Fragen der Intelligenz

Intelligenz – Krieg – Torheit

Fragen der Intelligenz

Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall

Wieweit reicht die Intelligenz Wladimir Wladimirowitsch Putins? Seit dem 24. Februar 2022 führt der Präsident der Russischen Föderation einen lange vorbereiteten und gegen alle völkerrechtlichen Friedensappelle begonnenen, auf ihn hoch personalisierten Krieg. In den Medien wird seither kontrovers diskutiert, wie intelligent Putin sei. Die Frage der Intelligenz spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung von Stärke oder Schwäche des Staatspräsidenten und vermeintlich obersten Heerführers der russischen Invasoren. Mit geringfügiger Verspätung hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude unter Zustimmung aller Parteien zwischen AfD und Linke eine politische, genauer sicherheitspolitische „Zeitenwende“ angekündigt, während in Berlin 500.000 Menschen auf der Straße des 17. Juni, um die Siegessäule, im östlichen Tiergarten, am Brandenburger Tor und Unter den Linden gegen den Angriffskrieg protestierten.

Am 5. und 6. März veranstaltete die Neue Nationalgalerie auf Initiative von Klaus Biesenbach eine 36stündige Mahnwache über 2 Tage und 2 Nächte und die Spendenaktion Our Space to Help mit der Berliner Initiative Be an Angel e. V. Vor der Neuen Nationalgalerie, der Gemäldegalerie – „Höllenschwarz und Sternenlicht“ – und der Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße waren und sind Fahnen in den ukrainischen Farben Blau und Gelb aufgezogen. Weitere Hilfs- und Spendenaktionen fanden im Humboldt Forum, in der Staatsoper Unter den Linden, dem Museum für Europäische Kulturen etc. statt. Die Kulturszene hat sich nahezu ausnahmslos mit den Bürgern der Ukraine solidarisiert. Dennoch kommt es in eher privaten Kulturveranstaltungen wie Lesungen zu engagierten Diskussionen zwischen Menschen, die Putin für intelligent halten, und solchen, die vom Gegenteil sprechen. Dabei nahm jüngst Barbara W. Tuchmans populärhistorisches Buch The March of Folly von 1984 eine wichtige Rolle in der Deutung von Geschichte ein.[1]  

Die Demokratie nicht nur der Ukraine, sondern Europas und der westlichen Welt soll von Ukrainer*innen verteidigt werden, ohne dass die NATO in den Krieg eingreift, weil dann ein Dritter Weltkrieg insbesondere mit Atomwaffen drohen würde. Damit befinden sich Deutschland und Europa vor allem mit der Atommacht Frankreich in einem Dilemma. Das Vereinigte Königreich als weitere Atommacht mit einem kaum handlungsfähigen Premierminister nimmt eine bedauerlich marginale Rolle ein. Boris Johnson suchte anscheinend nicht das Gespräch mit Putin und wurde auch gar nicht erst vorgelassen. Vermutlich müssten große Teile der englischen Upper Class auf Ascot, Privatschulen, Internate, Royal Opera House und andere Kulturinstitutionen ohne russische Oligarchen verzichten. Im hohen Takt der Eilmeldungen – News Alert – scheint Putin, Deutschland und die EU sowie das Vereinigte Königreich vorzuführen.

Der 22. Februar 2022 markiert nach dem März 2020 eine epochale Wissenserschütterung.[2] Das ist Putin gelungen. Weder wissen wir, wann wieder Frieden in Europa einkehren wird, noch wissen wir, welche Kriegsverbrechen Putin und seine Führungsriege noch alle begehen werden. Derweil inszeniert sich Putin als ein Alleinherrscher und Tyrann, der selbst seinen Chef des Auslandsgeheimdienstes öffentlich zusammenfaltet, damit dieser seine Einwilligung zur Unabhängigkeit von Luhansk und Donezk gibt, weil endlich der Grund zur „militärischen Operation“ geschaffen werden muss.[3] Derartiges hat die Welt nicht einmal von Donald Trump erlebt[4], der immerhin seinen Chefepidemiologen Anthony Fauci düprierte in der größten und verheerendsten Pandemie der Geschichte mit bis heute laut CoronaVirus Resource Center der Johns Hopkins Universität 6.003.925 Toten, davon bis heute 959.625 in den USA.[5] Doch die Wissenserschütterung rührt auch von den Eilmeldungen und Mobile-Videos, die den Krieg versuchen, wahrnehmbar und verständlich zu machen. Aber der Krieg und seine Schrecken entziehen sich aus spektakuläre Weise, so dass nichts bleibt als Spekulation.

Die Kriegsberichterstattung verfehlt auf spektakuläre Weise den Krieg. Zu erinnern ist dafür an das Semesterthema der Mosse-Lectures vom Sommersemester 2014 mit dem Titel Vom Krieg berichten.[6] Nur diesmal sind die Gerüchte, Zweifel und Falschmeldungen intensiver und näher. Die Kriegsreporterin Antonia Rados beklagte in ihrer Mosse-Lecture im Senatssaal der Humboldt-Universität vor allem den „Mangel am Zusehen“. Niemand, „der nicht parteiisch beteiligt ist“, wolle die Kriegsberichterstattung mit wechselnden Kriegsschauplätzen lesen oder sehen.[7] Doch diesmal ist Deutschland, ist Europa parteiisch, weil es durch Putins mangelnde Verhandlungsbereitschaft zur Partei gemacht worden ist. Putins Ukrainekriege hat Deutschland und die Deutschen parteiisch gemacht. War das kalkuliert? Oder hatte er einfach übersehen, dass er anders als in Syrien Deutschland und Europa zu Parteinahme zwingen würde? Wie intelligent war schon alles vorbereitet? Oder hat Putins „folly“, um an Barbara W. Tuchman anzuknüpfen, ihn in einen Krieg getrieben, den er nicht gewinnen kann?

Der anglo-amerikanische Begriff folly hat eine Bedeutungsbreite, die im Deutschen mit Torheit, Narrheit, Verrücktheit und Unverstand, aber nicht mit Dummheit übersetzt werden kann. Am häufigsten wird folly als „Foolishness that results from a lack of foresight or lack of practicality” gebraucht.[8] Die Formulierung „This is a war of folly to continue“ wird für politische Entscheidungen benutzt. Wobei „a war of folly“ sich kaum mit „Krieg des Unverstands“ ins Deutsche übersetzen lässt. Weiterhin findet der Begriff seine Verwendung für „Thoughtless action resulting in tragic consequence“.[9] Folly spielt im Englischen insofern auf all jene Handlungen und Prozesse an, die sich jenseits von Verstand und Intelligenz abspielen. Zugleich lässt sich folly schlecht eingrenzen und beherrschen. Mit dem Namen Les Folies Berger gibt der Begriff einen Wink auf die Unterhaltung durch Revuen um 1900, die sich am Rande der vorherrschenden Kultur und Moral mit erotischen und sexualisierten Darstellungen situiert. Diese Verrückten – Folies – brachen zur Unterhaltung mit den Regeln der Moral.

Die Eskalation des Krieges findet in der Sprache statt. Schon droht Putin mit Atomwaffen als „Abschreckungskräfte“, die auf Europa und die USA zielen, während der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Aktivierung der russischen Atomsprengköpfe als „gefährliche Rhetorik“ verurteilt.[10] Tiefer als es die meisten Kommentator*innen und Kriegsreporter*innen realisieren, wenn sie ein wenig verächtlich von „Putins Narrativ“ sprechen, ist ein Krieg der Begriffe, der Narrative, der Geschichten und Bilder ausgebrochen. Auf der arabischen Halbinsel, die für Antonia Rados entscheidend war, spielte sich der russische Krieg jenseits Europas ab. Das unterscheidet den aktuellen Krieg in Europa von Putins Kriegsschauplatz in Syrien, wo immerhin das Assad-Regime weiterhin einen halbwegs funktionierenden Staat beherrscht, während die Amerikaner auf den Straßen der Internationalen Zone von Bagdad (Irak) damit rechnen müssen, erschossen zu werden. Die arabischen Nachrichtenkanäle schienen Anfangs über Deutschland und die Sanktionen gegen Russland zu lästern. Putin als patriarchale Figur erschien mächtiger als Scholz oder Biden. Doch zwischenzeitlich zeigt ein Überblick der Meldungen zur Ukraine von AlJazeera auf Englisch, dass die „arabische Welt“ für die Ukraine parteiisch wird.[11]

Der aktuelle Krieg findet womöglich stärker als jemals zuvor als ein Krieg der Rhetorik statt. Die semantischen Operationen sind fast abenteuerlicher als das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Russland schottet seine Narrative als Herrschaftsnarrative ab. Die Bevölkerung wird mit brachialen Mitteln gezwungen, nicht etwa zu schweigen, sondern die Parolen zu wiederholen, als hätte es den Bruch mit der Sowjetunion nie gegeben. Die Putin-Administration setzt auf „Fake News“ Haftstrafen von bis 15 Jahren aus, so dass BBC, ARD und ZDF ihre Moskauer Büros schließen und ihre Korrespondent*innen abziehen. Die rhetorische wie praktische Kriegsspirale kennt anscheinend keine Grenzen mehr, weil die Praxis die Rhetorik ebenso wie die Narrative braucht. Kriegsreporter*innen sprechen in Live-Schaltungen von „Putins Narrativ“, als ginge es nun um einen Krieg der Narrative oder gleich Clash of Narrativs. Ist Narrativ schon zu einem Synonym für Propaganda geworden? Oder sind alle Narrative lächerlich, weil sie doch nicht die Grausamkeit des Krieges vermitteln können?

Die Rede von der Intelligenz und ihren mehr als unsicheren Parametern wie dem ihr innewohnenden Schrecken der Maschine ist nicht zuletzt seit Friedrich Nietzsches „intelligente(n) Maschinen“ fragwürdig.[12] Hat sich Wladimir Wladimirowitsch Putin in eine Kriegsmaschine ohne menschliche Gefühle verwandelt? Die Frage der Intelligenz wie der Künstlichen Intelligenz kristallisiert sich nicht zuletzt mit maschinellen Ent- und Verschlüsselungen bei Alan Turing während des 2. Weltkriegs und danach mit dem Turing-Test heraus.[13] Das Internet und Künstliche Intelligenz sind Kriegstechnologien, die popularisiert und kommerzialisiert worden sind. Benjamin Peters hat 2016 im Lab Verhaltensdesign an der Technischen Universität eine „Global History of Partial Cybernetics“ in In the Dashes of the Military-Industrial-Academic Complex angerissen.[14] Die Kybernetik situiert sich „an der Schnittstelle von Medizin, Konditionierung und Optimierung nicht nur von Arbeitsprozessen, sondern des Menschen und seiner Fähigkeiten selbst“.[15] Ungeachtet der prekären Geschichte von Kybernetik, Künstlicher Intelligenz und Intelligenz in der Philosophie sowie Science Fiction wie mit Stanislaw Lems Golem XIV. von 1973[16] kehrt die Rede von der Intelligenz ausgerechnet im Moment einer fundamentalen Wissenserschütterung wieder, um die Handlungen und Praktiken Putins zu sanktionieren.

In einer Epoche, in der die Intelligenz beispielsweise als eine des atomaren Wettrüstens und Abschreckung noch höher im Kurs stand als heute, schrieb vor 1984 Barbara W. Tuchman ihren Bestseller The March of Folly From Troy to Vietnam.[17] In ihrem ersten Kapitel fragt Tuchman einleitend: „Why does intelligent mental process seem so often not to function?”[18] Die Frage lässt sich leicht als eine unter anderen überlesen. Denn die Autorin wurde in Newsweek für ihr „superb storytelling“ gelobt, das „deceit, cant and pomposity“ (Täuschung, Heuchelei und Wichtigtuerei) demaskiere.[19] Der „intelligent mental process“ spielt auf all jene Abläufe an, die sich als intelligent ebenso in den wachsenden Bereichen der Datenverarbeitung wie Digitalisierung und militärischen Steuerung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts anbahnten. Die Verdrängung der analogen Fotografie durch die digitale kündigte sich gerade an. Akademische Abschlussarbeiten wurden auf Computern geschrieben, die noch nicht mit dem Internet verkoppelt waren. 1971 war die erste E-Mail verschickt worden. Blogs gab es noch nicht.

Das Gespenst (spectre) eines nuklearen Krieges schwebe über The March of Folly, schrieb der Rezensent der Chicago Tribune.[20] Insofern könnte Barbara W. Tuchmans als Die Torheit der Regierenden schon 1984 in Deutsch bei S. Fischer[21] erschienene, gut erzählte und enzyklopädisch von Troja bis Vietnam angelegte Geschichte eine gewisse Aktualität haben. Dem Mythos von der Intelligenz der Herrschenden setzt die Autorin einen Anti-Mythos der „Folly“ entgegen. Wie konnte ihr das theoretisch gelingen? Einschneidend war für Tuchman offenbar das Debakel des Krieges in Vietnam für die amerikanischen Streitkräfte und die Washingtoner Administration. „America Betrays Herself in Vietnam“ nennt sie ihr Schlusskapitel, bevor sie dem mit dem Zitat „A Lantern on the Stern“ (Eine Laterne am Heck) einen analytischen Epilog nachschickt. Tuchman ist keine Theoretikerin für Geschichte. Allerdings schreibt sie Geschichte um und „breaks all the rules“ (Newsweek) der Geschichtserzählung. Sie knüpft an die Psychoanalyse und das Unbewusste bei Freud an:
„Reason returned for a brief brilliant reign in the 18th century, since when Freud has brought us back to Euripides and the controlling power of the dark, buried forces of the soul, which not being subject to the mind are incorrigible by good intentions or rational will.”[22]  

Der Verstand (reason) kann nach Tuchmans Geschichtsauffassung nicht die „power of the dark“, das Unbewusste wie das Nichtwissen bei politischen, gar kriegerischen Entscheidungen kontrollieren. Gleichwohl hält sie an Platon und seiner Politeia fest, wenn sie schreibt, dass ein „Übermaß an Macht“ (excess of power) ein wichtiger „Auslöser für die Torheit“ sei. Deshalb sei Platon zu dem Schluss gekommen, dass „Gesetze (…) der einzige Schutz (seien)“.[23] Wir haben erlebt, wie Wladimir Putin in seinem Machtrausch das Gesetz, internationales Recht gebrochen hat und weiterhin alle Gesetze z.B. hinsichtlich eines Schutzes der Zivilbevölkerung oder der Atomkraftwerke bricht. Was macht seine Macht so verführerisch und anhaltend? Aus welchen Energien, um nicht zu sagen Trieb, speist sich Putins anhaltende Macht? Warum könnte es befriedigend sein, den Roten Knopf zur Entfesselung der atomaren Macht zu drücken?

Barbara W. Tuchman kommt zu dem Schluss, dass sich die Macht nur durch den Souverän in einer Demokratie, nämlich den Wähler*innen an der Wahlurne durchsetzen lasse, wobei sie 1984 auf „bessere Zeiten“ in Amerika hoffte, in denen „eine weisere Regierung des Nährbodens einer dynamischen, statt einer geängstigten, verwirrten Gesellschaft“ bedürfe.[24] Mit Donald Trump war 2016 das Gegenteil eingetreten. Das Zitat als Titel geht auf Samuel Taylor Coleridge zurück, von dem am 18. Dezember 1831 in seinen Table Talks notiert wird: „If men could learn from history, what lessons it might teach us! But passion and party blind our eyes, and the light which experience gives is a lantern on the stern, which shines only on the waves behind us!“[25] Coleridge paraphrasiert mit seiner Vergeblichkeit und Nachträglichkeit der Geschichtspädagogik Hegels Formulierung vom Fluge der Eule der Minerva in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts vom 25. Juni 1820:
„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“[26]

Die Erkenntnis als Form des Wissens geschieht nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel nachträglich bzw. dann, wenn sie nichts mehr nützt. In ähnlicher Weise verblenden uns bei Coleridge Leidenschaft und Parteilichkeit, die uns verwehren Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Das Licht der Laterne am Heck eines Schiffes erleuchtet nur noch die Wellen, die wir ziehen und hinter uns lassen. Die Weltordnung nach dem 2. Weltkrieg durch die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 sollte die Lernfähigkeit der Menschheit und der Staaten beweisen.[27] Nach der Präambel der Charta soll sie „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. In Artikel 1 setzt sie das Ziel „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“. Die Russische Föderation hat mit Putins Angriffskrieg dieses verpflichtende Wissen gebrochen.

Wie lässt sich über den epochalen Bruch sprechen? Für die Aktion Our Space to Help war in der Neuen Nationalgalerie „ein „offenes Mikrophon“, um eigene Gedanken, Musik oder Literatur miteinander zu teilen,“ aufgestellt worden.[28] Als der Berichterstatter die Neue Nationalgalerie fotografierte, sprach niemand, machte niemand Musik und las auch niemand Literatur vor. Hatte Putins Intelligenz gesiegt, während doch die News-Maschine unablässig Kommentare produziert? Nein! Es geht darum, ein Nicht-Wissen auszuhalten. Putin weiß nicht mehr als jeder x-beliebige Mensch auf diesem Planeten. Stattdessen produziert er in Wort und Bild Pornos, wenn es um die Vergewaltigung der Ukraine als Frau geht. Robert Habeck hat in seiner Rede als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag diese Geschlechtung der Ukraine als Frau, die sich bei einer Vergewaltigung nicht so zieren solle, eindrücklich in Erinnerung gerufen. In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Macron habe Putin aus einem russischen Kinderlied zitiert, „das Mädchen manchmal beim Kämmen der Haare vorgesungen wird, wenn es ziept. Das ist aber auch ein Synonym für Vergewaltigung: Die Ukraine solle sich nicht so anstellen, sie würde jetzt halt vergewaltigt werden. – So hat der Präsident gesprochen.“[29] Präsident Putin lässt sich mit Flugbegleiter*innen als Patriarch filmen, um seinen „Söhnen“ zu zeigen, dass hier niemand anderes als er selbst diese Schönheiten fickt. Denn die Logik des Patriarchats besteht darin, den „Söhnen“ den Sex zu zeigen, um ihnen diesen vorzuenthalten und ihn selbst zu genießen. Putins biologisches Alter von 69 Jahren spielt für das Imaginäre keine Rolle. Dreißig unterschiedliche, „fuckable“ Frauentypen werden am Tisch versammelt, um von Putin wie im Schulmädchen Report der 70er Jahre belehrt zu werden. Putin genießt den Sex mit den Flugbegleiterinnen, während er das Kriegsrecht erklärt.[30] Und das soll jede und jeder sehen.

Sex spielt in der Darstellung und Selbstdarstellung von Wladimir Waldimirowitsch Putins Krieg eine entscheidende, narzisstische Rolle. Er spricht nicht gegenüber Olaf Scholz, aber sehr wohl gegenüber Emanuel Macron als Konkurrenten von Vergewaltigung. Er zeigt sich mit Flugbegleiterinnen beim Sex, indem er den Krieg erklärt. Krieg als Männersache schloss und schließt in den meisten Fällen bis auf den heutigen Tag beispielsweise in Arabien oder Afghanistan die Vergewaltigung der weiblichen Geisel ein. Gelegentlich sind auch homo- und transsexuelle Personen betroffen, wenn sich nicht gleich exekutiert werden. Doch wenn sie exekutiert sind, lässt sich an ihnen nicht mehr die Macht genießen. Die amerikanische Philosophin Alenka Zupančič hat kürzlich gefragt: Was ist Sex?[31] Die „sehr weitreichende Erfindung auf der Ebene des Begriffs“ in der Psychoanalyse betrifft nach Zupančič ein fundamentales Nicht-Wissen.[32] Sie knüpft dafür an eine Formulierung Lacans an: „Unbewusstes Wissen ist ein Wissen, dass sich selbst nicht weiß.“[33] Das Problem beginnt mit dem Genießen, das Putin geradezu obsessiv vorführt. Ob er selbst weiß, dass er es tut, wissen wir nicht. Barbara W. Tuchman würde heute wohl nicht mehr von „dark power“ sprechen. Doch die Torheit der Kombination einer Supermacht im Informationszeitalter von Macht, Krieg und Sex ist frappierend.

Putin führt nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine als Staat und Frau, vielmehr inszeniert er sich als Retter der Männlichkeit und des Patriarchats. Frauen spielen in diesem Narrativ vor allem eine Rolle als Lustobjekte und Gebärerinnen von Söhnen, an denen sich die Macht des Vaters symbolisch und real genießen lässt. Mit der Charta der Vereinten Nationen lässt sich dieses Rollenspiel kaum vereinbaren. Anders gesagt: Putin Intelligenz zuzuschreiben, ist gefährlich und kann nur dem Interesse eigener Machtphantasien auf gleichem Niveau entspringen. Zu offensichtlich wenden sie sich gegen „die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“, die in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen verbürgt sind. Jede Bombe, jeder Schuss gegen die Menschen in der Ukraine von russischen Flugzeugen und Soldaten, gilt dem Gesetz, das sich und UNS die Weltgemeinschaft am 26. Juni 1945 in San Francisco gegeben hat.

Torsten Flüh

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[1] Burkhard Müller verdanke ich den Hinweis auf The March of Folly.

[2] Zur Wissenserschütterung siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[3] Siehe dazu: Spiegel: »Das diskutieren wir hier nicht« 23.02.2022, 15.42 Uhr.

[4] Zu Donald Trump im April 2020: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[5] Johns Hopkins Coronavirus Resource Center: Global Map.

[6] Torsten Flüh: Vom Dilemma von Zweifel und Glauben an das Gerücht. Antonia Rados‘ Mosse Lecture zum Semesterthema Vom Krieg berichten. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 11, 2014 19:58.

[7] Ebenda.

[8] Siehe Wiktionary: folly.

[9] Ebenda.

[10] Siehe: Carla Bleiker: Wladimir Putins Atomdrohung: Wie ernst ist die Lage wirklich? In: DW 02.03.2022.

[11] AlJazeera: Ukraine: https://www.aljazeera.com/where/ukraine/

[12] Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[13] Zu Alain Turing und Künstlicher Intelligenz siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[14] Torsten Flüh: Von der Design-Wende. Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 14, 2016 21:12. Siehe auch den Konferenzband als Open Source: Jeannie Moser / Christina Vagt (Hg.): Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre. Bielefeld: transcript, 2018. (Open Access).

[15] Ebenda.

[16] Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[17] Barbara W. Tuchman: The March of Folly From Troy to Vietnam. New York: Alfred. A.Knopf, 1984. Zitiert nach der Erstausgabe von Ballantine Books Edition: March 1985.

[18] Ebenda S. 4.

[19] Ebenda ohne Seitenzahl.

[20] Chicago Tribune: “The spectre of this ultimate folly [nuclear war] hangs over Barbara Tuchman’s brilliant and troubling book.” Ebenda ohne Seitenzahl.

[21] Barbara W. Tuchman: Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. (Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser) Frankfurt am Main: S. Fischer, 1984.

[22] Barbara W. Tuchman: The … [wie Anm. 17] S. 381.

[23] Dies.: Die Torheit … [wie Anm. 21] S. 479.

[24] Ebenda S. 485.

[25] „Wenn die Menschen aus der Geschichte lernen könnten, welche Lehren könnte sie uns lehren! Aber Leidenschaft und Partei blenden unsere Augen, und das Licht, das Erfahrung gibt, ist eine Laterne am Heck, die nur auf die Wellen hinter uns scheint!“ (Übersetzung T.F.)

[26] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin: Nicolai, 1821, S. XXIV. (Digitalisat)

[27] Vereinte Nationen: Die Charta der Vereinten Nationen (UNRIC).

[28] Neue Nationalgalerie: Our Space to Help: Spendenaktion in der Neuen Nationalgalerie am 5. und 6. März 2022. 04.03.2022.

[29] Die Bundesregierung: Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Robert Habeck in der Sondersitzung zum Krieg gegen die Ukraine vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 in Berlin. Bulletin 25-5.

[30] Der Spiegel: Bizarre Inszenierung: Putin besucht Flugbegleiterinnen. 06.03.2022.

[31] Alenka Zupančič: Was ist Sex? Psychoanalyse und Ontologie. Wien – Berlin: Turia + Kant 2021.

[32] Ebenda S. 8.

[33] Ebenda S. 36.

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