungen beim Impfen und der Impfstoffe zusammen. Nebenwirkungen werden im DWDS-Eintrag besonders häufig mit dem Begriff Risiko verwendet.[6] Auch das Adjektiv unerwünscht wird sehr oft mit Nebenwirkungen gebraucht.[7] Damit hat sich seit dem 17. Jahrhundert ein Wertewandel der Nebenwirkung ereignet. Sie wird nun überwiegend als negativ angesehen, während das Beispringen der „neben-würckung“ durchaus noch positiv formuliert war. Nebenwirkungen sollen in der Pharmakologie vermieden werden.[8]

Die Künstlerin, Kalligraphin und Regisseurin Miriam Sachs hat im Mai 2020 als Probandin an der Biontech-Impfstudie in Berlin teilgenommen und ihre Erfahrungen in mehreren Medien z.B. im Kulturmagazin Opus veröffentlicht. Sie hat dafür eine journalistische Form gewählt, um „eine Reihe von Eindrücken und Fragen, von Einblicken in die Details“ mitzuteilen.[9] Die Impfstudie sollte Wissen über die Wirksamkeit und Nebenwirkungen des neuartigen Impfstoffs, der als Comirnaty verabreicht wird, generieren. Die zeitlichen Umstände spielen dabei eine fast noch größere Rolle als die Nebenwirkungen. Eine gewisse Ereignislosigkeit ist der Praxis der Impfstudie zu eigen, die Sachs durchaus bemerkenswert findet. Für den 10. November 2020 notiert sie:
„Mitte Mai 2020 begab ich mich als eine der ersten Freiwilligen in die Corona-Impfstoff-Studie der Firma Biontech. In einer Serie von Artikeln wollte ich hier eigentlich chronologisch von meinen Erfahrungen erzählen – kein Sensationsbericht, eher eine Reihe von Eindrücken und Fragen, von Einblicken in die Details, in denen manchmal die Teufel stecken, selbst wenn im Großen und Ganzen alles gut zu sein scheint. Allerdings ist diese Studie, die beim Initiator, der Bio-Technology-Firma Biontech den Arbeitstitel „Projekt Lichtgeschwindigkeit“ trägt, eine, in der sich Dinge überstürzen: Bereits am 9. November, vor wenigen Tagen, gab Biontech eine Pressekonferenz und die Medien verkündeten den großen Erfolg.“[10]

Die Überstürzung der Dinge als zeitlicher Modus der Impfstudie weckt zumindest eine gewisse Skepsis. Während im Mai 2020 kaum jemand schon einen Impfstoff gegen Sars-Cov-2 für den Herbst und Ende des Jahres erwartete, lief die Impfstudie, die zumindest von den Vorstudien davon ausgehen konnte, dass der Impfstoff erstens nicht tödlich und zweitens gegen das Virus wirksam sein sollte. Man durfte daher davon ausgehen, dass der Testverlauf nicht allzu dramatisch ausfallen sollte. Die Überstürzung der Dinge hat durchaus einen systematischen Vorlauf, der ein Höchstrisiko wenigstens begrenzt. Doch der überaus positive „Arbeitstitel“ weckt Misstrauen, weil nur wenige Menschen und vermutlich Proband*innen „Lichtgeschwindigkeit“ denken und auf ihre Wahrnehmung beziehen können. Schließlich bewegt sich kein Mensch in „Lichtgeschwindigkeit“ und auch kein Virus außer Computer-Viren. Der ambitionierte Arbeitstitel „Projekt Lichtgeschwindigkeit“ musste Unbehagen wecken. So wird die Lichtgeschwindigkeit denn auch zum Schlüsselbegriff im Titel der „Testprobandin“ Miriam Sachs: „Lichtgeschwindigkeit und mit aller Macht“.[11]


Mit anderen Worten: die Macht des Pharmaunternehmens drängte der Probandin eine Geschwindigkeit auf, die sie als eine Art Missbrauch von Macht empfand. Kaum geimpft, passierte nichts oder fast nichts. Kursiert derzeit bei vielen Impfskeptikern die Rede vom Versuchskaninchen – „Ich bin doch kein Versuchskaninchen. Ich lasse mich noch nicht impfen.“ –, wird an den Eindrücken und Einblicken von Miriam Sachs deutlich, wie wenig passiert ist. Wenigstens in einer Art Sanatorium hätte sie sich ihre Teilnahme an der Impf-Studie gewünscht. Stattdessen wurden keine Hotels oder Krankenstationen für die Proband*innen angemietet, sondern gerade einmal „nach der ersten Spritze bleibt man zur Beobachtung auf der Station“. Die „besondere Rolle“ des Probanden ist eher unglamourös.
„Dem Probanden kommt eine besondere Rolle zu, denn überraschenderweise läuft die Studie nicht stationär ab. Probanden schreiben zuhause Tagebuch, notieren Fiebertemperatur und „Events“ wie Nebenwirkungen. Nicht einmal zwischen Corona-Test (der letzten Hürde vor Aufnahme in die Studie) und erster Impfung bleibt man vor Ort.“[12]

Von der Rolle des Probanden gibt es wenig zu erzählen. Das erfüllt die Probandin Miriam Sachs mit einer gewissen Unzufriedenheit und Enttäuschung. Das Tagebuch der „Fiebertemperaturen“ und, wie sie wohl aus der Impfstudie zitiert, der „Events“ bleibt spannungslos. Wenig Stoff zum Erzählen bietet der Impfstoff, obwohl es sich nun wirklich um ein ganz besonderes Stöffchen handelt. Weil die Teilnahme an der Impfstudie derart schnörkellos und undramatisch ausfällt, werden nicht so sehr Nebenwirkungen, sondern Nebenschauplätze aufgesucht wie die mehrfachen Fahrten, offenbar mit einem Motorroller durch die Stadt. Im historischen Sanatorium entwickelte sich wenigstens eine Art Gesprächskultur, wie sie Thomas Mann im Zauberberg verarbeitet hat. Davon ist der Aufenthalt im „Hotelzimmer“ weit entfernt:
„Man bleibt überhaupt für nur eine Nacht. Über der Tür des Doppelzimmers auf der geschlossenen Station hängt ein A4-Ausdruck: „Hotelzimmer” mit Tesa geklebt – täuscht aber kaum drüber hinweg, dass man hier in einem Labortrakt ist – zwar mit Cafeteria, aber in die darf man kaum. Wegen Corona. Im Gegensatz zu den Ärzten, betrachtet mich die Wirtin als potenzielle Covid-19-Patientin. Auch das Doppelzimmer habe ich für mich. In den Gemeinschaftsräumen, ausgestattet mit ein paar Büchern und VHS-Kassetten, ist auch keiner. Dafür kleben überall seltsame rote Gummiblasen, von denen man eher denkt, sie lüden zu lustigen Gesellschaftsspielen ein und würden ein Quietschen von sich geben, wenn man sie drückt. Gerne würde ich, drücke aber nicht. Alarmknöpfe sind es, falls was ist.“[13]

Die Motivation zur Teilnahme an der Impfstudie beschreibt Sachs als „Ohn-Macht des Lockdowns“ im April 2020. Insofern geht es für sie von vornherein um Machtverhältnisse im Lockdown. Sie fühlt sich ohne Macht über ihre Lebenspraxis, in die sie der erste, gleichwohl massivste Lockdown versetzt hatte. Seither hatte sich nicht zuletzt die Praxis des Lockdowns weiter ausdifferenziert. Der #FlattenTheCurve wurde in der Weise nicht wieder gebraucht. Stattdessen eben AHA, Impfkampagne und Testzentren. Dabei ging es auch darum, sich nicht mehr ganz so ohnmächtig gegenüber dem pandemischen Virus und den Maßnahmen zu fühlen. Der erste Lockdown stellte nicht nur auf bis zuvor unbekannte Weise die Machtfrage, er ging vielmehr einher mit einer radikalen Sinnfrage. Wie ließ sich die Sinnlosigkeit des Lebens im Lockdown abfedern? Die „Studie“ bot da offenbar eine Antwort. Die „Fieberträume“ und die „neuartige(n) Kopfschmerzen“ als Nebenwirkungen der „beiden Impfspritzen“ stiften im Probandentagebuch scheinbar Sinn – und bleiben dennoch folgenlos.
„Ich hatte mich in die Studie begeben, weil ich die Ohn-Macht des Lockdowns unerträglich fand. In die Abgeschiedenheit einer Studie wollte ich mich begeben, weil es wichtig schien. Weil ich dachte: Wenn schon Lockdown, dann richtig. Ich habe fleißig Probandentagebuch geführt, Fieberträume, Schüttelfrost und neuartige Kopfschmerzen notiert, die ich erst seit den beiden Impfspritzen kenne.“[14]

Am „Probandentagebuch“ und dem freimütigen Erfahrungsbericht von Miriam Sachs wird in dem Spiel der Mächte nicht zuletzt die Genese von Nebenwirkungen lesbar. Der redaktionelle Vorspann kündigt „den Erfahrungsbericht“ als „selbstlos(es) und mutig(es)“ Opfer der „Probandin“ an, die sich „im Rahmen des Testverfahrens des Pionierunternehmens Biontech zur Entwicklung eines wirksamen Serums gegen den Coronavirus eingebracht hat“.[15] Da es allerdings nach eigener Beschreibung vor allem um die Frage von Macht und Ohnmacht in dem Bericht geht, war die Teilnahme vielleicht nicht ganz so „selbstlos“, sondern verfing sich von vornherein im Selbst, das durch Aufgabe der Macht über seinen Körper eine neuartige Handlungsmacht erlangen wollte. Das mag legitim sein, spielt allerdings deutlich in die Nebenwirkungen hinein, die narrativ mit dem Wunsch verknüpft werden, dass diese nicht ganz sinnlos oder umsonst gewesen sein mögen.

Mit den mRNA-Impfstoffen geht es um ein genetisches Informationsmodell, das an Künstliche Intelligenz erinnern kann. Denn es werden mit dem Impfstoff Informationen in den Körper injiziert, die selbstständig in den Genen arbeiten und das Virus erkennen sollen. Miriam Sachs beschreibt diesen Vorgang mit dem des Entpackens – „ins Innere meiner Zellen geschleuste Pakete voll genetischer Information entpacken“ -, der üblicher Weise für ZIP-Dateien gebraucht wird. Mit dem ZIP-Dateiformat werden größere Dateien komprimiert, um sie zu versenden und nach Empfang zu dekomprimieren oder zu entpacken. Doch auch Computer-Viren können „entpack(t)“ werden und das Laufwerk beschädigen oder zerstören. Ganz so weit geht Biontech mit seiner Formulierung der mRNA-Impfstoffe nicht, denn diese „enthalten Informationen aus der mRNA, darunter den „Bauplan“ oder Code eines bestimmten Virusmerkmals (Virusantigen)“. Vielmehr „kann der Körper dieses Antigen (mit den Informationen) selbst produzieren: Die mRNA überträgt die Informationen für die Produktion des Antigens an unsere Zellmaschinerie, die Proteine herstellt“.[16] Gleichwohl benutzt das Pharmaunternehmen hier den Begriff „unsere Zellmaschinerie“, womit ein maschinelles Informationsmodell für den menschlichen Körper evoziert wird. In der Formulierung von Miriam Sachs wird allerdings ein Unterschied zwischen „meinem Körper“, das „Innere meiner Zeller“ und den „eingeschleuste(n) Pakete(n) voll genetischer Informationen“ gemacht.
„In meinem Körper müssten sich jetzt kleine, ins Innere meiner Zellen geschleuste Pakete voll genetischer Information entpacken. Es ist kein klassischer Impfstoff, den ich bekommen habe, sondern der genetische Bauplan, um etwas, das dem Virus ähnelt, selbst zu produzieren.“[17]

Der Erfahrungsbericht von Miriam Sachs ist ein außerordentlich wichtiges Zeugnis der Narrative zur Covid-19-Pandemie, mRNA-Impfstoffe und der Nebenwirkungen, das medial mehrfach be- und verarbeitet worden ist. Bereits am 20. Juni 2020 hatte sie in der taz den Bericht Das Labor bin ich veröffentlicht.[18] In diesem früheren Erfahrungsbericht wird weniger offen die Frage der Macht und Ohnmacht thematisiert. Sachs befand sich mitten in der Studie, die erst im November 2020 beendet werden sollte. Dass die Erfahrungsberichte durchaus mit Lektüren und Re-Lektüren von Literaturen arbeiten, wird beispielsweise mit dem Wort „Zauberberg“ lesbar. Das Sanatorium Schatzalp aus dem Roman Der Zauberberg von Thomas Mann wird zur Referenz für die Überprüfung der „eigenen“ Wirklichkeit.
Heute ist die Informationsveranstaltung. Der Gebäudekomplex des Prüfinstituts wirkt wie ein verlassener Zauberberg. Keiner da? Ein anderer Probandenbewerber kommt und zeigt mir eine kleine Tür neben dem eigentlichen Drehtürenportal. „Werkschutz“ steht auf der Klingel. Der Pförtner ist kaum zu sehen hinter der verspiegelten Fensterwand. Einzeln eintreten. Ausweis zeigen.[19]

Im Unterschied zum literarisch beredten Zauberberg-Roman „wirkt“ der „Gebäudekomplex des Prüfinstituts“ verlassen und unheimlich, was Skepsis weckt und wecken soll. Denn die Skepsis lässt sich nicht zuletzt als eine Rhetorik der Kritik verstehen. Die Skepsis der Probandin erscheint angesichts der anonymen und gesichtslosen Kontrollen hinter einer „verspiegelten Fensterwand“ berechtigt. Das „Prüfinstitut“ wird zu einer undurchschaubaren Macht, obwohl oder gerade weil dort eine „Informationsveranstaltung“ stattfinden soll. Welche Informationen genau gegeben wurden, wird nicht verraten. Da könnten sich die Leser*innen mehr Offenheit wünschen. Doch es ist exakt dieses Spiel von Informationen und ihrem Verschweigen, die narrativ eine Spannung und Kritik herstellt. Man soll mehr wissen wollen, wird aber stattdessen auf eine „verspiegelte() Fensterwand“ zurückgeworfen, die undurchschaubar ist und stattdessen den „Ausweis“ zur Identifizierung einfordert, was sich als ultimative Geste der Macht verstehen lässt.

Die Impfstudie mit dem spektakulären Arbeitstitel erweist sich als ein stark formalisierter Prozess, der sich einzig und allein in der Geschwindigkeit der Entwicklung von anderen Studien zur Verträglichkeit eines Medikamentes unterscheidet. Das ist enttäuschend. Trotz der enormen Dringlichkeit und Neuartigkeit des Virus findet alles mit einer gewissen Routine statt. Der „andere() Probandenbewerber“ kennt sich anscheinend mit der „kleine(n) Tür“ aus. Sie ist kein Geheimnis, obwohl sie zum „eigentlichen Drehtürenportal“ wie eine Nebentür erscheinen muss. Die Hauptzugänge und die Nebentür, die Wirkung und die Nebenwirkungen, die Informationen und die Nebenschauplätze erhalten in der Erzählung eine besondere Funktion. Die kritische Journalistin interessiert sich weniger für Hauptsachen als vielmehr für die opaken Nebensachen, die sich weniger erschließen lassen. Die Skepsis fokussiert sich insbesondere auf eine Art Nebenwissen, das sich anscheinend hinter dem bereits generierten informationellen Wissen von der Wirkungsweise des mRNA-Impfstoffs verbirgt.

Miriam Sachs berichtet nichts Falsches. Ihre Skepsis wird nicht einfach durch Fake-News aufgefangen und gesteigert. Allerdings muss sie sich von Anfang an selbst und gerade im Format Tagebuch für ein Narrativ entscheiden, das sich neben den Erzählmodellen der „Informationsveranstaltung“ situiert. Aus dieser Haltung eines Neben wird ein skeptisches Wissen generiert, das elastisch und opak bleibt. „Fieberträume“ und „neuartige Kopfschmerzen“ lassen sich schwer verifizieren. Wann wird ein Traum zum Fiebertraum? Und wovon handelt ein Fiebertraum bei ohnehin schwer zugänglichen und erzählbaren Träumen? Nicht umsonst gibt es eine facettenreiche Traumforschung. Ebenso schwer lassen sich „neuartige Kopfschmerzen“ verifizieren. Vielleicht müsste man sie genauer beschreiben? Die Nebenwirkungen, die Sachs mehr benennt als beschreibt, sollten als Wissen zur Verträglichkeit nicht unterdrückt werden. Aber sie bleiben eben äußerst elastisch und narrativ hochvernetzt, so dass sich physiologisch schwer eine Kausalität messen lässt.

Müssen Nebenwirkungen als Regel auftreten? Zu den Nebenwirkungen von Astrazeneca wird mir am Telefon von der Kollegin meiner Gesprächspartnerin mitgeteilt, dass jene „Blitze“ in ihrem Körper gespürt und gesehen habe. Freunde, die sich mit dem Impfstoff versorgen ließen, konnten von keinen Blitzen oder anderen gravierenden nur Nebenwirkungen berichten. Astrazeneca ist schlechthin eine Namensfindung und sinnfreie Kombination aus Astra und zeneca. Dennoch assoziiert sich Astra gern mit der Redewendung „Per aspera ad astra“, die sich als „Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen“ übersetzen lässt. Sterne blitzen zwar nicht, trotzdem lassen sie sich im Körper mit Blitzen verknüpfen und traumgleich empfinden. Die empfundenen Nebenwirkungen sollen nicht geleugnet werden. Jedem Impfling sollen seine Nebenwirkungen freigestellt bleiben. Denn das wirkliche Problem liegt darin, wenn nach allen Erzählungen und Warnungen kaum eine Nebenwirkung zu spüren ist. Irgendetwas muss „ich“ doch spüren, damit ich etwas von meinem Körper und dem Impfstoff weiß und erzählen kann.

Das Ich ist als Selbst hoch verwickelt in die Impfung des Körpers. Der Körper gehört zur Selbstwahrnehmung. Ich will wissen, was dem Körper guttut oder nicht. Diese Selbstwahrnehmung gehört nicht zuletzt zu einer europäischen oder westlichen Selbstpraxis. Doch beispielsweise auch in der Volksrepublik China wollen sich viele Menschen nicht impfen lassen, weil sie Bedenken haben. Impfungen treffen auf unterschiedliche Wissensformationen und Narrative vom Menschen und sich selbst, die diverse Nebenwirkungen hervorbringen können. So berichtete mir ein befreundeter Fachmediziner, dass er sicher gehen wollte, ob sein Körper durch die Impfung mit einem mRNA-Impfstoff Antigene produziert habe. Nebenwirkungen hatte er keine gespürt. Der Antigen-Schnelltest misst jedoch ein anderes Antigen, so dass erst ein PCR-Test dem Arzt Gewissheit darüber verschaffen konnte, dass er wirklich immun gegen Sars-Cov-2 ist. – Spanien hat nun den PCR-Test als Voraussetzung für die Einreise ausgesetzt. Laut Auswärtigem Amt werden „(m)it Wirkung vom 7. Juni 2021 (…) auch die in der Europäischen Union anerkannten Antigen-Tests (sog. „Schnelltests“) mit einem negativen Testergebnis akzeptiert“.[20]

Torsten Flüh


[1] Siehe vor allem die Fotos in: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[2] Siehe vor allem die Fotos in: Torsten Flüh: Unfassbar traumhaft. Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman Paul Celan und der chinesische Engel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. November 2020.

[3] DWDS: Nebenwirkung, die

[4] Ebenda Beispiele.

[5] Nebenwirkung in Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm Bd. 13, Sp. 510.

[6] Typische Verbindungen zu >Nebenwirkung<. In: DWDS: Nebenwirkung … [wie Anm. 3].

[7] Ebenda.

[8] Nebenwirkungen wurden bereits in der folgenden Besprechung thematisiert und berücksichtigt: Torsten Flüh: Besserwisser und Neunmalkluge. Zur Mosse-Lecture Die Besserwisser. Wissenschaftsskepsis, Verschwörungsdenken und die Erosion der Wirklichkeit von Eva Horn. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Mai 2021.

[9] Miriam Sachs: Lichtgeschwindigkeit und mit aller Macht – Erfahrungen einer Testprobandin für ein Corona-Serum. In: Opus 20.11.2020.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

[12] Ebenda.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda.

[16] mRNA-Impfstoffe zur Bekämpfung der COVID-19 Pandemie. In: Biontech.

[17] Miriam Sachs: Lichtgeschwindigkeit … [wie Anm. 9]

[18] Miriam Sachs: Das Labor bin ich. In: taz 20.06.2020.

[19] Kursiv im Original, ebenda.

[20] Spanien: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Teilreisewarnung). In: Auswärtiges Amt 5. Juni 2021.

Körperschlachten

Körper – Zauberberg – Livestreaming

Körperschlachten

Zu Sebastian Hartmanns Der Zauberberg beim digitalen Theatertreffen 2021

Der Schnee knirscht unter den Schritten im Hochgebirge über den Livestream. Schneebedeckte Gipfel. Gestalten schälen sich aus dem Bild geisterhaft hervor. Bildüberlagerungen. Im Live-Fenster werden immer mehr, bald „1.0K“ Teilnehmer*innen angezeigt. Volles Haus. Yvonne Büdenholzer meldet sich aus dem Haus der Berliner Festspiele, um sich für die Verzögerung des Beginns zu entschuldigen. Livestream gehe nicht einfach von selbst, vielmehr machten ihn Menschen, Techniker*innen möglich. Sebastian Hartmanns Inszenierung von Der Zauberberg hatte am 20. November 2020 wegen des zweiten Lockdowns im Deutschen Theater ohne Publikum Premiere. Der Livestream wurde im Lockdown eine Möglichkeit und Herausforderung für eine neuartige, pandemiebedingte Ästhetik auf höchstem Niveau. Nun fand im dritten Lockdown gar das Theatertreffen ausschließlich digital statt.

Im Livestream sind die Körper der Schauspieler*innen, Bühnentechniker*innen und Maskenbilder*innen präsent – und sind es auch wieder nicht. Sie sind (nur) nanosekundenschnelle Lichtsignale von Körpern, die durch Glasfaserkabel gejagt werden. Darüber hinaus werden die Stimmen aus den Körpern elektronisch verzehrt. Die Körper werden durch die Regie der Livekameras überlagert, überbelichtet und im Wechsel der Handkameraeinstellungen überspielt. Die Körper sind live da. Die Bildschirmbilder gibt es nicht ohne sie. An meinem Laptop sind die Körper auf der Bühne des Großen Hauses im Deutschen Theater gut 3.300 Meter entfernt von mir. Um Zeit und Körper geht es Thomas Mann in einem Zitat aus dem Zauberberg-Roman, an das Sebastian Hartmann mit seiner Inszenierung anknüpft. Plötzlich – eingefrorenes Bild – gibt es keine Lichtsignale mehr: „Live-Streaming offline“.

Ebenso wie Der Zauberberg von Thomas Mann eine Erzählung vom Bürgertum im Roman-Format ist, repräsentieren die samtenen Sitzreihen wie seidenen Wandbespannungen in Karmesinrot im Parkett und den Rängen, die Goldverzierungen, der Kronleuchter und die Logen des Deutschen Theaters in der Architektur von 1912 das Bürgertum als Selbstkonstruktion. Der Tuberkulose-Aufenthalt Hans Castorfs im Sanatorium Schatzalp um 1913 in Davos liegt ästhetisch in allernächster Nähe zum Zuschauerraum des Großen Hauses in der Schumannstraße.[1] Im fortgeschrittenen Verlauf des Lifestreams – Ist das noch Theater? – sitzen die Schauspieler*innen irgendwann in den ersten Reihen des Parketts vor der Ton-, Bild- und Lichtregie (Licht Lothar Baumgarte, Livestream Bildregie Jan Speckenbach, Ton Marcel Braun, Eric Markert) und blicken auf die Bühne in die Kameras – oder auch ins Leere.

Roman und Theater lassen sich gerade im Deutschen Theater als bürgerliche Konstruktion exemplarisch zertrümmern. Konstruktionen bieten meist einen fragwürdigen Halt, womit Sebastian Hartmann nicht erst im November 2020 einen Bogen zu den Fragen aufwirft, die sich mit einer neuen Dringlichkeit und beängstigenden Nähe in der Covid-19-Pandemie stellen. Das Bürgertum erodiert schon in der erzählten Tuberkulose-Wirklichkeit des Hochgebirges. Was erzählerisch 1913 beginnt, wird bei der Romanveröffentlichung 1924 Geschichte geworden sein. Danach folgt der lange, oft verzweifelte Abgesang des Bürgertums auf sich selbst. Bei Sebastian Hartmann wird die Theaterbühne in ihrer Mechanik und Technizität von innen heraus permanent in Szene gesetzt, enthüllt und zertrümmert. Seine Inszenierung funktioniert nicht mehr als Stück auf der Theaterbühne, wie ein Freund am Telefon – „… aber das steht doch wieder im Spielplan …“ – nachdrücklich behauptet und sich wünscht. Die Rückkehr zur eingeübten Konstruktion als Rettungswunsch.

Theaterbühnentechnisch wird unter anderem mit einer Stahlkonstruktion in der Bühnenmitte, von der es ein Geheimnis bleibt, wozu sie gebraucht wird oder was sie nützen soll, aufgefahren und in Bewegung gesetzt, was möglich ist. Unter anderem wird die Drehbühne in Bewegung gesetzt, die für verschiedene Zeit-Modelle auf dem Theater eingesetzt wird. Ohne sich fortzubewegen können Schauspieler*innen beispielsweise viel Strecke zurücklegen. Bereits in der Eröffnungssequenz fahren zwei Bühnenarbeiter auf zwei hydraulischen Hebebühnen zur Stahlkonstruktion, um an ihr außerhalb des Sichtbereichs zu schrauben und montieren. Die Stahlkonstruktion wird während der gesamten Spielzeit keine andere Funktion einnehmen, als in beeindruckender Größe da zu stehen und auf der Drehbühne gedreht zu werden. Sebastian Hartmann hat nicht nur Regie geführt, er hat ebenso die Bühne entworfen mit der Stahlkonstruktion für nichts.    

Die Stahlkonstruktion könnte auch einen Wink auf die Frage der Zeit geben. Allerdings ist sie weit entfernt, eine Uhr oder ein Metronom zur Zeitmessung zu sein. Mechanische Uhren bilden eine Art Scharnier zwischen höfischer Kultur und Bürgertum.[2] Und das Metronom verändert die nicht zuletzt bürgerliche Musikpraxis am Klavier seit Ludwig van Beethoven und der Zeit um 1800 durchgreifend.[3] So knüpft denn Sebastian Hartmann für sein Zauberberg-Projekt an Thomas Manns Zeitfrage im Zauberberg an: „Was ist die Zeit?“ Lässt sich die Frage so formuliert überhaupt beantworten? Die Zeitfrage bricht für Thomas Mann mit einer Reprise auf Richard Wagner auf. Im Parsifal formuliert Wagner um 1880 das Gralsgeheimnis mit: „Zum Raum wird hier die Zeit.“ Im Mann-Zitat heißt es dann gut 40 Jahre später als Antwort und Fragestellungen:
„Ein Geheimnis, wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Die Zeit ist identisch, sie hat verbale Beschaffenheit, sie ‚zeitigt’. Was zeitigt sie denn? Veränderung!“[4]

Das längere Zitat über die Zeit, an das Sebastian Hartmann mit seiner Inszenierung andockt, wird eher hastig von einer namenlosen Figur gesprochen. Denn es gibt keine Rollen oder Personen in dem Stück, wenn man es denn noch ein Theaterstück nennen will. Es gibt Text, der von unterschiedlichen Schauspieler*innen gesprochen wird. Kaum wird die „Veränderung“ mit einem Ausrufezeichen durch das Zeitigen gefunden und ausgesprochen, dreht sich das Fundstück schon wieder im Kreis und verfängt sich im Paradox von Unendlichkeit und „Nebeneinander“, von Differenz und Angleichung.
„Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit misst, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstrengung nicht vorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu ‚denken‘, in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismäßige Reduzierung auf Null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander?“[5]

Man könnte sich darüber streiten, ob die Inszenierung nur auf die Medialität des Livestreams „zugeschnitten“ worden ist und eine Premiere mit Zuschauern wie angekündigt 2021 wirklich stattfinden sollte. Die Zeitumstände, nicht zuletzt die Zeit-Raum-Eingrenzungspraxis des Lockdowns haben aus der Inszenierung selbst mit der Gefahr eines Live-Streaming-Abbruchs anderes und womöglich gar intensiveres gemacht, als die Raum-Zeit-Konstruktion Theater mit Zuschauerraum und Bühne bieten kann. Im Lockdown sollten Bewegungen z.B. im Stadtraum vermieden werden. Zeit türmte sich für so manchen plötzlich endlos im Wohnzimmer und musste mit riesigen Bildschirmen angefüllt werden. Gut, die Theatermaschinerie bzw. das Theater als Maschine von wiederholten Aufführungen über Jahre hinweg fordert Präsenzaufführungen. Aber der Livestream vom 22. Mai 2021 20:00 Uhr während des Theatertreffens beanspruchte eine Singularität, selbst wenn er aufgezeichnet worden sein sollte.

In dem Maße wie die Frage der Zeit gestellt und medial bearbeitet wird, beansprucht sie eine gewisse Radikalität im Live-Streaming. Das bürgerliche Theater mit seinem Anspruch auf Einmaligkeit und zugleich Wiederholbarkeit hat die Zeitfrage immer auch überspielt. Im Interview sagt Hartmann, dass man das nicht narrative Theater, das er mit seinen Schauspieler*innen erarbeite, „wohl postdramatisch“ nenne. Live-Streaming ist postdramatischer als eine Theateraufführung mit Publikum im Zuschauerraum. Die Inszenierung gewinnt enorm durch ihr Live-Streaming, weil es gar kein Ersatz für ein Theatererlebnis im Zuschauerraum sein kann und eben dadurch die alten Konstruktionen freilegt, zu denen sich wohl eher ältere Zuschauer*innen zurückzukehren wünschen. Der wiederholte Lockdown während der Pandemie, der durch das Verhalten der vermeintlich vernunftbegabten Menschen hätte verhindert werden können, provozierte insofern einen medialen Bruch, der auf schmerzliche Weise an die Konstruktion der Theaterwirklichkeit erinnert.

Das Verhältnis zum Text und Textmaterial verändert sich im postdramatischen und nicht narrativen Theater. Dieses wird durch die Visualität des Livestreams verstärkt. Hartmann meidet die direkte Kombination von narrativem Zauberberg und Covid-19-Pandemie-Diskurs. Seine Inszenierung lässt sich dennoch als ein Kommentar auf die Fragen der Pandemie wahrnehmen. Die Frage, was es heiße, einen Körper zu haben, wird ebenso angeschnitten und performt wie die nach dem Geist. Der Geist als conditio humana hat sich unterdessen in die Parameter der Neurowissenschaften verflüchtigt. Die Vermessung des Körpers mit dem geradewegs rituellen, die Zeit strukturierenden Fiebermessen auf der Schatzalp wirft aktuell ständig die Erinnerung an die Antigen-Tests vor jedem Theater-, Konzert-, Restaurant- und Baumarktbesuch etc. aus. Um den Körper herzustellen wie zu zähmen, wird er einem Regime des Messens unterworfen. Dass das Negativ-Ergebnis dann nur 24 Stunden gilt, bevor ein erneuter Test die Negativität bestätigen muss, bringt die vermessene Zeit wiederum ins Spiel. Erzählen lässt sich von derartigen Ritualen kaum, weil sie ohne Dramatisierung seltsam leer bleiben.

Die Körper werden von Adriana Braga Peretzki in weiße Watte verpackt, was mancherlei Assoziationen freisetzt. Denn einen Körper in Watte packen, soll ihn einerseits schützen. Andererseits werden die Körper dadurch deformiert. Wattebrüste werden geschwungen, als sollten sie andere schlagen, wenn nicht gar erschlagen. Die weißen Masken und wattierten Körper bringen beispielsweise im Licht der Nahaufnahme die Gesichter fast zum Verschwinden, reduzieren sie auf Mund und Augen. Was ist der Mensch, wenn durch die drei Livestream-Kameras (Marlene Blumert, Max Hohendahl, Dorian Sorg) Gesichtszüge gespenstisch aufgelöst werden. In einer späteren Sequenz setzen zwei in weißen Gardinenkleidern spielende Schauspieler wiederholt Akkuschrauber an einen Schauspielerkörper, der sich wie eine Marionette – oder eine Maschine – bewegt. Mit der Frage nach dem Menschen, die Thomas Mann anders formuliert, kommt heute sofort das Posthumane ins Spiel. Es sind szenische Diskursfetzen, die die Geschichte vermeiden und doch ständig zum Erzählen anstacheln.

Die Maschine oder der Körper als Maschine sind nicht zuletzt Redewendungen unter jungen Männern in der kapitalistischen Verwertung von Menschen- wie Arbeitskraft geworden. Im Fitnessstudio werden die Körper zu Maschinen im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit und wirtschaftlichen Erfolg geformt und transformiert. Eine Maschine zu „sein“ und wie eine Maschine arbeiten zu können, wird durchaus als Erfolgsmodell angewendet. Das Heroische hat sich in ein Maschinennarrativ verwandelt. Hartmanns Text- und Bildinszenierungen im Zauberberg bleiben so offen, dass sie nicht zuletzt im Livestream derartige Assoziationen zulassen. Der Maschinenkörper als Befreiungsnarrativ und Schrecken reicht zurück bis zu L’Homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie.[6] Anders gesagt: Sebastian Hartmann kommt mit seinen Fragen aus dem Zauberberg nicht vorbei am Maschinenparadox von Befreiung durch totale Kontrolle, wenn es um die Frage des Körpers geht. Maschinenkörper bedürfen einer strengen Diät, die bisweilen mit Arzneimittelmissbrauch unterstützt wird, um es einmal so zu sagen. Nebenwirkungen wie eine abführende Wirkung beim Schmerzmittel Tilidin werden durchaus erwünscht.

Was erwartet uns jenseits vom Erzählzwang, wie ihn nicht zuletzt die Psychoanalyse um 1900 hervorgebracht hat? Thomas Manns Roman Der Zauberberg lässt sich nicht zuletzt als eine große Erzählmaschine gegen die Schrecken der Tuberkulose-Pandemie lesen. Mehr noch als die Relativitätstheorie, die Hartmann im Interview ins Spiel bringt, wird im Hochgebirge gegen das Trauma der Pandemie an erzählt. Wie bei Hartmann wird ganz oben bei den Fragen nach der Zeit angesetzt, um in den Niederungen der Kriegsrhetorik und -handlungen anzukommen. Hartmann spricht nicht von Niederungen, sondern einer Dynamik, in die Körper hineingeraten. Immer mit dem feinen Bedenken, dass es um das Erzählen und nicht einfach die Körper im Krieg geht. Die Diskursfetzen lassen sich endlos aneinander montieren. Sie bilden keine Geschichte. Insofern ist der Abbruch durch „Live-Streaming offline“ konsequent. Kein Schluss, kein Höhepunkt, kein Applaus, sondern ein technischer Abbruch mitten in der Nahaufnahme eines weiß geschminkten Gesichts.

Natürlich ist der Abbruch ein für Theaterleute höchst unbefriedigender Modus des Endes. Der Abbruch ist in den Ruinen des bürgerlichen Theaters nicht vorgesehen. Reaktionen aus dem Publikum, wie Hartmann im Interview sagt, sind erwünscht, weil Schauspieler*innen damit spielen könnten. Die Eigensinnigkeit des Theaters kennt vielerlei Reaktionsmechanismen, die selbst im postdramatischen Theater immer noch mit dem bürgerlichen Theater verkoppelt sind. Da muss es doch irgendwie noch möglich sein, eine Reaktion im Publikum zu erzeugen… Die Radikalität eines Abbruchs im Live-Streaming lässt dafür keine Schlupflöcher mehr. Wenn überhaupt, dann prallen die Reaktionen als Beschimpfungen – Mist! … – am Bildschirm ab und kommen niemals beim Schauspieler an.

Die Schauspieler*innen – Elias Arens, Manuel Harder, Markwart Müller-Elmau, Linda Pöppel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege, Niklas Wetzel – werden in Der Zauberberg zu Akrobaten des Sprechens, was vielleicht eine etwas antiquierte Formulierung ist, weil sie nach frühem 20. Jahrhundert klingt. Doch die fein trainierte Muskulatur der Gefühle im Dramatext soll hier gar nicht erst angesprochen werden. Die Schauspieler*innen wuchten ihre wattierten Körper über die Bühne, stürzen und raffen sich auf. Sie vollführen Sprechakte an der Grenze der Sprache und lassen ihre Stimmen überschlagen. Es wird geschrien, gepoltert, gerattert und hastig gesprochen, als gelte es, Höchstleistungen auf dem Drahtseil der Sprache über dem Abgrund zu vollführen. Der nicht narrative Text bleibt nackt. Die Tiefe wird zur Leere, was visuell häufig mit einer Naheinstellung kombiniert wird. In den akrobatischen Sprechleistungen blitzt die Perfektion der Maschine auf.

Zu einer Zeit, in der zumindest in Deutschland eine freundliche und empathische Sprechweise – jedes gesprochene Wort, jedes Lächeln soll Verständnis signalisieren – gesellschaftlich sanktioniert wird, ist die Sprechakrobatik der Schauspieler*innen wenigstens eine extreme Herausforderung in sprechtechnischer, wenn nicht psychischer Hinsicht. Natürlich haben sich Formen emotionalen Widerrede und gar Hassrede während der Pandemie verbreitet, die oft Geschichten herstellen, wenn es sie nicht gibt. Doch die vorherrschende Sprechweise wurde nicht zuletzt vom Deutschen Ethikrat und seiner Vorsitzenden Alena Buyx in den Medien geprägt.[7] Wie gesprochen wird, ist fast noch wichtiger geworden als eine Vermittlung von Wissen. Hartmanns Schauspieler*innen und Inszenierung halten in gewisser Weise dagegen.

Torsten Flüh    

PS: Wo genau das Live-Streaming abgebrochen wurde ließ sich nicht klären. Andere Teilnehmer*innen berichten von einem vollständigen Streaming. Wie die Fotos des Bildschirms zeigen, gab es zumindest über Vimeo eine dem Berichterstatter sonst nicht bekannte Anzeige. Ein Refresh der Seite führte zu keiner Fortsetzung.

Theatertreffen 2021


[1] Zum Roman Der Zauberberg, dem Sanatorium und zur Tuberkulose vgl. auch: Torsten Flüh: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[2] Vgl. zur Uhr über dem Proszenium in der Semperoper: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum – Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[3] Vgl. zum Metronom und zur Metronomisierung: Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[4] Zitiert nach Deutsches Theater: Der Zauberberg Hartmann.

[5] Ebenda.

[6] Siehe dazu: Torsten Flüh: Der Geist der Maschine. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2020.

[7] Vgl. zur Funktion des Deutschen Ethikrats während der Covid-19-Pandemie auch: Torsten Flüh: Besserwisser und Neunmalkluge. Zur Mosse-Lecture Die Besserwisser. Wissenschaftsskepsis, Verschwörungsdenken und die Erosion der Wirklichkeit von Eva Horn. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Mai 2021.

Zäsur der Trauer

Buch – AIDS – Trauer

Zäsur der Trauer

Zu ADIEU, einem Bildband des Hamburger Photographen Chris Lambertsen

ADIEU ist kein Buch geworden, das sich einfach an eine Reihe von Rezensent*innen schicken ließe, damit es für den Buchmarkt besprochen wird. Vielmehr ist es eine seltene, sehr persönliche Kostbarkeit in einer Auflage von 35 Exemplaren geworden. Wenn Chris Lambertsen sein Buch verschickt, dann wird es als ganz und gar einzigartiges Geschenk verpackt. Schon die Auflage verrät, dass das Buch als Geschenk persönlich genommen werden will. Deshalb kommt es einem Paradox gleich, über ADIEU eine Besprechung zu schreiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Deutschlandradio Kultur oder Aspekte oder Titel Thesen Temperamente besprochen werden könnte. Und doch geht ADIEU gerade jetzt uns alle an, bevor es zu spät ist.

Ende 2020 ist der Bildband ADIEU erschienen. Wir wissen nicht, wann Chris Lambertsen sich entschlossen hat, den Bildband zu komponieren. Ein Zufall? Eine Überschneidung? Hat die Covid-19-Pandemie einen entscheidenden Anstoß gegeben, ihn zu veröffentlichen? Es geht um die Liebe zwischen Chris und Holger, der 1993 auf der Höhe der AIDS-Pandemie an der Immunschwächekrankheit starb. Damals wurde nicht von einer Pandemie gesprochen, die alle betroffen hätte. Zögerlich setzten sich Präventionsmaßnahmen wie Safer Sex bei allen Menschen durch. Wenig respektvoll und mit einer Portion Sarkasmus wurde vom „Sterben wie die Fliegen“ gesprochen. Es starben aber Lover, Freund*innen, Kolleg*innen. Mit der Verspätung von 27 Jahren hat Chris Lambertsen nun ADIEU als Buch der Trauer komponiert und veröffentlicht. 

ADIEU ist mehr als ein Buch und beginnt vor diesem beim Öffnen der Postsendung und Verpackung. Erst in einer Lage feinem, rosafarbenem Seidenpapier, dann in einer weiteren Lage Seidenpapier in Schwarz eingeschlagen, eröffnet die Postsendung das Szenarium eines Aufeinandertreffens der Farben Rosa und Schwarz, die mit Geschichte/n aufgeladen sind. Die Farbe der Schwulen und die Farbe der Trauer. Die Mädchenfarbe Rosa wurde vom Regime der Nationalsozialisten benutzt, um Männer mit einem rosa Winkel als unmännliche Verbrecher, als Homosexuelle zu kriminalisieren und zu stigmatisieren. Erst in den 1970er Jahren, verstärkt in den 1980er, machten die männerliebenden Männer unter Hinweis auf Verfolgung und Verbrechen Rosa zu ihrer Farbe.
„Der rosa Winkel, den männerbegehrende Männer in den Konzentrationslagern tragen mussten, wurde ab Mitte der 1970er-Jahre zu einem zentralen Symbol der Schwulenbewegung und zu einem Erkennungszeichen, das auf zahlreichen T-Shirts, Buttons und Anhängern prangte. Zugleich machten schwulen- und lesbenbewegte Gruppen mit öffentlichen Aktionen auf das Schicksal gleichgeschlechtlich begehrender NS-Opfer aufmerksam.“[1]

Der Photograph Chris Lambertsen hat immer wieder Menschen in der Hamburger Schwulen- und Lesbenbewegung fotografiert. So veröffentlichte er 2011 den Bildband Schwul-lesbische Sichtbarkeit – 30 Jahre CSD in Hamburg (2011) „(z)um Gedenken an alle, die auf den Fotos abgebildet sind, und nicht mehr unter uns leben“.[2] Auf dem Foto „Stonewall Hamburg 1981“ auf dem Neuen Wall entdecke ich Holger, der aus dem Demonstrationszug breit lächelnd, mit der linken Hand selbstbewusst in die Hüfte gestützt heraussticht. Einige Reihen dahinter ein Protestplakat: „Für Abschaffung des Sexual-Strafrechts./Für Sexuelle Selbstbestimmung“.[3] Anders, mehr auf Holger zugeschnitten, ist das Foto auch in ADIEU enthalten.[4] Chris war schon 1980 bei der ersten Stonewall-Demo auf der Moorweide vor dem Bahnhof Dammtor fotografierend dabei – Holger auf den Fotos noch nicht. Chris arbeitet als freier Photograph in Hamburg für viele Verlage und Agenturen.

Wie viel/e Geschichte/n könnten wir uns beim Anschauen von ADIEU noch erzählen? Viele. Eigene und fremde. Geschichten der Bundesrepublik und Homosexualitätengeschichte. Körpergeschichten, Geschlechtergeschichten, Stadtgeschichten, Lederszenengeschichten, SM-Geschichten, Trauergeschichten und Hörgeschichten wie von dem ihres Liedes. Ein Lied, das sie beim Hören geteilt haben. – Nicht einfach „Teilen/Share“ wie auf Facebook heutzutage, sondern ohne Facebook. –  Vielleicht im Uhlenhorster Stübchen, einer Schwulenkneipe im piekfeinen Uhlenhorst, die es längst nicht mehr gibt.[5] Über dem Nachkriegsbehelfsbau die Lichtreklame ASTRA, Siebziger-Jahre-Webgardinen hinter dem Schaufenster, davor zwei Blumenkästen mit Margeriten. Man musste ein paar Stufen hinabsteigen, um schwule Männer beim Astra zu treffen. Sou-terrain. Das war nicht nur unter der Gehsteighöhe, sondern auch ein Abstieg in opake Gefühlsbereiche, Halbdunkel wenigstens. 

Die Photographie ist unauflösbar mit dem Tod und dem Erzählen verknüpft. Sie mortifiziert mit einem Klick – und lädt zum Erzählen ein, fordert es heraus. Das hat Roland Barthes in seinem – letzten – Buch La chambre claire – Notes sur la Photographie untersucht und durchgespielt.[6] Von Jacques Derrida gibt es daraufhin einen Text – mehr Notizen von Hand – auf den Tod von Roland Barthes: Les morts de Roland Barthes.[7] Der Tod im Plural. In den Notizen kommt Derrida auch auf den Begriff der Trauerarbeit zu sprechen. Was heißt es, zu trauern über einen geliebten Menschen? Und wie sehr wird man ihn dabei verfehlen?
„Wieviele Stimmen überschneiden sich dabei, überwachen sich, kommen aufeinander zurück, greifen sich gegenseitig an, erdrücken sich bei ihrer Äußerung oder gehen in der Nähe der anderen in Schweigen über? Soll man abschließende Bewertungen aussprechen? Sich versichern, daß der Tod nicht stattgefunden hat oder daß er nicht mehr rückgängig zu machen ist und daß man sich somit die Rückkehr des Toten gesichert hat? Oder soll man ihn zu seinem Verbündeten machen (»Der Tote mit mir«), ihn in sich aufnehmen, geheime Absprachen enthüllen, ihn vollenden, indem man ihn exaltiert, ihn in jedem Fall auf das reduzieren, was eine literarische oder rhetorische Leistung davon bewahren kann, wenn sie sich nach Strategemen bewertet, deren Analyse unendlich wäre, wie alle Tricks der individuellen oder kollektiven »Trauerarbeit«?“[8]

La chambre claire/Die helle Kammer war von Roland Barthes selbst als ein Buch der Trauer über den Tod seiner Mutter komponiert worden.[9] Barthes „betrachtete“ ein Photo von seiner Mutter, wie er sie nie gesehen hatte, „betrachtete das kleine Mädchen und fand endlich (s)eine Mutter wieder“.[10] Einen Moment des Unmöglichen formulierte Barthes auf diese Weise. Für einen Photographen wie Chris Lambertsen mag es mit den Bildern in ADIEU anders und doch ähnlich gewesen sein. So gibt es „Papenhuder Straße – Meine letzte Aufnahme von Holger“. Die Formulierung trifft: Meine – letzte – Aufnahme – von – Holger. Wieviel Intimität!? Es wird nicht einfach gewesen sein, das Foto zu benennen. Rosen und Nelken sind auf die Bettdecke und Kissen gelegt. Chris vermeidet das Wort Tod. Er schreibt nicht: Der tote Holger. Denn das wäre, wie es Derrida anreißt, auch wieder falsch, verfehlend. Aber „Adieu“ geht. Einerseits ist es eben ein Gruß des Abschieds und Verlustes. Andererseits wird jener Moment an einen Gott adressiert, indem es kein „Grüß Gott“ geworden ist. Wie richtig trauern? Wie überhaupt trauern, wenn eine Pandemie wie Covid-19 kaum noch den Abschied erlaubt? Über 100.000 Franzosen sind am Virus gestorben, 85.909 Deutsche wurden trotz künstlicher Beatmung auf Intensivstationen dahingerafft. Wir zählen mittlerweile 3.304.181 Todesfälle weltweit.[11] 

Die Trauer über den Verlust eines einzelnen Menschen verschwindet hinter der großen Zahl von Dreimillionendreihundertviertausendeinhunderteinundachtzig Toten.[12] Im März oder April 2020 hätten wir uns diese Zahl nicht vorstellen können. Die Zahl lässt sich als jeder einzelne Tod nicht denken, sofern sich der Tod denken ließe. In Echtzeit hat das Center for Systems Science and Engineering (CSSE) an der Johns Hopkins University (JHU) zwischenzeitlich 159.152.047 Global Cases gezählt. Die USA haben allein 582.418 Tote zu beklagen, gefolgt von Brasilien mit 423.229 Toten nach dem Update vom 11. Mai 2021, 8:20 nachm.[13] Das Wissen um die großen Zahlen hat am Verhalten der Menschen wenig geändert. Im Unterschied zum Frühjahr 2020 konnten schon im Winter 2020/21 alle Menschen wissen, dass die AHA-Regeln gegen die Infektion schützen. Wer Maske trägt, kann an sich selbst seit einem Jahr beobachten, dass er keinen Schnupfen oder einen Grippevirus, geschweige denn Sars-Cov-2 bekommen hat. Masken, wie sie in Japan im öffentlichen Leben schon zuvor üblich waren und wie sie auch in Bus oder U-Bahn in Taipei selbstverständlich benutzt werden, sobald sich ein Kribbeln in der Nase bemerkbar macht, haben sich als Infektionsschutz bewährt. Trotzdem gab es insbesondere in Europa und Deutschland eine heftige zweite und sogar dritte Welle. Es gibt offenbar eine Kluft zwischen dem Zahlen-Wissen und dem Handeln wenigstens eines großen Teils der Bevölkerung.

Das in Echtzeit global generierte Zahlen-Wissen, das ein Novum dieser Pandemie ist, kollidiert mit einer Vielzahl von menschlichen Verhaltensweisen, die es ausblenden, um es einmal so zu formulieren. Gleichzeitig wurde mit den AHA-Regeln ein verhaltensbasiertes Hygiene-Wissen entwickelt und kommuniziert, das die „dritte Welle“ verhindern sollte, doch nicht verhindert hat. Insofern lässt sich ein Paradox von enormer Wissensproduktion und individueller Anwendung des Wissens beschreiben. In Zahl, Wort und Bild wurde mehr Wissen über eine Pandemie und das Infektionsgeschehen generiert als jemals zuvor. Doch die Anwendung des Wissens zeigt in der Praxis große Schwierigkeiten. Hat das etwas mit einer „Unfähigkeit zu trauern“ zu tun? – Natürlich ging es Alexander und Margarete Mitscherlich um eine andere Fragestellung, wenn Tobias Freimüller anmerkt, dass „der Begriff der „Unfähigkeit” an(zeigte), dass dem Text die Annahme einer gewissen psychologischen Zwangsläufigkeit zugrunde lag, mit der die Deutschen nach 1933 dem Führer verfallen seien und sich nach 1945 reflexhaft von ihm abgewandt hätten“.[14] Dennoch werden die ebenso kulturelle, gesellschaftliche wie individuelle Praxis des Trauerns und die Unfähigkeit dazu debattiert.

Wie trauern die Menschen in Deutschland? Im theologischen Forschungsband Deutschland trauert – Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung kommt Benedikt Kranemann 2019 zu dem Ergebnis, dass die „Trauerfeiern (…) nicht isoliert da(stehen), sondern (…) Teil eines vermutlich lebenslangen Weges“ sind.[15] Sie seien „aber der Akt, in dem Gemeinschaft angesichts der Katastrophe dicht erfahrbar“ werde.[16] Insofern führen staatliche Trauerfeiern zu einer Vergemeinschaftung des Trauerns. Die „Zentrale Gedenkveranstaltung in Berlin“ am 18. April 2021 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hat zusammen mit dem Gedenken im Konzerthaus am Gendarmenplatz ein Erinnern an und Trauern um die Toten der Covid-19-Pandemie in Deutschland organisiert[17], das von vielen Seiten z.B. hinsichtlich der Trauerbegleitung als vorbildlich im Umgang mit Trauer gelobt wurde. Doch bei Evelyn Finger klang zuvor die Unfähigkeit auf merkwürdige Weise als „unfähig“ nach:
„Am Sonntag feiern sie nun einen Gottesdienst in Berlins Gedächtniskirche, der an die staatliche Feier angehängt wurde. Die Aufgabe ist: ein Ritual für alle zu finden. Trösten, ohne darüber hinwegzutrösten, dass wir Menschen nun mal verletzlich sind, dass zu einer Pandemie auch der Tod gehört und dass es Schlimmeres gibt als das Sterben selbst – nämlich einsam zu sterben, ungetröstet. Wer sich vor diesem Eingeständnis fürchtet, der bleibt unfähig zu trauern.“[18]

Ist Politik zuständig für das Trauern? Und ist trauern dann politisch? Gedenk- und Trauertage werden in vielen Staaten offiziell praktiziert. So haben Zahra Newby und Ruth E. Toulson 2019 den interdisziplinären Band The Materiality of Mourning mit politikwissenschaftlichen Beitrag zusammengestellt: „Tangible remains play an important role in our relationsships with the the dead; they are pivotal to how we remember, mourn and grieve.“[19] Von Evelyn Finger werden Staat und Politik für das Tauern verantwortlich gemacht. Sie sollen das Trauern ermöglichen, wenn es das Ausmaß von mittlerweile über 85.000 Toten in Deutschland annimmt. Und es wird ein unterschwelliger Vorwurf formuliert, dass die „staatliche Feier“ spät, wenn nicht zu spät kommt. Doch Finger spitzt ihren Kommentar vor allem auf „einsam zu sterben, ungetröstet“ zu. Gibt es immer einen Trost im Sterben? Und in welchem Verhältnis stehen der Trost und die Trauer? Trost, wird man vor allem sagen müssen, ist eine religiöse und insbesondere im Christentum durch das Auferstehungsversprechen geübte Form der Trauer. Ist Trauer ohne Trost möglich? Die Sterbebegleitung, wie sie bei Finger anklingt, hat sich als Praxis in Deutschland erst in den letzten 30 bis 40 Jahren nicht zuletzt seit der AIDS-Pandemie herausbildet, weil die an AIDS-Erkrankten stigmatisiert, abgesondert, einsam ohne Familie und Freund*innen auf Intensivstationen starben. Für Holger wurde das in der Papenhuder Straße 1993 anscheinend schon anders organisiert.

Wir haben zur AIDS-Pandemie keine staatliche Trauerfeier erlebt! Verlief sie zu schleichend? Wurde sie stärker individualisiert? Sie wurde oft genug verschwiegen, indem von „Leukämie“ etc. gesprochen und geschrieben wurde. Die engsten Freund*innen wurden oft von der Familie aus Scham nicht vom Tod benachrichtigt und zu keiner Trauerfeier eingeladen. Es herrschte eine große Sprachlosigkeit, wenn der sterbende Freund in der Wohnung der Schwester besucht wurde. So oder so ähnlich steht es noch heute in manch einem Wikipedia-Lebenslauf. Die AIDS-Pandemie hat zumindest in Deutschland und insbesondere Hamburg mit Hamburg Leuchtfeuer seit 1994 der Hospizbewegung einen nachhaltigen Anstoß gegeben. Hamburg Leuchtfeuer ist „aus dem AIDShilfe-Kontext entstanden“[20], wie es bei Wikipedia, aber nicht auf der Leitbild-Seite der „gemeinnützigen GmbH“ steht: „Auf verschiedenen Ebenen trägt Hamburg Leuchtfeuer dazu bei, den Umgang mit Leben, Krankheit, Sterben, Tod und Trauer menschenwürdiger zu gestalten und dafür ein verändertes Bewusstsein in der Bevölkerung zu schaffen.“[21]

Trauer als Gefühl hat in der Aidshilfe nicht nur mit Hamburg Leuchtfeuer Geschichte gemacht. Vielmehr wurde die Konfrontation mit dem plötzlichen Tod durch längere Krankheit und die Trauer über den „zu frühen“ Verlust für einzelne andersliebende Menschen so groß, dass sie dies nur noch mit der tragisch-komischen Rhetorik des Sarkasmus aushalten konnten. So erzählt Herr Franke in anders lieben davon, wie er gesagt habe, dass er „aus dem Schwarz gar nicht mehr raus“ komme.[22] „Der Umgang mit Aids war von einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung geprägt“[23], schreibt Benno Gammerl. Trauer spielte plötzlich eine wichtige Rolle in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung.
„Gleichzeitig wurde auch der breiten Öffentlichkeit immer klarer, dass Lesben und Schwule sich ebenso wie andersgeschlechtlich begehrende Menschen um ihre erkrankten Freund*innen und Partner*innen kümmerten und um ihre Verstorbenen trauerten. Gerade die Trauer war ein Gefühl, das zuvor kaum mit dem Alltag von Schwulen und Lesben assoziiert worden war. Aids zwang sie jedoch, eine eigene, schwul-lesbische Trauerkultur zu erfinden.“[24]

Aus der Selbsthilfe im Umgang mit einer verpassten, verwehrten Trauer über an AIDS verstorbene Freunde und Lover – durchaus auch mit der Kamera, dem analogen Fotoapparat – hat sich eine Bewegung generiert. So gibt es die hospiz-initiative kiel e.v. oder den hospiz verlag in Ludwigsburg. Sophie Warning hat 2011 das „Begleithandbuch“ Krankheit – Sterben – Trauer verfasst und im hospiz verlag veröffentlicht. Trauern soll handbuchartig vermittelt in neue Formen gebracht werden. Wie richtig trauern? Warning diagnostiziert zunächst einen Verlust traditioneller Formen des Sterbens und Trauerns in der Stadt und auf dem Land. Ist Trauer ein Problem der Region und der Moderne?
„Traditionell gab es Formen in der Gesellschaft, um Sterbende und Trauernde aufzufangen und zu unterstützen. Es gab klare Regelungen und gibt sie im ländlichen Bereich zum Teil heute noch. Jedoch verschwinden diese traditionellen Formen mehr und mehr aus unserem Alltagsleben. Wie mit vielen Traditionen gilt es auch hier zu prüfen, ob die Form einer modernen Gesellschaft noch zeitgemäß ist oder ob neue Formen gefunden werden müssen.“[25]  

Die Hospizbewegung wird von Warning als eine Antwort auf die vor allem städtische „Massengesellschaft“ in den „70er und 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts“ durch „eine() einzelne() Frau, Cicely Saunders,“ beschrieben.[26] 1967 gründete Saunders das St. Christopher’s Hospice in Sydenham, London, als erstes für diesen Zweck errichtetes Gebäude zur Pflege und Begleitung von Sterbenden sowie zur Schmerzforschung und Ausbildung von Fachpersonal.[27] Der Name des Hospizes knüpft mit dem Heiligen Christophorus an das Tragen nicht nur des Christkindes, vielmehr noch einer unverschuldeten Last oder eines Leidens an. Ihr Engagement und ihre Professionalisierung als Krankenschwester und Palliativmedizinerin wird auf der englischen Wikipedia-Seite insbesondere als Krebsgeschichte in Kombination mit einem römisch-katholischen Glaubenshintergrund und Sozialarbeit erzählt. Saunders wurde mehrfach geadelt und erhielt 1989 den Titel einer Dame als „Member of the of Merit“. Auch auf der deutschen Seite stehen die Krebspatienten im Mittelpunkt der Hospizbewegung. 2018 erschien eine Biographie zu Cicely Saunders, was einen Wink auf deren Nachträglichkeit geben könnte. Erst in einer Phase der Konsolidierung besinnt sich die Hospizbewegung auf die „eigene“ Geschichte an der Schnittstelle von Sozialarbeit, Krebsdiagnose und Schmerzforschung. – Die AIDS-Pandemie kommt in dieser Geschichte nicht vor.

Über die Form der Trauer gerät im „Begleithandbuch“ diese als Gefühl regelrecht aus dem Blickfeld. Zwar wird erwähnt, dass „die Todesnachricht (…) vielerlei Gefühle auslösen“ könne [28] und dass „(d)ie Gefühle (…) keinen Rahmen mehr“ fänden[29], aber die Trauer wird zu einem Dienst: „Die Trauernden erweisen ihren Angehörigen einen „letzten Dienst“.“[30] Auf bedenkenswerte Weise soll die Trauer als Gefühl eingehegt werden: „Rituale geben den Gefühlen und Handlungen eine Form.“[31] Durch Sterbe- und Trauerbegleitung wird insofern Trauer weniger zu einer Zäsur und einem heftigen Moment der Erschütterung als vielmehr zu einer Frage der Form im Sinne von Handlungsrahmen. Gibt es eine Angst vor der Trauer, dass sie überwältigen könnte? Das Gefühl der Trauer spielt sich in einem Grenzbereich von außen und innen ab. Der Tod des – sagen wir – Nächsten/Liebsten erschüttert unser Leben zutiefst, weil er dieses trifft. Die Trauer lässt sich schwer fassen. Und nichts bewahrt uns davor, dass sie plötzlich wiederkehrt. Jacques Derridas Fragen treffen diesen Bereich. Weil die Trauer unsere Fähigkeiten angreift und auf die Probe stellt, wird die Unfähigkeit zu trauern nicht nur zu einem Versäumnis. Trotzdem sollten wir sie als Gesellschaft nicht versäumen.

Torsten Flüh

Chris Lambertsen
ADIEU
Dezember 2020
Leinen, Fadenbindung, 80 Seiten
mit Originalabzug „Hohe Tanne“
Erwerb auf Anfrage beim Photographen.


[1] Benno Gammerl: anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte. München: Hanser, 2021, S. 264.

[2] Chris Lambertsen: Schwul-lesbische Sichtbarkeit – 30 Jahre CSD in Hamburg. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2011, S. ohne Seitenzahl (4).

[3] Ebenda S. 19.

[4] Chris Lambertsen: ADIEU. Hamburg: Chris Lambertsen, 2020, S. 56.

[5] Siehe ebenda S. 21.

[6] Roland Barthes: La chambre Claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard Seuil, 1980.

[7] Jacques Derrida: Die Tode von Roland Barthes. Herausgeben von Hubertus von Amelunxen. Berlin-Kreuzberg: Nishen, 1987.

[8] Ebenda S. 29-30.

[9] Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 77-78.

[10] Ebenda S. 78.

[11] Zahlen vom 10. Mai 2021. Johns-Hopkins-Universität, Our World in Data.

[12] Zur großen Zahl siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[13] COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU) Siehe hier.

[14] Tobias Freimüller: Der versäumte Abschied von der Volksgemeinschaft. Psychoanalyse und „Vergangenheitsbewältigung“. In: docupedia-Zeitgeschichte 30.5.2011.

[15] Benedikt Kranemann: Deutschland trauert. Gedenkgottesdienste in pluraler Gesellschaft. In: Brigitte Benz, Benedikt Kranemann: Deutschland trauert – Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung. Erfurt: echter, 2019, S. 23.

[16] Ebenda.

[17] Die Bundesregierung: Gemeinsames Gedenken an die Verstorbenen in der Corona-Pandemie. 18. April 2021.

[18] Evelyn Finger: Inzidenz Trauer. Lange hat die Politik in der Pandemie so getan, als ginge es nur um Zahlen. Nun endlich soll der Toten gedacht werden. In: Die Zeit Nr. 16/2021, 15. April 2021.

[19] Zahra Newby, Ruth E. Toulson (ed.): The Materiality of Mourning. Cross-Disciplinary Perspectives. Abingdon/New York: Routledge, 2019, S. (ohne Seitenzahl).

[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburg_Leuchtfeuer

[21] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 273.

[22] Hamburg Leuchtfeuer: Das Leitbild unserer Arbeit. https://www.hamburg-leuchtfeuer.de/home/mission/

[23] Ebenda S. 276.

[24] Ebenda S. 281.

[25] Sophie Warning: Krankheit – Sterben – Trauer. Ein Begleithandbuch. Ludwigsburg: der hospiz verlag, 2011, S. 11.

[26] Ebenda S. 12.

[27] Siehe Wikipedia Englisch: Cicely Saunders.

[28] Sophie Warning: Krankheit … [wie Anm. 24] S. 92.

[29] Ebenda S. 93.

[30] Ebenda S. 117.

[31] Ebenda.

Besserwisser und Neunmalkluge

Impfung – Verschwörungstheorie – Wissen

Besserwisser und Neunmalkluge

Zur Mosse-Lecture Die Besserwisser. Wissenschaftsskepsis, Verschwörungsdenken und die Erosion der Wirklichkeit von Eva Horn

Mit der, wie neuerdings gesagt wird, pandemiebedingten Verzögerung von ziemlich genau einem Jahr eröffnete am Donnerstagabend Stefan Willer die Mosse-Lectures zum Semesterthema Verschwörungstheorien im Livestream auf YouTube. Er führte in das Thema ein, indem er u.a. die Studie Verschwörungstheorien und Denkverzerrungen in der Covid-19-Pandemie aus der Fakultät Psychologie der Universität Basel erwähnte. „Typische Coronaleugner sind „gestresster und jünger““ titelte die Badische Zeitung sogleich.[1] Sind Verschwörungstheoretiker ein Fall für die Psychologie oder gar Psychiatrie? Die in Wien lehrende Professorin für Neuere Deutsche Literatur Eva Horn sieht das anders. Während sie 2020 einen Vortrag zu Verschwörungstheorien in der Literatur halten sollte und wollte, hielt sie nun einen komplett neuen, auf die Covid-19-Pandemie und ihre Narrative fokussierten Vortrag.

Eva Horn rückt mit der „Wissenschaftsskepsis“ die Denkfigur der Skepsis oder Kritik für die Debatte um die Verschwörungstheorien in die Aufmerksamkeit. Der abwertend gebrauchte Begriff Besserwisser wird von ihr zunächst als eine Form der Skepsis aufgewertet. Das unberechtigte Besserwissen soll nicht sogleich verworfen, sondern ernst genommen werden. Denn Eva Horn möchte eine Spaltung der Gesellschaft vermeiden und führt dafür Hannah Arendts Diktum von einer „geteilten, faktischen Welt“ als Grundlage der Gesellschaft an. Verschwörungstheorien ließen sich zunächst einmal als eine Form der Wissenschaftsskepsis verstehen, die nicht per se auszugrenzen seien. Der Bewegung der Querdenker und QAnon schenkt sie in ihrem Vortrag besondere Beachtung, weil diese vermeintlich über politische Lager hinweg eine Vergemeinschaftung und ein Gemeinschaftsgefühl anböten. Worin unterscheiden sie sich? Und wie lässt sich eine „Erosion der Wirklichkeit“ verhindern?

Eva Horn eröffnet ihren Vortrag mit der verstörenden Erfahrung, dass ein us-amerikanischer Freund „aus (ihrem) persönlichen Umfeld“ einen Brief an sie adressiert hatte, der das Verschwörungsdenken auf „unpersönlich(e) und feindselig(e)“ Weise reproduzierte und von dem sie sich „persönlich getroffen“ fühlte. Sie las den Brief als „Gegenwartsdiagnose“ vor. Er verwendet Ende 2020 weniger argumentativ als vielmehr „assoziativ“ Textbausteine des Verschwörungsdenkens von den „Linke(n) gegen Trump“, „Klimawandel“ über die Behauptung, die Linke sei „marxistisch“ bis zur „Agenda 21“ mit persönlicher Adressierung. Während der Covid-19-Pandemie hat das Verschwörungsdenken eine neue Qualität und Quantität erreicht.[2] Fast jede/r kennt nicht nur an Sars-Cov-2 erkrankte oder gar verstorbene Menschen, sondern auch Freund*innen, die erst schleichend, dann plötzlich ein Verschwörungsnarrativ übernehmen. Das führt zu Verunsicherungen und sozialen Verwerfungen. Unser Erfahrungswissen ist seit der einschneidenden, wie ich es nenne, Wissenserschütterung[3] im März/April 2020 im persönlichen Umfeld um eine Variante erweitert worden, auf die wir gern verzichtet hätten.

Wie funktioniert Besserwisserei, fragt Eva Horn in ihrem Vortrag. Indem sie mehrere aktuelle Beispiele anführt, kann Horn einige Funktionsweisen beschreiben. Meistens handelt es sich um „Halblaien“, die mit einem wissenschaftlichen Hintergrund oder gar akademischen Titel über einen anderen fachfremden Wissenschaftszweig schreiben. Sie sind an „keiner wissenschaftlichen Debatte“ interessiert, sondern beziehen sich „parasitär auf vorhandenes Wissen“. Besserwisserei formuliert Skepsis gegenüber der Wissenschaft, ohne dass sie an einer „Verbesserung“ interessiert wäre, weil sie das Wissen nur „politisieren“ will. „Diese Wissenschaftsskepsis gibt es“, nach Eva Horn, „schon lange“. Als Beispiele führte sie die Tabaklüge, die Klimawandelskeptiker und die Impfgegner an. Sie zitierte dafür das Buch wie den Begriff „Merchants of Doubt“ (2010) der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Naomi Orekes. Der Vortrag von Eva Horn lässt sich nun auf dem YouTube-Kanal der Mosse-Lectures verfolgen. Ich möchte mit meiner Besprechung des Vortrags an diesen anknüpfen, Eva Horns Beschreibung des QAnon-Narrativs als ein äußerst mächtiges berücksichtigen und mikrologisch analysieren, wie Neunmalkluge in der aktuellen Impf-Debatte vorgehen und insbesondere mRNA-Impfstoffe verleugnen.   

Im dritten Teil ihres Vortrags untersucht Eva Horn den „kritische(n) Geist“ als einen, der mit dem Versuch einer Alternative Spielraum gegenüber einer „expertokratischen Politik“ zurückgewinnen will. Sie fragt: „Was heißt Alternative?“ und knüpft dafür an Bruno Latours „matters of concern“ an.[4] Prototypisch für „alternative Fakten“ führt sie Kellyanne Conways Begründung vom 22. Januar 2017 als eine „Verbesserung“ an: „additional facts and alternative information“. Damit habe Conway nach Kant die Kategorie der Tatsache aufgelöst. Über die „alternativen Fakten“ sei eine „breite Vernetzung“ als „Formen der Vergemeinschaftung“ entstanden, die sich insbesondere in der eher national geprägten Querdenker-Bewegung und unter den global ausgerichteten QAnon-Anhängern sammelten. Diese trat zuletzt am 6. Januar 2021 mit der Erstürmung des Capitols in Washington in Erscheinung. QAnon-Anhänger denken sich international und nehmen eine globale Perspektive ein. QAnon als Person oder Gruppe artikuliert sich seit Oktober 2017 in rassistischer und sexistischer Weise, um während der Covid-19-Pandemie enorm an Aufmerksamkeit und Zulauf gewonnen zu haben. Anhänger*innen nennen sich wiederholt Forscher/in. Sie organisierten sich nach dem Modell einer Alternative zwischen der blauen und der roten Pille wie sie in dem Film Matrix (1999) von der Figur Morpheus (Laurence Fishburne) dem Hacker Neo (Keanu Reeves) zur Wahl zwischen heiler Traumwelt und gefälschter Realität gestellt werde.  

„Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus.“

Wir befinden uns im Moment in einer Debatte aus frei flottierendem Wissen. Selbst der Ressortleiter Wissen und Herausgeber von Gesundheit & Digital, ZEIT ONLINE Sven Stockrahm verarbeitet in seinem Video Sie wurden geimpft? Was sie nun wissen sollten vom 27. April 2021 8:27 Uhr ein anzweifelbares Wissen über die Wirkungsweise der neuen mRNA-Impfstoffe. Er spricht in seinem peppig aufgemachten Video über die „Nebenwirkungen“ und möchte die Angst davor nehmen. Den entscheidenden Unterschied zwischen mRNA und herkömmlichen Impfstoffen erklärt er nicht. Dadurch werden alle Impfstoffe gegen Sars-Cov-2 als „Corona-Impfung“ syntagmatisch in einen Topf geworfen:
„Impfreaktionen treten direkt nach der Impfung auf und sind dafür ein Zeichen, dass das Immunsystem anfängt, das Virus zu bekämpfen. Man spricht auch von einem Anregen des Immunsystems. Die häufigsten Impfreaktionen nach einer Corona-Impfung sind etwa Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Schüttelfrost oder auch Schmerzen an der Einstichstelle. Manchmal kommen auch Übelkeit und Fieber hinzu. Diese Reaktionen sind meist schwach bis mäßig ausgeprägt und verschwinden nach ein paar Tagen.“[5]

„Wenn ich dir einen Rat geben darf: Sei ehrlich.“

Es sind oft die Unschärfen der Syntax, die wie bei Sven Stockrahm zweifelhaftes Wissen generieren, das seinerseits nach Verknüpfungen sucht und gleich einem informationellen Virus frei an Narrative andockt. Anders als bei Bakterien basiert das Wissen von den Viren seit den 1950er Jahren auf einem informationellen Wissensmodell, wie ich im Februar mit der „Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie“ rekonstruiert habe.[6] „Anhand der Informationen kann der Körper dieses Antigen selbst produzieren: Die mRNA überträgt die Informationen für die Produktion des Antigens an unsere Zellmaschinerie, die Proteine herstellt“, erklärt BioNTech. Stockrahms Formulierung, „dass das Immunsystem anfängt, das Virus zu bekämpfen“, ist für die neuen mRNA-Impfstoffe unscharf, wenn man die Beschreibung des Herstellers BioNTech heranzieht.[7] Denn er funktioniert anders als bisherige Impfstoffe. Ich werde darauf zurückkommen. Selbst bei herkömmlichen Impfstoffen treten „direkt nach der Impfung“ z.B. an der Einstichstelle, keine „Impfreaktionen“ „an der Einstichstelle“ gegen „das Virus“ auf. Vielmehr könnte es zu allergischen Reaktionen gegen Eiweiße z.B. aus Hühnereiweiß als Träger des Virus kommen. Die wissen-popularisierende Formulierung eines „Zeichens“ dafür, „dass das Immunsystem anfängt, das Virus zu bekämpfen“, lässt sich wenigstens als schwierig bewerten.

Neben den Unschärfen in den Formulierungen von fachlich unterschiedlichem Wissen treten aktuell besonders häufig solche auf, die der Regierung, den Wissenschaftlern und Impfstoffproduzenten eine Vorenthaltung von Wissen unterstellen. Dadurch machten sich die Akteure vermeintlich verdächtig. So schreibt Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle als Züricher Institutsleiterin von Dialog Ethik „Wissen und Kompetenz im Gesundheitswesen“ in ihrem „Kommentar zur Zeit vom 14. April 2021“ als „Einladung zum Dialog in der Covid-19-Pandemie“: „Ein Faktenstreit, der die Beteiligten weiterführt, setzt voraus, dass die Faktenquellen frei zugänglich und die Beteiligten bereit sind, sich auch auf Fakten einzulassen, die ihre Meinung in Frage stellen.“[8] Die im höchsten Maße elastische Formulierung einer Voraussetzung („setzt voraus“) unterstellt rhetorisch versiert, „dass die Faktenquellen“ eben nicht „frei zugänglich“ sind. Anders gesagt, wenn „die Faktenquellen“ nicht „frei zugänglich“ sind, dann darf auch alles behauptet und angezweifelt werden. Man könnte das einen eleganten Züricher Stil der Theologin Baumann-Hölzle nennen.

„Wie du zweifellos vermutest, bin ich Morpheus.“

Die Elastizität der Formulierungen in der Sars-Cov-2-Debatte bietet nicht nur Alternativen im Wissen um das Impfen und Impfstoffe an, vielmehr werden mir ihr auch Begriffe gesetzt, die im semantischen Spielraum von Angst und Empathie ansetzen. So poppte in Sozialen Netzwerken und Chat-Gruppen der Begriff „Pferdeeiweiß“ auf, der sogleich auf die BioNTech-Impfstoffe angewendet wurde. Die Anwendung lautete umgehend in den Netzwerken, dass BioNTech mit „Pferdeeiweiß“ verimpft werde, was zu Nebenwirkungen führen könne. Eine frischgeimpfte Veganerin schickte dann an ihre „Gruppe“ eher scherzhaft und doch nicht unbesorgt zurück, dass sie nun „Pferdeeiweiß“ in sich trage. Woher kommt das „Pferdeeiweiß“? – Selbsterklärend wurde übrigens hinzugefügt, dass das Pferdeeiweiß vermutlich aus nahrhafter Stutenmilch produziert werde, mit der der Sohn als Kleinkind auf ärztlichen Rat therapiert worden sei. Die Wissensprozesse spielen sich damit nicht zuletzt auf sehr unterschiedlichen Wissensebenen zwischen Gerücht und Erfahrungswissen ab.

„Ich will Dir sagen, wieso du hier bist.“

Eine Google-Suchanfrage für Pferdeeiweiß ergab, dass ausführlich im Internet über „Eiweiß in der Pferdefütterung“ debattiert wird.[9] Der Google-Algorithmus hatte „Pferdeeiweiß“ in „Pferd Eiweiß“ umgewandelt. – „Die Fütterungsempfehlung für ein 600kg Pferd liegt bei ca. 9kg Heu (1,5kg Heu je 100kg LM). Heu enthält im Durchschnitt 7-10% Eiweiß, was bei 9kg 630-900g Eiweiß bedeutet. Gras enthält zwar relativ wenig Eiweiß, jedoch hat das Pferd nach einigen Stunden etliche Kilo davon aufgenommen und somit eine große Menge Eiweiß. 06.10.2019“.[10] – Pferdehalter*innen beschäftigt die Eiweißversorgung ihrer Pferde insofern sehr. Es wäre nun leicht den Google-Algorithmus als lächerlich zu verurteilen. Doch die algorithmische Veränderung von „Pferdeeiweiß“ in „Pferd Eiweiß“ geschieht auf ähnliche Weise in Lese- oder Hörprozessen, die an der Generierung von Narrativen und Wissen beteiligt sind. Google hatte in Nanosekundenschnelle gewissermaßen im Horizont seines Wissens eine Berichtigung der Suchanfrage vorgenommen.

„Jeder muss sie selbst erleben.“

Um es einmal mit dem Algorithmus zu formulieren: Wenn Google sich nach dem Entweder-Oder-Prinzip für „Pferd Eiweiß“ als Ergebnis entscheidet, weil nach der Kombination von Pferd und Eiweiß offenbar häufiger als nach „Pferdeeiweiß“ gesucht wird, dann muss die Suche genauer eingegrenzt werden. Dafür braucht es kein Fachwissen über „Pferdeeiweiß“. Es ist auch ziemlich unerheblich, ob sich „Pferdeeiweiß“ überhaupt von anderen tierischen oder menschlichen oder gar pflanzlichen – „Heu“ – Eiweißen unterscheidet. Es geht um reine Kombinatorik und Sprachprozesse, Lese-Schreib-Vorgänge. Die Verfeinerung der Suche auf „Pferdeeiweiß Biontech“ generierte – immerhin – 1 Suchergebnis, in dem als „Gedanken zur Corona Impfung“ Dr. med. Peter Beck „im Januar 2021“ den semanitschen Bogen zum „Pferdeeiweiß“ und „Schlangengifte“ schlägt:
„Man verfährt dabei so, dass von einem oder vielen Spendern Blut abgenommen und die Antikörper, die gegen das Virus gebildet wurden, herausgewaschen, aufbereitet und dem Menschen, der akut gefährdet ist, gespritzt werden, z. B. bei der Tetanusimpfung mit Tetagam. Gegen Schlangengifte hat man Antiseren z. B. aus Pferdeeiweiß entwickelt, die man den Menschen spritzt. Das körperfremde Pferdeeiweiß wird wieder rasch abgebaut.“[11]

„Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland.“

„Das körperfremde Pferdeeiweiß“ sorgt im „eigenen“ Körper zwangsläufig für ein Unwohlsein. Wobei es eben die eigensinnige Kombinatorik von „Schlangengifte“, „Antiseren“, „Pferdeeiweiß“ und eigenem Körper ist, die eine narrative Spur legt, bevor Dr. med. Beck im Band „Corona-Krise. Ein Ruf zur Umkehr. Neu mit Gedanken zur Corona-Impfung“ Sars-Cov-2 als Virus überhaupt benennt. Beck referiert kenntnisreich und rhetorisch sehr gekonnt die Wirkungsweise der mRNA – „Diese Transporter-Viren sind also mit einem Taxi vergleichbar.“[12] –, um dann doch aus „christlicher“ Perspektive massive Zweifel zu säen. Er wendet fast lehrbuchartig jene rhetorischen Bausteine an, die Eva Horn in ihrem Vortrag beschrieben hat, indem er medizinisches Fachwissen zitiert und mit dem „Taxi“ popularisiert. Formuliert wird an einem argumentativen Umschlagpunkt dann allerdings mit dem Hybris-Narrativ eines „eigenmächtig(en)“ Handelns der Menschen gegen die „Souveränität Gottes“:
„Manche, auch christliche Wissenschaftler sagen, dass Viren-RNA schon immer bei Infektionen in unsere Zellen gekommen sind und dass wir diesen Vorgang mit dem RNA-Impfstoff nur nachmachen. Das ist richtig, aber einmal liegt es in der Souveränität Gottes, Viruserkrankungen bei uns zuzulassen aber diesmal führen wir uns die Virus-RNA selbst, eigenmächtig zu.“[13] 

Naturwissenschaft und sogenannte „christliche Wissenschaft()“ werden von Beck rhetorisch versiert verknüpft und kombiniert, um aus einer Mischung von Golem-Mythos[14] bzw. künstlichem Menschen, Genforschung und Ethikdebatte den Schrecken eines Verbrechens gegen Gott auszumalen. – „Die Zelllinie HEK 293 wurde im Jahr 1973 in einem Labor in der Universität Leiden entwickelt, also in den Niederlanden, wo die Forschung an embryonalen Zellen erlaubt ist.“[15] – Im Horizont des „Pferdeeiweiß“ wird das naturwissenschaftliche Verfahren der „mRNA-Impfstoffe“ durchaus korrekt referiert, um mit der „Zelllinie HEK 293“ ethische Bedenken nach dem „deutschen Embryonenschutzgesetz“ einzustreuen und schließlich die Praxis der „Corona Impfung“ als Hybris gegen Gott ganz zu verwerfen. Gleichsam informationstechnologisch bleibt das körperfremde „Pferdeeiweiß“ im Debattenstrom hängen, das von den „christlichen Wissenschaftler(n)“ abgekoppelt frei in den Medien kursiert.
„So ist es auch unsere Aufgabe als Christen, für unsere Obrigkeit zu beten, dass sie sich an Gott wendet, so wie sich jedermann mit seinen Anliegen an Gott wenden kann, vielleicht auch mit dem Eingeständnis, dass man es bisher ohne ihn schaffen wollte. Vielleicht auch mit der Einsicht, dass Krankheit und Tod auf Dauer nicht zu vermeiden sind.“[16]

Es ist insofern nicht nur nicht so, dass „Faktenquellen“ etwa nicht „frei zugänglich“ sind, wie Baumann-Hölzl unterstellt hatte, vielmehr werden die Fakten als Wissen von Beck in einer Gotteserzählung und Eschatologie mit dem Anspruch auf Ethik verworfen. Seitdem sich der Deutsche Ethikrat, gegründet am 11. April 2008, dessen Mitglieder vom „Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt“ werden[17], im März 2020 in die Debatte um Maßnahmen in der Covid-19-Pandemie beteiligt und seither Stellungnahmen, Positionspapiere und Ad-hoc-Empfehlungen wie zuletzt am 4. Februar 2021 „Besondere Regeln für Geimpfte?“ veröffentlicht[18], steht die Ethik als Quasi-Faktenwissen auch bei Neunmalklugen hoch im Kurs. Am 18. Dezember 2020 veröffentlichte der DER eine Ad-hoc-Empfehlung zu „sozialen Kontakten in der Langzeitpflege während der Covid-19-Pandemie“, die das „Gebot der Distanz“[19] insbesondere hinsichtlich der „Alten- und Behindertenpflege“ abwog. Eine ausdrückliche Berücksichtigung findet die „Sterbebegleitung“, die während des ersten Lockdowns im März, April und Mai 2020 nicht bzw. nur individuell geregelt werden konnte. 6 Monate später erfolgte eine ausführliche Würdigung, was durchaus als eine erstaunliche Beschleunigung einer Wissenschaftsdebatte anerkannt werden sollte:
„Sterbende müssen die Möglichkeit der kontinuierlichen Begleitung durch An- und Zugehörige wie auch – falls erwünscht – durch Seelsorgende und/oder ehrenamtlich in Hospizdiensten Tätige erhalten.“[20]

Die Ethik hat nicht nur wegen der Kontaktbeschränkungen oder des „Gebot(s) der Distanz“ während der letzten 12 Monate erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen. Viele Bundesbürger fühlen sich vielmehr zum ersten Mal in ihrer Wahrnehmung von der Ethik und einer Diskussion um ihre Grund- und Freiheitsrechte angesprochen. Doch besonders „Querdenker“ vereinnahmen nun eine ethische Argumentation als faktisches Wissen. Die Stellungnahmen und Ad-hoc-Empfehlungen des Deutschen Ethikrates sind allerdings äußerst komplex formuliert, wie beispielsweise die Frage nach den „Besondere(n) Regeln für Geimpfte?“ zeigt. Diese komplexen Abwägungen und Empfehlungen haben immer auch das temporäre Nicht-Wissen und „Unsicherheiten“ im Blick, was ein grundsätzliches Problem für Besserwisser und Neunmalkluge darstellt, weil sie sich ein für sie unumstößliches Wissen wünschen.
„Angesichts der Unsicherheiten hinsichtlich der Infektiosität geimpfter Personen unterliegen diese derzeit weiterhin den allgemeinen Freiheitsbeschränkungen. Je mehr aber mit dem Fortschreiten des Impfprogramms besonders gravierende Risiken reduziert werden und verbesserte Kenntnisse hinsichtlich der Nichtansteckungsfähigkeit vorliegen, desto eher sind individuelle Rücknahmen von Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen vorstellbar und gegebenenfalls geboten.“[21]

Bleibt also die Frage nach dem „Pferdeeiweiß“ und ob überhaupt bei einem mRNA-Impfstoff wie Comirnaty von BioNTech/Pfizer Nebenwirkungen wie bei „herkömmlichen Impfstoffen“ mit „viralen Proteinen“[22], zum Beispiel bei jährlichen Grippeschutzimpfungen auftreten können? Der menschliche Körper und sein Immunsystem reagieren anders. Nach jeder anderen Schutzimpfung wird beispielsweise empfohlen, die nächsten 24 Stunden keinen Sport zu machen, um den Körper nicht zu schwächen. Dieser Hinweis fehlt nicht nur zufällig, sondern das amtliche „Aufklärungsmerkblatt“ des zuständigen Robert-Koch-Instituts bemerkt ausdrücklich: „Nach der Impfung müssen Sie sich nicht besonders schonen.“[23] Ein weiterer Indikator für die Verschiedenartigkeit der mRNA- und Vektorimpfstoffe lässt sich daran erkennen, dass sich die Immunisierung nicht mit einem Antigentest nachweisen lässt. Denn das „Virusprotein“ wird nicht verabreicht.
„Fast alle in Deutschland eingesetzten Antigentests basieren auf dem Nachweis eines anderen Proteins, dem Nucleocapsid-Protein (N-Protein). Da Antigentests also ein anderes Virusprotein nachweisen als das bei der mRNA- oder Vektor-Impfung gebildete, ist ein Einfluss einer Impfung auf das Antigentestergebnis nicht gegeben.“[24]

Mit wenigen Suchanfragen stößt man auf COVID-19-Wissen von großer Komplexität, das vermutlich erstmals in der Geschichte der Impfstoffentwicklung und globalen Schutzimpfungskampagne außerordentlich transparent gehalten wird. Was wissenschaftlich relevant ist, lässt sich bis in die „Merkmale des Arzneimittels“ durch die EMA nachlesen. Was wird also injiziert? Die „Darreichungsform“ von z.B. Comirnaty wird wie folgt beschrieben: „Konzentrat zur Herstellung einer Injektionsdispersion (steriles Konzentrat). Der Impfstoff ist eine weiße bis grauweiße, gefrorene Dispersion (pH: 6,9 – 7,9).“[25] Die European Medicines Agency (EMA) als zuständige Behörde der Europäischen Union führt im Anhang zur Zulassung von Comirnaty ausdrücklich „Nebenwirkungen“ auf, die in der „Zusammenfassung des Sicherheitsprofils“ aus „2 klinischen Studien“ aufgeführt werden.[26] Demnach gibt es „Nebenwirkungen“[27], von denen aber nicht gesagt wird, dass sie mit der Reaktion des Immunsystems auf den „Impfstoff“ ursächlich zusammenhängen. Vielmehr werden Vorerkrankungen genau in der Tabelle „Nebenwirkungen von Comirnaty aus klinischen Studien und Erfahrungen nach der Zulassung“ aufgeschlüsselt.[28]

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kann es hier nicht Aufgabe sein, das ethische, juristische, pharmazeutische und medizinische Wissen zu überprüfen oder zu kritisieren. Vielmehr geht es mir darum, die erstaunliche Transparenz des vielfältigen Fachwissens durch das Internet und dessen Verdrehung, Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch Neumalkluge verständlich zu machen, um deren Wirkmächtigkeit zu entzaubern. Nach der Wissenserschütterung im Frühjahr 2020 hat eine nahezu explosionsartige Wort- und Wissensvermehrung[29] in großer Komplexität stattgefunden. Proteine sind im pharmazeutischen Denken nicht mehr mit „körperfremde(n) Pferdeeiweiß“ gleichzusetzen. Im Verschwörungsdenken wird allerdings genau das gemacht. Eine derartige Popularisierung von Wissen widerspricht wissenschaftlichen Standards. Neunmalkluge wünschen sich indessen immer, ein wenig Gott zu spielen, wie er im Science-Fiction-Action-Film Matrix (1999) von Morpheus repräsentiert wird, als gäbe es eine Wahl zwischen einem guten und einem schlechten Wissen wie zwischen einer blauen und einer roten Pille.

Torsten Flüh

Nächste Mosse-Lecture zum Thema
Verschwörungstheorien
Eliot Borenstein
»Informing Ourselves to Death: Conspiracy and Fantasy in Postmodern Russia«
Einführung und Gespräch: Michael Butter
Donnerstag, 27. Mai 2021 19 Uhr c.t.
Live-Stream über den YouTube-Kanal der Mosse-Lectures


[1] BZ-Redaktion: Basler Studie: Typische Coronaleugner sind „gestresster und jünger“. In: Badische Zeitung 08. April 2021 um 16:06 Uhr.

[2] Vgl. zu den Verschwörungstheorien des Frühjahrs 2020: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ Berlin 22. April 2020.

[3] Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[4] Siehe: Bruno Latour: What is the Style of Matters of concern? Amsterdam: VanGorcum, 2008. (PDF)

[5] Claudia Bracholdt und Sven Stockrahm: Sie wurden geimpft? Was sie nun wissen sollten. In: ZEIT ONLINE vom 27. April 2021 8:27 Uhr. (Zitiert nach Untertitelfunktion. Das Video ist weiterhin verfügbar.)

[6] Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[7] Biontech: mRNA-Impfstoffe zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Was ist ein mRNA-Impfstoff und wie funktionieren mRNA-Impfstoffe? mRNA-Impfstoffe 2021.

[8] Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle: Einladung zum Dialog in der Covid-19-Pandemie. In: Dialog Ethik 14. April 2021.

[9] Google Suche „Pferdeeiweiß“ vom 29.04.2021.

[10] Ebenda.

[11] Dr. med. Peter Beck: Gedanken zur Corona-Impfung. In: ders., Dr. theol. Lothar Gassmann, M. A. Reiner Wörz: Corona-Krise. Ein Ruf zur Umkehr. Neu mit Gedanken zur Corona-Impfung. (Verein zur Stärkung des biblischen Glaubens e. V., Baden-Baden 2021, S. 37.

[12] Ebenda S. 38.

[13] Ebenda S. 40.

[14] Zum Golem-Mythos in Bezug auf künstliche Menschen und Künstliche Intelligenz siehe: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[15] Dr. med. Peter Beck: Gedanken … [wie Anm. 11] S. 41-42.

[16] Ebenda S. 43.

[17] Siehe „Herzlich Willkommen beim Deutschen Ethikrat“ https://www.ethikrat.org

[18] Ebenda Publikationen.

[19] Deutscher Ethikrat: Mindestmaß an sozialen Kontakten in der Langzeitpflege während der Covid-19-Pandemie. AD-HOC-EMPFEHLUNG. Berlin, 18. Dezember 2020, S. 2.

[20] Ebenda S. 3.

[21] Deutscher Ethikrat: Besondere Regeln für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung. Berlin, den 4. Februar 2021.

[22] Biontech: mRNA-Impfstoffe … [wie Anm. 6].

[23] Robert-Koch-Institut: Aufklärungsmerkblatt. Zur Schutzimpfung gegen COVID-19 (Corona Virus Disease 2019) – mit mRNA-Impfstoffen – (Comirnaty von BioNTech/Pfizer und COVID-19 Vaccine Moderna von Moderna) Stand: 01. April 2021 (dieses Aufklärungsmerkblatt wird laufend aktualisiert) S. 3.

[24] Siehe Robert-Koch-Institut: Durchführung der COVID-19-Impfung (Stand 22.4.2021)

[25] EMA: Comirnaty, INN-COVID-19 mRNA Vaccine (nucleoside-modified). 21.12.2020.

[26] Ebenda S. 2.

[27] Ebenda S. 5.

[28] Ebenda S. 6.

[29] Vgl. zur Wortvermehrung die Forschung von Maike Park, die „über 1.200 neue oder umgedeutete Corona-Wörter“ für 2020 gesammelt hat. In: Torsten Flüh: Die Kontaktperson … [wie Anm. 6].

Gefühlsechte Geschichte/n

Gefühl – Ambivalenz – Geschichte

Gefühlsechte Geschichte/n

Zur Queer Lecture und Buchvorstellung von ANDERS FÜHLEN im taz TALK mit Jan Feddersen und Benno Gammerl

Am 18. März 2021 um 20:00 Uhr war Benno Gammerl aus dem European University Institute in der Via Bolognese 156 in Florenz für die Queer Lecture als taz Talk mit Jan Feddersen im Livestream zugeschaltet. In ganz Italien herrschte bereits eine Ausgangssperre zwischen 22:00 und 5:00 Uhr, so dass die Onlineveranstaltung zwischen Florenz und Hamburg ziemlich pünktlich um 21:00 Uhr enden sollte. Nach gut 62 Minuten endete der Livestream mit einem Winken der Techniker*innen im taz-Haus in der Berliner Friedrichstraße beinahe wie Eurovision. Fast in der Eile der Glasfaserkabel hatte Benno Gammerl sein gerade bei Hanser erschienenes – ja, ich muss schon an dieser Stelle schreiben – Standardwerk zum schwulen und lesbischen Leben in der Bundesrepublik ANDERS FÜHLEN vorgestellt.

Natürlich reichen 62 Minuten mit An- und Abmoderation für Benno Gammerls exzeptionelle Emotionsgeschichte ganz und gar nicht. Als Sachbuch bei Hanser heißt die ebenso mikrologische wie vielfältige Forschungsarbeit im Titel „Eine Emotionsgeschichte“. Sie liest sich streckenweise wie ein großer, analytischer und spannender Gesellschaftsroman der Bundesrepublik Deutschland. Sie basiert auf 32 biographischen Interviews nach der Methode der Oral History von männerliebenden Männern und frauenliebenden Frauen, die zwischen 1935 und 1970 geboren wurden. Einige, so Gammerl, sind seit den Interviews in den Jahren 2008 und 2009 verstorben. Gammerl fragt die gleichgeschlechtlich liebenden Menschen nach ihren Gefühlen im Laufe ihres Lebens. Die Gefühlslebenserzählungen aus der Nachkriegszeit bis in die Jahrtausendwende werden mikrologisch bis in einzelne Pausen, Wiederholungen und Stockungen in Auszügen anonymisiert zitiert.

Mit der Frage nach dem Fühlen und den Gefühlen ändert sich alles in den Geschichten der „Homosexualitäten“.[1] Die Geschlechterverhältnisse werden von Benno Gammerl auf eine neuartige Weise beschrieben und historisch kontextualisiert. Seine Emotionsgeschichte wird zu einem entscheidenden Beitrag zur Homosexualitäten-Forschung. Die einzelnen Gefühlserzählungen werden in ihren Ambivalenzen zum Medium, um Geschichte und Sexualität in ihrer Vielfalt und temporären Spezifik zu schreiben. Als Sachbuch beschränkt Gammerl seine theoretisch-methodologische Diskussion zugunsten der Lesbarkeit in seiner „Einleitung“ mit dem Titel „Verschlungene Pfade“ auf das Notwendige. Er kritisiert einleitend die „Idee eines natürlichen Fortschritts hin zur Inklusion“ als „historisch unzutreffend und politisch irreführend“.[2]   

Benno Gammerls anders fühlen im Format Sachbuch situiert sich an der Schnittstelle von Geschichtsforschung und Geschichtserzählung. Dafür entwickelt und verwendet er ein umfangreiches Vokabular von „Gefühlswelten“, „Gefühlsgeschichte“, „Gefühls- und Alltagsleben“ sowie einen „gefühlsgeschichtlichen Blick“, was unter vielen eher konservativen Historikern gewiss nach wie vor als ein äußerst unsicheres Terrain der Wissenschaft verworfen wird. Gefühle werden eher der Belletristik, der eben schönen und traurigen Literatur, zugeschlagen als einem zeitlich bestimmbaren Wissen. Historiker argumentieren landläufig mit Fakten und Daten, aber nicht mit den oft vagen Gefühlen. Für sie zählt das Datum einer Vertragsunterzeichnung mehr als die Gefühle, die der oder die Unterzeichnende dabei hatte. Erst Ute Frevert nahm die Gefühle als Feld der Geschichts- und Geschlechterforschung beispielsweise für die Zeit um 1800 ernst.[3]
„Gefühle um 1800: Dazu gehört einerseits das Reden über sie, der Disput, ob man sie haben solle oder nicht, welche Gefühle gut und welche schlecht seien, wozu sie nützen und wem sie schaden, welches Maß zu beachten sei, wie man die guten erregen könne und die schlechten verbessern, welche Rolle dabei das Theater, die Literatur und die Musik – also die Künste überhaupt – spielen sollten.“[4]  

Gefühle brauchen Benennungen, müssen erst einmal mit Worten begriffen werden. Im Gebrauch und im Maße ihrer Namen werden sie gedreht und gewendet, ausprobiert und verworfen. Wenn es kein festumrissenes Schema, keinen hegemonialen Diskurs für ein oder mehrere Gefühle gibt, dann müssen dafür erst einmal Beschreibungen durch Erzählungen gefunden und geprägt werden. So kennt zwar das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) keinen „Gefühlshaushalt“, listet aber immerhin in seinem „Kernkorpus“ dessen Verwendung im Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz aus dem Jahr 1999 auf.[5] 2011 veröffentlichte Ute Frevert u.a. mit Benno Gammerl Gefühlswissen als „(e)ine lexikalische Spurensuche in der Moderne“.[6] Im Wintersemester 2020/21 machten die Mosse-Lectures den Zorn als „politischen Affekt“ zum Thema und Ute Frevert erkundete ihn als „mächtiges Gefühl“ in der Politik.[7] In dem nun erschienen Sachbuch von Benno Gammerl spielt das Wissen um Gefühle die entscheidende Rolle, weil „das Gefühlsleben (…) Raum für ein (…) Besonders-Sein“ bietet, „das sich nicht abgrenzen und abheben will“.[8]

Mit Gefühlen wird Politik gemacht. Deshalb spielen sie sich immer an der Schnittstelle von Privatem und Öffentlichem ab. Dies galt und gilt umso mehr, wenn es um ein Fühlen geht, das vom Staat nicht nur beaufsichtigt, sondern kriminalisiert wird. In der Moderne wird der Staat zum großen Observator und Regulator der Gefühle. So schreibt Fichte in seinem Naturrecht 1797 im Unterschied zum „Wissen“ des Mannes dem „Weib“ ein „natürliches Unterscheidungsgefühl für das wahre, schickliche und gute“ zu.[9] Die Regulierung der Gefühle durch ein vielfältiges Wissen wird somit im 19. und 20. Jahrhundert zur Aufgabe des Staates bis in die Gesetzgebung und das Strafrecht der Bundesrepublik, mit der Benno Gammerls erster Teil als „Nachkriegsdekaden“ mit den Praktiken des „Ausweichen(s)“ einsetzt.
„In den Nachkriegsdekaden galt der § 175 StGB nach wie vor in seiner 1935 vom nationalsozialistischen Regime verschärften Form. Männerliebende Männer wurden verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt. Homophile Zeitschriften unterlagen der Zensur und homophile Lokale waren von der Schließung bedroht, beispielsweise wenn die Polizei bei einer Razzia tanzende Männerpaare antraf.“[10]

Doch der Historiker legt mit seinen Oral-History-Interviews eben auch die Erzählungen vom „Ausweichen“ frei. Dadurch gelingt ihm die Darstellung einer Vielfältigkeit und Ambivalenz der Gefühlslebensbeschreibungen, die in „der westdeutschen Homosexualitätengeschichte“[11] nicht oder zu wenig berücksichtigt worden sind. Das Sprechen von den Gefühlen wurde in der Geschichtswissenschaft unterschlagen. Gesetze und Gesetzesänderungen zwischen dem Strafrechtsparagraphen 175, Lebenspartnerschaftsgesetz und der „Ehe für alle“ nach dem § 1353 Abs. 1 S. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches – „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“ – entwerfen zwar einen Fortschritt in der Rechtsprechung[12], doch zugleich regulieren sie weiterhin das Gefühlsleben der Einzelnen.
„Gerade die Gefühle zeigen, wie viel komplexer Selbst und Gesellschaft aufeinander wirken. Diese Interaktion lässt sich nicht auf Unterwerfung, Anpassung oder Widerstand reduzieren. Der für das Gefühlsleben so wichtige Körper ist weder ein bloßes Objekt soziokultureller Prägungen noch ein Garant unbändigen Eigensinns.“[13] 

Das individuelle Erzählen in seiner Vielschichtigkeit wird für Benno Gammerl zum nicht nur historischen Forschungsfeld. Er druckt zu Beginn seiner drei Teile und Phasen jeweils zwei längere Passagen als „O-Ton“ z. B. von „Herr(n) Meyer & Frau Schmidt“ ab, um später kürzere zu analysieren. Denn beispielsweise Praktiken zur Kontaktaufnahme unter Männern in „homophilen Lokale(n)“ mussten durchaus erlernt werden. Derartige Praktiken sind zwar darüber hinaus allgemein notwendig zu erlernen, aber die „homophilen Lokale“ erforderten spezielle und gefühlt anstrengende.
„Herr Harrer lernte im Verlauf mehrerer Besuche in Schwulenkneipen, wie man dort anderen Männern näherkam. Man könnte auch sagen, er übte zu flirten. Schritt für Schritt verfeinerte er sein Können durch »Testen« und »Probier[en]«: Versuch, Scheitern und erneuter Versuch. Auf die Körperlichkeit dieses Trainings, dieses Einübens bestimmter Gesten und Verhaltensweisen verweist das Stöhnen, das ihm entfährt, während er davon berichtet.“[14]   

Die Körper der „Erzählpersonen“ erfahren von Benno Gammerl eine genaue Berücksichtigung als „(i)ntelligente Körper“[15] und „körperliche Intelligenz“[16]. Sie werden nicht nur als Schauplatz der Gefühle in den Erzählungen, sondern ebenso als ihr Aktionsraum analysiert. Das „Stöhnen“ von Herrn Harrer beim Erzählen bringt seinen Körper auf ambivalente Weise zum Ausdruck. Einerseits verweist es auf die Anstrengung des Lernprozesses, andererseits spielt es hinüber zur Lust eines erfolgreichen Flirtens in homophilen Lokalen. Der Raum der spezifischen Lokale formt den Körper als Schauplatz der Gefühle zumindest mit, könnte man sagen. Für Herrn Kuhn geht es um ein anderes Körpergefühl, das alarmiert, schützt und Intimität ermöglicht:
„Der Ekel vor Männerküssen lässt sich also auch als ein intuitiver Selbstschutz begreifen, als eine körperliche Intelligenz, die es Herrn Kuhn erlaubte, bestimmte Gefahren zu meiden, ohne sich ihrer gänzlich bewusst zu sein. So gesehen hat ihn seine Abscheu nicht davon abgehalten, sondern sie hat es ihm ermöglicht, bestimmte Formen zwischenmännlicher Intimität zu erleben.“[17]  

Nicht nur das Straf- und Eherecht, sondern ein ganzes Ensemble von Gesetzen wie das Grundgesetz und die Erklärung der Menschenrechte von 1948 durch die Vereinten Nationen spielten in das Gefühlsleben von frauenliebenden Frauen und männerliebenden Männern hinein. Aktuell werden die Grundrechte, die im Grundgesetz durch den Staat, die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich garantiert werden, auf tagespolitisch spektakuläre Weise bemüht. In der Covid-19-Pandemie wird vor allem in den bundesrepublikanischen Medien von den Grundrechten gesprochen. Freiheits- und Gleichheitsrechte wurden selten in der über 70jährigen Geschichte des Grundgesetzes so heftig debattiert wie seit März 2020. Dabei geht es natürlich um Gefühle, Ängste und Hass, Liebe und Empathie. Der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach spricht beispielsweise in der ZEIT vom 30. März 2021 von zwei Handys, die sich für ein paar Stunden in einer Wohnung treffen. Anders gesagt: Es geht um Kontakte in Räumen, Körperkontakt und Gefühl.

Eine Gefühlsgeschichte der Pandemie zu schreiben, könnte aufdecken, dass unabhängig von sexuellen Präferenzen Gefühle eine prominente Rolle besonders in der sogenannten 2. und 3. Welle der Epidemie spielten. Umso befremdlicher erscheint es deshalb, dass der „Menschenrechtsdiskurs“[18] in der Debatte um die Rechte frauenliebender Frauen und männerliebender Männer in den Nachkriegsdekaden eher marginal und den Nischen homophiler Zeitschriften und „humanitäre(r)“ Vereine geführt wurde.
„Insbesondere säkulare und kosmopolitisch orientierte Kreise betonten, dass Homosexuelle so wie alle anderen Menschen auch das Recht hätten, sich frei zu bewegen und zu äußern, Vereinigungen zu gründen und vor Diskriminierung geschützt zu werden. Dieses Argument bestimmte die sogenannte Pfingst-Eingabe, die der »humanitäre« Verein Club Elysium 1961 an den ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss von der FDP, den Generalbundesanwalt und CDU-Rechtsexperten Max Güde sowie an Fritz Bauer als SPD-Mitglied und hessischen Generalstaatsanwalt richtete.“[19]

Benno Gammerl führt in seinem Buch als zeit- und gefühlsgeschichtliche Rahmungen der Interviews und ihrer Entfaltung Spielfilme als Darstellung von „gleichgeschlechtlich begehrende(n)“ Frauen und Männer an.[20] Diese wurden seit 1957 mit Veit Harlans Film Anders als du und ich (§ 175) und 1958 Mädchen in Uniform mit Romy Schneider und Lilli Palmer meist kontrovers, wenn nicht offen ablehnend debattiert. Sie stellten unterdessen allererst eine Sichtbarkeit von einem gleichgeschlechtlichen Begehren her und ermöglichten damit nicht zuletzt eine identifikatorische, wenn nicht gar selbstermächtigende Sichtweise. Vor allem durch den – nachträglichen – Schnitt wurde die „in der Bundesrepublik gezeigte Fassung von Veit Harlans Film“ auf entwürdigende Weise zensiert.[21] Die Rezeptionen beider Filme waren außerordentlich ambivalent. Bis heute lässt sich nicht klären, ob Veit Harlan mit seinem Film an die „humanitäre“ Tradition von Magnus Hirschfelds und Richard Oswalds Film Anders als die Andern (1919) anknüpfen oder den 1935 verschärften Homosexuellenparagraphen bestätigen wollte. Immerhin stand seit 23. Mai 1949 als Artikel 1 Abs. 1 im Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Als eine entscheidende Fragestellung für das Gefühlsleben der „Gesprächspartner*innen“[22] fragte Benno Gammerl nach der Unterscheidung zwischen Stadt- und Landleben. – „Welche Bilder und Narrative bestimmten die Wahrnehmung von Ruralität und Urbanität in der Phase des Ausweichens?“[23] – In der Novelle Bernardino von André Gide aus dem Jahr 1960 wird nach Gammerl für den männerliebenden Mann ein „Kontrast zwischen Landparadies und Stadthölle“ entworfen. Andererseits lockte die Stadt, allemal die inselartige Großstadt Berlin mit einem Freiheitsversprechen für Frauen und Männer.[24] Doch für Frau Jäger setzt der geschlechtsspezifische Zwang zum Kleid erst in der Stadt ein.
„Sie wuchs auf einem Bauernhof auf, und wegen ihrer Maskulinität – »ich bin auch mehr so der gestandene Typ« – genoss sie es, Hosen zu tragen. »Jeder hatte», sagt sie, männliche Pronomina verwendend, »sein Blauzeug an und Gummistiefel, und dann ging das los.« Erst als die 15-Jährige ab 1970 die Schule in E., einer nahe gelegenen größeren Stadt, besuchte, musste sie »‘n Kleid anziehen«, was ihr »sehr fremd« war.“[25]

Benno Gammerl erreicht mit seiner Methode eine Darstellung der Komplexität und Ambivalenz der Gefühle schwuler Männer und lesbischer Frauen, wie sie in der Geschichtsforschung bislang nicht berücksichtigt worden ist. Das liegt u.a. an den Gefühlen selbst. Denn Gefühle sind nie eindeutig oder rein. Immer wieder mischen sich Gefühle ineinander und lassen sich in ihrer Ambivalenz kaum voneinander trennen. Allenfalls zeichnen sich die Gefühle in der Moderne dadurch aus, dass sie wie bei Fichte geschlechtet werden. Deshalb werden sie allererst zum Spielfeld und Schauplatz von Geschlechterkonstruktionen und Identitäten. Die Frage nach der Stadt und dem Land reißt insofern ein komplexes und widersprüchliches Verhältnis auf, weil es dabei um einen Wunsch kategorischer Unterscheidung geht.
„Der simple Gegensatz zwischen liberaler Stadt und konservativem Land verzerrt also die tatsächliche Komplexität der Lebenswelten frauenliebender Frauen und männerliebender Männer in der Phase des Ausweichens. Gleiches gilt für die kategorische Trennung zwischen öffentlichen Situationen, die zum Verstecken des inneren Fühlens zwangen, und privaten Rückzugsorten, die dessen Ausdruck erlaubten.“[26]

In der „Phase des Ankommens“ seit den 1980er Jahren sind vor allem die Gefühle und der Umgang mit ihnen nicht einfacher geworden. Ängste und Wut vermischen sich mit der Liebe zum gleichen Geschlecht und werden vielmehr seither anders artikuliert und bearbeitet. Im Abschnitt „Schüchternheit und die Optimierung des Angstmanagements“[27] kommt Benno Gammerl mit seinen Interviews an den Punkt, dass das Gefühlsleben weiterhin komplex und ambivalent bleibt. Vielleicht nicht nur für gleichgeschlechtlich liebende Menschen, aber für diese doch auf andere, womöglich gar zugespitzte Weise:
„Frau Otte lernte von ihrer Partnerin, mit der sie seit 1992 zusammen ist, Emotionen wie Wut und Angst zu zeigen und darüber zu sprechen. Einmal fuhr die Freundin mit ihr an einen menschenleeren Ort außerhalb der Stadt und ermutigte sie, ihre Gefühle herauszuschreien. Das kostete sie eine »wahnsinnige Überwindung«, aber dadurch habe sie gelernt, dass sie nichts zu befürchten hat, wenn sie ihre schwierigen Emotionen zeigt. Seither kann sie besser mit ihrem Zorn und ihrer Furcht umgehen.“[28]  

Benno Gammerl kommt mit seiner fulminanten Gefühlsforschung, echten wie erlernten Gefühlen und den Erzählpersonen zum Schluss, dass die „Homosexualitätengeschichte der Gegenwart (…) in den 1980er-Jahren“[29] begonnen habe. Ängste gibt es weiterhin, die sich auf das Geschlechtsleben beziehen und dort eine Rolle spielen. Das Ankommen bleibt ein fortwährender Prozess, der permanent neu überdacht und ausgehandelt werden muss. Die Kritik an Cis-Männern, an Maskulinität[30] und Hegemonie hat nicht zuletzt heftige und brutale Reaktionen aus dem politischen Spektrum von Rechts hervorgerufen, um seinerseits Ängste zu schüren.
„Die Ängste verschwanden nicht. Das Ankommen blieb fraglich. Letztlich gilt es auch die Liberalisierungsthese als zentrales Paradigma der bundesrepublikanischen Geschichte insgesamt zu überdenken.“[31]

Benno Gammerls Sachbuch anders fühlen gibt einen Anstoß zu einer Debatte nicht nur der „Liberalisierungsthese“ in Bezug auf eine Homosexualitätengeschichte, vielmehr ließe sich gerade in der Covid-19-Pandemie die Macht der Gefühle in einer neuartigen Weise beschreiben. Wiederholte Gefühlsausbrüche von sogenannten „Coronaleugnern“ legen nah, dass liberale Modelle des Zusammenlebens gerade dann in eine Kritik geraten und sich in faschistische Praktiken verkehren, wenn ein diffuses Freiheitsgefühl als bedroht empfunden wird.

Torsten Flüh

Benno Gammerl
anders fühlen
Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik
Eine Emotionsgeschichte
Carl Hanser Verlag, 2021
25 €


[1] Benno Gammerl: anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte. München: Hanser, 2021, S. 9.

[2] Ebenda S. 19-20.

[3] Siehe z.B. Ute Frevert: Gefühle um 1800. Begriffe und Signaturen. In: Günter Blamberger, Ingo Breuer, Sabine Doering und Klaus-Müller Salget (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2008/09. Stuttgart: Metzler, 2009, S. 47-62.

[4] Ebenda S. 47.

[5] Siehe Korpusbelege DWDS-Kernkorpus (1900–1999): Gefühlshaushalt.

[6] Ute Frevert. Mit Monique Scheer, Anne Schmidt, Pascal Eitler, Bettina Hitzer, Nina Verheyen, Benno Gammerl, Christian Bailey und Margrit Pernau. Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt: Campus, 2011.

[7] Siehe dazu: Torsten Flüh: Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis. Zwischenlese zur digitalen Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Zorn – Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Dezember 2020.

[8] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 7.

[9] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1796-1797, S. 224.

[10] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 31.

[11] Ebenda.

[12] Siehe z.B. Anna Katharina Mangold: Stationen der Ehe für alle in Deutschland. In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 9.8.2018.

[13] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 55.

[14] Ebenda S. 89.

[15] Ebenda S. 55.

[16] Ebenda S. 57.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda S. 65.

[19] Ebenda.

[20] Ebenda S. 52.

[21] Ebenda.

[22] Ebenda S. 101.

[23] Ebenda S. 98.

[24] Siehe dazu auch die Autobiographie von Nora Eckert: Nora liest. Zu Nora Eckerts luzider Trans*-Autobiographie Wie alle, nur anders – Ein transsexuelles Leben in Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2021.

[25] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 101-102.

[26] Ebenda S. 105.

[27] Ebenda S. 322-329.

[28] Ebenda S. 327.

[29] Ebenda S. 345.

[30] Siehe zur Maskulinität: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte*. In: Jahrbuch Sexualitäten 2019. Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen: Wallstein, 2019, S. 43-70.

[31] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 345.

Nora liest – Zu Nora Eckerts luzider Trans*-Autobiographie

Autofiktion – Trans* – Sprache

Nora liest

Zu Nora Eckerts luzider Trans*-Autobiographie Wie alle, nur anders – Ein transsexuelles Leben in Berlin

In einer Zeit mangelnder Live-Ereignisse wie einer Buchvorstellung in einem Theater, Club oder einer Buchhandlung muss sich der Berichterstatter für seinen Blog ständig ein anderes visuelles Konzept überlegen. Nora Eckert hat schon in der Sternchenstunde mit Mara Geri und Henri Vogel der SPDqueer Berlin auf Facebook ihre am 22. Februar 2021 bei C.H.Beck erschienene Trans-Autobiographie vorgestellt und besprochen. Der renommierte Münchner Verlag führt Wie alle, nur anders – Ein transsexuelles Leben in Berlin als „Toptitel“. Frau Eckert hatte u.a. bei Konzerten von MaerzMusik in den letzten Jahren mehrfach meinen Weg gekreuzt. Nun traf ich sie zum Fototermin vor der Herbert-von-Karajan-Straße 1. Als ich von der Tiergartenstraße komme, liest Nora vor dem Eingang der Philharmonie stehend in einem Buch.

Nora Eckert ist ein Self-Made-Woman. – Richtig, der unbestimmte Artikel maskulinum holpert hier ein bisschen. Wäre das Femininum nicht besser? Die Unsicherheit liegt am Englischen woman und der Redewendung, die doch eigentlich nur für Männer, insbesondere Geschäftsmänner, also solche, aus denen etwas geworden ist, was, sagen wir, genealogisch und biographisch nicht vorgesehen war. Nora Eckert erzählt insofern im Buch von ihrem Leben, das so nicht vorsehbar war. Die Philharmonie, der Kammermusiksaal und die Staatsbibliothek Berlin kommen in ihrer Erzählung kaum vor. Doch in und vor der Philharmonie und dem Kammermusiksaal hatte ich sie in den letzten Jahren mehrfach gesehen. Aber nie angesprochen. Nora ist sichtbar. Sie trägt immer Röcke, Blusen und Jacken sowie eine Haarspange, die das schütter gewordene Haar fraulich zusammenhält. Die Spange wirkt wie ein Krönchen.

Die Autobiographie oder „Selbstlebensbeschreibung“, wie sie Navid Kermani in seinem Roman Dein Name von 2011[1] in Anknüpfung an Jean Pauls Selberlebensbeschreibung (1818/1819) nennt[2], erzählt nicht nur von einem fast alltäglichen Leben in Berlin, vielmehr noch stellt sich dieses Selbst in sprachlicher Form, autofiktional allererst her. Das gilt umso mehr, wenn das Selbst und dessen Aus-Bildung von der Norm abweicht. Dann muss das Selbst für sich eine Erzählung kreieren, die von Nora Eckert als Transfrau zwischen Zuschreibungen, Geschlechter- und Gesetzesnormen sowie eigenen Neu- und Umformulierungen auf zum Teil abenteuerliche Weise hin und her pendelt.

Die glamouröse junge Frau auf dem Schutzumschlag mit weißem Halstuch, schmalen Trägern über den Schultern, die ein Top über den Brüsten halten, und Rock, die Nora war, als sie 1979 an der Kasse des weltbekannten Nachtclubs Chez Romy Haag arbeitete, musste erst einmal ge- und erfunden werden. Das Nachtleben und die Arbeit an der Kasse des „Travestieclubs“ waren für sie eine Chance und Notlösung zugleich. Denn in den 70er Jahren gab es kaum gesicherte Erwerbsmöglichkeiten für Männer, die die Frau in sich entdeckten. An der Kasse nimmt sie paradoxerweise eine Machtfunktion ein.
„Da ich die Eintrittskarten verkaufte, kam keiner unbemerkt an mir vorbei. Es kamen Schauspieler wie Vadim Glowna, die gerade frisch aus der DDR übergesiedelte Katharina Thalbach zusammen mit Thomas Brasch, Kurt Raab, Paul Hubschmidt, selbst Ilse Werner, ein Star aus alten UFA-Tagen, wagte sich in die Fummeltantenhöhle.“[3]

Die Kombination aus Sprachwitz und Selbstironie – „Fummeltantenhöhle“ – mit Kulturgeschichten der 70er und 80er Jahre in Berlin eröffnet das Panorama eines einzigartigen Lebens und Berliner Kulturgeschichten. Nora Eckert beginnt nur punktuell mit einer Erzählung von ihrer Kindheit – übrigens in Nürnberg, wo sie 1969 als Schüler*in immerhin eine Aufführung von Isang Yuns Oper Der Traum des Liu-Tung sah und hörte[4] – wie Jean Paul, vielmehr „(fing) mit und in Berlin (…) alles an“.[5] Warum das Opernerlebnis mit Isang Yun später wichtig werden sollte, erhellt sich vielleicht nicht für alle Leser*innen. Doch 2017 feierte das Musikfest den 100. Geburtstag des koreanischen Komponisten insbesondere im Kammermusiksaal der Philharmonie.[6] Der fast vergessene, avantgardistische Weltmusik-Komponist wurde 2017 an kaum einem anderen Ort so ausführlich gewürdigt wie in Berlin, wo er 1995 verstorben ist. Nora muss dabei gewesen sein. Denn die Offenheit und die Faszination vor allem für zeitgenössische Opernmusik bestimmte über Jahre hinweg ihr Leben als schreibende Frau, als „Opernkritikerin“. Sie schreibt gewissermaßen professionell über Gefühle, wenn sie an die Oper „als Kraftwerk der Gefühle“ erinnert.[7]

Der Sprachwitz strukturiert nahezu die Erzählung vom Selbst zwischen „Selbstfindung, man könnte es auch Transkreativität nennen“[8], „Selbstschutz“[9], „Selbstliebe zum trans*Sein“[10], „Selbstdarstellung“ und „Selbstbetrug“.[11] Für ihr Trans*Sein hat Nora Eckert lange kämpfen müssen, denn an der Trans*Identität wird auf oft im Nachhinein komische Weise deutlich, wie strikt die Geschlechter, eine binäre und heteronormative Geschlechtsidentität im deutschen Rechtssystem geregelt wurde. Nora Eckert nennt es die „heikle Pronomenfrage“, die „mit Blick auf trans* bis heute massive Grammatikdefizite der großen Cis-Welt“ enthülle.[12] Das Geschlecht hängt nicht zuletzt vom Gebrauch des „richtigen Pronomen“ ab, was ebenso witzig wie tragisch und mächtig zugleich aus dem wahren Leben erzählt wird:
„Bei meinem nächsten Besuch schien es fast, als wäre alles immer schon so gewesen. Mit meiner Schwester war sofort der direkte Draht geknüpft, mein Bruder verhielt sich loyal, am längsten brauchte mein Vater, den richtigen Namen und das richtige Pronomen zu verwenden, aber irgendwann beherrschte auch er es.“[13]   

Die Funktion des Namens für die Geschlechtsverhältnisse wird von der Autorin ausführlich mit ihren Namensänderungen diskutiert. Der Name sollte nach dem deutschen Recht und Staat geschlechten. Zwischen Namensänderungsgesetz und dem Transsexuellengesetz vom 1. Januar 1981 spielte sich das ganze Theater von „Augenschein“[14] und Namen ab. Um den Mann oder die Frau im Transmenschen augenscheinlich zu machen, gab es „eine kleine Liste mit möglichen Namen zur Auswahl“.[15] Die Regelung der Namenswahl durch das TSG markierte Transmenschen weiterhin als Seltenheit, künstlich oder unecht. Die „spürbare Erleichterung“ war zugleich eine Seltenheitsmarkierung, um den Transmenschen für eine Art Fachwissen der Polizei sichtbar zu machen.
„Ich hatte nun die Chance, als Frau angeschrieben zu werden, was tatsächlich geschah. Wo immer ich meinen Personalausweis vorlegen musste, gab es keinen Erklärungsbedarf und keine fragenden Blicke mehr. Allenfalls der Seltenheitswert des Namens bewirkte die eine oder andere Bemerkung, die ich schon mal frech mit «Tja, was Eltern für Namen einfallen» konterte.“[16]

Nora Eckerts äußerst unterhaltsam geschriebene Autobiographie entfaltet sich gleichzeitig als eine präzise Reflexion über die Sprache und die Geschlechter. Sie schreibt kämpferisch über ihr Leben und wie die Sprache des Rechts und des Staates mit ihr umgegangen ist. Die Frage des „Umbau(s)“ ist keinesfalls nur körperliche Operation mit Skalpell und einem Vernähen, mit einem anderen Wort, der Kastration oder Sterilisation, vielmehr noch geht es immer um die Geschlechtlichkeit der Sprache. Nora nannte sich „Sandy“, weil sie noch keinen eindeutigen Frauennamen annehmen durfte. Der Namenswahlmöglichkeit war zugleich ein Verbot des Geschlechtsnamens immanent. Die „Schlagfertigkeit“[17] oder das „schon mal frech“ der Transfrauen – und Transmänner – wird als eine Rhetorik der Notwehr gegenüber dem staatlichen Namensrecht lesbar. Eine Autobiographie als eine Art Bildungsroman ist keine wissenschaftliche Studie. Doch Nora Eckert hat sehr wohl ihren Michel Foucault gelesen. Wenn sie Michel Foucault, Marguerite Duras oder George Feydeau zitiert, dann können sich die Leser*innen sicher sein, dass sie sie auch gelesen hat. Denn sie liest bis zu 50 Bücher im Jahr.

Nora Eckert hat nie ein Studium an einer Universität begonnen. Sie war und ist keine Akademiker*in, aber sie liest viel. Deshalb wechseln wir irgendwann bei unserem Gespräch und Fototermin von der Philharmonie hinüber zur Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Sie habe schon Ende der Siebziger Jahre den berühmten Lesesaal der Staatsbibliothek nach Plänen von Hans Scharoun aufgesucht. Die Staatsbibliothek ist seit 1978 in Betrieb. 1987 machte Wim Wenders den Lesesaal mit seinem Film Der Himmel über Berlin als geistigen Raum und Ikone weltberühmt.[18] Mit dieser beiläufigen Bemerkung auf die Frage, was sie mit dem Gebäude verbinde, wird schlagartig klar, dass Nora (per Gerichtsbeschluss ab 1983) oder Luzy (ab 1976) oder Sandy (ab 1978) einen guten Teil ihrer Zeit im Lesesaal verbracht haben muss, als sie im Chez Romy Haag an der Kasse arbeitete. Trans*Sein und Frau-Werden werden von ihr unauflösbar mit dem Lesen verknüpft:
„Ich verschlang das alles und war nie ohne Buch und stets lesend anzutreffen. Das ist bis heute mein 11. Gebot: Gehe nie ohne Buch aus dem Haus.“[19]  

Das Lesen und die Autofiktion werden von Nora Eckert im Genre der Autobiographie auf das innigste miteinander verschlungen. Navid Kermani hat das mit seinem Buch Dein Name auf eine geradewegs blogartige Weise gemacht.[20] Stefan Kutzenberger beschreibt die Autofiktion als „viel mehr als eine Spielart der Autobiographie“. „Das Subjekt“ konstituiere „sich darin erst durch das Schreiben, wodurch sich das Schreiben unablässig selbst“ reflektiere.[21] Das Alltägliche, vermeintlich Private und die Liebe stünden nach Kutzenberger im Fokus der Autofiktion, während die klassische Autobiographie immer eine gewisse Großartigkeit produziere. Der von Serge Doubrovsky in den 70er Jahren geprägte Begriff war durchaus gegen das Prominentengenre der Autobiographie gerichtet.[22] Seither werden Autofiktion und Autobiographie engagiert diskutiert. Nora Eckerts Buch und Erzählung von sich als „Transfrau“ und eben nicht nur als Frau lässt sich als ein Beitrag zur Diskussion lesen.
„Meine Zukunft als Transfrau war nun sichtbar geworden, und ich las diese kleinen spitzen Brüste wie eine schöne, hoffnungsfrohe Gedichtzeile auf mein neues Leben.“[23]

Im Gespräch mit Nora Eckert fällt der Begriff der Autodidakt*in, der durch sie fast ein neuartiges, aber wenigstens ein anderes Bedeutungsfeld erhält. Denn das Geschlecht und das Wissen um dieses, womöglich gar das „wahre“ oder „richtige“ Geschlecht hat immer mit Lese-, Bildungs- und Übertragungsprozessen zu tun. Eckert beschreibt dies nicht in einem Theoriekonzept, das beispielsweise mit Michel Foucault im Zitat und Hintergrund durchschimmert, vielmehr beschreibt sie im Genre der Autobiographie eine Lebenspraxis des Trans, die sich insbesondere gegen allzu normalisierte wie normalisierende Operationen wendet. Annette Runte hatte bereits 1996 Biographische Operationen erforscht.[24] Die „Brüste“ werden von Eckert selbstironisch als hormonelle Operation erzählt – „»Die Kundin mit der Kalbsbrust ist da.» «Danke für das Kompliment.»“[25] -, um literarisch als prognostische „Gedichtzeile“ gelesen zu werden, insofern sich an ihnen ein Wissen vom Geschlecht wie dem Begehren und Wunsch nach dem Begehrt-werden abspielt.

Anders als die indische Trans-Aktivistin Kalki Subranamiam mit ihrem Gedicht Phallus, I cut[26] – „I cut my phallus,/soiled in blood/…“ – ihre Geschlechtsoperation verbalisiert hat, verzichtete Nora Eckert darauf, ihr männliches Geschlechtsmerkmal entfernen zu lassen, um trotzdem „35 Jahre lang“ als Frau zu leben, bevor sie „das trans*Sein“ für sich wieder zu ihrem „Dreh- und Angelpunkt“ machte.[27] Die Transformation zur Frau wird vor allem mit den Brüsten und der Haarentfernung sowie den Kleidern, Gesten und der Stimme erzählt, um sich dann doch im Abschnitt Back to the Roots gegenüber ihren Kolleg*innen in einem Industriebetrieb anlässlich dem Ende ihrer Berufstätigkeit als trans* zu outen. Der Sichtbarkeitsdiskurs des Trans* erhält damit eine Art finale Wendung:
„Doch dann kam es zum Sinneswandel, ausgelöst durch meine hier beschriebene Sehnsucht nach der Sichtbarwerdung in meinem trans*Sein. Auch wenn ich inzwischen annehmen konnte, dass es für manche meiner Kolleg*innen ein offenes Geheimnis war, blieb ich offiziell nicht geoutet.“[28]

Warum wird die Sichtbarwerdung in der Trans*Autofiktion so wichtig? Einerseits wird mit der Sichtbarwerdung durch Outing eine Figur des biographischen Bekenntnisses oder Geständnisses in der Literatur seit den Confessiones des Augustinus im 4. Jahrhundert aufgeführt. Von Jean-Jacques Rousseau werden Les Confessions als autobiographische Form zwischen 1765 und 1770 wieder aufgenommen und erneuert, um bis zu seinen Tod 1778 unveröffentlicht zu bleiben. Andererseits wird mit der Sichtbarwerdung ein „offenes Geheimnis“ verraten, also eines, das keines mehr ist. Auf diese Weise bekommt das Bekenntnis zum „trans*Sein“ eine paradoxe Funktion, die das Sichtbarwerden zu einem politischen Akt macht. Die Sichtbarkeit des „trans*Seins“ wird zu einer politischen Geste der Emanzipation. Wahrscheinlich ist ihre Sichtbarwerdung gerade die wirkungsvollste gender-politische Geste, die Nora Eckert vollziehen konnte. Denn sie stellt damit eine heteronormative Sichtbarkeit in Frage. Es geht ihr nicht darum „nur“ Frau zu sein, obwohl sie sich gern „fraulich“ wie in Paris oder Rom – nur nicht in Berlin – kleidet.

Einerseits lässt sich in Wie alle, nur anders ein Wunsch nach Normalisierung lesen, wenn es um die „Pronomenfrage“ und den Namen geht. Doch die „Liste der Namen“ nach dem TSG wird nur allzu deutlich als ambiges Diskriminierungsinstrument offengelegt. Auch der vom TSG als Normalisierung oder „Geschlechtsangleichung“ vorgeschriebene operative Eingriff zur Kastration oder Sterilisation nach der Logik der nationalsozialistischen Rassen- und Hygienegesetze wird als verfassungswidrig entlarvt. Normalisierung führt nicht zuletzt nach Michel Foucault immer zu einer Stabilisierung von Machtverhältnissen. Andererseits meldet sich wohl nicht zuletzt deshalb bei Nora Eckert ein Widerspruch gegen die Normalisierung, wenn das „trans*Sein“ als anders sein zu verschwinden droht. Man könnte es die Differenz oder den Unterschied nennen, auf den es ihr ankommt. Keine Angleichung oder Abgleichung im Modus der Normalisierung, sondern das Recht auf ein differentielles Anderssein.

Torsten Flüh

Nora Eckert
WIE ALLE,
NUR ANDERS

Ein transsexuelles
Leben in Berlin
ISBN: 978-3-406-75563-7
208 S., mit 17 Abbildungen
Hardcover 22,00 €
e-book 16,99 €


[1] Siehe zu Navid Kermanis: Dein Name: Torsten Flüh: Ich beim Schreiben des Romans. Dein Name und die Kleist-Preis-Rede von Navid Kermani. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 18, 2012 19:39.

[2] Zum Verhältnis von „Sebstlebenserzählung“ und „Selberlebensbeschreibung“ bei Navid Kermani siehe seine Frankfurter Poetikvorlesungen: Navid Kermani: Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe. München: Hanser, 2012.

[3] Nora Eckert: Wie alle, nur anders. Ein transsexuelles Leben in Berlin. München: C.H. Beck, 2021, S. 63.

[4] Ebenda S. 137.

[5] Ebenda S. 13.

[6] Siehe Torsten Flüh: Isang Yuns Weltmusik der Haltung. Zum 100. Geburtstag des Komponisten Isang Yun beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 21, 2017 18:23.

[7] Nora Eckert: Wie … [wie Anm. 3] S. 136.

[8] Ebenda S. 47.

[9] Ebenda S. 61.

[10] Ebenda S. 102.

[11] Ebenda S. 140.

[12] Ebenda S. 135.

[13] Ebenda S. 85.

[14] Ebenda S. 94.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda S. 96.

[17] Ebenda z.B. S. 51

[18] Vgl. zu Der Himmel über Berlin: Torsten Flüh: Kühlendes Kino in der Hitzewelle. Zum Freiluftkino und der restaurierten Fassung von Der Himmel über Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 3, 2018 16:31.

[19] Nora Eckert: Wie … [wie Anm. 3] S. 136.

[20] Vgl. auch das Kapitel zu Navid Kermani in Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017.

[21] Stefan Kutzenberger: Ender der Liebe, Enden des Texts. Der Alltag der Liebe bei Navid Kermani und Karl Ove Knausgård. In: Gianna Zocco (ed.): The Rhetoric of Topics and Forms. Berlin/Boston: de Gruyter, 2021, S. 89.

[22] Ebenda S. 87.

[23] Ebenda S. 74.

[24] Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität. Paderborn: W. Fink, 1996.

[25] Nora Eckert: Wie … [wie Anm. 3] S. 79.

[26] Siehe zur indischen und europäischen Geschlechtskultur: Torsten Flüh: Indiens und Europas Mythen der Geschlechter. Kalki Subramaniam spricht mit Claudia Reiche über Hijra Fantastik und sieht Die Zauberflöte in der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 4, 2018 19:21.

[27] Nora Eckert: Wie … [wie Anm. 3] S. 180.

[28] Ebenda S. 189.

حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst

Halim El-Dabh – Afrika – Elektronische Musik

حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst

MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik

In einem zweijährigen Projekt wollte Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als Gründer und künstlerischer Leiter von Savvy Contemporary mit zahlreichen Künstler*innen an حليم الضبع /Halim El-Dabh erinnern. 2021 sollte der einhundertste Geburtstag des ägyptischen Komponisten und Musikforschers gefeiert werden. Doch 2020 vereitelte der erste Lockdown in Deutschland während der Pandemie die Vorbereitungen für eine andere Geschichte der zeitgenössischen, insbesondere der Elektronischen Musik, die 1944 nirgendwo anders als in Kairo mit einem Experiment begann. Halim El-Dabh borgte sich mit einem Freund ein Drahttongerät beim Rundfunksender aus. Sie verkleideten sich als Frauen, um an einem Frauen vorbehaltenen Zaar-Ritus teilzunehmen und nahmen die Gesänge auf. El-Dabh bearbeitete sie, um sie in einer Kairoer Galerie abzuspielen. Das war der Geburtsmoment der Elektronischen Musik.

Bis auf einen kleinen Zirkel von Fachleuten ist Halim El-Dabh fast vergessen, obwohl er an der Schnittstelle von arabischer und afrikanischer Musik sowie europäischer Technologie und Moderne die Elektronische Musik erfunden hat. 1922 entstand das Königreich Ägypten mit seiner Hauptstadt Kairo, nachdem das Vereinigte Königreich es in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Halim El-Dabh war in dem britisch ebenso wie arabisch geprägten Kairo am 4. März 1921 geboren worden. 1950 geht er in die USA und stirbt dort im Alter von 96 Jahren am 2. September 2017. Am 20. März 2021 widmete sich nun MaerzMusik 2021 – Festival für Zeitfragen in einem ca. 8-stündigen-Livestream dem Jubilar. In Schaltungen zwischen dem Haus der Berliner Festspiel in der Schaperstraße und der Galerie Savvy Contemporary in der Reinickendorfer Straße Ecke Gerichtstraße erforschten und erinnerten sich Künstler*innen und Wissenschaftler*innen an Halim El-Dabh in Gesprächen und Uraufführungen von Filmen, Animationen und Konzerten, die noch bis 24. April On Demand zur Verfügung stehen.

Halim El-Dabh könnte man den wichtigsten Musikforscher und Komponisten des 20. Jahrhunderts in Ägypten nennen. Aber diese Art des Superlativgebrauchs verdeckt mehr, als dass sie die Strukturen und Praktiken offenlegt, weshalb er als Forscher und Komponist in Vergessenheit geraten konnte. Es gibt kaum musikwissenschaftliche Literatur zu ihm. Die Staatsbibliothek Berlin führt lediglich 3 Titel, in denen sein Name vorkommt. Der erste Titel von 1996 ist eine Bibliographie über Blassmusik von schwarzen Komponisten, der zweite eine Veröffentlichung der Universität Coimbra auf Portugiesisch von 1983 und die dritte David Ernsts The evolution of electronic music mit einem Hinweis auf das Musiktheaterstück Leiyla and the poet von El-Dabh aus dem Jahr 1977.[1] Das einzige substantielle Interview mit Halim El-Dabh erschien 2007 im Journal Seamus von Bob Gluck und ist aktuell zugänglich auf der Seite des kanadischen Fachmagazins für Elektronische Musik eContact.[2] Um so entscheidender wird also Bonaventure Soh Bejengs neuer Ansatz für die Geschichtsschreibung mit Here History Began. Tracing the Re/Verberations of Halim El-Dabh.[3]

Bildschirm-Foto: Ali Demirel: Visual response to the sonic compositions of Halim El-Dabh – Taabir El-Zaar (1944)

Erforscht wird der Nachhall (Reverberation) von Halim El-Dabh grafisch, akustisch, visuell, kompositorisch, narrativ, elektronisch, digital, choreografisch, lexikalisch und vokal. Der Kurator und sein Team verlängern den Nachhall zunächst einmal um 4.000 Jahre bis in die Zeit der Pyramiden von Gizeh – 4.100 Jahre Nach/Hall mit Halim El-Dabh. So künstlerisch kreativ sich diese Verlängerung für den 20. März 2021 gibt[4], entbehrt sie nicht ganz einem biographischen Bezug zum Jubilar. Denn er wurde nicht nur in Kairo geboren, vielmehr noch komponierte er 1959 mit Son et lumière (Klang und Licht) die Musik für die Lichtshow an den Pyramiden von Gizeh. Die Lichtshow gibt es offenbar noch immer. Am 15. Januar 2021 empfahl jedenfalls „Shadow Moses“ auf Tripadvisor sich die Show „Sound & Light Egypt“ von der Dachterrasse eines der Hotels anzusehen.[5] Von der Premiere der neuen Lichtshow mit Lasereffekten am 10. Mai 2019 existiert ein Video auf ExploreTube mit Klang und Erzählung in Englisch. Offenbar prägt die Lichtshow mit der Komposition von Halim El-Dabh, ohne dass sein Name auftaucht, seit Jahrzehnten die Wahrnehmung der Pyramiden von Gizeh. Musikhistorisch lässt sich gut vorstellen, dass die Komposition zwischen Strawinsky-Moderne und Hollywood von 1959 stammt.

Bildschirm-Foto: Ali Demirel: Visual response to the sonic compositions of Halim El-Dabh – Electronic Fanfare (1959-1961)

Bevor sich Halim El-Dabh stärker mit der Erkundung der Musik in Afrika beschäftigte, prägte ihn als Junge die europäische Moderne. In seinem Interview mit Bob Gluck hat sich der Komponist in den 30er und 40er Jahren ausdrücklich in der Moderne von Paul Hindemith, Béla Bartók und Arnold Schönberg situiert. Der Komponist Yusuf Grace habe in den 1930er Jahren versucht, ägyptische und westliche Musik zusammen zu bringen.[6] Yusuf Grace lässt sich als Komponist nicht verifizieren. Doch es bleibt eine Sounddatei von El-Dabhs erster experimenteller, elektronischer Komposition The Expression of Zaar. Der Ursprung des Zaar-Ritus lässt sich bis heute nicht klären. Er wird lexikalisch und ethnologisch zwischen Persien und Äthiopien, Eritrea und dem Volk der Hausa angesiedelt. Doch Zār/ زار hat sich vermutlich vor allem im urbanen Großraum von Kairo an der Schnittstelle von Geisterbeschwörung, Exorzismus und weiblicher Unterhaltungskultur etabliert.[7] Auf der Website des Musikmagazins The Wire lässt sich eine Aufnahme von knapp 2 Minuten hören.

Bildschirm-Foto: Halim El-Dabh spricht.

Halim El-Dabhs Komponieren beginnt insofern mit einer mehrfachen Grenzüberschreitung. Diese findet in einem dezidiert geschlechtlichen Raum statt, derart als nicht nur in einen afro-arabischen Ritus als Kulturraum mit einem damals neuartigen Aufzeichnungsgerät eingedrungen wird, vielmehr noch ist dieser Raum den Frauen vorbehalten. Denn Halim und sein Freund Iskander müssen sich als Frauen verkleiden, um überhaupt dem Ritual beiwohnen zu können. Auch dringen sie mit einem Drahttongerät als Vorläufer von Tonbandgeräten nach früher ethnologischer Praxis in den ihnen sonst verschlossenen Kultur-, Klang- und Sprachraum vor. Die Faszination der beiden jungen Männer lässt sich leicht vorstellen. Die elektroakustische Be- und Verarbeitung setzte erst nachträglich ein, was ein ethnologisches Wissen unterläuft, geradezu verfremdet. Es wird ein Geheimnis der ägyptischen bzw. Kairoer Frauen gebrochen, um zugleich mit technischen Mitteln chiffriert zu werden. Für die westlichen Ohren in einer Kairoer Galerie muss, was sie 1944 zu hören bekamen, sensationell gewesen sein.

Bildschirm-Foto: Halim El-Dabh spricht

Man muss sehr genau die Praktiken bedenken, durch die Halim El-Dabh seine erste elektronische Musik generierte und komponierte, wenn er sich im Interview mit Gluck mit einem Bildhauer vergleicht, der Klangbrocken genommen und sie zu etwas Schönem gemeißelt habe – „like a sculptor, taking chunks of sound and chisselling them into something beautiful“. Die Formulierung erinnert nicht zuletzt an den ebenso klassischen wie westlichen Pygmalion-Mythos vom Bildhauer als Schöpfer des Frauenbildnisses, dem Leben eingehaucht wird. Ob und inwiefern Halim El-Dabh seine Formulierung reflektiert hat, wissen wir nicht. Doch die afro-arabischen Klänge erlangen überhaupt erst über den westlichen Künstlermythos einer operationellen Schöpfung zur Geltung für die westliche Musikkultur. Gekittet wird damit auch ein Bruch zwischen der unbestimmten Herkunft der Klänge und Taabir El-Zaar/The Expression von Zaar als Klangskulptur in einer Galerie.

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im Gespräch mit Jesse Cox

Nachträglich hat sich Halim El-Dabh wiederholt weniger auf das Arabische als vielmehr auf die Musik Afrikas, die ihn „mit dem Universum verbinde()“, berufen.[8] Bonaventure und sein Team führen ihn als „ägyptischen Musiker(), Panafrikanisten, kreativen Musikwissenschaftler und Philosophen“ ein.[9] Die forschende Kreativität kam nun am 20. März 2021 in den Performances, Visualisierungen von Ali Demirel, Gesprächen und Konzerten zum Zuge. Es wurde auch eine Transformation der Werke Halim El-Dabhs, die nachhaltig wirken wird.
„Mit dieser Recherche und Ausstellung fragen wir: Was sind die Mechanismen, durch die Halim El-Dabh aus dem Kanon ausgeschlossen werden konnte? Ein Künstler, dessen legendäre Komposition „It is Dark and Damp on the Front“ (1949) ihm internationale Anerkennung einbrachte, bevor er eine formale Musikausbildung erhielt; der mit der modernen Tanzlegende Martha Graham zusammenarbeitete; der mit „Taabir El-Zaar“ (1944) eines der frühesten bis heute bekannten Stücke elektronischer Musik komponierte, das eine anhaltende und noch florierende Welle experimenteller elektronischer Musik auslöste; dessen Klanginstallation „Here History Began“ (1961) zum Synonym für die Pyramiden in Gizeh geworden ist; und dessen panafrikanistische Vision ihn durch den gesamten afrikanischen Kontinent führte, um mit Denkern, Musikern und Politikern wie Leopold Sedar Senghor und Haile Selassie in Kontakt zu treten und zusammenzuarbeiten, während er Klänge und Instrumente aus dem ganzen Kontinent und der Diaspora sammelte.“[10]    

Einen ersten Höhepunkt des Livestreams setzte die aus Äthiopien gebürtige Vokalistin Sofia Jernberg mit ihrem dreiteiligen Konzert. Die Uraufführung von Mena Mark Hannas Solostück For Halim knüpft deutlich an seine The Expression of Zaar an. Hanna hat das Stück für die als Jazzsängerin erfolgreiche Sofia Jernberg wohl nicht zuletzt komponiert, weil sie sich mit äthiopischen Gesangstechniken befasst hat.[11] Eine elektronische Bearbeitung findet allerdings nicht statt. Es kommt vielmehr auf die Stimmtechniken außerhalb des europäischen Kanons an. Mena Mark Hanna ist Gründungsdekan der Barenboim-Said Akademie, der den Sakralgesang des Nahen Ostens erforscht hat. Insofern ist seine Komposition von einer intensiven Reflexion von außereuropäischen Gesangstraditionen durchdrungen. Geht es doch an der Barenboim-Said Akademie mit dem Boulez-Saal auf Anregung von Daniel Barenboim und in Anknüpfung an den Literaturtheoretiker Edward Said unter ihrem Rektor Prof. Michael Neumann um eine Ausbildung von „begabte(n) junge(n) Menschen vor allem aus dem Nahen Osten und Nordafrika“.[12] Sofia Jernberg wird so zur perfekten Interpretin des Stückes.  

Sofia Jernberg ist selbst als Komponistin tätig, weshalb sie mit One Pitch: Birds for Distortion and Mouth Synthesizers ein eigenes Stück von 2015 als zweites zur Aufführung brachte. Die elektroakustische Live-Bearbeitung der Stimme erinnert an Halim El-Dabhs erstes Stück. Mit der ebenfalls als Uraufführung dargebotenen Komposition To Bathe Sore Hearts nimmt Sofia Jernberg textlich und vokal explizit Bezug auf Halim El-Dabh. Sie singt zu Beginn eine Melodie von Johann Sebastian Bach, an die sie sich in einem Hotelzimmer in Berlin erinnert habe. Sie erinnert sich in ihrem Text an den Beginn der Musik im westlichen Zeitalter, in dem die Kirche wollte, dass man still sei. Dann singt sie wieder die Melodie des Chorals „Nun freut euch, Gottes Kinder all“, BWV 387, um daraufhin ein Smartphone mit Kompositionen von Halim El-Dabh aus dem Jahr 1963 zuzuschalten. Auf diese Weise führt Sofia Jernberg einen Austausch zwischen Bach und El-Dabh vor. Zum atonalen Klavierspiel von Halim moduliert sie ihre Stimme. Das Stück wird mehr zu einer Klangcollage.

Das zweite größere Konzert des Abends wurde als Uraufführung von Ute Wassermann und Mazen Kerbaj unter dem Titel Revisitations aufgeführt. Beide Künster*innen sind in Berlin ansässig und sind mit elektroakustischen Klangcollagen bekannt geworden. Mazen Kerbaj kam durch das Berliner Künstlerprogramm des DAAD nach Berlin und stellte 2016 in einer Wohnung an der Bundesallee eine Klanginstallation aus und über den Krieg im Libanon, insbesondere Beirut im Rahmen von MaerzMusik vor.[13] Ute Wassermann musizierte 2017 mit Max Eastley in der DAAD Galerie in der Oranienstraße beim Festival mikromusik.[14] Nun fanden beide zusammen, um in Anknüpfung an Halim El-Dabhs elektromusikalisches Opernprojekt Leiyla and the Poet von 1959 eine musikalische Reflexion vorzunehmen. Ein Ausschnitt aus Leiyla and the Poet, das sich auf den Stoffkreis der Erzählung von Tausend und eine Nacht bezieht, ist durch das Columbia-Princeton Electronic Music Center zugänglich. Das Erzählen wird hier durch die elektronische Bearbeitung poetisch verfremdet. Nicht die Verständlichkeit der Erzählung steht im Vordergrund, sondern ihre Klangfarben werden wichtig.

Ute Wassermann und Mazen Kerbaj haben sich mit ihrer Klanginstallation vielleicht gegenüber dem Ausgangsmaterial weniger elektronisch angenähert. Denn sie führen das Musikmachen und Erzählen in seinen höchst artifiziellen Verschaltungen und Praktiken vor, während Halim El-Dabh dieses technisch und elektronisch erzeugte. Die performative Erweiterung der elektronischen Produktion verschiebt die Wahrnehmung ins Visuelle, das seinerseits das Praktische und Experimentelle stärker erkennen lässt, ohne das Poetische zu verraten. – Auch deshalb sind die Videos on demand sehr zu empfehlen.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2021
Festival für Zeitfragen
Halim El-Dabh – Invocations


[1] Siehe Sucherergebnisse Stabikat für „Halim El-Dabh“. http://stabikat.de/CHARSET=UTF-8/DB=1/LNG=DU/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=Halim%20El-Dabh 

[2] Bob Gluck: “… LIKE A SCULPTOR, TAKING CHUNKS OF SOUND AND CHISELLING THEM INTO SOMETHING BEAUTIFUL” Interview with Halim El Dabh, Egyptian Composer. In: eContact 15.2, Mai 2013.

[3] Siehe Savvy Contemporary: Bonaventure Soh Bejengs Ndikung: Here History Began. Tracing the Re/Verberations of Halim El-Dabh. 20.03.2021.

[4] Ebenda: 4100 Years Re/Verberations with Halim El-Dabh. Online-Invocations 20.03.2021.

[5] Tripadvisor: Shadow Moses: Sound & Light Egypt.

[6] Bob Gluck: „… LIKE … [wie Anm. 2] Egypt in the 1930s and 1940s.

[7] Siehe Wikipedia Zār (Englisch) Der französische Wikipedia-Artikel weicht davon leicht ab.

[8] Zitiert nach Bonaventure …: Here … [wie Anm. 3]

[9] Ebenda.

[10] Ebenda.

[11] Siehe MaerzMusik On Demand: Halim El-Dabh – Invocations.

[12] Michael Neumann: Grußwort des Rektors. Barenboim-Said Akademie.

[13] Torsten Flüh: Der Sound und die Zeit des Krieges. Mazen Kerbajs Klanginstallation zum Krieg in einer Wohnung der Bundesallee 53. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 17, 2016 17:18.

[14] Torsten Flüh: Klangspuren sinnlich. Max Eastley und das Eröffnungskonzert von mikromusik. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 30, 2017 21:52.

Geströmtes Festival am Bildschirm

Digitaler Raum – Livestream – Festival

Geströmtes Festival am Bildschirm

Zur Eröffnungsveranstaltung von MaerzMusik 2021 – Festival für Zeitfragen im Livestream

MaerzMusik 2021 im Livestream ist ein Experiment und pandemische Realität zugleich. Der Livestream simuliert das Festival in Echtzeit des Lockdowns. Doch zugleich wird er für das Festival „On Demand“ aufgezeichnet. Im März 2020 zu Beginn der Covid-19-Pandemie musste das Festival ganz abgesagt werden, weil der erste Lockdown jegliche Veranstaltungen verhinderte. Zwei Epidemie-Wellen weiter und geschätzte 1.000 bis 1.500 umgedeutete oder neu kombinierte Wörter wie „Ruhephase“ mehr, woran der Intendant der Berliner Festspiele Thomas Oberender zum Jahreswechsel erinnert hat[1], nach ungezählten Online-Meetings und der Frage „Can you hear me?“ ermöglicht nun der Livestream das Unmögliche. Kulturveranstaltungen reflektieren nicht mehr nur das Digitale mit oft recht eigenwilligen Geräten und Formaten, vielmehr wird nun ein digitaler Raum geschaffen und vor allem das Publikum digitalisiert, indem es im Livestream am Bildschirm sitzt und die Zeit in einer digitalen Sanduhr verrinnen sieht.[2]

Das von Berno Odo Polzer kuratierte Festival für Zeitfragen ist fast das ideale Format für das digitale Livestream-Experiment. Denn nicht nur die Musik der Gegenwart wurde seit den 40er und 50er Jahren von analoger Elektronik erforscht, vielmehr noch sind Synthesizer und Mischpulte der Tontechnik seit den 60er Jahren unverzichtbar geworden. Schaltkreise generieren Zeitschleifen in der Musik etc. Im März 2020 strandeten 25 jüngere Musiker*innen des Bolivianischen Experimentalorchesters für indigene Instrumente (OEIN) gemeinsam mit Timo Kreuser als Leiter von PHØNIX16 und Sonia Lescène als Produktionsleiterin in der Musikakademie Rheinsberg. Nun ist die zwar recht malerisch gleich neben dem Schloss am Markt auf dem Ufer des Grienicksees gelegen, aber die Orchesterreise verwandelte sich durch den nach und nach globalen Lockdown in eine 84tägige „Zwangsquarantäne“. Mit dem Ergebnis der Arbeit aus dieser einzigartigen Situation unter dem Titel Environment wurde nun MaerzMusik 2021 im Livestream als Uraufführung eröffnet.

© Philippe Rebosz

Die Covid-19-Pandemie hat für MaerzMusik 2021 eine erzwungene Zeitschleife bewirkt. Leider gehen weder Thomas Oberender noch Berno Odo Polzer auf diese bei der Eröffnungsschaltung aus der Kassenhalle des Hauses der Berliner Festspiele ausführlicher ein. Publikum und selbst Pressevertreter*innen waren dort nicht zugelassen. Der Publikumsraum der Kassenhalle war insofern in eine Art aerosol-gesichertes Studio verwandelt wurden. Für das Publikum wurde die Kassenhalle zum digitalen Raum des Live. Im März 2020 sprachen die Wissenschaftler*innen und Politiker*innen noch gar nicht von Aerosolen. Ein nachträgliches Wissen wird also für das Design des Studios maßgeblich. Die Scheiben auf dem Podium sollen verhindern, dass Polzer, Kreuser und Lescène möglicher Weise infektiöse Tröpfchen atmend austauschen. Obwohl das Festival im Livestream stattfindet, wird es als Zeitschleife produziert. Denn es ist gewissermaßen ein Loop mit dem feinen Unterschied, dass wiederholt wird, was 2020 nicht stattfinden konnte.

Fotos vom Bildschirm des Livestreams

In der Hast des Diskurses von der Covid-19-Pandemie und seiner Bilder wird zum Verschwinden gebracht, wie sich ihr Beginn in Deutschland und Europa im März 2020 mit dem Festival für Zeitfragen überschnitt. Am 19. März 2021 fand nun also eine Eröffnung statt, die für den 20. März 2020 geplant worden war. Am 18. März 2020 hatte sich Angela Merkel abends in einer aufgezeichneten Ansprache an die Bevölkerung gewandt. Reisewarnungen wurden herausgegeben, Grenzen geschlossen. Der globale Luftverkehr wurde fast völlig eingestellt. Keine Kondensstreifen, keine Abgase mehr am Himmel. Klopapier wurde hastig in großen Mengen gekauft. Zu Ostern gab es in den meisten Supermärkten keine Hefe zum Backen … In Wuhan waren zwei Container-Krankenhäuser mit Sicherheitsschleusen für die lokale Bekämpfung der biologischen Katastrophe und der Epidemie hochgezogen worden. Die Zeitschleife des Festivals für Zeitfragen bearbeitet in gewisser Weise das Trauma nicht nur des angelsächsischen Begriffs Environment, vielmehr noch einer schlagartigen, globalen Veränderung des Environments bzw. der Umwelt.

Mit den Ereignissen um den 18. März 2020 passierte eine Wissenserschütterung, die ein Jahr später hastig und notdürftig geflickt worden ist. Doch durch die Verfügbarkeit sogar mehrerer Selbsttestverfahren und Impfstoffe in zumindest massenhaftem, wenn auch nicht flächendeckendem Ausmaß organisiert sich der Corona-Diskurs mit einer wachsenden Tendenz zur Leugnung. Geleugnet wird nicht nur die Kompetenz der Regierung, die Notwendigkeit der politischen Maßnahmen oder gleich die ganze Existenz des Sars-Cov-2 und seiner Mutanten, vielmehr noch wird das Trauma durch die Wissenserschütterung vom, wie Johann Wolfgang Goethe es in der Eröffnungssequenz seines autobiographischen Romans Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit nannte, „eingelernte(n) Sprachvogel“[3] bzw. Sprachvögeln wie dem FDP-Politiker Lindner zerredet. In der Anmoderation der Eröffnungskonzertes im Livestream durch Berno Odo Polzer kommt der Loop nicht vor, obwohl er aus Brüssel angereist ist, wo es doch seit geraumer Zeit „noch schlimmer“ ist. Belgien geht für 4 Wochen über Ostern wieder in den „harten Lockdown“.

Am Schluss der Programmvorstellung darf Sonia Lescène kurz andeuten, dass die 84 Tage im Ausnahmezustand in der Musikakademie Rheinsberg unter äußerst beengten Verhältnissen eine besondere Herausforderung gewesen sind. Niemand sollte irgendjemand treffen. Doch dann sitzt frau plötzlich mit 25 Bolivianer*innen ohne gesicherte Finanzierung am Ufer des Grienecksees in Brandenburg fest. Über diese Situation ist der Dokumentarfilm From the 84 Days durch den Filmemacher Philipp Hartmann entstanden, der am Eröffnungsabend für 22:00 Uhr im Livestream geplant wurde. Doch Livestream heißt dann auch, dass etwas kurzfristig nicht stattfinden könnte. Denn der Film wurde für eines oder mehrere internationale Filmfestivals gemeldet, so dass er als Uraufführung nicht gezeigt werden durfte, um ihm eine Preischance zu ermöglichen. Wenn etwas Geplantes im Livestream kurzfristig nicht stattfinden wird – und das ist ja eine interessante Selbstbeobachtung –, löst das spontan eine heftige Verärgerung aus. Berno Odo Polzer erklärt in seiner Programmvorstellung, dass der angekündigte Film nicht gestreamt werden wird, worauf in der nahezu leeren Kassenhalle natürlich niemand reagiert. Aber der Zuschauer am Bildschirm ist verärgert. Was wird da vom Zuschauer verwechselt oder übersehen? Offenbar kann der Livestream heftige Emotionen auslösen.

Livestream ist fast wie Fernsehen, doch anders. Nach dem Eröffnungsgespräch mit Timo Kreuser und Sonia Lescène folgt im Livestream Interviews and Instrumentarium, die Einleitung für das Eröffnungskonzert Environment als Uraufführung. In den Interviews vom April und Mai 2020 zur Frage nach dem „Environment“ blitzt die Covid-19-Pandemie nur am Rande auf, wenn etwa Philipp Hartmann erzählt, dass er aktuell in der „Corona-Krise“ seit 4 Wochen zu Hause sitze und jeden Abend sein Heimkino mit drei Filmen von John Ford bespiele und John Wayne sein bester Freund geworden sei. Doch die Pandemie als Environment bleibt mittendrin seltsam verschwiegen. Man bekommt fast den Eindruck, dass es im April und Mai 2020 noch keine Worte für das pandemische Environment gab. Environment wird in den Interviews in seinen vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten durchgespielt, die im Englischen breiter ausfallen als im Deutschen für die Umwelt. Environment kommt deshalb ökologisch, soziologisch, ethnologisch, philosophisch, künstlerisch und ökonomisch vor. Es lässt sich nicht so einfach auf einen Nenner bringen. Das Environment kann auf vielfältige Weise empfunden und gedacht werden. Es kann utopische und dystopische Züge annehmen.

Im Teil Instrumentarium stellen die bolivianischen Musiker*innen nicht einfach Instrumente im herkömmlichen Sinne vor, sondern Gegenstände des alltäglichen Lebens wie z.B. Plastiktüten oder pflanzliche Schalen, mit denen ganz unterschiedliche Klänge erzeugt werden können. Das OEIN – Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos – orientiert sich insofern nicht an traditionellen indigenen Instrumenten. Vielmehr werden traditionelle Gegenstände durch den Gebrauch zu Musikinstrumenten. Durch das Instrumentarium wird zugleich ein anderer, praxeologischer Klangraum erschlossen. Jede Musiker*in hat sich auf forschende Weise die klangpraktischen Möglichkeiten ihres eigenen Gegenstandes erschlossen. Die Wassertrommel aus einer pflanzlichen Schale wird beispielsweise durch Camed Martela Machicado erklärt:
„Another instrument we use is the water drum. The water drum is made of two pieces: the tutuma, which is a vegetal bowl that grows of a tree called “totumo” and is traditionally used by the native people as a kitchen utensil to store solids and liquids like water and all. The other piece is a container with water, which when touched, gives us percussive sounds that can be altered according to the size of the totuma and also the amount of water.”[4]

Im Livestream folgte die Uraufführung von Environment in zwei unterschiedlichen Filmversionen. Als Video on demand lässt sich mit dem Festivalpass nach einer freiwilligen Spende die Version von Philipp Hartmann mit einer sich in ständiger Bewegung befindenden Handkamera abrufen. Hartmann bewegte sich mit seiner Kamera im Bühnenraum des Hauses der Berliner Festspiele von Musiker*in zu Musiker*in des Ensembles PHØNIX16, während die Instrumente von OEIN zugespielt wurden. Adam Weisman (Perkussion), Nikolaus Neuser (Trompete), Marisol Jimenez (Kinetische Klangskulptur), Carrie Anne Winter, Veronika Böhle, Oskar Koziolek, Will Kwiatkowski (Gesang und Objekte) befinden sich in doppelter Weise pandemiebedingt auf der Bühne. Als Alternative ist das Video der Frauenhofer HHI OmniCam-360 auf Facebook abzurufen. Sie erlaubt eine sozusagen selbst gesteuerte Sicht ins musizierende Ensemble.[5] Durch Bewegung des Cursors oder des Smartphones/Tablets bzw. durch Wischen des Bildschirms lässt sich der Blickwinkel in einem 3D-Effekt steuern.

2D mit bewegter Handkamera und 3D durch die HHI OmniCam-360 lassen im Livestream und on Demand einen visuellen Effekt der Immersion entstehen.[6] Die Betrachter*innen bewegen sich visuell quasi durch einen digitalen Raum. Der akustische Raum bleibt indessen zentral gesteuert. Anders gesagt: Im 2D-Format bewegt sich Philipp Hartmann nach dem Sound auf die Instrumente zu, was den Eindruck erweckt, dass der Klang „herangeholt“ wird, während es doch gerade umgekehrt ist. Der Kameramann geht dorthin, wo der dominante Klang zwar produziert wird, um dann aber am Mischpult zuallererst hervorgearbeitet zu werden. Das visuell-akustische Eintauchen in die Konzertrealität per Livestream oder als on Demand wird durch eine komplexe Verschaltung überhaupt erst erzeugt. Was in Ausstellungen oder Environments wie im September 2019 mit The New Infinity im Fulldome auf dem Mariannenplatz nach dem Verfahren des Planetariums als immer wieder soziales Ereignis inszeniert worden ist[7], soll plötzlich im „Heimkonzertsaal“ oder „Fulldome“ das Festival ersetzen oder zumindest als Alternative ermöglichen.    

Das technisch hoch aufgerüstete Eröffnungskonzert, das allerdings wegen seiner Technizität nicht etwa live, sondern als Aufzeichnung im Livestream stattfand, gibt einen Wink auf die vertrackte Immersion. Im „Konzertsaal“ oder „Fulldome“ lässt es sich, um es einmal so zu formulieren, leichter eintauchen als im Lockdown allein zu Hause. Es wäre etwas völlig Anderes geworden, wenn sich das Publikum mitten auf oder an den Rändern des Bühnenraums einem gemeinsamen Eintauchen hingegeben hätte. Durch diese Überlegungen und Beobachtungen möchte ich einen Beitrag zur Debatte um die Immersion und Virtual Reality leisten. Der „Fulldome“ als Environment für eine neue Unendlichkeit ist wunderbar. Aber was passiert, wenn man allein in ihm sitzen muss? Eine 3D-Brille ist für die Immersion in Environment nicht erforderlich. Bislang haben fast 1.000 Nutzer*innen das 360°-Video auf Facebook angeklickt. Doch wer wird das fast zweistündige Konzert ganz gesehen und gehört haben?

Zur Uraufführung kamen 4 Kompositionen in der Version von 2020. Beatriz Ferreyras Komposition Rios del Sueño als Live-Version für Stimmen, Instrumente und Resonatoren (1998-2000/2020) mit Video-Projektionen von Komposter, einem Kollektiv der Künstler*innen Akaša Bojić und Luka Umek. In clipartigen Einzelvideos wird, teilweise parallel projiziert, ein vielfältiges Panorama nach dem Begriff Environment entfaltet. Die Flüsse des Schlafs/Rios del Sueño von Beatriz Ferreyras lassen eine Art Klangteppich entstehen, in dem es nicht um das Identifizieren einzelner Klänge geht. Hauch- oder Atemklänge wechseln mit rasselnden Geräuschen. Es ist, als ob man sich in einen Urwald hineinträumen könnte, bis sich eine Art von schnarrenden Insekten zu hören gibt. Der Klangteppich ist zugleich hoch artifiziell und natürlich durchkomponiert, könnte man sagen.

Im Environment-Konzert wurde ohne Pause von Marisol Jiménez, die zur Zeit in Berlin lebt, Cantos del Arenal für Stimmen, Trompete, Innenklavier, Percussion und kinetische Klangskulpturen (2020) aufgeführt. Die Kompositionen gehen fast ineinander über, obwohl sich die Klangfarben und -strukturen verändern. Marisol Jiménez „lässt Urzeitliches mit Technologischem kollidieren, um starke sinnliche und tief liegende Energien freizusetzen“. Das Traumartige wechselt in einen kontrastiven Klang, der gleichwohl eine starke immersive Wirkung zeigt.

Weitaus stärker wird der Einschnitt im Konzert durch Carlos Gutiérrez Quirogas Komposition en lo mas efcuro della, quando no haze luna, ni fe parece nada wahrnehmbar. „im effektivsten Fall, wenn es keinen Mond gibt, scheint der Glaube nichts zu sein“, so die Übersetzung ins Deutsche, wird in völliger Dunkelheit aufgeführt. Das Stück wird durch indigene Instrumente vom OEIN gespielt und erinnert mich durch den starken Rhythmus an Strawinskys Sacre du Printemps.

De Natura Sonorum von Bernard Parmegiani ist mit ca. 53 Minuten das längste Stück zur Umwelt als Natur. Die „Naturgeräusche“ von 1975 wurden nun postum als Live-Version für Stimmen, Instrumente und Resonatoren uraufgeführt. Dabei gilt Parmegiani als Komponist und Pionier der elektroakustischen Musik, womit De Natura Sonorum gerade keine Geräusche oder Klänge aus der Natur zur Aufführung bringt. Denn was sich wie Natur anhören lässt, wird nicht zuletzt digital moduliert. Timo Kreusers künstlerisches Konzept für Environment bringt insofern ein Wissen von Natur und Umwelt ins Wanken.

Durch den visuellen digitalen Raum gleiten insbesondere zu De Natura Sonorum weiße Lichtschlangen, die die Dreidimensionalität noch einmal verstärken. Sie kommen visuell aus dem Bildschirmrand und gleiten in Wellen durch den Raum zum gegenüberliegenden Rand. Gegen Ende des Stücks, wenn es in einer Art Flirren verklingt, brennt sich ein weißes Licht ins Bild. Der digitale Raum löst sich in einem weißen Nichts auf.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2021
Festival für Zeitfragen
im Livestream bis 28. März 2021    


[1] Siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[2] Siehe z.B. das Live-Stream-Gespräch von Berno Odo Polzer mit dem Wissenschaftshistoriker George Dyson über das Thema „No Time Is There: The Digital Universe and Why Things Appear To Be Speeding Up“. In: Torsten Flüh: Verzeitigt. Über ein Eröffnungswochenende der MAERZMUSIK, Festival für Zeitfragen, und Internet-Kriminalität. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 14, 2016 21:38.

[3] Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Band 9 und 10. Autobiographische Schriften I und II, Hamburg, 1960, S. 91.

[4] Transkription nach englischer Übersetzung als Übertitel. Berliner Festspiele: Interviews & Instrumentarium. Short films about the opening project “Environment”. On Demand.

[5] Zur ersten Begegnung mit der HHI OmniCam-360 siehe: Torsten Flüh: Die Zukunft sehen und hören. Premiere von Playing The Space auf der Fachmesse Avant Première. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 20, 2015 17:58.

[6] Siehe zur Diskussion der Immersion und Virtual Reality auch: Torsten Flüh: I am not an artist. Philippe Parreno fasziniert im Gropius Bau mit einem Organismus als Ausstellung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 28, 2018, 21:12.

[7] Zu The New Infinity siehe: Torsten Flüh: Audiovisuelle Entgrenzung zur Verantwortung. Zu The New Infinity im Fulldome auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2019.

Eine grandiose, kulturhistorische Tiefenschau

Niederlande – Globalisierung – Orient

Eine grandiose, kulturhistorische Tiefenschau

Zur Ausstellung Rembrandts Orient im Museum Barberini

Am 13. März 2021 wurde um 10:00 Uhr im Museum Barberini in Potsdam die Ausstellung Rembrandts Orient für das Publikum eröffnet. Gleich mehrere Kamerateams begleiteten das Ereignis der ersten Museumsöffnung in Brandenburg und Berlin noch halb im Lockdown. Das Museum wurde dank seiner Technikaffinität durch den Stifter Hasso Plattner in eine Art Hochsicherheitszone verwandelt. Einlass stark begrenzt nur nach Online-Ticket mit Zeitfenster. Zusätzliches Ausfüllen von Adressenzetteln, die nach dem Betreten als Einzelperson in eine Box gesteckt werden. Dabei freundlich die Künstliche Thermometer-Intelligenz anlächeln, die sogleich die Körpertemperatur misst, visuell und akustisch mitteilt – 36,5 –, um zu bestätigen, dass die Besucher*in kein Fieber hat. Während des Ausstellungsbesuchs piept es gelegentlich scharf bei einem anspringenden roten Warnlicht, wenn sich in den ohnehin fast leeren Räumen doch zu viele Personen befinden könnten.

Gary Schwartz thematisiert als Gastkurator mit seiner Ausstellung Rembrandts Orient insbesondere die Globalisierung des Handels durch die Ostindien-Kompanie der Niederlande im 17. Jahrhundert. Der Orient, der in den Gemälden imaginiert wird, verdankt sich der neuen, globalen Warenströme zwischen Amsterdam und Batavia, dem heutigen Jakarta. Die Rolle der Ostindien-Kompanie für Amsterdam im 17. Jahrhundert wird ausführlich in Gemälden, Portraits, Buchdrucken und Historienbildern erforscht. Der Gastkurator und sein Team haben eine überwältigende Anzahl internationaler Leihgaben zusammengetragen, die eine Zirkulation, vielfältige Kombination und Transformation von Bildern des Orients in Gang setzen. Als Höhepunkt und Ausstellungsfinale laufen die Nachforschungen auf „Rembrandts Anverwandlung des Orients“ hinaus, um dann mit Jan Victors Josef in seinem Gemach weinend .. aus der Zeit zwischen 1640 und 1676 außer Katalog und aus ungenannter Privatsammlung noch ein Highlight drauf zu setzen.

Die forschende Tiefenschau war, wie die Pressemitteilung des Museums verrät, für den Sommer 2020 in Potsdam geplant, musste aber „Pandemie-bedingt auf Frühjahr 2021 verschoben“ werden. Zwischenzeitlich war sie vom 31. Oktober 2020 bis 14. Februar 2021 im Kunstmuseum Basel zu sehen, das auch als Mitherausgeber des opulenten, 328seitigen Katalogs bei Prestel auftritt. Die Kooperation mit Basel verdankt sich nicht nur dem dortigen Bestand an Druckgraphiken Rembrandts, vielmehr noch wurde dieser durch „Schenkungen von 150 bedeutenden Blättern durch den Berner Sammler Dr. h. c. Eberhardt W. Kornfeld … erweitert“.[1] So sind es denn diese Blätter, die in mehreren Teilen der Ausstellung eine Tiefenschau in Rembrandts Orient-Kompositionen erlauben. Es werden Rembrandts einzigartige Produktionsbedingungen der Gemälde gewissermaßen einsehbar.
„Seine Faszination für den Orient spiegelt sich in seinen biblischen Historien mit orientalisierenden Gewändern, in den Tronies von ,Orientalen‘ und in seiner Sammlung exotischer Objekte.“[2]   

Die forschende Faszination überträgt sich auf die Ausstellungsbesucher*innen, sofern sie es zulassen – und nicht nur schöne Bilder sehen oder gar nur als Erste wieder in einer Ausstellung gewesen sein wollen.[3] Durch die sieben Kapitel der Ausstellung von „Mit Turban und Seidenrock. Der Orient zu Hause“ über „Erfassung der Welt. Sammeln und Forschen“ bis „Licht im Tempel. Rembrandt in Amsterdam und seine Nachfolger“ und dem bereits genannten letzten Kapitel – „Rembrandts Anverwandlung …“ – werden die Besucher*innen selbst zu Forschenden in den 110 Exponaten der 50 Internationalen Leihgeber vom Rijksmuseum in Amsterdam über die National Galery of Art in Washington bis zum kunsthistorischen Museum Wien. Die Qualität einer Kunstausstellung lässt sich an der Bandbreite der internationalen Leihgeber ablesen. So wird sie unter der Schirmherrschaft der beiden Botschafter*innen des Königreichs der Niederlande in der Schweiz und Deutschland zu einem entscheidenden Beitrag, wenn nicht Meilenstein in der Erforschung der Malerei im Goldenen Zeitalter der Niederlande und der Rembrandt-Forschung.

Die Ausstellung wird über die Lebenswelt des exponierten, niederländischen Adeligen und Pilgers mit dem großformatigen Portrait Assueer Jacob Schimmelpenninck van der Oije (1631-1673) mit Diener und Hund von Dirck van Loonen aus dem Jahr 1660 eröffnet. Das 224 x 185 Zentimeter große Ölgemälde mit dem frühen Wappen der Schimmelpenninck van der Oije rechts oben markierte Portrait zitiert und kombiniert Insignien der Macht. Michael Philipp formuliert in der Bildbeschreibung, dass „aus Schimmelpennincks stolzer Haltung (…) das Selbstbewusstsein“ spreche, eine ausgedehnte Pilgerreise in die Levante „bewältigt zu haben“, und weist auf den „tierische(n) Begleiter … mit seiner gewaltigen Statur“ hin.[4] Es handelt sich dabei um einen sogenannten Molosser-Hund, von dem im Neunten Buch der Historia Animalium des Aristoteles aus dem Jahr 350 vor Christus die Rede ist. Ihn zeichnet nach Aristoteles durch seine Größe und seinen Mut eine besondere Überlegenheit oder Superiorität aus.
„Of the Molossian breed of dogs, such as those elsewhere; but the sheep-dogs of the breed are superior to the others in size, and in the courage with which they face the attacks of wild animals.”[5]

In der Kombinatorik von Wappen, prächtig orientalischem Gewand, Dolch und Säbel sowie Turban mit Brosche und Feder, dem ebenfalls orientalisch, aber bescheiden gekleideten Diener, der mit dem Zeigefinger auf einen Zettel hinweist, und dem übergroßen Hund ungeklärter Herkunft, wird, was als schöne Mode und Selbstinszenierung anmutet und Dirck van Loonen virtuos in Szene setzt, zu einem Bild kultureller Eroberung. Denn unter dem Wappen immerhin mit einem roten Kreuz, auf dem zwei schwarze Raben[6] sitzen, einem rot-weiß gemustertem Kreuz, zwei Schlüsseln, zwei roten Löwen und drei Schilden sowie dem durch ein Podest erhöhten Stand des niederländischen Adeligen wird das Bild zu einer Allegorie der Macht. Wie sie Gary Schwartz für die Entdeckung des Orients durch die Niederländer als stilbildend formuliert.
„Die Niederländer vernachlässigten (…) nicht nur diplomatische und kommerzielle Möglichkeiten, sondern auch das künstlerische Potential, das das orientalische Interesse an westlicher Kunst hätte eröffnen können.“[7]

Die Reise Assueers in den Orient bzw. „Verre Oosten“ als dem Heiligen Land nach seinem Studium in Groningen und Utrecht ist mit Hilfe seines „Reisejournaal(s)“ durch die Stiftung Schloss Duivenvoorde gut rekonstruiert. Er gelangte bis nach Aleppo. Noch fünf Jahre zuvor hatte Dirck van Loonen Assueer in einer Ritterrüstung portraitiert. Christliche Pilgerreise und durch die Renaissance wiederentdeckte Schriften der Antike wie Aristoteles Tiergeschichte sowie Handelsreise überschneiden einander bei der Reise in den Orient. Der sehr große Hund gehört in diesen Kontext nicht nur der Reise, sondern des Wissens vom Orient, das der Adlige erwirbt, niederschreibt und doch nicht lückenlos mitteilt. Assueer legt seine rechte Hand ebenso beruhigend wie beherrschend auf den Kopf des übergroßen ebenso wie überlegenen Hundes aus dem aristotelischen „Molotien“. Gary Schwartz führt das Portrait an für „Niederländer, die sich durch ihren Dienst in fernen Ländern einen gewissen Ruf erworben hatten“.[8] Für Assueer geht es durchaus um eine Art Bildungsprogramm, wenn er fast ausschließlich mit „dort lebenden Patres oder westlichen Kaufleuten“ kommuniziert.[9]
„Sammler zeigten ausländische Waffen und Schmuck als Beleg ihrer Kultivierheit, und Besitzer eines japonese rok posierten in diesem vor dem Maler (…).“[10]

Wir wissen nicht, wie der Hund ins Bild kam. Nach Michael Philipp wissen wir auch nicht „auf welcher Station seiner Reise (Assueer) an das ungewöhnliche Tier gelangt ist“.[11] Er hat es nicht in seinem Reisejournal vermerkt. Doch die Historia Animalium des Aristoteles wird im 17. Jahrhundert als Wissen und Wissenschaft gelesen sowie durch Gespräche verbreitet. Conrad Gessner hatte 1551 seine vielbeachtete Historia Animalium veröffentlicht, die mit den vierfüßigen Tieren beginnt. 1619 wird Aristotelis Historia de Animalibus in Toulouse von Julio Caesare Scaligero interpretiert und kommentiert.[12] Der Molusser als Hundetypus und Zucht wird seit Aristoteles in Kleinasien verortet, obwohl er ihn sicher nie gesehen hatte und nur vom Hörensagen von ihm wusste. Doch für den religiösen und gebildeten Adeligen aus den Niederlanden zwischen Den Haag und Leiden dient der Hund ebenso als Emblem für seine Pilger- und Bildungsreise in den Orient wie der hoheitliche Turban mit dem Schmuck aus Perlen, Edelstein, Goldkettchen und der seltenen Feder. Das Wappen mit seiner biblischen Heraldik gibt dafür eine Art Leseanweisung.

Die Zirkulation der Handelswaren aus dem Orient durch die Ostindien-Kompanie wird in der niederländischen Malerei vor allem mit dem Wissen und den Erzählungen der Bibel verknüpft. Insofern ist das Eröffnungsportrait der perfekte Einstieg in das Ausstellungsthema. An den Rändern dieses Wissens zeichnet sich die Wiederentdeckung antiker Autoren wie Aristoteles ab. Die Handelswaren aus dem Orient werden in den Gemälden wie der Orientteppich auf dem Tisch der Vorsteher des Schützenhauses (1655) von Bartholomeus van der Helst auf vielfache Weise in Zeichen für Reichtum, Macht und Wissen verwandelt. „Die einzige bekannte Ausnahme sind“ nach Gary Schwartz „zwei niederländische Maler, die in der Mitte des Jahrhunderts ihren Blick voller Bewunderung auf die Werke der Künstler des indischen Mogul-Hofs richten.“[13] Diese sind Rembrandt und Willem Schellinks. Während Rembrandt den Titel der Ausstellung prägt und ihr Konzept bestimmt, gerät der Dichter und Maler Schellinks fast aus dem Fokus. Dabei ergeht es dem Berichterstatter so, dass er im Kapitel „Mit eigenen Augen? Echtheit und Klischee“ von dem eher kleinformatigen Gemälde – 78 x 83,8 cm – Shah Jahan und seine Söhne 1660-1075 ungemein fasziniert ist.

Neben Schellinks eigentümlichen Gemälde wird in der Ausstellung ein Originaldruck der kunstprogrammatischen Gedicht-Anthologie Klioos Kraam […] (Die Niederkunft der Muse Klio […]) von 1667 aus einer Privatsammlung gezeigt. Sie lässt sich als eine frühneuzeitliche Sammlung von kunstgeschichtlichen und -theoretischen Ansätzen in Reimen verstehen. Denn Klio/Κλειώ gilt in der griechischen Mythologie als die Muse der Geschichtsschreibung und des Rühmens. Aufgeschlagen sind die Seiten mit Willem Schellinks‘ Gedicht Op de schilder-konst der Benjanen (Auf die Malkunst der Benjaner), das in 42 Versen den Ursprung und das Wesen der Malkunst – „Die Kunst ist für kein Geld zu kaufen.“[14] – formuliert. Einerseits erfüllt Schellincks damit das Programm der Muse Klio und der Anthologie. Denn auch das folgende Kurzgedicht beginnt mit der rühmenden Formulierung Op de … (Auf die …). Andererseits wird seine Geschichte der Malkunst auf die „Benjanen“ und das heißt Inder bezogen.
                    „Op de
            SCHILDER-KONST
                       der             
B  E  N  J  A N  E  N.
DE Schilder-vond strek de Chaldeer
Te eeuwiger gebeug, een eer.
(Die Erfindung der Malerei gereicht den Chaldäer
zu ewiger Erinnerung, eine Ehre.)“[15]

Das barocke Reimschema ermöglicht es Schellinks allererst, die „Benjanen“ als biblische „Chaldäer“ umzudeuten und andersherum. – „Al bood West-Indjen den Benjaan/Voor deze konst, al ’tzilvers aan,“ (Auch bot Westindien dem Benjaner für diese Kunst all das Silber an,) – Jan de Hond weist in seinem Essay daraufhin, dass es Schellinks in seinem Gedicht nicht um die Frage ging, „was diese indischen Miniaturen so besonders macht“. Vielmehr „lobte (er) die Mogul-Malerei nur allgemein als „zeer heerlyk“ (ganz herrlich) und „wonder eel“ (überaus edel).“[16] So wird denn das Gemälde Shah Jahan und seine Söhne vor allem erst durch eine genauere Betrachtung als eine Montage aus Miniaturen sichtbar. Die Körper der Sänfte, des Pferdes, des Elefanten und des Dromedars oder Kamels lösen sich bei genauem Hinsehen in Montagen aus meist weiblichen Menschenkörpern mit Trommeln, Trompeten etc. auf.

Nach eingehender Betrachtung und gleichsam mit einer Lupe als Vergrößerungsglas erscheinen unter dem kriegerischen Thema des „erbitterten Nachfolgekrieg(es)“ zwischen den 4 Söhnen des Shahs[17] äußerst erotische Darstellungen wie ein stark abgeschattetes, sich umarmendes und küssendes Paar anthropomorpher Hunde unter dem Sattel im Kamelkörper. Im Kamelkörper lassen sich auch weitere Tiere wie ein Fuchs, ein Fisch als Schweif oder ein Papagei erkennen. Mensch und Tier vermischen sich einander bis an die Grenze von Kamasutra-Darstellungen. Die äußerst elastischen Formulierungen „zeer heerlyk“ und „wonder eel“ materialisieren sich in feinen Goldketten auf dem anthropomorphen Hundekörper im Liebesspiel, könnte man sagen. Willem Schellinks lässt an der Grenze der Sichtbarkeit mit den „indischen Miniaturen“ im Gemälde aufscheinen, was in den Niederlanden, ja ganz Europa des 17. Jahrhundert weder sagbar noch malerisch darstellbar war.

Ob und wann die Feinheit der Miniaturen gesehen wurde, ist nicht überliefert. Doch Willem Schellinks hatte in der „SCHILDER-KONST der B E N J A N E N“ etwas gesehen, für das es selbst im Kontext der europäischen Aktmalerei keine Worte gab. Er kopierte und transformierte die indische Miniaturmalerei in einer Weise, die den europäischen Rahmen sprengte. Man hat selbst bei Jan de Honds Essay das Gefühl, dass er nicht genau genug hingeschaut hat. Corinna Forberg sieht zwar „orientalische Gewänder (…), die türkischer und persischer Mode nachempfunden sind“, und erwähnt das „Motiv der Apotheose Akbars und Jahangirs“, die sich „auch unter Rembrandts Zeichnungen nach indischen Miniaturen“ finde, aber was sich unter dem Sattel im Kamel abspielt, findet keine Erwähnung.[18] In der Ausstellung haben die Besucher*innen nun die Möglichkeit, ganz genau hinzuschauen.    

Die für Willem Schellinks wie für Rembrandts „Kopien“ der Vorlagen aus Indien „in Frage kommenden Miniaturen wurden“ nach Gary Schwartz „zerschnitten und in Schloss Schönbrunn in Wien in dekorative Kartuschen eingearbeitet“.[19] Im Rokoko werden unter Maria Theresia die von Rembrandt und Schellinks wertgeschätzten Tuschebilder auf Papier nur noch als dekorative, wegen ihrer Herkunft gleichwohl kostbare Teile einer architektonischen Gesamtkomposition im „Millionenzimmer“[20] verwertet. Dieses Schicksal der Tuschebilder gibt einen Wink auf die Einzigartigkeit der Wertschätzung, die ihnen Schellinks und Rembrandt zuteilwerden ließen.
„Die qualitätvollen Vorlagen waren nur wenige Jahrzehnte zuvor in kaiserlichen Ateliers unter der Schirmherrschaft des Moguls Jahangir (reg. 1605-1627) und seines Sohnes Shah Jahan (reg. 1627-1658) entstanden. Für jeder der Zeichnungen Rembrandts lässt sich eine entsprechende Komposition in erhaltenen Mogul-Porträts identifizieren, jedoch nie ein genaues Vorbild.“[21]

Die wertschätzende Transformation der indischen Vorlagen, des Orientalischen in eigene Bildkompositionen behandelt das Fremde als Gleichwertiges. Rembrandt „zeichnete Kopien nach etwa 25 Miniaturgemälden ihm unbekannter Künstler aus dem Fernen Osten, die noch kein anderer europäischer Meister studiert hatte“, schreibt Schwartz. Die Wertschätzung kommt bei Rembrandt auch dadurch zum Ausdruck, dass er seine Arbeit „gewissenhaft und respektvoll auf teurem asiatischem Papier (verrichtete), das er weder zuvor noch später jemals wieder für Zeichnungen benutzte“.[22] Man könnte Rembrandts transformierende Kopien auch als einzigartigen Versuch verstehen, ein neuartiges Genre in der europäischen Malerei zu eröffnen, was in gewisser Weise denn auch mit seinen Nachfolgern für „das orientalische portrait historié in rembrandtesken Stil“ geschah[23], doch weitaus weniger reflektiert wurde.

Rembrandts Orient wird mit der Ausstellung im Museum Barberini auf bisher unbedachte Weise durchdrungen. Mit den kleinformativen Drucken aus der Sammlung Eberhard W. Kornfeld wie Josef erzählt seine Träume von Rembrandt Harmensz van Rijn aus dem Jahr 1638[24] wird allererst die Tiefe der orientalischen Tronje und Bibeldarstellung erfahrbar. Die Großgemälde und die kleine Radierung und Kaltnadel von 11 x 8,3 cm erschließen den Orient, wie Rembrandt ihn sah, aufnahm und sich ihm affizierte bis zum Selbstbildnis in orientalischer Kleidung mit Pudel.[25] Die Licht- und Schattenspiele, das Gold und die Federn, die Stoffe und der Schmuck, nicht zu vergessen die Stoffbahn, die kunstvoll nicht nur zum Turban gebunden wird, vielmehr noch den Maler an Nuancierungen arbeiten lässt, reizen den Maler und lassen ihn immer wieder neue Formen und Farben ausprobieren. Mit dem Katalog zur Ausstellung lässt sich der Museumsbesuch vertiefen, doch nicht den Ausstellungsbesuch ersetzen.

Torsten Flüh

Rembrandts Orient
Westöstliche Begegnung
in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts
Museum Barberini
bis 27. Juni 2021.

Es gibt ein umfangreiches Online-Angebot zur Ausstellung.

Bodo Brinkmann, Gabriele Dette, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.):
Rembrandts Orient.
Westöstliche Begegnungen in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts.
München: Prestel, 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 328 Seiten, 24,0 x 30,0 cm, 266 farbige AbbildungenISBN: 978-3-7913-5962-5
Hardcover€39,00[D] inkl. MwSt.
€ 40,10 [A] | CHF 51,50 * (* empf. VK-Preis)


[1] Josef Helfenstein, Ortrud Westheider: Vorwort. In: Bodo Brinkmann, Gabriele Dette, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.): Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnungen in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. München: Prestel, 2020, S. 7.

[2] Ebenda S. 6.

[3] Die besonderen Rahmenbedingungen durch die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie machen diese Formulierung zu einer historischen Signatur. Denn der Wunsch, eine/r der Ersten sein zu wollen, wurde nicht nur durch die Anwesenheit der Kamerateams bestärkt, vielmehr wurde der Berichterstatter von einer Reporterin gefragt, ob er wohl für die Kamera etwas sagen könne, wie es sich anfühle, wieder ein Museum zu besuchen.

[4] MPH: Dirck van Loonen (1619/20-1711) Assueer Jacob Schimmelpenninck van der Oije (1631-1673) mit Diener und Hund. In: Bodo Brinkmann, Gabriele Dette, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.): Rembrandts … [wie Anm. 1] S. 128.

[5] Zitiert nach: Aristotle: Historia Animalium. Translation by D’Arcy Wentworth Thompson. Oxford: Clarendon Press, 1910, S. 607. (Archive-Org)

[6] In der biblischen Heraldik kann der Rabe eingesetzt werden, „um Land zu suchen“. Das könnte im Kontext der Pilgerreise Assueers heißen, dass diese bereits im Wappen als christlicher Erfolg symbolisiert wird. Siehe: Heraldik-Wiki: Rabe (Wappentier).

[7] Gary Schwartz: Inspiration aus der Ferne. Zur Einführung in die Ausstellung. In: Bodo Brinkmann, Gabriele Dette, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.): Rembrandts … [wie Anm. 1] S. 9.

[8] Ebenda S. 10.

[9] MPH: Dirck … [wie Anm. 4] ebenda.

[10] Gary Schwartz: Inspiration … [wie Anm. 7] S. 10.

[11] MPH: Dirck … [wie Anm. 4] ebenda.

[12] Siehe Julius Caesare Scaligero: Aristotelis Historia de Animalibus. Toulouse: Raymundi Colomerij, 1619. (Wikipedia)

[13] Gary Schwartz: Inspiration … [wie Anm. 7] S. 11.

[14] Zitiert nach: Katalogseite 92. In: Bodo Brinkmann, Gabriele Dette, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.): Rembrandts … [wie Anm. 1] S. 275.

[15] Ebenda.

[16] Jan de Hond: „Absolut kunstlos“ oder „überaus edel“. Osmanische, Mogul- und safawidische Kunst in den Niederlanden im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ebenda S. 44.

[17] Ebenda S. 47.

[18] Corinna Forberg: 93 Indisch. Die Apotheose der Großmoguln Akbar und Jahangir … In: ebenda S. 276.

[19] Gary Schwartz: Konvention und Einzigartigkeit. Rembrandts Reaktion auf den Osten. In: Bodo Brinkmann, Gabriele Dette, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.): Rembrandts … [wie Anm. 1] S. 68.

[20] Siehe Ebenda S. 278.

[21] Ebenda.

[22] Gary Schwartz: Konvention … [wie Anm. 19] Ebenda S. 56.

[23] Ebenda

[24] Siehe S. 304.

[25] Siehe S. 63.

The Beauty and The Logic of Brutalism

Brutalismus – Künstliche Intelligenz – Wissenschaft

The Beauty and The Logic of Brutalism

Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus

Dieser Text ist ein Experiment, zu dem Sie als Leser*in eingeladen sind. Einerseits geht es mit diesem Experiment um die Architekturform des Brutalismus oder New Brutalism, die auch mit den Fotos als visuelles Programm erforscht wird. Andererseits geht es um die Künstliche Intelligenz, in die Sie allein schon durch die Nutzung eines Computerspiels, eines Schreibprogrammes oder eines Smartphones mehr oder weniger stark verwickelt sind. Die Künstliche Intelligenz hat sich auch ihrer Fragen und Verhaltensweisen bemächtigt, was Sie wahlweise als angenehm oder bedrohlich empfinden können. Entziehen können Sie sich ihr nicht. Und dann geht es mit dem Experiment noch um „die“ Wissenschaft. Denn Wissenschaft wird u.a. aus Zitierregeln gemacht, die z. B. für akademische Haus- und Abschlussarbeiten verbindlich und zumindest je nach Fach hoch standardisiert sind.

Brutalismus und Künstliche Intelligenz entwickeln sich auf verschiedenen Feldern seit den 1950er Jahren. Man kann sogar unter Hinweis auf den englischen Architekturkritiker, Schriftsteller und Theoretiker Reyner Banham und den englischen Mathematiker wie Informatiker Alan Turing sagen, dass beide 1950 bzw. 1955 entscheidende Begriffe wie Intelligence[1] und New Brutalism[2] prägten. Turing entwickelt 1950 den nach ihm benannten Turing-Test, bei dem es darum geht, herauszufinden, ob ein Computer als eine Maschine oder Künstliche Intelligenz das Denkvermögen eines Menschen erreicht hat. Ich werde auf den Turing-Test zurückkommen. Bei wissenschaftlichen Hausarbeiten wird der Turing-Test bislang nicht angewendet, weil Lehrende davon ausgehen, dass sie ein Mensch geschrieben hat. Doch Künstliche Intelligenz wurde bereits mehrfach eingesetzt, um z.B. in einer Doktorarbeit zu überprüfen, ob und wie stark plagiiert wurde. Jüngstes, umstrittenes Beispiel ist die Doktorarbeit der Familienministerin Franziska Giffey.

While it typically refers to concrete buildings inspired more or less directly by Le Corbusier, a fad called New Brutalism was heralded in Britain by a boxy, un-Corbusian school building of 1953 in the seaside town of Hunstanton, Norfolk.[3] The phrase “The New Brutalism” was immediately applied to it, though it had been designed in the spring of 1950, long before even the house in Soho, but the Brutalists themselves have accepted this appellation, and it has become the tag for Hunstanton wherever the building has been discussed.[4] Today, brutalism is flippantly used to disparage a period of outstanding municipal architecture in Britain in the 1960 – 80s, by disingenuously implying that is heartless and ugly.[5]

In 2014, the British critic Jonathan Meades produced a combative reconsideration of Brutalism in a two – part television documentary for the BBC, putting the style back into the mainstream of welfare-cutting Britain.[6] She barely mentions Prince Charles, though his 1988 BBC documentary, A Vision of Britain, along with the superbly illustrated book version published the following year, represented a frontal attack on postwar modernism, offering a traditional take on architecture and urbanism that resonated with the public.[7] Stanley Kubrick employed a system – built concrete housing development outside London, Thamesmead South, as an empty landscape of psychosis for A Clockwork Orange (1971), his cinematic version of Anthony Burgess’s novel about a violent gang of bowler-hatted thugs in a strange new Britain.[8]

Elsewhere around London, the demolition of Euston Station and its magnificent gateway, Euston Arch, prompted an uproar similar to that caused by the destruction, also during the 1960s, of the original Pennsylvania Station in New York.[9] Harwood doesn’t mention the uproar, let alone the enduring unpopularity of the hopelessly banal new Euston Station that was completed in 1968.[10] In addition to the arch, its majestic Great Hall had a civic status akin to that of the old Penn Station’s general waiting room.[11] We’ve all seen Brutalist architecture, massively embodied by Boston City Hall, London’s Barbican Centre, UC Berkeley’s Wurster Hall, the University of Toronto’s Robarts Library, FBI Headquarters in Washington, D.C., or any other of the examples that have stood since the style’s 1960s and 70s heyday.[12]   

Tall buildings also require an elevated degree of social discipline, as well as security features like intercom systems, closed-circuit TV, and doormen or concierges.[13] Brutalist buildings are characterized by minimalist constructions that showcase the bare building materials, such as concrete and brick, and visible structural elements over decorative design.[14] Brutalism’s pathologically materialistic criteria for authenticity include the use of industrial materials and emphatic exposure not only of a building’s structural system but also of functional innards such as stairwells, elevator cores, ductwork, and so on.[15] She is intrigued not only by buildings that incorporate new materials but also by those that incorporate industrial processes of production, especially new prefabrication systems, or even the look of consumer products.[16]

Tall buildings are highly artificial and complex structures housing temperamental machines, like elevators, that require a heightened degree of maintenance, often by highly paid technicians rather than handymen with toolboxes and stepladders, as Hanley observes.[17] Brutalism, it turns out, lends itself to Instagram–style scrolling, one eye–popping hunk of brush-hammered weirdness after another.[18] There are over 317,000 #brutalism posts on Instagram, where the designs ‚adherence to strong shapes and repetition enable dramatic shadows that make for striking images.[19] While it is very easy to think about the reproducibility of the brutalist building within Instagram and blogging, I think one also needs to think about the relational networks, cultures, and ecologies of images that are being reproduced by new connectivities online.[20] Chadwick first made his mark with his This Brutal House accounts on Twitter and Instagram, and a search on the latter for the hashtag #brutalismreveals the astonishing range and intensity of the style’s 21st-century fandom.[21]

In fact it is the ruthless logic more than anything else which most hostile critics find distressing about Hunstanton – or perhaps it is the fact that this logic is worn on the sleeve.[22] The elitism argument resulted in easy critique as brutalism itself was created as housing for the masses, yet this critique is quickly shut down in a way that closely resembles the expelling of trolls.[23] Becoming part of the other side of the argument gives a breath of nuance every argument on the internet could use once in a while.[24] For an aesthetic once praised for its „ruthless logic“ and „bloody-mindedness“ — in the much-quoted phrasing of critic Reyner Banham — it is a surprising turn of events.[25]

Located in one of the most bombed-out areas of London, rising from the ashes and debris of World War II, is this massive arts center and housing development, huge in scale and complexity.[26] The 70-acre Aylesbury Estate (1977) in the London borough of Southwark, one of the largest public-housing complexes in Europe, soon became a national byword for urban mayhem.[27] Meantime, large-scale redevelopment to accommodate offices, housing, and a shopping center at a historic south London crossroads, Elephant and Castle, was widely regarded as a failure, with the road-ringed shopping center a beached whale afflicted with poorly designed pedestrian access.[28] Consider Park Hill (1961), a huge council-housing estate containing nearly 1,000 duplexes and single-level flats that partially replaced a demolished slum overlooking downtown Sheffield — a crime-ridden precinct that, for all its problems, had housed a resilient community.[29]

We live in an age of emotional web design; where we as interface and experience designers climb over each other to offer users empathy and understanding.[30] Brutalist web design — loosely defined as a functional and „raw“ visual aesthetic — is heavily influenced by graphic design, and abandons many trademarks of typical web design, like headers and footers, or traditional menu navigation.[31] The trend maximally uncovers the layout to express the trend : imagine an HTML page that has many blue hyperlinks and one color monospaced text.[32] If you want to experiment, we sure have few designers that will help you to create this vomit of a website, but me personally? In web design, playing with such pronounced shapes always leads to visually exciting results and is great for drawing attention to important UX elements such as CTA buttons.[33]

Within two decades, Le Corbusier had incorporated brise-soleil into five Unites across Europe and throughout his expansive government complex in Chandigarh, India, founded in 1953 and still perhaps the most ambitious Brutalist project on earth.[34] In 1947, Le Corbusier began what many consider the world’s first Brutalist building, the Unite d’Habitation housing project in Marseille, France. In India, Cambodia and Singapore, which won their sovereignty between 1947 and 1965, local designers adapted the rough concrete forms of internationally renowned architects like Le Corbusier and the American Brutalist icon Paul Rudolph to their own cultural and climatic contexts. The Khmer Rouge in 1975 style had a Place under governments that were encouraging the cultivation of private over … Rock garden acts as a room divider had a Place under governments that were encouraging cultivation.[35] The four corners of the arched concrete roof disappear into the palms, while glass walls on the front and back expose an entirely open-plan interior. A slender concrete roof arcs gracefully over the lawn — each of its four corners touching the ground — and disappears into thick fronds of tropical gardens like two ends of a rainbow.[36]

The 1972 house that the architect Marcos Acayaba designed for himself and his wife, the scholer Marlene Acayaba, in Cidade Jardim, a Sao Paulo neighborhood.[37] Despite the aesthetic’s dispersion around the globe, no place indigenized Brutalism more completely than Sao Paulo, which helps explain why Paulista architects like Mendes da Rocha object so strongly to the word. The beginning of the Paulista School was in houses, „says the scholar Marlene Acayaba, 70, whose 1987 book,“ Houses in Sao Paulo, 1947 – 1975, „remains the essential text on the subject. Sao Paulo wouldn’t develop its own distinctive modern architecture until 1948, when Joao Batista Vilanova Artigas founded the Faculty of Architecture and Urbanism at the University of Sao Paulo (FAU – USP), with a curriculum that focused on engineering.[38]

Is the formation of groups yet another example of the much-discussed (and disputed) echo chamber and filter bubble?[39] Unlike the filter bubble, the members of the Society for Nonpreservation consciously decide to position themselves on this side of the argument. Although these Facebook groups are not the best place to have a discussion, they are a valuable place to try to understand some of the different arguments that make up the discussion. Not involving myself in the argument itself, but rather in the way the conversation is held, I focus on the form rather than the content of the discussions.[40] These kinds of disapproving jokes is what the majority of the group’s content consists of, and let’s be honest, the reason for me to stay in the group and have a good laugh.[41]

In redeveloping ex-council estates, nonprofits have used the sale of homes on the open market to help subsidize „social“ housing.[42] Harwood fails to give this reality due emphasis, which is odd, considering that of the three pillars of the postwar British welfare state — nationalized medical care, expanded educational opportunity, and council housing — only the last crumbled. This led to a much larger role for nonprofit housing corporations, to which many councils transferred some or all of their estates — a process actively encouraged by Tony Blair’s Labour government after his election in 1997.[43] Viable council-housing populations became harder to find in Britain as employment in factories and mines declined, a process that accelerated during the 1970s and 1980s.[44]

Sie haben bis hierhin einen wissenschaftlichen Essay über The Beauty and The Logic of Brutalism der Künstlichen Intelligenz AI-Writer gelesen. In das Formularfeld „What to write about? Headline, Topic …” wurde durch einen Tippfehler “The Beauty and The Logic of Bruatlism In Architecture” eingegeben. AI-Writer korrigierte „Bruatlism“ zu „Brutalism“. Dann wurde die Option “Research Focus” angekreuzt und der Button „Write article“ angeklickt. Das Essay wurde innerhalb weniger Minuten online recherchiert und die geordneten Zitate wurden nach Hashtag-Kombinationen absatzweise aufgelistet, um alternativ zugleich in einen Fließtext mit Fußnoten umgewandelt zu werden. Anders gesagt: Im Formular „Research & Ideas“ erscheint eine strukturierte Liste aus Zitaten. Wenn ich die Option „Research Focus“ nicht wähle, wird sogleich ein Fließtext mit Fußnoten angeboten. Sehr vielmehr Zeit kostete es mich, diesen weiter in das vorliegende Textformat unter einer Neuformatierung des Fußnotensystems mit den recherchierten Autoren und Titeln zu bringen.
„#Brutalism #building #Hunstanton #New #Britain
While it typically refers to concrete buildings inspired more or less directly by Le Corbusier, a fad called New Brutalism was heralded in Britain by a boxy, un – Corbusian school building of 1953 in the seaside town of Hunstanton, Norfolk. [5] …“

Die Hashtag-Kombinationen – „#Brutalism #building #Hunstanton #New #Britain“, „#Britain #documentary #BBC #novel #version“ und „#argument #logic #critics #critique #fact“ etc. –, die AI-Writer generiert hatte, wurden gelöscht und mehr oder weniger abweichende Keywords fett gesetzt. Benutzt wurde eine kostenlose Testversion von AI-Writer, auf die mich die Kollegin und Medienforscherin Claudia Reiche aufmerksam gemacht hat. Im Vergleich mit wissenschaftlichen Haus- und z.B. Bachelor-Arbeiten von Studierenden ist der Text der Artificial Intelligence (AI) mit sämtlichen Quellenangaben erstaunlich gut strukturiert. Alle Regeln für das wissenschaftliche Schreiben werden eingehalten. Im Unterschied zu vielen Schüler*innen und Student*innen werden die Regeln geradezu mustergültig befolgt. Anders, ironisch gesagt: Plagiieren lohnt sich nicht mehr, man kann gleich AI-Writer von Fabian Langer aus Zeitlarn bei Regensburg benutzen und in eine ansprechende Textform bringen.

Ich-Formulierungen wie „I think one also needs to think about the relational networks, cultures, and ecologies of images” oder „I focus on the form rather than the content“ oder „let’s be honest, the reason for me to stay in the group and have a good laugh“ können als einigermaßen verstörend aufgefasst werden. Denn hier stellt sich die Frage: Wer denkt? Wer fokussiert sich? Wer ist ehrlich und lacht? Ist die Künstliche Intelligenz ein Subjekt? Oder muss man das Ich als ein Zitat aus den Quelltexten lesen? Geht das überhaupt? In wissenschaftlichen Essays wird der Einsatz des Subjekts in der ersten Person Singular oder auch Plural („let’s be honest“) als Emphase der Subjektivität zu einer Geste der Authentifizierung. Es wird eine Art subjektives Wissen aufgeführt, das durch eine Künstliche Intelligenz, AI-Writer, aus dem Internet einen „unique text“ generiert wurde.
„1. Submit a headline
Choose a topic or headline and send it to our article-writing AI software
2. Wait a minute
Now wait while the best article writing software out there does its job
3. Save valuable time
Take what the automatic article writer drafted and make it into something perfect!

Lässt sich der Text The Beauty and The Logic of Brutalism noch als der einer Maschine identifizieren, wenn unter dem Namen beispielsweise einer/s Student*in mit bedeutender Geste das Ich gebraucht wird? Mensch oder Maschine? Erinnern Sie sich noch an die Diskussion über die Nutzung von Rechtschreibprogrammen in den 90er Jahren? Wer Hausarbeiten oft in größerer Zahl zu korrigieren hat, weiß, wie sehr sich die Korrektor*innen wünschen, dass doch wenigstens das Programm hinsichtlich der Interpunktion, insbesondere Kommata, beherrscht würde. Künstliche Intelligenz ist hinsichtlich Grammatikregeln und Regeln, die sich in einen Algorithmus verrechnen lassen, nicht so gut wie ein Mensch, sondern besser. Alan Turings Methode bestand darin, das Denken zu einer Frage der Berechnungen und Regeln zu machen:
“The idea behind digital computers may be explained by saying that these machines are intended to carry out any operations which could be done by a human computer. The human computer is supposed to be following fixed rules; he has no authority to deviate from them in any detail. We may suppose that these rules are supplied in a book, which is altered whenever he is put on to a new job. He has also an unlimited supply of paper on which he does his calculations. He may also do his multiplications and additions on a ‘desk machine’, but this is not important.”[45]

Die Maschine wird nicht nur und nicht erst bei Alan Turing zum Paradigma des Denkens nach Regeln wie der „human computer“. Vielmehr – und soweit „denkt“ die KI dann eben doch nicht – formuliert Le Corbusier 1923 in seiner Schrift, eine Art Manifest, Vers une architecture in der „Collection de „L’Esprit Noveau““ seine Regeln auf dem Weg zu einer Architektur.[46] Es lässt sich sagen: Er baute aus Regeln eine Architekturmaschine. Aus diesem Text zitiert Banham 32 Jahre später die Formulierung: „L’architecture, c’est, avec des matériaux bruts, établir des rapports émouvants.“ (Die Architektur baut mit Rohstoffen bewegende Beziehungen auf.) Le Corbusier nennt seinen Text „Argument“[47], was aus dem Kontext soviel wie These oder Streitschrift bedeuten kann. Gleich in der Einleitung wird der Architekt zum Ingenieur, indem Le Corbusier eine Ästhetik des Ingenieurs proklamiert: „Esthétique de l’Ingénieur, Architecture, deux choses solidaires, consécutives, l’une en plein épanouissement, l’autre en pénible régression.“ Ein Ingenieur konstruiert und bedient Maschinen. In Le Corbusiers Logik der Moderne oder des Neuen Geistes wird das Haus zur Maschine bzw. „machine à habiter“: „La mécanique porte en soi le facteur d’économie qui sélectionne. La maison est une machine à habiter.“[48]   

Le Corbusiers ebenso formalisierte wie poetische Schrift, sein „Argument“, macht die Architektur allein zu einer Aufgabe der Mathematik. Unser Denken, unser Geist – „notre esprit“ – wird mit ihm durch die Mathematik berechenbar, kalkulierbar, um durch sie befriedigt zu werden. Mit anderen Worten: Le Corbusier nimmt in der Architektur für das Denken voraus, was Alan Turing 1950 für eine „desk machine“ formulieren wird. Denken und Architektur werden zu einer Frage der Kalkulierbarkeit, mit der die Größe der Zahlen und Wohnmaschinen menschliches Denken übersteigen. Die Rohheit des Materials unterliegt paradoxer Weise einem mathematischen Modell vom Bauen und seiner Ökonomie. Das führt letztlich zu einer Veränderung des Verständnisses von Natur. Der „Béton brut“ als ästhetisches Element ist ebenso unbehandelt, natürlich, wird aber trotzdem vom mathematischen Denken oder Modell erfasst und ermöglicht.
„Opérant par le calcul, les ingénieurs practiquent les formes géométriques, satisfaisant nos yeux par la géométrie et notre esprit par la mathématique; leurs œuvres s’approchent du grand art.”[49] (Die Ingenieure üben nach Berechnungen geometrische Formen und befriedigen unsere Augen mit Geometrie und unseren Geist mit Mathematik. Ihre Werke nähern sich der großen Kunst.)

Die Materialität des Brutalismus funktioniert anders als die der Künstlichen Intelligenz. Einerseits wird die Materialität als Größe wie bei LeCorbusiers Wohnmaschinen ausgestellt ebenso wie die „beeindruckende“ Menge des Wissens durch die Zitate vorgeführt wird. Andererseits kehrt der Brutalismus seine Materialität nach außen, macht sie als künstliche sichtbar, während die KI beispielsweise mit dem „Ich“ seine Künstlichkeit versteckt. Doch die Verschiebung in der Wissensverarbeitung lässt sich offenbar lesen. Die große Regelhaftigkeit der maschinellen Verarbeitung von Wissen lässt den Text noch im Lesen schnell vorhersehbar und damit „uninteressant“ werden. Interesse wird durch eine gewisse Regelverletzung erregt, die Alain Turing nicht bedenkt, weil es ihm mit dem Imitation Game gerade um die Imitation eines Denkens nach Regeln beim Menschen geht.

Der Brutalismus als Architekturform wird in vielen Städten vom Abriss oder dem Zerfall bedroht. Das ist ebenfalls ein Paradox, weil die berechnete Masse und Massivität doch vorspielte, gegen alle Zeitläufte kalkuliert zu sein. Brutalismus erinnert immer auch an Kriegsbunker und Hochsicherheitstrakte. In Berlin gibt es z.B. den „Mäusebunker“ der Charité, der unter Denkmalschutz gestellt wurde[50], und die „Wohnmaschine“ von 1957 im Westend[51], die ebenfalls 1996 unter Denkmalschutz gestellt wurde und renoviert worden ist. Die Schönheit oder gar Poesie des Brutalismus erschließen sich nicht nur durch die Mathematik oder die Rohstoffe, wie es Le Corbusier 1923 versprach. Eher schon entstehen sie durch Blickwinkel und Detailansichten. Die Frontalansicht bietet oft nur eine Geometrie, Flächigkeit und Größe, die abweisend oder gar hässlich wirken.

Auf und an der Reinickendorfer Straße im Wedding gibt es mit 4 Gebäuden eine Art Hotspot des Berliner Brutalismus. Der ExRotaprint-Turm von Klaus Kirsten von 1957 in der Gottsched- Ecke Bornemannstraße wurde vor dem Abriss gerettet und denkmalgerecht renoviert.[52] Die evangelische Dankeskirche von Fritz Bornemann auf dem Weddingplatz an der Reinickendorfer Straße wurde an die Syrisch-orthodoxe Kirche Antiochien verpachtet und in St. Izozoel umbenannt. Das Hauptgebäude von 1973 der Schering AG, die in die Bayer AG aufgegangen ist, wird laut Berlin Brutalism „vom Abriss bedroht“, zumal das Architekturbüro Kiemle, Kreidt und Partner keine größere Bekanntheit erlangte. Doch die Kombination aus rohem Beton und Aluminium spricht die Sprache des Brutalismus. In das spät-brutalistische Wohn- und Geschäftshaus an der Reinickendorfer Straße Ecke Gerichtstraße ist im letzten Sommer Savvy Contemporary unter der Leitung von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung gezogen. Es ist noch wenig erforscht. Doch die regelrechte Verbunkerung zu den Straßenseiten mit den großen Sichtbeton-Flächen machen das Gebäude zu einem Exempel des Brutalismus.

Torsten Flüh


[1] Alan Turing: COMPUTING MACHINERY AND INTELLIGENCE. In: Mind, Volume LIX, Issue 236, October 1950, Pages 433–460, Published: 01 October 1950 https://doi.org/10.1093/mind/LIX.236.433.

[2] Reyner Banham: The New Brutalism. In: The Architectural Review 9 December 1955. https://www.architectural-review.com/archive/the-new-brutalism-by-reyner-banham

[3] Gatsby Leigh: A Plague on Cities, and the Poor. Brutalism’s enduring influence. In: City Journal Spring 2018. https://www.city-journal.org/html/plague-cities-and-poor-15838.html

[4] Reyner Banham: The … [wie Anm. 2].

[5] Dru Grange: Eco Brutalism with Trees. In: Dru Grange December 29. 2020 https://drugrange.com/c8u49h/eco-brutalism-brutalism-with-trees-d6e347

[6] Commentary (N.N.): Brutalism is Back. In: New York Times 07th October 2016 https://architexturez.net/pst/az-cf-180548-1475830285

[7] Gatsby Leigh: A Plague … [wie Anm. 3].

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

[12] Colin Marshall: Everything You Ever Wanted To Know About The Beauty Of Brutalist Architecture. In: Open Culture. Architecture, History April 2nd 2019. https://www.openculture.com/2019/04/everything-you-ever-wanted-to-know-about-the-beauty-of-brutalist-architecture.html

[13] Gatsby Leigh: A Plague … [wie Anm. 3].

[14] Reyner Banham: The New … [wie Anm. 2].

[15] Gatsby Leigh: A Plague … [wie Anm. 3].

[16] Ebenda

[17] Ebenda.

[18] Commentary (N.N.): Bruatalism … [wie Anm. 6].

[19] Allee Manning: Why Ugly Buildings Should Be Preserved. In: Garage Nov 21 2017, 3:59pm. https://garage.vice.com/en/article/xwa93j/why-brutalist-buildings-should-be-preserved

[20] Marjin Bril: Architectural Filter Bubbles: On the Society for the Nonpreservation of Brutalism. In: institute of network cultures October 27, 2020 at 4:59 pm. https://networkcultures.org/blog/2020/10/27/architectural-filter-bubbles-on-the-society-for-the-nonpreservation-of-brutalism/

[21] Colin Marshall: Everthing … [wie Anm. 12].

[22] Reyner Banham: The New … [wie Anm. 2].

[23] Marjin Bril: Architectural … [wie Anm. 20].

[24] Ebenda.

[25] Commentary (N.N.): Bruatalism … [wie Anm. 6].

[26] Brad Dunning: The 9 Brutalist Wonders of the Architecture World. In: GQ Style August 29, 2018. https://www.gq.com/story/9-brutalist-wonders-of-the-architecture-world

[27] Gatsby Leigh: A Plague … [wie Anm. 3].

[28] Ebenda.

[29] Ebenda.

[30] brutalist graphic design 2021 (N.N.) https://aselkutu.com.tr/307a7vpl/brutalist-graphic-design-48aa26

[31] Ebenda.

[32] Ebenda.

[33] Ebenda.

[34] Dru Grange: Eco … [wie Anm. 5].

[35] Ebenda.

[36] Ebenda.

[37] Ebenda.

[38] Ebenda.

[39] Marjin Bril: Architectural … [wie Anm. 20].

[40] Ebenda.

[41] Ebenda.

[42] Gatsby Leigh: A Plague … [wie Anm. 3].

[43] Ebenda.

[44] Ebenda.

[45] Alan Turing: Computing … [wie Anm. 1].

[46] Le Corbusier: Vers une architecture. Collection de „L’Esprit Nouveau“, Paris: Éditions Crès, 1923. (Fondation Le Corbusier)

[47] Ebenda.

[48] Ebenda.

[49] Ebenda.

[50] dpa/monopol: Hygiene-Institut der Charité jetzt unter Denkmalschutz. In: Monopol 21.01.2021.

[51] Berlin Brutalism: Le Corbusier Haus.

[52] ExRotaprint: Baudenkmal.