Neue Musik nachträglich hoch politisch

Politik – Nachträglichkeit – Musik

Neue Musik nachträglich hoch politisch

Zum Abschlusskonzert von ultraschall berlin 2025 mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin mit Kompositionen von Charlotte Seither, Philipp Maintz und Sarah Nemtsov

Nachträglich stellen sich Interferenzen zwischen den Kompositionen des Abschlusskonzerts von ultraschall berlin 2025 und dem beispiellosen politischen Handeln und Reden im Deutschen Bundestag am 29. und 31. Januar ein. Mit Drohungen, Lügen und Verrat gelang es dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz fast, einen rechtswidrigen Gesetzesentwurf mit dem euphemistischen Kompositum Zustrombegrenzungsgesetz durch die Legislative zu bringen. Wenige Abgeordnete der CDU und FDP zeigten Haltung genug, nicht mit der rechtsradikalen AfD zu stimmen. Der Geld- und Bierdeckelmensch Merz hatte sich weniger von Alice Weidel als vielmehr von Elon Musks Rede auf dem AfD-Parteitag beeindrucken lassen. Knapp 2 Wochen zuvor waren noch zu welcher stunde (2022), upon a moment’s shallow rim (2014/2015) und black trees (2020) zu hören gewesen. 

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Die Komponist*innen Charlotte Seither, Philipp Maintz und Sarah Nemtsov arbeiten mit Praktiken, die Narrative in der Musik meiden wie in zu welcher stunde oder auf ganz andere Weise behandeln. Die Frage nach dem Narrativ in der Musik und der Funktion von Narrativen in der Gesellschaft wurde insbesondere durch die Übernahme des offensichtlich gefälschten Abschiebe-Narrativs durch die von Friedrich Merz entchristlichte CDU verworfen. Stattdessen wurde das Narrativ aus parteistrategischen Gründen übernommen, um eine vermeintliche Krisenlösung zu suggerieren. zu welcher stunde könnte an ein christliches Narrativ der Todesstunde anknüpfen. Doch Charlotte Seither komponiert anders. Die Tragweite der ständigen Wiederholung von „Magdeburg und Aschaffenburg“ in Reden und Einlassungen von Merz als Argument für Abschiebungen und Grenzschließungen ist nicht nur eine Wahlkampfattitüde, sondern eine populistische Umwertung der Debatte unter Demokraten und Parlamentariern. ultraschall berlin 2025 wurde nachträglich deshalb hoch politisch.

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Zu den Veranstaltungen von ultraschall berlin 2025 gehörte am Sonntagnachmittag im Radialsystem V das Gesprächsformat Perspektivwechsel. ›Engagierte‹ vs. ›Absolute‹ Musik fragte im Gespräch mit den Komponist*innen Iris Ter Schiphorst, Lucia Ronchetti und Márton Illés nach der „gesellschaftlichen Relevanz“ und „gesellschaftliche(n) Verantwortung der zeitgenössischen Künste“.[1] Die Internetadresse macht mit „…2025-01-19-freiheit-eskapismus/“ noch einen stärkeren Unterschied auf. Soll sich zeitgenössische Musik für Freiheit in seiner ganzen gesellschaftlichen Bandbreite engagieren? Oder soll sie sich als ein Eskapismus aus den gesellschaftlichen Debatten heraushalten und einfach nur eine Flucht aus den gesellschaftlichen Kontexten anbieten? Rainer Pöllmann erinnerte daran, dass die Biennale Musica in Venedig – vielleicht nicht ganz zufällig – den Begriff „Absolute Musik“ als Titel wiederbelebt hatte.[2]
„Terminologisch mag ein solcher Begriff Fragen aufwerfen, aber als Metapher für die »Freiheit der Tonkunst«, die Ferruccio Busoni leidenschaftlich verteidigte, kann er eine spannende Debatte auslösen. Dabei geht es natürlich nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern um die Wiedergewinnung eines dialektischen Denkens. Und darum, wie sich Künstler*innen immer wieder neu aus Erwartungshaltungen befreien (können).“

© Stefan Stahnke

Von Márton Illés war am Donnerstag zuvor Ljubljana24 für 24 Streicher in der Halle des Radialsystems V mit den Streichern des Rundfunk-Sinfonieorchesters als eine Art Klangforschung zu hören gewesen.[3] Geht es bei Klangforschung um eine gesellschaftliche Relevanz? Insofern klassische Hörerwartungen bezüglich Bachs Brandenburgischen Konzerten mit den erweiterten Spielpraktiken von Illés durchbrochen werden, lassen sie sich als soziales Handeln bedenken. Charlotte Seither, Philipp Maintz und Sarah Nemtsov befragen mit ihren Kompositionen ebenfalls Klangwissen und lenken die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf gesellschaftliche Konventionen wie die Erwartung einer Erzählung. Denn Erzählungen, so richtig oder falsch sie sein mögen, strukturieren gesellschaftliches Handeln. Charlotte Seither hatte beispielsweise 2015 bereits mit Journal nach „der Überforderung des Einzelnen, der Ohnmacht angesichts der Fülle von Schreckensnachrichten“ gefragt, das 2024 wieder aufgeführt worden war.[4]

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Charlotte Seither fragt mit zu welcher stunde nicht nur zufällig 2022 am Rande der Pandemie nach der Wahrnehmung von Zeit. Die Erfahrung strenger Zeitregime durch Lockdowns und Kontaktbeschränkungen wird von der Komponistin im Zeitmedium Musik befragt. Musik lässt sich als eine Strukturierung von Zeit durch Klänge bedenken. Je nach dem Komponieren von Klängen können Fragen nach der Zeit formuliert werden.
„Es ist also nicht der Inhalt, der mich in diesem Stück interessiert hat („no narration“), sondern eher die Richtung des Schauens, mit der ein und derselbe Gegenstand (oder Fixpunkt) betrachtet werden kann. Im Ausklang mündet das Stück in eine überhängende Klanglinie (ausschwenkende Handglocke), in der sich Bewegung und Innehalten gegenseitig durchdringen. Alles nur eine Frage des Hinhörens und -sehens? Sind Ruf und (offene) Antwort letztlich dasselbe?“[5]

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Unter der Leitung des international zwischen Linz, Berlin, Salt Lake City und Tokio gefragten und mehrfach ausgezeichneten Dirigenten Markus Poschner entfaltete das  DSO in seiner Besetzung als Kammerorchester den Klang von zu welcher stunde. Das Stück von Charlotte Seiter beginnt mit einem Ruf in den Streichern, der an den Beginn der Toccata und Fuge d-Moll von Johann Sebastian Bach erinnert. Der Modus des Rufens wird in dem 12-minütigen Stück abgewandelt und mehrfach wiederholt. Den Ruf als Ruf z.B. später durch das Horn zu hören, setzt allerdings voraus, dass der Ruf musikkulturell verstanden wird. Er arbeitet mit einem Klangwissen. Die Klangereignisse werden mit dem Ruf- und Fragegestus in den kammermusikalisch besetzten Orchestergruppen Streicher, Bläser und Schlagwerk wie der großen Trommel herausgearbeitet. Gar eine Sirene wird angespielt. Eine Antwort wird nicht provoziert. Markus Poschner arbeitet das Potential der Komposition detailliert heraus.

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Die Kompositionen von Holger Maintz und Sarah Nemtzov knüpfen an Gedichte von Emily Dickinson und Sylvia Plath an. Holger Maintz beschreibt zu upon a moment’s shallow rim, dass ihn das Gedicht How Much The Present Moment Means auf besonders intensive Weise „angefasst“ hab.[6] Der fünfte Vers des Gedichts aus 8 Versen wird von Maintz zum Titel. Das Gedicht ist als Manuskript überliefert. Insofern hat es selbst einen unsicheren Status.[7] „auf dem seichten Rand eines Augenblicks“ formuliert eine Zeitwahrnehmung, die sich schwer bestätigen lässt. Zur Rahmung der Aufführung des Cellokonzertes mit einer Glasharmonika als weitere klangliche Besonderheit im großen Orchester lässt sich weiterhin sagen, dass Holger Maintz sein Kompositionsstudium bei Robert HP Platz begann. Insofern schlug sich ein Bogen vom Eröffnungskonzert mit der Uraufführung des Violinkonzertes von Platz zum Abschlusskonzert.[8]
„How much the present moment means
To those who’ve nothing more—
The Fop—the Carp—the Atheist—
Stake an entire store
Upon a Moment’s shallow Rim
While their commuted Feet
The Torrents of Eternity
Do all but inundate—”

© Claudius Pflug

Andreas Göbel fragt im Gespräch mit Holger Maintz danach, wovon das Stück handele, was gewiss auch eine Konvention im Medium Rundfunk ist. Die Gespräche von Andreas Göbel oder Reiner Pöllmann mit den Komponist*innen sollen die folgende Musik den Hörer*innen näher bringen. Interesse wecken. Dabei stellen sich Ungenauigkeiten und Überschreibungen ein. Zu technisch sollte die Beschreibung der Komposition nicht ausfallen, weil das Hörer*innen ausschließen könnte. Wichtiger als die Frage der Handlung ist vor allem in Maintz‘ Komposition die Formulierung des „seichten Rand(s) eines Moments“. Es hätte ebenso ein harter oder scharfer Rand eines Momentes werden können. Doch das Adjektiv shallow erlaubt eine poetische Bandbreite zwischen seicht, flach, untief, oberflächlich bis tagnah. In der Poesie wird shallow rim ambig. Stattdessen fragt Göbel im Gespräch weiter nach der Glasharmonika. Es gibt verschiedene Konstruktionen der Glasharmonika als ein Instrument, das nicht zum üblichen Konzertapparat gehört. Die Glasharmonika klingt nicht nur „schön“, vielmehr erweitert sie das Klangvolumen des Orchesterapparates in einen zerbrechlich hohen Klangraum.

© Claudius Pflug

Die Glasharmonika und ihr Einsatz verraten etwas über das Komponieren von Holger Maintz. Während das Violoncello von Johannes Moser mit erweiterten Spielweisen immer klar gegenüber dem großen, fast dominanten Orchester zu identifizieren ist, legt sich nur in zwei Passagen der überhohe und zarte Klang der Glasharmonika wie, mit Maintz formuliert, eine „seifenblase()“ darüber. Man muss schon genau hinhören, um ihn identifizieren zu können. Die Glasharmonika wird nicht solistisch eingesetzt, vielmehr als Volumenerweiterung. Im nonchalanten Plaudern kommt die Glasharmonika eher zu kurz. Dabei setzt Maintz ihren Klang als Orchesterinstrument in Korrespondenz mit dem Violoncello ein. Die Glasharmonika und ihr Einsatz in upon a moment’s shallow rim ließe sich musikhistorisch bedenken, insofern seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von Instrumenten aus Glas mit 3 Oktaven berichtet wird, sich Spielweisen und Klänge indessen schwer formulieren lassen. Der Klang der Glasharmonika mag im 18. Jahrhundert immer wieder zu faszinieren, während sie sich schlecht in den Orchesterapparat einordnen lässt.
„heute, zehn jahre, nachdem ich das stück geschrieben habe, höre ich auch immer wieder momente großer trauer oder einsamkeit (ich kanns nicht mehr sagen, was das wohl war), dann rhythmische tanzschritte des orchesters, es wirbeln fröhliche girlanden durch die gegend, auf einmal klingt da die urmutter aller schillernden seifenblasen an: eine glasharmonika – und das cello balanciert und balanciert um sein leben und hält diesen ganzen laden zusammen.“[9]     

© Claudius Pflug

Im Nachhinein findet Maintz andere Formulierungen für seine Komposition. Die „momente großer trauer oder einsamkeit“ im Kontrast zu „rhythmische(n) tanzschritte(n) des orchesters“ scheinen im Prozess des Komponierens weniger gewusst als geschehen zu sein. Das Klangwissen des Komponisten hat sich, man könnte sagen, verschoben. Zwischen Sprache, Poesie und Musik bleibt der Prozess offen. – Sarah Nemtzov knüpft auf andere Weise für black trees an Formulierungen aus 2 Gedichten von Sylvia Plath an. Ihr geht es um die poetische Kombination der Nichtfarbe Schwarz mit Bäumen. „Schwarze Bäume wie Schattenrisse, kontrastreich in der Dämmerung, aber mit zunehmender Dunkelheit unscharf. Es ist ein Nachtstück.“[10] Zugleich bearbeitet die Komponistin ihren Bezug zu Beethoven im Jubiläumsjahr 2020[11], weil sie einen Kompositionsauftrag für das „historisch belastete() Sinfonieorchester“, wie sie es nennt, vom Philharmonischen Orchester Altenburg Gera erhalten hatte.
„So gibt es in meinem Werk black trees auch falsche Fugati und weitere musikalische Bezüge zu Beethoven, auch Beethovens „nicht-zum-Ende-kommen-können“ war ein Aspekt für mich, daher (und nicht nur) die Ad-libitum-Coda, die übrigens beim Festival Ultraschall Berlin 2025 zum ersten Mal erklingen wird.“[12]

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Sarah Nemtzow ist eine wahre Zauberin der Klangfarben. Einerseits lässt sich mit black trees der Reichtum der Klangfarben schwer beschreiben, andererseits dockt sie im Gespräch mit Andreas Gäbel mit einer Formulierung von Anselm Kiefer an dessen Vorstellung der Farbe Grau an, in der alle anderen Farben enthalten seien. In der Beschreibung der Farben wie Klangfarben wird deutlich, dass sie sich schwer eindeutig festlegen lassen. Das Grau/Schwarz als Klang im Werk ließe sich mit einem anderen Begriff als ein Schleifen benennen. Im Gedicht kommen Beethoven, Grosse Fuge und schwarz vor. Die poetische Formulierung der black trees wird von Sylvia Plath in Little Fuge mit Beethoven verknüpft:
„He could hear Beethoven:
Black yew, white cloud,
[…]
I envy big noises,
The yew hedge of the Grosse Fuge.
Deafness is something else.
Such a dark funnel, my father!
I see your voice
Black and leafy, as in my childhood.
[…]
Death opened, like a black tree, blackly.”[13]  

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Sylvia Plaths poetische Kombination und Verdichtung des Hörens von Beethoven mit dem Kontrast der schwarzen Eibe und weißen Wolke bis zum Sehen der Stimme des Vaters als schwarze beschreibt mit einer Elastizität dichte visuell-akustische Wahrnehmungen, die sich kaum entschlüsseln lassen. Nemtzov dockt nicht nur an Plaths Poesie an, vielmehr wird dadurch der Bezug zu Beethoven formuliert. Sie will mit ihrer Musik nichts erzählen oder darstellen, vielmehr werden die Modi entscheidend für die Klangfarben, die entstehen. Darin liegt eine große Faszination des Stückes. Das Sinfonieorchester wird zu einem Klangfarbenapparat. Zugleich erwähnt die Komponistin eine weitere Schicht der Einflüsse auf ihre Komposition. Denn bereits ihre 2017 verstorbene Mutter, die Malerin Elisabeth Naomi Reuter, hatte sich 2016 mit dem Bild The moon has no door auf das Plath-Gedicht The Moon and The Yew Tree bezogen. Die Mutter hatte das Bild ihrer Tochter geschenkt.
„Auch das spielte eine Rolle. Die Farbwahl, Licht und Dunkel, Schattierungen, die Blicke.“

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Elisabeth Naomi Reuter gehörte als Malerin, Illustratorin und Kinderbuchautorin 1992 zu den Gründungsmitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg, was als Rahmung des Werks der dort geborenen Komponistin nicht unerwähnt bleiben soll. Sarah Nemtzov ist nicht zuletzt mit dem Pianisten und Musikwissenschaftler Jascha Nemtzov verheiratet, der sich besonders um die Jüdische Kunstmusik verdient gemacht hat und am 27. Januar 2012, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag Werke von Frédéric Chopin und Mieczysław Weinberg spielte. Die Kompositionen von Sarah Nemtzov sind insofern vielfach und nicht zuletzt durch die Shoa gerahmt. Sie schweben nicht im leeren Kunstmusikraum, richtiger ist, dass sie in einen historisch-gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind. Nicht zuletzt gibt ihre Kammeroper Herzland (2006) nach Paul Celans Briefwechsel mit seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange einen Wink auf die vielfältigen Bezüge im Komponieren.

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Aus diesem Kontext wird die geschichtsumwertende Tragweite des Abstimmungsverhaltens der Merz-CDU unter dem Gejohle der revanchistischen AfD zu einem Menetekel. Nicht nur dass sich erstmals das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in nie gekannter Eindeutigkeit gegen die Christlich Demokratische Union gestellt hat. Die Evangelische Kirche in Deutschland, die Deutsche Bischofskonferenz und dutzende Verbände wie auch der Zentralrat der Juden haben sich klar gegen das Verhalten der CDU im Deutschen Bundestag ausgesprochen. Mit Michel Friedmann hat ein nicht nur prominentes, vielmehr eine der einflussreichsten Stimmen der deutschen Publizistik seine Partei als Mitglied verlassen. Auf der Wiese vor dem Deutschen Bundestag sprach Friedmann als Mitorganisator des Aufstands der Anständigen neben dem Mitglied des Weltkirchenrats Heinrich Bedford-Strohm und wiederholte mehrmals, dass die CDU eine „demokratische Partei“ sei. Sie trägt den Anspruch in ihrem Namen und hat sich auf Weisung von Merz und Linnemann selbst einer die Demokratie gefährdenden Partei angebiedert. Im Deutschlandfunk Kultur wurde das Abschlusskonzert am 31. Januar 2025 ab 20:03 Uhr gesendet. 

Torsten Flüh

Zum Nachhören:
ultraschall berlin 2025
19. Januar 2025
Abschlusskonzert
Haus des Rundfunks: Großer Sendesaal des rbb
Johannes Moser // DSOB // Markus Poschner


[1] Ultraschall berlin 2025: So.. 19.01.2025 um 15:00 Uhr – Radialsystem V ›Engagierte‹ vs. ›Absolute‹ Musik.

[2] Ebenda.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Lustvolles Komponieren mit Sprachoperationen. Zum Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und der Pianistin Maria Radutu unter der Leitung von Enno Poppe bei ultraschall berlin 2025. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Januar 2025.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Die neue Radikalität und Ethik in der Musik. Zu den Konzerten Pulp Science und (Musical) Ethics Lab 6 bei MaerzMusik 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2024.

[5] Charlotte Seither: zu welcher stunde. (2022) 12‘ – für Kammerorchester. In: ultraschall berlin 2025: So.. 19.01.2025 um 20:00 Uhr – Haus des Rundfunks: Großer Sendesaal des rbb Johannes Moser // DSOB // Markus Poschner.

[6] Holger Maintz: upon a moment’s shallow rim. In: ultraschall berlin 2025: ebenda.

[7] Emily Dickinson: How much the present moment means. (Digital Commonwealth)

[8] Siehe: Torsten Flüh: Encore – ein Zauber. Zum Eröffnungskonzert des Festivals Ultraschall Berlin 2025 mit dem DSO unter Leitung von Anna Skryleva. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Januar 2025.

[9] Holger Maintz: upon … [wie Anm. 7].

[10] Sarah Nemtzow: black trees. (2020) – für Orchester. In: ultraschall berlin 2025: So. 19.01.2025 … [wie Anm. 6.].

[11] Zu Beethovens Komponieren siehe: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[13] Zitiert nach ebenda.

[12] Sarah Nemtzow: black … [wie Anm. 11].

Lustvolles Komponieren mit Sprachoperationen

Oxymoron – Rhapsody in Blue – Sprache

Lustvolles Komponieren mit Sprachoperationen

Zum Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und der Pianistin Maria Radutu unter der Leitung von Enno Poppe bei ultraschall berlin 2025

Das Plakat für ultraschall berlin 2025 zeigt einen ebenso ikonischen wie überraschenden Blick aus dem berüchtigten Fußgängertunnel des ICC in Orange gekachelt nach oben ans Tageslicht mit weißen Wolken und Kugellampen.[1] Eine Komposition wahrscheinlich mit Hilfe von Photoshop, weil die Kacheln ebenso scharf sind wie die Wolken. Trotzdem ein Blick, wie er sich aus dem „Tunnel des Grauens“ (Berliner Zeitung) auf dem Weg vom S-Bahnhof Messe/Nord zum Haus des Rundfunks bieten könnte. Im besagten Tunnel verlustieren sich Skater auf ihren Boards, überleben Obdachlose, wird die Notdurft verrichtet und gehen Konzertbesucher*innen zum Festival ultraschall berlin, während darüber sich der Verkehr über die 32-spurige Kreuzung ergießt. Autogerechte Stadt hieß die Utopie der späten 70er Jahre im 20. Jahrhundert. 

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Auf dem Weg zum zweiten Konzert des Festivals im Radialsystem V an der Spree muss man vom Ostbahnhof die 6-spurige Holzmarktstraße überqueren. Das 20. Jahrhundert wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Verkehrsschneisen und Allmachtsfantasien durchzogen, die entweder von den USA oder der UdSSR geprägt wurden. Die Rhapsody in Blue von George Gershwin von 1924 kündigte als Klavierkonzert zweifellos die Widersprüche des langen 20. Jahrhunderts in der Musik zwischen Einsamkeit in der Masse, Verlassenheit und Allmachtsfantasien an. Die erfolgreiche in Wien lebende und arbeitende Komponistin Margareta Ferek-Petrić komponiert in ihrem Klavierkonzert The Orgy of Oxymorons (2022) lustvoll Widersprüche, indem sie an Gershwins Rhapsody anknüpft. Die Deutsche Erstaufführung in der in Blau ausgeleuchteten Halle des Radialsystem V mit der im hellblauen Hosenanzug gekleideten Pianistin Maria Radutu wurde am 16. Januar zum durchschlagenden Erfolg. Die Kompositionen von Georg Katzer, Misha Cvijović, Christian Mason und Márton Illés fanden ebenfalls lebhafte Zustimmung.

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Im Gespräch mit Rainer Pöllmann verrät Margareta Ferek-Petrić, dass sie sich als Tochter einer Pianistin gefragt habe, was es heißt, im 21. Jahrhundert ein Klavierkonzert zu schreiben. Im ersten Akkord spielt die Komponistin verfremdet auf die Rhapsody in Blue in ihrer Komposition The Orgy of Oxymorons an. Gershwins widersprüchliche Komposition einer amerikanischen Großstadt-Musik kommt fast 100 Jahre später nie ganz zum Zuge bei Ferek-Petrić, aber sie lässt sich nicht ignorieren. Spielpraktisch lässt die Komponistin die Pianistin Maria Radutu, für die sie das Stück komponiert hat, mit erweiterten, schlagzeugartigen Verfahren die Saiten des Klaviers bearbeiten. Das Klavier als Schlagwerk wurde vor allem im dritten Viertel des 20. Jahrhundert entdeckt, wie es unter anderem vom Ensemble PianoPercussion Berlin mit der Pianistin Ya-ou Xie programmatisch weiterentwickelt wird.[2]

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Den Titel ihrer Komposition The Orgy of Oxymorons erläutert Margareta Ferek-Petrić ausführlich programmatisch als „rhetorische Figur“ für „›oxy‹: scharfsinning/›moros‹: dumm“.[3] Es geht ihr um einen lustvollen Umgang mit Widersprüchen, in der Musik und der Welt. Insofern arbeitet sie mit der widersprüchlichen Verortung des Klaviers als Saiten- und Schlaginstrument ebenso wie mit der Interpretation der Widersprüchlichkeit in Rhapsody in Blue. Ob sich Gershwin des Oxymorons in seiner Komposition bewusst war, wissen wir nicht. Eher nicht. Zumal eine Partitur der Uraufführung nicht überliefert ist. Erst in der jüngsten Zeit wurde sie stärker in Konzerten und von Komponist*innen herausgearbeitet. Fast 100 Jahre hatten sich die Pianisten und das Publikum einfach mitreißen lassen. Von was? Vom Rhythmus? Vom Jazz? Von den Allmachtsfantasien einer amerikanischen Identität?[4] Schimmert gar MAGA (Make America Great Again) hindurch?

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Margareta Ferek-Petrić macht das Oxymoron als rhetorische Figur und literarische Form für ihr Klavierkonzert fruchtbar. Das Widersprüchliche soll gerade nicht geglättet werden, weil sie es überall entdeckt und schätzt. Wenn MAGA gerade daran geht, die uramerikanischen Widersprüche in der Rhapsody in Blue gewaltsam auszumerzen, dann läuft die faschistische Gewalt auf dem Niveau einer Reality Show Country Sängerin im Capitol wenigstens George Gershwins Komposition aus Klassik und Jazz als Klavierkonzert entgegen. Es geht in The Orgy of Oxymorons hintergründig auch um die USA, aber vor allem um ein Nachdenken über das Komponieren mit Klängen:
„Die erweiterten, experimentellen Klänge der zeitgenössischen Musik werden von den gewöhnlichen Klangvorstellungen entfremdet und können zusammen mit den Ohrwürmern eine groteske Wirkung erzeugen. Die grundsätzliche Suche nach der Kreation eines oder mehreren Oxymora in der Komposition hat für mich mit diesen Gedanken angefangen und wird mich sicherlich noch weit über das Klavierkonzert hinaus beschäftigen.“[5]

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Gegen Schluss zitiert die Komponistin das bekannte Eröffnungsthema im Glissando, den Ohrwurm, der Rhapsody und transformiert es in den stampfenden Rhythmus einer Orgie, worauf die Orchestermitglieder die Worte „The — Oxymoron — is — an Orgy“ sprechen. Danach ließen sich als witziger Kommentar die Anfangstakte und die Triangel aus Cy Colemans und Dorothy Fields Song Big Spender hören. „Spend a little time with me.“ Margareta Ferek-Petrić will diesen witzigen Schluss feministisch gehört wissen. Denn einerseits wird damit die inhärente Allmachtsfantasie der als amerikanisch und männlich komponierten Musik abgelöst, andererseits setzt sie einen Kontrapunkt zur historischen Marginalisierung und Unterdrückung von Frauen in der Musik und Gesellschaft an den Schluss:
„Komponiert für eine Pianistin und Dirigentin, für die ich höchsten Respekt und Bewunderung hege, ist dieses Stück eine Explosion von Ohnmachtsgefühlen, sowie Allmachtsfantasien und es feiert den einfachen Genuss und die pure Liebe (was auch immer das ist). Gleichzeitig spuckt es auf diese verdorbene, primitive und kranke Welt, die wie ein majestätisches Oxymoron-Denkmal weiter existiert und die eigentlich Zeit und Ruhe für Orgien nötig hätte.“[6] 

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Rainer Pöllmann moderierte Georg Katzers Baukasten von 1972 nonchalant als eine Komposition der Widersprüche an und erinnerte an die Debatte um das Stück in der DDR, das zunächst gefeiert und in den Lehrplan der allgemeinen Schulen übernommen wurde, um dann kritisiert zu werden.[7] Doch rechteigentlich fand es das modellhafte Stück wohl in das Programm von ultraschall berlin 2025, weil der Komponist am 10. Januar 1935 geboren wurde, und seinen 90. Geburtstag hätte feiern können, wenn er nicht bereits 2019 verstorben wäre. Die strukturierende Macht der Jahrestage im Diskurs. Katzer gründete an der Ostberliner Akademie der Künste 1982 das Studio für Elektroakustische Musik. Baukasten für Orchester ist eine technisch streng durchdachte Komposition als ein Zusammensetzen von Bauklötzen aus einem Baukasten, die auch 1972 nichts an ihrer Originalität verloren hat. Vielmehr wurde in der Aufführung des Rundfunk-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Enno Poppe in gut 9 des auf 12 Minuten angelegten Stücks bravourös durchgespielt.

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Baukasten und seine modellhafte Funktion für die Musikanalyse wie -komposition könnte man auch als einen Mythos bezeichnen, während Georg Katzer die Musik mit der Komposition von ihren Mythen befreien wollte. Umso bedenkenswerter ist deshalb, dass junge Komponist*innen wie Misha Cvijović weiterhin und verstärkt an Mythen anknüpfen wie in der Deutschen Erstaufführung von Lica Persefone (2013/2014). Die Mythen sind aus der neuen Musik nicht herauszubekommen, vielmehr stoßen sie Kompositionen an und werden in Musik verwandelt, wie es die in Belgrad geborene und in Berlin lebende Komponistin mit ihren Zwei Szenen für Orchester vorführt.
„Die Musik des Balkans ist bekannt für ihre komplexen Rhythmen, die für mich als Komponistin schon immer eine große Inspiration waren. Ich habe den 7/8-Takt verwendet, um Persephone, die Tochter von Zeus und Demeter, musikalisch zu beschreiben. Persephone ist mit Hades, dem Gott der Unterwelt, verheiratet.“[8] 

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Der 7/8-Takt wird von Misha Cvijović in den zwei dem Mythos der Persephone eingeschriebenen Bereiche von Szene in der Unterwelt für Winter und der Oberwelt für Sommer durchdacht eingesetzt. Phonetische ließe sich mit -phone auch der Laut, Ton oder die Stimme hören, während etymologisch von einem Kompositum von pertho für zerstören und phatta für Garbe ausgegangen wird. Die winterliche Zerstörung wird zur sommerlichen Blüte. Doch die Komponistin argumentiert vor allem mit dem Metrum des 7/8 Taktes für ihr Stück.
„Für die Wahl des Metrums 7/8 gab es zwei Gründe. Zum einen wollte ich eine unerwartete Mischung von Traditionen schaffen, indem ich mich der metrischen Elemente der alten serbischen Volksmusiktradition bediente, um eine Figur aus der griechischen Mythologie darzustellen. Das 7/8-Metrum schien mir eine gute Wahl, um einen Kontrast zwischen der Welt (Isochronie) und der Unterwelt (Nicht-Isochronie) zu schaffen, in die sich Persephone nach der Ernte zurückzieht, aber auch, um die alten Agrarkulte der landwirtschaftlichen Gemeinschaften musikalisch darzustellen.“[9]

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Christian Mason zitiert und vertont in Eternity in an hour die eröffnende Strophe aus William Blakes Gedicht Auguries of Innocence von 1803, das postum 1863 veröffentlicht wurde. Mason komponiert mit dem literarischen Material ein ebenso dramatisch schreitendes wie farbig erzählendes Orchesterstück, das dem Paradox von Ewigkeit in einer kurzen Dauer innerhalb von 16 Minuten nachgeht. Diese Programmatik ist keinesfalls eine komische Kunst, wie es in der Anmoderation von Pöllmann klingen könnte. Vielmehr werden in der englischen Literatur mehrfach Formulierungen aus dem Gedicht als populäres Wissen zitiert und Masons elaborierte Komposition kann im englischsprachigen Raum als ebenso „serious“ wie „romantic“ gelten.
„o see a World in a Grain of Sand
And a Heaven in a Wild Flower
Hold Infinity in the palm of your hand
And Eternity in an hour“[10] 

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Die poetische Erzählung der Auguries of Innocence von Blake wird von Mason bis zum Rascheln des Sandes und tänzerischen Passagen, die sich aus der Unendlichkeit in der Handfläche mit dunklen Bläserakkorden hörbar machen, bis zum Gezwitscher in den Flöten in Musik modelliert. „A Robin Red breast in a Cage/Puts all Heaven in a Rage/A Dove house filld with Doves and Pigeons/Shudders Hell thro all its regions”. Eternity in an hour dockt an eine paradoxe Welterzählung der Unendlichkeit und Ewigkeit im Kleinen an. Die Unendlichkeit und Ewigkeit im Kleinen – der ganze Himmel in Rage wegen einer Rotkehlchenbrust – in der Literatur um 1800 haben insbesondere Gunnar Schmidt und Marianne Schuller in ihren Mikrologien erforscht.[11] Blakes Gedicht wird ebenso poetisch-literarisch formuliert, wie mit den knappen Versen als Wissen ausgestellt. Doch anders als Margareta Ferek-Petrić befragt Christian Mason sein Material für die Frage nach Zeit und Ewigkeit in einer Formulierung des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht. Vielmehr bestätigt seine Musik eine nicht nur paradoxe, sondern problematische Wissensformulierung. Verführerisch und für das Orchester herausfordernd klingt Eternity in an hour schön. Es erinnert vielleicht gar an eine sinfonische Tondichtung[12] des 20. Jahrhunderts, aber soll sie für das 21. Jahrhundert fortgeschrieben werden?

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Ljubljana24 für 24 Streicher von Márton Illés lässt sich mit seinem „primordialen Klangraum“ als Klangforschung beschreiben. Einerseits wurde das Streichkonzert vom Slowenischen Philharmonischen Streichorchester in Ljubljana als zeitgenössische Interpretation der 6 Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach in Auftrag gegeben. Andererseits sucht Márton Illés nach erweiterten Klangformen. Darin erweist er sich nicht zuletzt als Schüler des kürzlich verstorbenen Wolfgang Rihm.[13] Er arbeitet selbst als Konzertpianist, Dirigent und Komponist. Ljubljana24 wurde am 28. November 2024 vom Münchner Kammerorchester unter der Leitung von Bas Wiegers uraufgeführt. Wegen Krankheit musste Enno Poppe das Dirigat von Bas Wiegers übernehmen. Das musikalische Material der Brandenburgischen Konzerte wird von Illés hinsichtlich seiner Klangmodi erforscht und verwandelt. Dafür werden insbesondere erweiterte Spielpraktiken der Streicher verwendet.

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Die 24 Streicher des Rundfunk-Sinfonieorchesters spielen unter der Leitung von Enno Poppe das Streichkonzert im 21. Jahrhundert nicht ohne Witz. Womit durchaus an die Brandenburgischen Konzerte, die oft von Radiohörern als Ohrwürmer wahrgenommen werden, angeknüpft wird. Denn Johann Sebastian Bach wollte in seiner Widmung nicht nur den zeitgenössischen „Geschmack“ des Markgrafen von Brandenburg wecken, vielmehr entwickelte er für die kammermusikalischen Hoforchester zugleich neuartige Spielweisen mit solistischen Einfällen, die ebenfalls witzig oder geistvoll gehört werden können. Bach komponierte in seinen Konzerten ebenfalls einen Klangraum, der neuartig war. Márton Illés Ljubljana24 klingt anders, doch die Spuren Bachs können noch vernommen werden. Das lässt sich auf ultraschall berlin 2025 nachhören.

Torsten Flüh

Maria Radutu, Klavier
Rundfunk-Sinfonieorchester
Enno Poppe, Leitung
im Rundfunk:
radio 3 vom rbb: 16. Februar 2025, 20:03 Uhr, radio3 Konzert 


[1] Zum ICC siehe: Torsten Flüh: Die Raummaschine. Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2021.

[2] Siehe u.a. Siehe Torsten Flüh: Über sinnliche Spektren. Ensemble BERLIN PIANOPERCUSSION spielt Spektralmusik im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 21, 2013 22:36. (PDF)

[3] Margareta Ferek-Petrić: The Orgy of Oxymorons. In: ultraschall berlin: Maria Radutu // RSB // Enno Poppe. 16. Januar 2025.

[4] Zur Rhapsody in Blue und Einsamkeit siehe: Torsten Flüh: Tradition und Frische. The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. September 2024.

Siehe auch: Torsten Flüh: Zerspringende Identitäten. Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2023.

[5] Margareta Ferek-Petrić: The … [wie Anm. 3]

[6] Ebenda.

[7] Siehe zu Baukasten auch: Torsten Flüh: …

[8] Misha Cvijović: Lica Persefone. In: ultraschall … [wie Anm. 3]

[9] Ebenda.

[10] Christian Mason: Eternity in an hour. In: Ebenda.

[11] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003.
Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[12] Zur sinfonischen Tondichtung Alpensinfonie siehe: Torsten Flüh: Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch. Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. September 2023.

[13] Zu Wolfgang Rihm siehe: Torsten Flüh: In Schriften lesen. Zur Frage der Schrift und der Musik Sir Simon Rattle dirigiert Lutosławski, Mahler, Rihm und Janáček mit den Berliner Philharmonikern. (9. September 2013)

Encore – ein Zauber

Wiederholung – Distanz – Mythos

Encore – ein Zauber

Zum Eröffnungskonzert des Festivals Ultraschall Berlin 2025 mit dem DSO unter Leitung von Anna Skryleva

Das Festival für neue Musik, Ultraschall Berlin 2025, setzt in seinem Programm auf die Uraufführung und Wiederaufführungen jüngst entstandener Kompositionen. Für die Dirigentin des Abends, Anna Skryleva, liegt der besondere Reiz an neuen Werken darin, mit den lebenden Komponist*innen zu sprechen zu können, sie um Rat zu bitten oder gar mit ihnen über das Stück zu debattieren. Denn Anna Skryleva begann bereits mit 10 Jahren selbst zu komponieren. 2024 gewann sie den Opus Klassik Award mit der Wiederentdeckung, Uraufführung wie Einspielung der Oper Grete Minde von Eugen Engel aus dem Jahr 1933. 2022 hatte sie die Uraufführung an der Oper Magdeburg, wo sie seit 2019 Generalmusikdirektorin ist, uraufgeführt. Sie erhielt internationale Aufmerksamkeit und debütierte nun brillant beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin mit Kompositionen von Younghi Pagh-Paan, Olga Neuwirth, Robert HP Platz und Konstantia Gourzi.

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distancing… von Robert HP Platz stand als Uraufführung auf dem Programm, wobei durch gegenseitiges Applaudieren und Händeschütteln keine Distanz, vielmehr die Aufführung als Teamarbeit des Komponisten, der Solistin Carolin Widmann, der Dirigentin und des Orchesters mit der Konzertmeisterin Carolin Grauman herausgestellt wurde. Viel Nähe auf dem Konzertpodium, wie sie während der Pandemie nicht möglich gewesen wäre. Händeschütteln war bekanntlich plötzlich im März 2020 wegen der Covid-19-Pandemie nicht mehr gebräuchlich. Es wurde stattdessen unter Masken mit der Ghetto-Faust geboxt. Der Komponist Robert HP Platz wanderte durch das menschenleere Köln, wie er erzählt, und begann Klänge im Raum für den „Abstand“ der Menschen zueinander während der Pandemie zu entwickelt. Daraus ist distancing… für Violine und Orchester entstanden, das zugleich ein Encore als Geschenk des Komponisten für die Solistin und das Publikum enthält.

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Die Wiederholung – encore – in Form der Zugabe reflektiert bei Platz sowohl das Konzert als Format[1] wie den Modus des Komponierens. Mit distancing… ist der Komponist, Dirigent und Hochschullehrer Robert HP Platz seit längerer Zeit mit dem Konzert im Großen Sendesaal des Hauses des Rundfunks und der Livesendung auf rbb3 fulminant wieder mit einer Komposition an die Öffentlichkeit getreten. Doch die Wiederholung stand zugleich mit Younghi Pagh-Paans Frau warum weinst du? Wen suchst du? (2021) ebenso wie in Olga Neuwirths Dreydl (2021) und Konstantia Gourzis Mykene (2002) strukturell verschieden im Programm. Mehr noch: Das Dirigat von Anna Skryleva beim DSO lässt auf eine Wiederholung hoffen. Mit großem Einfühlungsvermögen in die zeitgenössischen Kompositionen bringt sie die ganz unterschiedlichen Klangwelten der vier Komponist*innen zum Klingen.

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Während die Anmoderation des Festivals von Rainer Pöllmann und Andreas Göbel im schmalen Programmheft mit „(d)ie Welt ist aus den Fugen“ angesichts von Kriegen, „Katastrophen und neue(n) Herausforderungen“ vage pessimistisch einsetzt, klangen die Gespräche auf dem Konzertpodium mit Anna Skryleva, Robert HP Platz und Konstantia Gourzi während der Umbaupausen eher optimistisch. Denn Platz hat beispielsweise mit seinem distancing… die durchaus traumatischen Kontakt-Beschränkungen[2] während der Pandemie in produktive Klänge verwandelt. Doch schon das erste Stück des Abends von Younghi Pagh-Paan setzte sehr leise ein und entwickelte sich klanglich eher zu einer Musik des Trostes, denn der Trauer.

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Frau warum weinest du? Wen suchst du? wurde 2023 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt und erfuhr nun mit dem DSO seine Wiederaufführung. Das Zitat bezieht sich auf die Ostergeschichte im Neuen Testament bei Johannes. Insofern der von den Toten auferstandene Jesus mit den beiden Fragen die trauernde Maria von Magdala anspricht, wird die Trauer durchbrochen und in Trost verwandelt. Der Trost steht für die Komponistin im Vordergrund. Für sie ist es weniger ein religiöser Trost des Glaubens als vielmehr ein energetischer, der die Lebenskräfte wieder wecken soll. Obwohl das Stück nur ca. 7 Minuten dauert, komponiert Younghi Pagh-Paan einen Klang des Trostes, den sie insbesondere an Frauen adressiert.
„Ich denke an die aus Not weinenden Menschen jetzt, besonders an Frauen. Und ich denke an sie aus meiner eigenen Schwäche heraus. Es ist ein Trost, der die eigenen Lebens- und Existenzwünsche wieder stark werden lässt.“[3]   

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Das An- und Abschwellen der Streicher bis zum Atmen der Blasinstrumente und rhythmischen, fast tänzerischen Ansätzen arbeitet den Trost als einen Prozess aus, bevor das Stück plötzlich abbricht. Die Komponistin zitiert die Ostergeschichte mit dem Angesprochenwerden für die Reflektion über den Trost, während Johann Sebastian Bach ihn mit der Kantate Süßer Trost, mein Jesus kömmt, BWV 151, für den 27. Dezember als dritten Weihnachtstag komponierte. Der Trost wird insofern deutlich mit dem wiederholenden Zitat verschoben. Mehr noch als die beiden Fragen lässt sich die Ansprache eines „aus Not weinenden Menschen“ als tröstende Geste bedenken. Die Geburt Jesus‘ wird von Bach als Trost in einer seiner schönsten Arien komponiert. Jesus selbst kommt als Trost in die Welt. Pagh-Paan nimmt als Komponistin wohl Bezug auf den Text des Evangeliums, aber sie vertont ihn nicht. Sie nimmt ihn als Anstoß für eine lebhafte, nuancenreiche Klangskulptur des Trostes.  

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Dreydl von Olga Neuwirth wurde im Mai 2022 in Lyon vom Orchestre National de Lyon uraufgeführt, wobei sich die Komponistin mit dem Schicksalhaften wie Platz ebenfalls auf die Pandemie bezogen hat. Sie habe die „kontinuierlichen rhythmischen Muster in Dreydl … genutzt, um die fatale Zirkularität des Schicksals zu unterstreichen, wie wir sie in den zwei Jahren der Pandemie erlebt“ hätten, als „die Zeit stehen geblieben“ sei und niemand gewusst habe, „was die Zukunft bringen“ werde.[4] Die Pandemie hat in den Partituren ihre Spuren hinterlassen. Zugleich knüpft die Komponistin aus Graz mit dem Titel Dreydl nach ihrer Filmmusik für den ebenso satirischen wie hellsichtigen Stummfilm Die Stadt ohne Juden von 1924[5], der 2019 im Rahmen von MaerzMusik in Anwesenheit von Olga Neuwirth aufgeführt wurde, an jüdische Traditionen und das jiddische Kinderlied Ikh bin a kleyner dreydl an.
„Ein Dreydl ist ein Kreisel, mit dem Kinder auch heute noch während des Lichterfestes Chanukka spielen. Wie das Würfeln, ist der Dreydl ein Spiel mit dem Zufall. Unaufhörlich dreht und dreht er sich und ist deshalb für mich ein Symbol des Lebens: „Die Räder drehen sich, die Jahre vergehen / Ach, ohne Ende und ohne Ziel / Des Glücks beraubt, so bin ich geblieben …“ heißt es an einer Stelle im Lied Dem Milners Trem („Die Tränen des Müllers“) von Mark Markowytsch Warschawskyj.“[6]  

© Claudius Pflug

Dreydl erinnert trotz seiner hohen kulturpraktischen Aufladung mit seinem Ostinato-Rhythmus musikalisch an den Boléro von Maurice Ravel. Das unaufhörliche Drehen des Kreisels als eine sich wiederholende Bewegung des Lebens setzt mehrfach erneut ein, um sich zu steigern und abzubrechen. Das Drehen lässt sich zugleich als eine Tanzbewegung denken und als ein einziges, progressives Crescendo wie bei Ravel wahrnehmen. Obwohl die Komponistin sich nicht ausdrücklich auf Ravel bezieht, wird ihr selbst nicht verborgen geblieben sein, dass sie mit ihrer Komposition das Crescendo zu einer Art Lebensmusik verdichtet. Es lässt sich gar der Bogen zur Filmmusik von Die Stadt ohne Juden schlagen, für die Neuwirth in der Szene der Parlamentsabstimmung ebenfalls ein Crescendo einsetzte.[7] In Dreydl überlagern sich für die Komponistin mehrere Assoziationen zu Modi der Zeit als Lebenszeit. Nicht zuletzt hat sie die Komposition „In Memoriam Joséphine Markovits“ gewidmet, die am 18. April 2024 verstarb und das Festival d’Automne in Paris mehr als 50 Jahre kuratiert hatte.

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Carolin Widmann, die die Solovioline in der Uraufführung von distancing… spielt, wurde im Großen Sendesaal regelrecht gefeiert. Das Gebot der Distanzierung wird in der räumlichen Anordnung des Komponisten zu einem Gemeinsamen. Konkret spielten zwei Violininst*innen rechts und links auf dem Balkon im Rang mit der Solistin. Die gebotene Distanz führt auf diese Weise nicht nur zur Vereinzelung und Einsamkeit, vielmehr eröffnet sie in der Praxis ein gemeinsames Musizieren. „Der Klang der Solo-Violine selbst spaltet sich dabei auf, verteilt sich im Raum, ganz so, als wolle er über die erzwungene Distanz hinauswachsen und in einem größeren Gemeinsamen aufgehen“, schreibt Robert HP Platz zu seiner Komposition. Wahrscheinlich hängt es von den Hörer*innen ab, ob sie ein Aufgehen „in einem größeren Gemeinsamen“ oder ein räumlich Gemeinsames hören. Allein das gemeinsame Hören und Musizieren unter den Bedingungen des Abstandwahrens konnte noch im September 2020 zu Tränen rühren, während zugleich sogenannte „Querdenker“ ein Gemeinsames bestritten.[8]   

© Claudius Pflug

Robert HP Platz lässt die Solovioline in ihrer Einzelheit kaum hörbar das Stück eröffnen, die sich zu einer Art Monolog steigert, um ein Gemeinsames in den Tuttiviolinen entstehen zu lassen. Insofern geht es um eine Verräumlichung des Klangs im Einzelnen, die mit der Zugabe wiederum auf die Solovioline vereinzelt wird. Mit der von Platz komponierten Zugabe als Encore und Einzelleistung wird das Gemeinsame quasi auf die Einzelne zurückgeworfen. Wie lässt sich distancing… über die Praktiken während der Pandemie hinaus denken? Das Distanz-Halten wird bei Robert HP Platz zu einem künstlerischen Gebot. Es wohnt ihm eine hohe Sensibilität inne, die sich selbst im Orchester fortsetzt. Insofern Violinkonzerte oder andere Soloinstrumentenkonzerte aus einem Wechsel von Solist*in und Orchester gebaut sind, erfüllt distancing… dieses Kompositionsschema gerade nicht. Vielmehr steht die Praxis des Gemeinsamen im Vordergrund, während sie gerade historisch durch die Pandemie unmöglich geworden war.

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Konstantia Gourzi gehört zu den Komponistinnen, mit denen Anna Skryleva in engem Austausch steht. Gourzi ist ebenfalls als Dirigentin international tätig. Insofern war die Wiederaufführung von Mykene. 7 Miniaturen von 2002 eine wohldurchdachte. Der griechische Mythos von Mykene als Schauplatz der Tragödie um Elektra überschneidet sich in der Komposition mit der Ausgrabungsstätte und dem Tourismusziel. Zugleich gehört Mykene zu den Reise- und Forschungszielen Heinrich Schliemanns, die unter heutigen wissenschaftlichen Standards als zweifelhaft gelten dürfen.[9] Konstantia Gourzi eröffnet ihre Miniaturen mit Elektras Ängste und dadurch mit dem Mythos. Doch in der Aufführungspraxis geht Gourzi über den Mythos und den antiken Ort Mykene hinaus, wenn sie der Dirigentin an bestimmten Stellen überlässt, wann bestimmte Instrumentengruppen für rhythmische Elemente einsetzen sollen.[10] Auf diese Weise komponiert die Dirigentin quasi am Orchesterstück mit, zumindest wird ihr ein Entscheidungsspielraum eingeräumt.

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Die 7 Miniaturen lassen sich nicht nur als mythologische Geschichte Klytämnestras hören und „dem historischen Geschehen in Mykene“ verstehen, vielmehr geht es der Komponistin zugleich um die antiken Anfänge des Musikmachens. Zu bedenken ist bei den antiken Ausgrabungsstätten wie Mykene oder Troja insbesondere durch Heinrich Schliemann, dass es sich um lokale Konstruktionen nach einem literarischen Mythos handelt, die einem Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts entsprachen. Die Ursprünge des Mythos sind keinesfalls durch die historischen Stätten belegt. Heinrich Schliemann selbst hat die Anverwandlung des Mythos mit den Funden der antiken Siedlungen wie ihrer Schätze in höchst fragwürdiger Weise als Selbstinszenierung betrieben, wie mit der leider wenig kritischen Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum 2022 zumindest erahnbar wurde.[11]  

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Die Dirigentin und Komponistin bringt nicht zuletzt für die Musik von Mykene ihre Herkunft als gebürtige Athenerin in Anschlag. Doch die Komposition ist nicht einfach aus dem Bauch komponiert, vielmehr sehr genau durchdacht und konstruiert. „Alle sieben Miniaturen zusammen erzeugen eine dramaturgische Einheit und sollen als solche interpretiert werden. Zwischen den Miniaturen ist öfter attacca geschrieben: Der Nachklang jeder Miniatur soll als Spannung vom Dirigenten zwischen den jeweiligen Stücken nach Belieben gehalten werden. Sobald diese Spannung endet, setzt das nächste Stück ein; wie eine Geschichte, die in einem bestimmten Energiefluss weitererzählt werden soll“[12], schreibt Konstantia Gourzi. Durch das „Belieben“ der Dirigent*in wird indessen jede Aufführung des Stückes einzigartig und entzieht sich einer Wiederholung und einem Vergleich, wie er in der Musikkritik oft mit Referenzaufnahmen geübt wird. Der Interpretation von Anna Skryleva mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin lässt sich auf ultraschall berlin nachhören.

Torsten Flüh    

Carolin Widmann, Violine
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Anna Skryleva, Leitung
Im Rundfunk:
Deutschlandfunk Kultur
31. Januar 2025, 20:03 Uhr
Konzert


[1] Zum Format des Konzerts siehe: Torsten Flüh: Le bonheur du concert. Zur Uraufführung von Heiner Goebbels‘ A House of Call. My Imaginary Notebook mit dem Ensemble Modern Orchestra beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. September 2021.

[2] Zur Debatte über die Kontakt-Beschränkungen während der Pandemie siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
Und zur Kontaktperson siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[3] Younghi Pagh-Paan: Programmnotiz zu «Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? » für Orchester. Pagh-Pan.com.

[4] Übersetzung nach: Olga Neuwith: Dreidl (2021) Boosey & Hawkes.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Schrecken der Nachträglichkeit und Zeitgespür. Zur Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden (1924) mit Musik von Olga Neuwirth bei MaerzMusik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2019.

[6] Zitiert nach Olga Neuwirth: Dreydl (2021) ultraschall.

[7] Torsten Flüh: Schrecken … [wie Anm. 5].

[8] Siehe: Torsten Flüh: Heitere Harmonie und Zersplitterung. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2020.

[9] Zu Heinrich Schliemann und Mykene siehe: Torsten Flüh: Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden. Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juli 2022.

[10] Siehe Konstantia Gourzi: Mykene. 7 Miniaturen. (2002) ultraschall.

[11] Torsten Flüh: Heinrich … [wie Anm. 9].

[12] wie Anm. 10.

Visionäre Meere

Leben – Literaturen – Bilder

Visionäre Meere

Zu Lektüre- und Lebenspuren im visuellen Schaffen des Malers und Zeichners August Jankowski anlässlich der Ausstellung im Galerieraum erstererster

Zu Beginn des neuen Jahres 2025 passt der Galerieraum erstererster in der Pappelallee 69 im Prenzlauer Berg. Ich beginne am 1. Januar 2025 diese Besprechung zu schreiben, ohne dass ich wüsste, wohin mich die Zeichnungen und Gemälde von August Jankowski führen werden. Was lässt sich schon an einem Ersten Ersten über das Jahr wissen! Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt, trifft meistens zu. Kürzlich stellte Marco Wehr in der NDR-Sendung DAS! auf dem roten Sofa sein Buch Komplexe neue Welt – und wie wir lernen, damit klarzukommen vor. Er riet in etwa, sich nicht von allen Nachrichten kirre machen zu lassen. Vielmehr solle man unterscheiden, was man selbst beeinflussen könne, und was nicht. Magdeburg und New Orleans und Elon Musk können wir nicht ändern.

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Im Galerieraum erstererster stechen für mich zuerst die Bilder und Objekte von August Jankowski ins Auge, die mit dem Meer assoziiert werden. Eine Möwe oder ein Albatros hängt von der Decke, daneben eine Fischfigur, die an einen kleinen Wal erinnern könnte. Dann die blauen Wellen in mehreren Gemälden. Blauer Himmel, weiße Wolken und Möwen, Ruder, Boote, Schiffe, Dampfschiffe und eine ungestüme Maschine wie ein Bagger im Meer. „PORT BOU“ prangt in Rot auf einem Gemälde mit Buchstabenhaufen. Darüber ein Vogel, der eine Taube oder Eule sein könnte. Ein Klavier wie angeschwemmt an einer Küste. Dann kommen immer wieder Dampflokomotiven im visuellen Schaffen als Objekt, Zeichnung oder Gemälde vor. Michael Pfänder hat die Ausstellung kuratiert. Welche Korrespondenzen gehen die oft wiederkehrenden Figuren in einzelnen Bildfindungen ein? August Jankowskis Bildwelten regen zu Fragen an.

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Wann genau August Jankowski mit dem Zeichnen und Malen begann, ist bislang nicht gefragt geworden. Vielmehr wurde es in Kontexte der Sinneswahrnehmungen eingebunden und frühzeitig mit Literaturen von Eduard Mörike und Herman Melville eingebunden. Die Ursprünge des Zeichnens allerdings bleiben ungesagt, vielleicht unsagbar. Möglicherweise begann das Zeichnen und Malen August Jankowskis mit seiner Fluchtgeschichte durch den Zweiten Weltkrieg des 1942 in Bielitz Geborenen. Bielitz lag in Schlesien an der Grenze zu Galizien, wie eine Karte des Königreichs Galizien und Lodomerien in der Zeit von 1846 bis 1918 zeigt. Bielitz gehörte zum Einzugsgebiet des sogenannten „Dreikaiserecks bei Myslowitz“, das der Marburger Literatur- und Kulturforscher Jürgen Joachimsthaler in seinem Standardwerk Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur (2012) erforscht hat. Er beschreibt es als „imaginäre Mitte eines (etwas zittrig gezeichneten) Halbkreises Lemberg, Budapest, Wien und Prag, aber auch zentral auf einer Linie Berlin-Czernowitz“.[1] 

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Das Darstellungsproblem der deutschen Literatur in Mitteleuropa, das Jürgen Joachimsthaler in seinem zweibändigen Werk Text-Ränder beschreibt, lässt sich auf die wenigen noch kaum bewusst erlebten Jahre des Zeichners und Malers August Jankowski übertragen. Da der Vater bereits vor seiner Geburt im Zweiten Weltkrieg starb und die verwitwete Mutter spätestens 1945 mit ihrem Sohn nach Westdeutschland floh, wo er über mehrere Flüchtlingslager schließlich in Bielefeld ankam, um bis 1962 dort zur Schule zu gehen, übten Dampflokomotiven auf August Jankowski bestimmt eine große Faszination aus. Das Verkehrsmittel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Eisenbahnen mit Dampflokomotiven, die die Handels-, Reise- und Kommunikationswege entschieden veränderten und Mitteleuropa durch Bahnlinien mit den Metropolen verbanden, worauf Joachimsthaler hinweist.

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Bielitz bildet heute mit der Stadt Biala Bielsko-Biała im Schlesischen Vorgebirge in der Woiwodschaft Schlesien in Polen. Es gehörte schon um 1940 zum Oberschlesischen Industriegebiet, wohin der Großvater und Textilfabrikant Jankowski nach der Oktoberrevolution aus St. Petersburg geflohen war. Die politisch-territorialen Verschiebungen in Mitteleuropa wirken nach und hinterlassen Spuren in Erzählungen für August Jankowski. Obwohl oder gerade, weil weder Bielitz noch Bielefeld oder Ochsenwang, wo der Zeichner und Maler seit 1975 lebt, am Meer liegen, begann das Meer als Imaginäres eine wichtige Rolle für ihn zu spielen. Um 1985 schlägt August Jankowski mittlerweile als Gymnasiallehrer für Kunst und Englisch den Bogen zur Literatur von Eduard Mörike und Herman Melville. Besonders Mörike und sein Haus in Ochsenwang verknüpfen für den Maler das Meer mit dem Kalksteinablagerungen aus dem Jura der Schwäbischen Alb:
„Mein Haus verwandelt sich
eilig zum Schiffe,
sich zur Kajüte die Kammer,
ich fühle das Schwanken
des Fahrzeugs,
des Matrosen Pfeife
vernehm‘ ich,
die dumpfe Bewegung
auf den Verdecke,
man eilet vor meine Tür –“[2]

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Die traumartige Verwandlung von Mörikes Haus in Ochsenwang in ein Schiff gibt sowohl einen Wink auf das Imaginäre der Lyrik wie geologisches Wissen vom Ort, an das Jankowski für sein visuelles Schaffen anknüpft. Denn Ochsenwang liegt auf einer Berghalbinsel zwischen Zipfelbachschlucht und Bissinger Tal auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb aus dem Jura. Der erdgeschichtliche Name Jura wurde von Alexander von Humboldt 1795 für Gesteinsschichten im Juragebirge in Frankreich eingeführt. Es ist nicht zuletzt einer der Namen, der Humboldtian Science, wie sie Otmar Ette formuliert hat.[3] Als Bergbauassessor mit der Berechtigung amtliche Gutachten zu erstellen, war Humboldt 1795 zum Oberbergrat aufgestiegen und besetzte damit eine Schlüsselfunktion in der Erstellung geologischen Wissens von den Ursprüngen der Erde. Die erdgeschichtlichen Gesteinsschichten wurden daraufhin als Kalkablagerungen des Tethysmeeres gelesen. Auf diese Weise lag für Mörike und liegt für Jankowski Ochsenwang am Meer.

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Ochsenwang liegt mit dem modernen, geologischen Wissen des 19. Jahrhunderts am Meer, das von dem evangelischen Pfarrer Eduard Mörike (1804-1875) um 1832, als er in Ochsenwang wirkte, lyrisch übersetzt wird. 1981 wurde in Ochsenwang das Mörike Haus im alten Schulhaus, wo der Pfarrer und Lyriker für kurze Zeit lebte, eingerichtet. Literatur- und Regionalgeschichte finden in Jankowskis Mörike- und Meer-Bezug ihren Widerhall und Übertragungen. 1985 zitiert Jankowski gleichzeitig Herman Melville[4], um die literarisch-visionäre Transformation einer Schneelandschaft in den Atlantik zu beschreiben.
„Jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, habe ich hier auf dem Lande das Gefühl, als wäre ich auf See. Morgens, wenn ich aufstehe, schaue ich aus meinem Fenster wie aus dem Bullauge eines Schiffes auf dem Atlantik. Mein Zimmer gleicht einer Schiffskajüte, und des Nachts, wenn ich aufwache und den Wind heulen höre, bilde ich mir beinah ein, es wären zuviel Segel auf dem Hause und eigentlich müsse ich aufs Dach entern und den Schornstein reffen.“[5]  

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August Jankowski kam über das Kunststudium in Swansea und Dublin zur englisch-sprachigen Literatur, in der Herman Melville und James Joyce für ihn eine entscheidende Rolle spielen. Die beiden frühzeitigen Zitate zum Meer aus der Literatur und weniger aus der Bildgeschichte des Meeres in der Kunst lassen einen individuellen Zug des Malers und Zeichners August Jankowski erkennen. In der Kunst bezieht er sich en passant auf die Gemälde und Aquarelle von Seestücken des Malers William Turner, in denen das Meer auf neuartige Weise fast als eine Traumlandschaft gemalt wird. Doch er malt nicht wie Turner. Vielmehr kommen Literaturen von Eduard Mörike über Herman Melville, James Joyce und Franz Kafka sowie Marcel Proust bis Walter Benjamin in seinen Bildkompositionen zum Zuge, was sich in der Ausstellung im Galerieraum erstererster beobachten lässt. Die zeichnerische und malerische Praxis generiert aus komplexen Prozessen Bildkompositionen, die eine Art heterogener Multiperspektivität entstehen lassen.

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Das Acrylbild mit dem Titel Hagana von August Jankowski öffnet sich für eine Vielfalt von Assoziationen. Der Titel als Sprachakt rahmt das Bild, zielt auf Darstellung und begrenzt die potenzielle Vielfalt auch. Jacques Derrida hat in den Texten zur Malerei in seinem Buch La Vérité en peinture – Die Wahrheit in der Malerei auf das Problem des Titels hingewiesen: „Was geschieht, wenn man einem „Kunstwerk“ einen Titel verleiht?“[6] – Ausstellungsbesucher*innen suchen oft zuerst nach dem Titel und dem Namen der Maler*in, bevor sie sich z.B. auf ein Acrylbild einlassen. Die Materialität des Bildes ist nicht nur die Acrylfarbe auf der Leinwand, vielmehr wird sie praktisch in den Wissensmedien von Titel, Maler*in, Entstehungszeit etc. zu lesen gesucht. Die Bildelemente von Rudern, Booten, einem Dampfer mit Segel in der Ferne, Wellen, Meer, einem Paket, einem ungestümen baggerähnlichen Fahrzeug, einem weißen mit Tauen mehr denn Bändern verschnürten Paket, zwei Männern mit Vollbärten, einer zierlicheren Figur mit längerem Haar, die den Betrachter*innen im Boot den Rücken zuwendet, einer wohl männlichen Figur, die das verschnürte Paket hochhält, korrespondieren miteinander, grenzen sich indessen auch voneinander ab.

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Ohne den Titel beginnen wir bereits mit der Benennung der Bildelemente vor dem Acrylbild, von anderem als der Malerei zu sprechen. Die Wahrheit der Malerei von August Jankowski lässt sich kaum fassen oder als Palimpsest entschlüsseln. Er schabt nicht nur alte Schichten seiner Bilderschrift ab, um sie in neue Konstellationen zu bringen, vielmehr werden Boot, Meer, Paket neu verschnürt oder vertäut, um in der Sprache der Seemänner zu bleiben. Schiffe werden an Anlegern vertäut. Das Paket wird zum hervorstechenden Element des Acrylbildes. Was das Paket enthält, sehen und wissen wir nicht. Es ist allemal ein Geschenk und Geheimnis. Als Geschenk wird es hoch gehalten auf dem schwankenden Boot auf den Wellen. Wer wird das Paket annehmen? Wird es angenommen werden? Wird es angenommen werden wie das Acrylbild? Es ist vertäut, wird gehalten am Anleger. Der Bärtige im zweiten Boot zeigt mit dem Ruder auf das Paket, könnte man sagen. Oder will er es mit dem Ruder ins Boot holen? Im Bild bleibt das Paket hochgehalten. Mehr sehen wir nicht!

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Wie viel können wir uns von dem Bild mit dem Titel Hagana erzählen? Wollen wir den Titel als Benennung öffnen? Welche Erzählungen werden sich dann über das Bild ergießen? Zunächst einmal gibt uns der Maler August Jankowski ein Bild als Geschenk. Es fasziniert uns. Aus dieser Besprechung wissen wir bereits, dass es bei dem Maler wiederkehrende Elemente gibt: Meer, Boot, Haus, Blau, Weiß, Dampfschiffe, Ufer, Maschinen etc. Vor allem immer wieder die Transformation zum imaginären Meer. Die schmale Figur im Boot wendet sich ab, von der Aktion mit dem Paket und dem Ruder. Sie verhüllt uns ihr Gesicht. Desinteresse kann es bei diesem aufgewühlten Seestück nicht sein, kann man denken. Da passiert allerhand. Gibt die Figur im Bild also einen Wink auf das, was wir in ihm nicht zu sehen bekommen? Geht es um das Bild als Vorhang, hinter den wir schauen wollen? Das Bild als Screen?[7] Die Funktion des Screens lockt uns, wissen zu wollen und verhüllt Wissen zugleich.

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Bleiben wir auf der Leinwand, auf die August Jankowski gemalt hat. Die Leinwand war leer, so wie Blätter in den Skizzenbüchern leer waren, die eine eigene Kategorie in seinem Schaffen und auf seiner Homepage ausmachen. Einerseits sind die Leinwände und Skizzenblätter immer leer, andererseits malt und zeichnet der Maler nicht aus dem Leeren, vielmehr machen Wiederholungen und Transformationen, das Palimpsestische seines Bilderapparates, Literaturen und Lektüren einen wesentlichen Zug seines Malens und Zeichnens aus. Seine Sinneswahrnehmungen treffen immer schon auf eine komplexe Konstellation, die im Machen zum Zuge kommt. Wahrscheinlich weiß er zu Beginn am wenigsten, was er auf Leinwand oder Blatt gemalt haben wird. Doch er stützt, das von dem er nichts weiß, mit Titeln und Texten wie Hagana Anlandung und Rettung der Gesetzestafeln[8] und einem Zitat aus Othmar Keels Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen.
„Die klassische Manifestation der Chaoswasser aber ist das Meer.
[…]
Da der ursprüngliche Lebensraum des Menschen nicht das Meer ist, galt in der Antike das Befahren der „tödlichen Salzflut“ grundsätzlich als gefährlich. Bei den Israeliten als einem Volk, das aus der Steppe ins Kulturland gekommen und starke Bindungen an seine Vergangenheit bewahrt hatte und zudem über keinen bedeutenden Hafen verfügte, war das in besonderem Maße der Fall.“[9]    

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Der katholische Theologe und Bibel- wie Religionswissenschaftler Othmar Keel bezieht sich mit seiner Bildsymbolik des Meeres am ehesten auf Psalm 93 und die Querverweise zum Meer im Alten Testament z.B. in der Übersetzung der Lutherbibel Vers 3 und 4: „3 HERR, die Fluten erheben, / die Fluten erheben die Stimme, die Fluten erheben ihr Brausen. 4 Mächtiger als das Tosen großer Wasser, mächtiger als die Wellen des Meeres ist der HERR in der Höhe.“[10] Kombiniert wird das Meer im Titel mit der Anlandung und Rettung der Gesetzestafeln. Mit anderen Worten: Das Malen schafft bei August Jankowski andere Bilder als die Bildsymbolik, die Keel in Anschlag bringt. Kursieren bereits zu Psalm 93 unterschiedliche Übersetzungen, die um „die Wellen des Meeres“ kreisen, indem sie einen Gegensatz von Meer als Chaos und Gesetz des monotheistischen Gottes als Weltordnung formulieren, so wird die Anlandung auf dem Meer bei Jankowski zu einer rätselhaften Szene, weil das Meer dominiert. Denn auch die Figur, die das Paket entgegengenommen (?) hat, steht weniger auf einem festen Anleger als auf einem im Meer schwankenden Boot, wenn man die beiden Ruder am unteren Bildrand in Betracht zieht. Das Symbolische wird beim Malen vom Imaginären transformiert.

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Und „PORT BOU“ im Acrylbild mit dem Titel Walter Benjamin, die Eule der Minerva, beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug? – August Jankowski schreibt in den Titel und malt in das Bild assoziativ viel hinein. Ist der Angelus Novus von Paul Klee, an den Walter Benjamin mit seinem Engel der Geschichte andockt, eine Eule der Minerva? In seiner Vorrede zu Grundlinien der Philosophie des Rechts formuliert Hegel den viel zitierten Satz: „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“.[11] Walter Benjamin wird bei ihm zur Eule der Minerva, indem er ihr dessen Gesichtszüge einmalt. Traumwandlerisch oder visionäre wird mit dem Bild, das an Walter Benjamin adressiert wird, eine komplexe Szene gemalt, die sich nicht nur in PORT BOU abspielt. Der Ort Portbou am Meer der Costa Brava unweit der spanisch-französischen Grenze wurde für den Flüchtenden 1940 zum Ort seines Suizids. Jankowski nennt sein Bild selbst ein „Bilderrätsel oder Vexierbild“.[12] Das gilt ganz gewiss für die Praxis seines Malens, für die mir die Formulierung eines literarisch-visionären Surrealismus einfiel. Im Ringen um die Darstellung in der Malerei kommen immer andere Spuren hinein, die das Dargestellte traumartig durchkreuzen.

Torsten Flüh

erstererster
Ausstellungen, Lesungen, Pop-ups
Pappelallee 69
10437 Berlin


[1] Joachimsthaler, Jürgen:  Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. Heidelberg: Winter, 2012, S.5.

Siehe auch: Torsten Flüh: Europas und der Texte Ränder. Zu Jürgen Joachimsthalers Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. November 2012. (PDF)

[2] Zitiert nach August Jankowski: Mittelmeer 21. März 2017 zuvor in E. Katzmeier: Der Maler August Jankowski stellt aus. In: Weilheimer Monatsblättle 3/85, S. 11.

[3] Zur Humboldtian Science siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Mai 2015. (PDF)  
Zur Frage des geologischen Wissens und dessen Implikationen bei Alexander von Humboldt siehe: Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Juni 2015. (PDF)

[4] Zu Herman Melville siehe auch: Torsten Flüh: Maximalistic Queerness Mythology. Zu Taylor Macs & Matt Rays Europapremiere der umwerfenden Show Bark of Millions bei der Performing Arts Season. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Oktober 2024.

[5] Obwohl es sich hierbei eher um Prosa (Brief oder Tagebuch) als um Lyrik handelt, setzt Jankowski den Text mit Zeilenumbrüchen, wie für ein Gedicht. Zitiert nach August Jankowski: Atlantik 27. April 2017 zuvor wie Anm. 2.

[6] Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Wien: Passagen, 1992, S. 41.
Zur Wahrheit in der Malerei siehe auch: Torsten Flüh: Praktiken der Moderne beim Malen. Zu Peter Grosz‘ Ausstellung ZitronenBlau in der Galerie des Kunsthauses Artes. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. August 2022.

[7] Zur Funktion des Screens siehe: Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[8] Zitiert nach August Jankowski: Hagana 14. Dezember 2018.

[9] Ausschnitt nach ebenda.

[10] Siehe Lutherbibel 2017: Psalm 93.

[11] Siehe Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2020.

[12] Siehe August Jankowski: Walter Benjamin Die Eule der Minerva 11. Oktober 2019.

Schloß Berlin Zimmer Nr. 669 und der private Kolonialismus des Kaisers

Kaiser – Kolonialismus – Kotau

Schloß Berlin Zimmer Nr. 669 und der private Kolonialismus des Kaisers

Zum ORTS-Termin Die koloniale Weltsicht Wilhelm II. mit Gästen des Museums Huis Doorn

Das Private und das Politische überschneiden einander in der kolonialen Weltsicht des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. auf unappetitliche Weise mit dem kunsthandwerklich bearbeiteten Elefantenfuß, den er im privaten Sternsaal unter einer Vitrine aufstellen und 1919 ins Exil nach Huis Doorn bringen ließ. Insbesondere an den privaten Besitztümern und deren Aufstellung in den Privaträumen Wilhelm II. im Berliner Schloss, die er mit seiner Familie nur wenige Wochen im Jahr nutzte, springt ein koloniales und rassistisches Gedankenensemble hervor. Die privaten Besitztümer ließ der Kaiser nach seiner Absetzung 1919 vom Hofmarschall und seiner Gattin aus Berlin güterwagonweise in sein Exil Huis Doorn bringen. Erstmals haben die Mitarbeiter*innen des Exil-Kaiser-Museums und der Universität Utrecht systematisch The Kaiser’s Colonial Worldview erforscht.

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In der Reihe ORTS-Termin fand nun ein Gespräch mit den Leiter*innen und Forscher*innen des Huis Doorn und der Universität Utrecht zum Kolonialismus Kaiser Wilhelm II. im Saal 6 des Humboldt Forums statt. Herman Sietsma, der Direktor von Huis Doorn, war mit seinem Team auf Einladung des Humboldt Forums aus den Niederlanden und dem kleinen Ort Doorn bei Utrecht angereist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das kleine Schloss, wo der letzte deutsche Kaiser am 4. Juni 1941 verstorben war, von den Niederlanden konfisziert und in ein Museum verwandelt. Der Privatbesitz, den Wilhelm II. aus dem Neuen Palais und dem Berliner Schloss nach Doorn hatte bringen lassen, wird seither im Museum geschlossen aufbewahrt und wie zu Lebzeiten ausgestellt. Die Debatte um den Kolonialismus der Niederlande erreicht mit dem Forschungsprojekt Huis Doorn.

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Britta Schilling und Cornelis van der Bas haben mit Student*innen der Universität Utrecht durch ein Praktikum im Huis Doorn die Studie The Kaiser’s Colonial Worldview zusammen gestellt und im März 2024 veröffentlicht. Durch das Praktikum zum Studiengang Geschichte und Geschichte der Kunst wurde die „material culture“ des Kaisers in Haus Doorn stärker in den Fokus gerückt.[1] Die „material culture“ arbeitet mit Dingen und Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben werden. Die Dinge in den 64 Wagons, die der Kaiser als persönlichen Besitz ins Exil bringen ließ, stammten aus seinen Privaträumen in Berlin und Potsdam und bildeten dort eine Form der Selbstinszenierung, die ihm so wichtig war, dass er sie im Huis Doorn auf ähnliche Weise arrangierte. Einerseits ging es um monetäre Werte für eine unsichere Zukunft, andererseits werden den Dingen Werte zugeordnet, die im Feld des Privaten und Persönlichen liegen.
„This value was not necessarily monetary; it could well be historical (relating to family or national history), contextual (relating to other objects) or personal and sentimental (relating to the self an personal identity). This collection of material culture gives us a basis from which to assess what was important to the Kaiser.”[2]     

© Huis Doorn

Die materielle Kultur Wilhelm II. wurde von Historikern als Quelle bislang wenig erforscht. Historiker und Biografen stützen sich eher auf Texte und Schriftstücke, um dem letzten deutschen Kaiser und seinen Denkweisen näher zu kommen. Doch Wilhelm II. inszenierte sich mit seinen Nordlandreisen wie mit dem Bau der Matrosenstation Kongnæs im Drachenstil am Jungfernsee oder dem Ankauf von Gemälden Adelsteen Normanns über Dinge, Paradeuniformen wie seiner der Gardes du Corps mit funkelndem Adlerhelm und Bauten, deren persönlicher Wert für ihn unverkennbar war.[3] Er stieß damit Moden an. Das Cover des Forschungsbandes aus Huis Doorn zeigt die aktuelle Ansicht von einer Tafel mit Gläsern, Karaffen und anderem Geschirr für ein festliches Essen. Zentral ist ein Tafelaufsatz aus Silber platziert.[4] Die antike Figur des Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt.

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Die Männerfigur des Atlas erlebte um 1900 eine prominente Wiederkehr im öffentlichen Leben.[5] Bei der Eröffnung des Hamburger Hauptbahnhofs am 6. Dezember 1906 zierte eine 2,8 Meter hohe und 270 Kilogramm schwere Atlas-Skulptur sein Dach am Glockengießerwall.[6] Kaiser Wilhelm II. erhielt die Atlas-Figur 1895 als Geschenk von Oscar II., König von Norwegen und Schweden. 1933 fertigte J. Gutschmidt das Foto halbgedeckter Tisch mit dem Tafelaufsatz in Huis Doorn an.[7] Während die Darstellungen des mythologischen Atlas‘ als unter der Last knienden Träger des Himmelsgewölbes sich vor allem am römischen Farnese Atlas aus dem 2. Jahrhundert orientieren, fand der Stockholmer Goldschmied C. G. Hallberg eine neuartige Lösung. Atlas trägt nunmehr aufrecht schreitend eine Silberkugel auf seiner Schulter, in der sich nicht nur die Tafel, vielmehr die Tischgesellschaft spiegelte. Erde und Himmelsgewölbe überschneiden einander in der Silberkugel und bieten der Tischgesellschaft um Kaiser Wilhelm II. ein narzisstisches Spiegelbild. Auf der Kugel wurde eine weitere kleine Figur platziert, die in einer dynamisch laufenden Bewegung in ein langes Horn bläst.

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Die Transformation des unter der Last leidenden Titanen-Sohns Atlas in eine dynamische Figur verwandelt den antiken Mythos am Ende des 19. Jahrhunderts in ein Eroberungsprogramm mit Spiegeleffekt. Die Himmelskugel wird zum Globus mit dem Anspruch diesen aus der Perspektive der Kolonialmächte zu beherrschen. Obwohl Schweden kein Hauptakteur des Kolonialismus war, besaß es mit der Schwedischen Ostindien-Kompanie ab dem 17. Jahrhundert einzelne Kolonien und beteiligte sich am Sklavenhandel. Hallberg hatte bei seiner Transformation des Atlas, insofern einen kolonialpolitischen Hintergrund in Stockholm. Britta Schilling übersieht in ihrer Deutung die Spiegelfunktion der neuartigen Atlas-Figur:
„Though a copy of a globe from 1620, it also embodies a particular worldview of the late nineteenth century, a worldview that the Kaiser himself helped to construct. It was a view in which Germany, long reluctant to support colonial endeavours, was shouldering its colonial ‘burden’ and becoming a strong player on the world stage.”[8]

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Obwohl Wilhelm II. im Volksmund den Namen „Reisekaiser“[9] verliehen bekam, weil er zwischen den Fjorden Norwegens und Jerusalem, Kiel und Korfu, Wiesbaden und Berlin etc. ständig reiste, besuchte er weder die Kolonien in Afrika noch China. Stattdessen sah er sich am 20. Juni 1908 die Menschenschau mit Afrikanern und Menschen aus Siam in Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg Stellingen an.[10] In domestiziert-theatraler Weise als koloniales Unternehmen des Hamburger Tierhändlers und Zoounternehmers Hagenbeck war der koloniale Blick des Kaisers auf die Menschen von anderen Kontinenten abgesichert. Doch China nahm für Wilhelm II. eine fixe Funktion in seiner Weltsicht ein. Angst, Neid und Überheblichkeit generieren seinen Blick auf China, der darin gipfelte, dass Prinz Chun als Abgesandter des Kaisers von China am 4. September 1901 im Grottensaal des Neuen Palais zum Kotau gezwungen wurde.[11] Wilhelm II. ging es mit der Inszenierung der Demütigung in seiner Paradeuniform der Gardes du Corps auf einem Thron sitzend um eine stark persönlich geprägte Revanche. 

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Der Kotau im Grottensaal des Neuen Palais‘ erhält nicht zuletzt dadurch seinen persönlichen, um nicht zu sagen, psychologischen Kontext, weil Wilhelm II. die persönlichen Gastgeschenke des Kaisers Guangxu 光绪帝 von Prinz Chun nicht entgegennahm. Prinz Chun und seine Begleiter wurden nach dem Kotau als Staatsgäste in der Berliner Gesellschaft herumgereicht. Die Nichtannahme der Gastgeschenke wie der halboffizielle Ort des Grottensaals im Neuen Palais geben einen Wink auf die für Wilhelm II. charakteristische Verquickung von privatem Ressentiment und politischem Handeln. Prinz Chun und sein Hofstaat werden nicht anders als die Menschen in den Völkerschauen behandelt und wahrgenommen. Als Vorgeschichte zum Kotau hatte Wilhelm II. 1895 persönlich eine Federzeichnung angefertigt, die vom Historienmaler Hermann Knackfuß umgearbeitet wurde, und am 26. September 1895 seinem Verwandten Zar Nikolaus hatte schicken lassen.[12] Japan hatte China im japanisch-chinesischen Krieg von August 1894 bis April 1895 besiegt.

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Die persönliche Zeichnung Wilhelm II., die sich heute im Huis Doorn befindet, entwirft ein ebenso persönliches wie machtpolitisches Szenario der Angst von der kolonial formulierten und mit der Farbe Gelb rassistisch geprägten „Gelben Gefahr“. Im Hintergrund scheint das christliche Kreuz auf, vor dem sieben weibliche Gestalten mit Speeren und geflügelten Helmen an einer Felskante stehen. Die germanisch ausstaffierten Frauen mit langen Kleidern werden von schwarzen Vogelgestalten umschwirrt, die an Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer erinnern können.[13] Die Hauptfigur mit Schild, auf dem ein Kreuz prangt, hat ihren linken Arm in Richtung einer Landschaft mit Rauchwolken ausgestreckt. Das Symbol des Christentums wird mit der germanischen-deutschen Mythologie nach Richard Wagners Ring des Nibelungen (1876) und/oder dem mittelalterlichen im 19. Jahrhundert rezipierten Nibelungenlied kombiniert. Es könnte sich um Walküren und die Göttin der Nation, Germania, wie sie zu jener Zeit in vielen deutschen Städten als Göttin aufgestellt wurde, handeln.

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Das vom Hobbyzeichner Wilhelm gezeichnete Germaniabild, ein Bild des deutschen Reiches, das später unter dem Titel „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter!“ mit propagandistischer Geste bekannt werden sollte, indem Knackfuß nationale Frauenfiguren vor dem Erzengel Michael anordnete und einen Buddha deutlich in den Rauchwolken erscheinen ließ, ist weitaus diffuser. Beide Bildversionen befinden sich heute im Haus Doorn, wohin sie als persönlicher Besitz gelangten. Bei Wilhelm bezieht sich die Angst vor einer Bedrohung aus dem Osten stärker auf ein christliches Deutsches Reich. Bei Knackfuß wird die imaginäre Bedrohung zu einer der Herrschaft Europas über die Welt. Die nahezu surreale Bildfindung mit ihren Unschärfen bei Wilhelm II. erinnert an einen Albtraum mehr denn an ein durchdachtes Propagandabild. Die christliche Symbolik passt 1895 zu des Kaisers Bemühungen, sich als Schutzherr des Protestantismus in der Welt zu inszenieren. 1898 wird er die evangelische Erlöserkirche in Jerusalem für die evangelische Mission unter anderem von arabisch-palästinensischen Waisen einweihen. Seit 1894 wird gegenüber dem Berliner Schloss der neue Dom mit stilistischen Verweisen auf den Petersdom in Rom gebaut.

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Das Angstszenario der Gelben Gefahr, die nach der Zeichnung unmittelbar an den Grenzen der christlich-germanischen Welt, steht, inszeniert sowohl den protestantischen Machtanspruch der preußischen Könige und deutschen Kaiser seit 1824 als die Berliner Mission für Jerusalem gegründet wurde[14], wie eine persönliche Angst vor dem Unbekannten. Die Beherrschungs- und Ausbeutungsphantasien, die nicht nur zum Kotau, vielmehr noch zu einer Sammelleidenschaft der Kunstschätze des von deutschen Soldaten geplünderten Kaiserpalastes, der Verbotenen Stadt, aus Peking führen, nehmen groteske Züge an. Die Serie von kunstvollen Lackbildern historischer Schlachten aus der Qing Dynastie oder der kaiserliche Thron mit Armlehnen und Schubladen ebenfalls aus der Qing Dynastie wandelt Wilhelm II. nicht nur in seinen persönlichen Besitz um und nimmt sie mit ins Exil, vielmehr wird der kaiserliche Thron zum privaten Möbel für (vielleicht) Socken.

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Durch den Kaiser und seine „Hunnenrede“ mit dem Strafbataillon ausgesandten Major Sigismund von Foerster[15] gelangte Thron mit kaiserlichen Drachen in Gold 1901 nach Berlin. Er wurde jenseits des Museums, wo er heute im Ethnologischen Museum steht, von Wilhelm II. genutzt. Annelore de Kruif sieht in dem Ankauf und der Nutzung der Lackarbeiten nicht nur eine Kunst- und paradoxerweise China-Leidenschaft des Kaisers, vielmehr diente ihm chinesische Kunst als Aneignung und Darstellung von persönlicher Macht:
„The lacquerware work certainly have suited Wilhelm II’s tastes. Given the Kaiser’s desire to bring the Chinese to their knees, he may have relished the idea of displaying war booty, a symbol of victory. (…) Or perhaps, in displaying these panels, he was displaying an affinity from one emperor to another, thus confirming his own position as head of state.”[16]

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Abgesehen von den persönlichen Verwicklungen in den Kolonialismus als Weltsicht wird der Kaiser als Staatsoberhaupt zum Adressaten von Verbänden, Schaustellern wie Carl Hagenbeck, seiner Kolonialsoldaten, von Handeltreibenden wie den Kaufleuten und Reedern der Hansestadt Hamburg und Reisenden wie Otto Ehlers. Otto Ehrenfried Ehlers starb bereits am 3. Oktober 1895 in Kaiser-Wilhelm-Land, wie die deutsche Kolonie auf Neuguinea hieß. Vermutlich 1893, als er nach längerer Reise durch Länder Südostasiens nach Deutschland zurückkehrte, traf er Wilhelm II. in Berlin und schenkte ihm einen kunsthandwerklich aufbereiteten Elefantenfuß aus dem Königreich Siam. Der Elefantenfuß wurde im Sternsaal als Vorzimmer und Ausstellungsraum im Berliner Schloss aufgestellt. Im Huis Doorn konnte der Elefantenfuß im Lager mit der Notiz „Vom reisenden Herrn Otto Ehlers erlegt in Siam“ gefunden werden. Erst 1927 wurden Reisebilder aus Siam von Otto Ehlers in Voigtländers Volksbücher veröffentlicht. Den Aufenthalt in Deutschland bzw. Berlin hatte Ehlers offenbar dazu genutzt, seine Bücher An indischen Fürstenhöfen und Im Sattel durch Indo-China, beide 1894, im „Allgemeinen Verein für Deutsche Litteratur“ zu veröffentlichen.

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Das prominente Geschenk Otto Ehlers‘ wird keinesfalls zufällig dem Kaiser überreicht, vielmehr werden Kaiser und Kaiserreich zu Adressaten des Reisenden und seiner deutschen, kolonialen Reiseliteratur. Der in Hamburg 1855 geborene Sohn eines Architekten wird nach seiner Einleitung von An indischen Fürstenhöfen zum Reisenden, weil er von seinem Jugendfreund Gustav Ehlers, dem General-Konsul des Deutschen Reichs in Sansibar, eingeladen wird.[17] Schon auf den ersten Seiten entfaltet sich für Otto Ehlers ein Netzwerk aus Konsuln, „Deutsch-Ostafrikanischer Gesellschaft“ und „Missionsstation“ etc. Geschenke werden sogleich an den Kaiser adressiert. Der Kaiser wird für Ehlers nicht nur Adressat von Geschenken, vielmehr noch der kolonialen Reisen selbst, bei denen „die deutsche Flagge“ an verschiedenen Plätzen gehisst wird.
„Nahezu sieben Monate ich hier (am Kilimanscharo, T.F.) hier in den verschiedenen Dshaggastaaten, deren mächtige Fürsten, Mandara, ich veranlaßte, mir eine Gesandschaft mit Geschenken für Sr. Majestät den deutschen Kaiser anzuvertrauen. Die Leute wurden in Berlin huldvollst empfangen und reich beschenkt in ihre Heimat entlassen, während ich im Auftrage Sr. Majestät einige Wochen später nach Ostafrika zurückkehrte, um Mandara die kaiserlichen Gegengeschenke zu überbringen und an verschiedenen Plätzen, die deutsche Flagge zu hissen.“[18]

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Der Elefantenfuß aus Siam lässt sich nach der Reiseliteratur Otto Ehlers‘ und seinen erholten Treffen mit Kaiser Wilhelm II. in Berlin exakt in den deutschen Kolonialismus in Deutsch-Ostafrika, heute Tansania einordnen. Indem „Geschenke“ und „Gegengeschenke“ ausgetauscht werden, geht es im Reisebericht vor allem darum, mit der deutschen Flagge „Plätze()“ zu kolonisieren. Siam, heute Thailand, war zwar keine deutsche Kolonie und das multiethnische Indien Teil des kolonialen Britischen Weltreiches, aber der Elefantenfuß wird für den Kaiser zu einem bedeutungsvollen, persönlichen Objekt, mit dem mehr koloniales Denken verknüpft ist, als es auf den ersten Blick scheint. Die Bücher, die Ehlers zu seinen Lebzeiten veröffentlichen konnte, wären noch einmal genauer auf ihre kolonialen Narrative hin zu lesen. Der Allgemeine Vereine für Deutsche Litteratur war eine Buchgesellschaft, die zugleich als Verlag operierte und 1873 unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs in der Berliner Kronenstraße u.a. von Prinz Georg von Preußen gegründet worden war. 1894 gehörte die Kronenstraße zum Berliner Zeitungsviertel, in dem auch Zeitungen der deutschen Kolonien und deutschen Niederlassungen in der Welt verlegt wurden.

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Britta Schilling fragt in dem reich illustrierten Forschungsband, wieweit der Kaiser für die extreme Gewalt in Peking und den Genozid Südwest-Afrika verantwortlich war.[19] Wie bereits an dem Reisenden und Schriftsteller Otto Ehlers deutlich wird, geht es um ein mehr oder weniger klandestines, gewiss aber, elitäres Netzwerk von Deutschen im Ausland und Berlin, die sich „Sr. Majestät“ verpflichtet fühlen und durch die Zirkulation von Geschenken ein persönlich verpflichtendes Verhältnis zum Kaiser aufbauen. Die Annahme oder wie bei Prinz Chun Nichtannahme von Geschenken spielt für Wilhelm II. eine bisweilen subtile, aber entscheidende Rolle. Im Kontext der militärischen Aktionen in China – „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“ 27. Juli 1900 – in Südwest-Afrika hat der sich oft in Uniform präsentierende Kaiser die Funktionen des obersten Befehlshabers und der moralischen Legitimation.
„We need to consider the nature of relationships between Wilhelm II as supreme military commander and other state and military functionaries, many of whom had their own agendas within the colonial system. And we need to understand the wider political and cultural context in which all of these agents were working, the elements that made up their colonial worldview.”[20]

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Die Dinge – von der Lackarbeit aus der Qing Dynastie über den Tisch aus dem Zimmer 669 im Berliner Schloss bis zum Elefantenfuß aus dem Sternsaal – wurden mit Etiketten und Listen weitgehend inventarisiert. Heute helfen die Etiketten dabei, die Dinge im Huis Doorn zu kontextualisieren und auf ihre koloniale Aufladung hin zu befragen. Kolonialismus ist dabei nicht nur eine Frage der Ausbeutung, vielmehr lässt sich die Zirkulation von Geschenken als eine wichtige Praxis identifizieren. Wie beispielsweise die Replik der Nofretete im Haus Doorn in den persönlichen Besitz gelangte, entzieht sich bislang der Kenntnis des Berichterstatters. Doch von Wilhelm II. und seinem Umfeld wird sie zusammen mit Familienfotos und Feuerzeugen mit Diamanten aus der einzigen deutschen Diamantenmine etc. als Einblick ins Private arrangiert.

Torsten Flüh

ORTS-Termin
Diskurs im Humboldt Forum   

Britta Schilling, Cornelis van der Bas:
The Kaiser’s Colonial Worldview
Doorn: Aspekt, 2024.
108 Seiten
€ 14,95


[1] Britta Schilling: Ghosts of the Past. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The Kaiser’s Colonial Worldview. Doorn: Aspekt, 2024, S. 11.

[2] Ebenda.

[3] Zu Adelsteen Normann und Kongnæs siehe: Torsten Flüh: Verstörend statt bezaubernd. Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie. In NIGHT OUT @ BERLIN 18. November 2023.

[4] Siehe: Huis Doorn: Webshop: The Kaiser’s Colonial Worldview.

[5] Siehe auch den Atlas im Bilderatlas Mnemosyne Aby Warburgs: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[6] Siehe Deutsche Bahn: Die Rückkehr der Atlas-Skulptur. (Pressemitteilung 2023)

[7] Britta Schilling: Colonies, Empires and the German Colonial Imagination. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Ebenda.

[9] Britta Schilling: Ghosts … [wie Anm. 1] S. 8.

[10] Annewil Nieuwenhuizen: Völkerschauen. In: Ebenda S. 24 und 25.

[11] Siehe: Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg: Neues Palais / 1901. Kotau vor dem deutschen Kaiser. Der Grottensaal als Ort einer inszenierten Demütigung. In: Schauplätze der Geschichte.

[12] Siehe: Monique Anker: Die Gelbe Gefahr. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 32-35.

[13] Siehe zu Goya: Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[14] Zur Berliner Missionsbewegung siehe: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Februar 2024.

[15] Siehe Deutsche Digitale Bibliothek: Porträt des Majors Sigismund von Förster.

[16] Annelore de Kruif: From the Chinese emperor tot he German Kaiser: Chinese Lacquer Panels. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 40.

[17] Otto E. Ehlers: An indischen Fürstenhöfen. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894, S. 3. (Digitalisat)

[18] Ebenda S. 3-4.

[19] Britta Schilling: Working towards the Kaiser? In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 54.

[20] Ebenda S. 56.

Im Körperkosmos und im Rausch

Theater – Parkinson – Körper

Im Körperkosmos und im Rausch

Zu Kater der Zukunft als Gastspiel von Mass & Fieber Ost im Theater Discounter

Für den Kater wird der Theaterabend ein Fest. Applaus! Wer ist der Kater? Der Kater ist nicht nur eine männliche Katze, vielmehr hat die Theaterfigur der Schauspieler Hans-Jörg Frey mitentwickelt. Es geht auch um einen Kater als körperliches und mentales Unwohlsein nach einem Rausch. Der Kater spielt, tanzt und singt mit seinen Mitspielerinnen Kali (Nica Heru) und Fox (Antonia Labs) in einer Drei-Generationen-Version Good Day Sunshine von den Beatles. Er hat einen Körper, einen Schauspielerkörper mit einem „Untermieter“ alias „Katerson“ alias Parkinson. Parkinson spielt dem Muskel für Muskel trainierten Schauspielerkörper Streiche. Oder Parkinson wird medikamentiert, damit er Ruhe gibt? Die Zeit des Theaterabends im Theater Discounter in der Klosterstraße 44 wird dem Kater, Kali und Fox mit prominenten Freundinnen wie die Schauspielerin Daniela Ziegler im Publikum zum Freudenfest. 

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Theaterspielen mit Parkinson? Parkinson sitzt im Gehirn des Schauspielers Hans-Jörg Frey, wie die Diagnose sagt. Der lebenslange Menschenverkörperer weiß nicht, wann „Katerson“ was macht. Das ist höchst beunruhigend für einen Menschen mit 72, der es gewohnt war, auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu liefern: Text, Gesten, Gefühle, Unterhaltung. Brigitte Helbling (Text) und Niklaus Helbling (Regie) haben mit Hans-Jörg Frey Parkinson mit seiner tickenden „Parkinsonuhr“ auf die Theaterbühne geholt, wo er sonst nicht vorkommt. Er oder es ist zugleich da im Körper, wird Text, Diagnose und ist nicht da, weil medikamentiert oder mit Stabilität weggespielt. Für den Regisseur Niklaus Helbling wurde seit den 90er Jahren der Körper der Schauspieler*innen immer wichtiger. Kater der Zukunft ist nicht zuletzt ein Stück über das Theater, über Körper und Kontrolle, über Dionysos und Choreographie.

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Kater der Zukunft ist die Silber-Jubiläums-Produktion der schweizerisch-hamburgischen Theatergruppe Mass + Fieber Ost um Niklaus und Brigitte Helbling sowie Antonia Labs. Mit Fall Out Girl von Brigitte Helbling gastierte Mass + Fieber im November 2012 im Ballhaus OST, in der Hauptrolle Antonia Labs. Felix Huber, der die „Katermusik“ gemacht hat, arbeitete bereits an der Musik für Fall Out Girl mit. 2020 wurde die Lecture Performance Die Mondmaschine (Brigitte Hebling) im LIVE TALK als Hauptsache Online #2 beim Festival Hauptsache Frei diskutiert.[1] Mehrdeutig, aber lakonisch geht die Theatergruppe mit dem Kater ihrer „Lust an Fiktionen nach und zieht Bilanz aus 25 Jahre Theaterarbeit“, wie es im Programm heißt.[2] Um welche Fiktionen geht es?

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Das Stück ist ein Schauspielerstück, denn Kater, Kali und Fox sind Schauspieler*innen. Sie helfen einander, sprechen miteinander und denken über das Theater seit Dionysos nach. Den Dionysos, wie er von Euripides im Drama Die Bakkchen hineingeschrieben worden ist, um ihn aus der Geschichte des Dramas hinauszuschreiben, gibt es im Kater. Dionysos gehört zum Theater des Unkalkulierbaren. Mit Dionysos tickt da etwas aus im und mit dem Theater. Es kommt der Rausch. Das Theater macht etwas mit einem. Es hat mit Kater viel gemacht.
„Die schwarzen Tage des Dionysos, natürlich! Das fängt ganz harmlos an. „Es war öd, öd, öd, der Tag war blöd, blöd, blöd…“ Und dann steigert sich alles in den Wahnsinn. Am Ende sind die Söhne zerfleischt und die Töchter geschändet und der Goldfisch japst in der Teekanne. – Dingens, wird Zeit für meine Pillen. Die roten. Wo sind die?“[3] 

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Mit Michel Foucault ließe sich fragen, ob das Unkalkulierbare, das Zittern mit Parkinson, der Kontrollverlust im Gehirn nicht immer schon jene Kraft im Theater war, die ausgegrenzt werden musste. Die Bakkchen zerfleischen ihre Söhne. Da muss ein Riegel vorgeschoben werden.[4] Der fundamentale Rechtsbruch des Kannibalismus, des Zerfleischen-Essens, das über die Körper herfallen, musste reguliert werden. Auch das Inzest-Verbot zwischen Müttern und Söhnen wird in den Bakkchen angespielt. Es ist alles da im Text. Wenn man beispielsweise im Deutschen an das Tätigkeitswort verschlingen denkt. Das Verschlingen muss ein Missgeschick gewesen sein. Man denke beispielsweise an Heinrich von Kleists Penthesileas „Küsse, Bisse.“ – „– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,/Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das Eine für das Andre greifen.“ – Denn im Theater werden nicht nur die Körper miteinander verschlungen.
„Das war sie irgendwann auch. Anfangs nicht, die Frau war eine Kanone, so high war ich nie wieder. Wir haben uns verschlungen, das Publikum hat uns verschlungen, das Theater hat uns nochmal als Paar besetzt und nochmal und wir waren total elektrisch, bis sie irgendwann in der Psychiatrie landete. Die Psychopharmaka haben’s dann wieder gerichtet.“[5]

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Im Theater geht es mit der Ambiguität ums Verschlingen. Das Publikum will die Menschen auf der Bühne ineinander verschlungen sehen. Im Guten wie im Bösen. Doch zugleich schwingt dabei das Dionysische der Verwechslungen im Verb mit. Plötzlich verschlingt eine/r eine/n Andere/n. Das Theater frisst Körper auf. Ein regelrechter Körperfresser! Und bringt sie hervor. Die Grenze zwischen begeisterndem Theater zum Verschlingen und Psychiatrie ist dünn, sagt Kater. Doch heute lässt sich das Gefährliche der Verschlingungen mit „Psychopharmaka“ wieder einrichten, wie Kater so sagt. Mit großer Leichtigkeit durch Konzentration wird das Schauspielerstück zu einer flotten Tiefenbefragung der Theaterpraktiken. Parkinson agiert wie Dionysos, ließe sich sagen. Auf der Bühne steht ein begeisterndes Trio – Kater, Kali, Fox –, das ändert alles:
„Einander zugewandt müssen die drei schon sein, miteinander zu tun haben wollen, weil sie einander brauchen, weil sie sich mögen. Weil sie zu dritt so viel weiterkommen als allein, im schnellen Wechsel der Konstellationen. Da kommt die Dynamik her, die Beschleunigung, die Euphorie. Die keine Grenzen kennt. Sagt der Regisseur.“[6]

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Es gibt das Theater als Praxis der Schauspieler*innen. Und es gibt Praktiken im Theater, die variieren können, doch in der deutschen Stadttheater-Betriebslandschaft selten variiert werden. Kater kommt aus dem Stadttheater in Deutschland. Stadttheater ist schon anders als Staatstheater oder gar freies Theater wie von Mass + Fieber. Kategorien, Budgets, Mass an Freiheit, Kultur- und Finanzpolitik, gerade in Berlin mit Theater Discounter (TD) und Deutschem Theater (DT). Es geht immer um Trennlinien, um Linien im Theater. Eine Choreographie der Auftritte. Wo verlaufen die Trennlinien? Von der Bühne als gefeierte/r Schauspieler/in in die Psychiatrie? Es gibt sehr berühmte Schauspieler, die früher und heute gar nicht ohne psychiatrische Begleitung spielen können. Was heißt dieser Raumwechsel dann für die gesellschaftlichen Mechanismen nicht zuletzt eines hoch ausdifferenzierten Gesundheitssystems, das allererst von einer Minute auf die andere den Wechsel zwischen Bühne und Psychiatrie, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Sinn/Sinnlichkeit und Wahnsinn ermöglicht und strukturiert?

© Kerstin Schomburg

Im Körper auf dem Theater lassen sich die Trennlinien nicht so gut aufrechterhalten. Das 9. Szenenbild des Stückes trägt den Titel „Der Körper auf der Bühne“. Der Körper und das Theater als Bühne werden seit der Antike diskutiert. In seinem Theater der Grausamkeit/Théâtre de la cruauté (1938) rückt Antonin Artaud den Körper in ein neuartiges Verhältnis zur Bühne. Doch der Regisseur Niklaus Helbling knüpft mit seiner Inszenierung nicht nur an die Artaudsche Theatertheorie an, gibt mit Indonesien und dem indonesisch anmutenden, aber älteren Brettspiel Hunde- und Schakalspiel als Requisite nicht nur einen Wink auf Artauds balinesisches Theater, vielmehr noch wurde er durch Beobachtungen von Schauspieler*innen, gar Feldstudien zu einem mikrologischen Leser der Schauspielerkörper wie den „Fesseln“ einer Schauspielerin:
„Ich habe Schauspielerinnen und Schauspieler befragt, wie sie ihren Beruf an ihrem Körper erleben und wie sie das, was sie erleben, beschreiben würden. Da ging es um die Entwicklung über die Berufsjahre hinweg, sicher auch um die gängigen Themen wie: Welche Rolle spielen Hierarchie, Übergriffe, und so weiter, aber doch mehr noch: Wie spielst du, welche Rolle spielt dein Körper bei der Reproduktion eines Stücks über viele Aufführungen hinweg, wie stellst du Intimität her mit Partnerinnen, Partnern, usw. Themen, die jetzt auch im Stück ein bisschen vorkommen, ohne dass sie besonders vordergründig sind. Mir gefällt sehr die Idee, dass es eine Art Körperkosmos im Theater gibt.“[7]

© Kerstin Schomburg

Da das Theater über das Körpertheater, den „Körperkosmos“ nicht „vordergründig“ sein darf, weil es dann als Theatertext mit seinen Hakenschlägen, Wortspielen, Vieldeutigkeiten, mit seinem Rhythmus und dem Suspense nicht funktionieren würde, wird im Trio wie in einem Schneeballspiel jeder Ballsatz blitzschnell formuliert, zielgenau geworfen und erwidert.
„KALI
Und die Typen von der Regie? Was macht ihr, wenn die euch anschauen, als wärt ihr die Kirsche auf dem Sahnetörtchen?
KATER
Mich freuen?
FOX
Mit oder ohne Anfassen? Und wenn mit: Auf der Bühne oder bei der Nachbesprechung? Bei der Premierenfeier? Macht er einen auf Verführer? Schickt er dir nachts SMS? Oder spielt er Therapeut? Nutzt er einen Moment der Schwäche aus und umarmt dich zu lang? Und wie ist es mit den Körpern unter Kollegen? Für mich ist es eines der größten Privilegien im Theater, dass man von Kunst wegen Körperkontakt haben darf. Aber sicher ist nichts.
KATER
Die Bühne ist das Gegenteil von einem Safe Space.“[8]

© Kerstin Schomburg

Die Komplexität des „Körperkosmos“ und der Körperpraktiken auf der Bühne hat sich beispielsweise seit der MeToo-Debatte in den letzten 25 und mehr Jahren entschieden verschoben. Die „Typen von der Regie“ vor und auf der Bühne oder vor der Kamera, was noch einmal anders ist, haben immer auch mit ihrer institutionalisierten Macht über die Schauspieler*innen-Körper bestimmt. Die Choreographin Swanhild Kruckelmann hat im Gespräch mit Niklaus und Brigitte Helbling ausführlich über ihre Tänzerinnenausbildung und professionelle Arbeit als Tänzerin gesprochen. Was im Ballett als Inbegriff von Körperlichkeit, Körperschönheit und Körperbeherrschung auf der Bühne präsentiert wird, war für Swanhild Kruckelmann ein ganz anderes Theater der Grausamkeit, des Rausches und der Verletzungen.
„Einen gesunden Umgang mit dem Körper habe ich da nicht gelernt. Das lag auch an den Lehrerinnen, man musste funktionieren, es war ein reines Funktionieren, obwohl, es waren alles Pina Bausch Tänzerinnen, und die waren alle sehr… – natürlich auch Diven. Nicht unbedingt die besten Pädagoginnen, vor allem nicht für mich, die gerade erst angefangen hatte. Und deswegen bin ich da mit sehr vielen Verletzungen durch, wollte mehrmals auch aufgeben, weil ich merkte, ich kann nicht mehr – aber irgendwie war ich immer auch so getrieben. Dann doch. Das war wie ein Rausch.“[9]

© Kerstin Schomburg

Der Rausch am Theater, der Rausch auf der Bühne ist verführerisch, weil er „sehr viele() Verletzungen“ hervorbringt. Doch der Rausch spielt/e gewiss auch für Kater/Frey eine wichtige Rolle, wenn er seine Schwester vorwurfsvoll sagen lässt: „Es war das verdammte Theater!“ Doch Kater antwortet trotzig: „Ich habe es geliebt! Ich habe es gemacht! Ich habe es gewollt!“ Könnte das Theater am Parkinson Schuld sein? Oder andersherum? Das Theater nimmt Parkinson mit und Kater/Frey vergisst ihn und bekommt viel „Sicherheit“ im Spiel. Die Choreographin wechselt in ihrer Erzählung fast in die Sprache einer Physiotherapeutin, wenn sie von den Proben mit Hans-Jörg Frey berichtet:
„Am Beginn der zweiten Probephase hatte ich das Gefühl, dass er anfangs weniger beweglich war, vielleicht sogar leicht verunsichert im Vergleich zum Abschluss der ersten. Aber dann ist in den zwei Wochen wieder wahnsinnig viel passiert. Da war mehr Stabilität. Die war wieder da. Ich weiß auch in der ersten Probephase, da fand ich es erstaunlich, wie schnell er sehr viel Sicherheit bekommen hat. Viel Spiel in den Bewegungen. Das ist noch nicht ganz, aber schon auch wieder da.“[10]  

© Kerstin Schomburg

Wie viel dionysischer Rausch im Spiel steckt, lässt sich schwer sagen. Doch die Choreographin formuliert eine Wahrnehmung von „Stabilität“ und „Sicherheit“, die durch die ärztliche Diagnose Parkinson in Frage gestellt worden war. In der Vorstellung im Theater Discounter wird die Lust am Spiel des Trios derart präsent, dass die blaue, vierfächerige Tablettenbox für „Morgen Mittag Abend Nacht“ als Requisite für Kater fast ein Fremdkörper wird. Braucht er die Tabletten wirklich? Kater der Zukunft ist ganz großes Schauspielertheater mit Hans-Jörg Frey, Nica Heru und Antonia Labs. Schauspieler*innen, die Schauspieler spielen, die ständig an die Grenzen ihrer Schauspielerexistenz stoßen.
„Der eine Satz vom Kater, nach dem Arztbesuch: „Ich spiel den Katerson, aber ich hab den Katerson auch.“ Als Hans-Jörg ihn gestern sagte, war es für mich das erste Mal so, als würde er ihn für sich denken und für den Kater sagen. Der Satz fand statt in dieser Bühnenzeit, und dadurch wurde diese Bühnenzeit nochmal spezieller.“[11]

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KATER DER ZUKUNFT Spiel: Hans-Jörg Frey, Antonia Labs, Nica Heru / Text: Brigitte Helbling / Regie: Niklaus Helbling / Musik: Felix Huber / Choreographie: Swanhild Kruckelmann / Bühnenbild, Kostüme: Georg & Paul / Technik, Licht: Björn Salzer / Artwork: Thomas Rhyner / Video: Philipp Haupt / Regieassistenz: Till Vonderlage / Produktionsleitung: Manuela Wießner

Die Schauspielerexistenz wird in der Überzahl von Ängsten vor prekären Lebensumständen und dem Traum vom Ruhm möglichst gleich auf der Ebene von Taylor Swift begleitet. Ohnmacht und Macht liegen in der Existenz von Schauspieler*innen oft haarscharf nebeneinander. Auf der Suche nach neuen Engagements kommen Kater, Kali und Fox auf ein Luxuskreuzfahrtschiff, eine Yacht auf dem Weg von Bali (!) nach Auckland. Doch sie kommen nicht weit. Während sie auf der mit abgestelltem Motor dümpelnden Yacht „unter dem Zitronenmond“ die Szene von Silvius (Kater) und Phoebe (Fox) aus Shakespeares As you like it/Wie es euch gefällt spielen, wird das Kreuzfahrtschiff von indonesischen Piraten gekapert und eine Lösegeldforderung von „fünfhundert Millionen Dollar“ gestellt. Bei allem Stabilitätstraining erweist sich der Luxus der Kreuzfahrt als schwankend für die Schauspielerexistenz.

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Worin die Macht des Schauspielers Kater genau besteht, der als Schäfer Silvius in einem Kostüm steckt, das mit Blumen, Weinreben und Trauben an den Rauschgott Dionysos erinnert, lässt sich schwer sagen. Ist es die Macht der „Samen“, die er auf das Deck wirft? Ist es die Macht der Worte, die Kali und Fox erzählerisch die Yacht in Bewegung setzen lassen, bis die Piraten fliehen? Es gibt nichts als die Erzählung vom Schiff im Präsens. Die macht Präsenz. Die Szene heißt Dionysos Calling. Die Symbole des Dionysos wie z.B. der Efeu, Hedera helix, der aus den Fugen kriecht, werden diskret genannt:
„Die Piraten gucken blöd, und dann sehen wir es alle. Die Planken verziehen sich, wölben sich, etwas fängt an aus dem Holz zu brechen, Triebe, Äste, Blätter schlagen aus, Efeu kriecht aus den Fugen, Wurzeln sprengen das Deck, überall breiten sich grüne Pflanzenarme aus. Das Schiff ächzt und regt sich –“

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In Dionysos Calling kommt die „Katermusik“ in ihrer Vielschichtigkeit als Soundtrack mit brechendem Holz etc., Trancemusik und Nietzsche-Zitaten zum Zuge. Vielleicht arbeitet der Soundtrack mit am dionysischen Zauber der Erzählung, die mit mythologischen Winks an der Halluzination arbeitet. „Baum auf Schiff – Soundtrack aus Geräuschen (Samenknistern, berstendes Holz), einem ravigen trancigen Track (für die kreisende Ekstase), Stimmaufnahmen mit Nietzsche-Texten zu Dionysos, am Ende Eskalation mit Orchesterclustern“, notiert Felix Huber zu Dionysos Calling. Die Gegenwart des „Boy-God“ Dionysos, wie Wystan Hugh Auden und Chester Kallman mit Hans Werner Henze als Komponisten, den Naturgott nannten[12], wird audio(visuell) erzeugt, weil wir alle dazu aufgerufen werden, was wir sehen sollen:
„KALI
Siehst du den Jüngling mit dem Weinlaub im Haar – siehst Du ihn? Umlagert von Tigern und Luchsen –

FOX
Ich seh ihn!
Den wehrlosen Knaben, dem nicht Fehde behagt,
das Haar mit Myrrhen gesalbt und weibisch bekränzt,“

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Hans-Jörg Frey, Nica Heru und Antonia Labs haben mit Brigitte Helbling und Niklaus Helbling sowie Swanhild Kruckelmann, aber auch mit Felix Huber und George & Paul (Bühne + Kostüme) einen fulminanten Theaterabend erarbeitet. Und was ist mit der Kunst des Betrugs? Das rote Buch des Katers, das von Niklaus Helbling angelegt wurde, spielt auch eine Rolle. Und dann wäre da noch die Frage der Selbstfiktion für die Schauspieler-Existenz. Schwester, Arzt sowie Schäfer Silvius und Schäferin Phoebe mögen Rollen sein. Bei Kater, Kali und Fox wird das schon schwieriger die Rolle des Schauspielers vom Schauspieler abzustreifen. Den Inhalt macht der Prozess mit seinen witzigen Winks.

Torsten Flüh

Mass & Fieber Ost
Kater der Zukunft
Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs
(Weitere Vorstellungen sind für 2025 geplant.)


[1] Siehe: Torsten Flüh: Dizzy, dizzy, dizzy. Huuuuu! Oder: Das Erbe der Menschheit. Antonia Labs und Johannes Geißer in Brigitte und Niklaus Helblings FALL OUT GIRL (16. November 2012)
und: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[2] Mass + Fieber/OST: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Zürich/Hamburg 2014, S.4. (Programmblatt)

[3] Brigitte Helbling: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Berlin: Rowohlt, 2024, 8. Szene: Love is a fever.

[4] Zum Queering des Dionysos-Mythos‘ siehe auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In. NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[5] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[6] Brigitte Helbling: Das Trio und die Utopie. In: Mass + Fieber/Ost: Kater… [wie Anm. 2] S. 15.

[7] Niklaus Helbling in: Ein Gespräch zwischen Regisseur Niklaus Helbling und Choreografin Swanhild Kruckelmann zum Probenprozess. In: Ebenda S. 7.

[8] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[9] Swanhild Kruckelmann: Ein … [wie Anm.7] S. 8.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Niklaus Helbling: Ein … Ebenda S. 13.

[1] Siehe: Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[2] Mass + Fieber/OST: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Zürich/Hamburg 2014, S.4. (Programmblatt)

[3] Brigitte Helbling: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Berlin: Rowohlt, 2024, 8. Szene: Love is a fever.

[4] Zum Queering des Dionysos-Mythos‘ siehe auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In. NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[5] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[6] Brigitte Helbling: Das Trio und die Utopie. In: Mass + Fieber/Ost: Kater… [wie Anm. 2] S. 15.

[7] Niklaus Helbling in: Ein Gespräch zwischen Regisseur Niklaus Helbling und Choreografin Swanhild Kruckelmann zum Probenprozess. In: Ebenda S. 7.

[8] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[9] Swanhild Kruckelmann: Ein … [wie Anm.7] S. 8.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Niklaus Helbling: Ein … Ebenda S. 13.

[12] Felix Huber: Einige Notizen zur Katermusik. In: Ebenda S. 18 Zu Auden, Kallman und Henze siehe: Torsten Flüh: Queering … [wie Anm.4]

Von der Poesie des Circus‘

Circus – Dokumentarfilm – Artisten

Von der Poesie des Circus‘

Zur Aufführung von Anna Peins und Claudia Reiches offenen C.R.I.C.U.S.F.I.L.M. im Hamburger Metropolis

Am Metropolis bin ich zu meinen Hamburger Zeiten bestimmt hunderte Male vorbeigegangen, weil es von der Dammtorstraße neben der imposanten Fassade der Staatsoper nur einen schmalen Eingang zu einem Hinterhof hatte. Unweit des Gänsemarktes, wo Lessing einst seine Hamburgische Dramaturgie schrieb und heute noch das neorokokoartige Denkmal für den Aufklärer-Dichter von Nathan der Weise (1779) steht, lag und liegt das Kommunale Kino der Hansestadt zentral. Das Metropolis als Kinosaal, früher unter dem Namen Filmtheater Dammtor aus den 50er Jahren, ging 1979 aus der Initiative einiger Filmemacher und Filmenthusiasten um Heiner Roß als Kommunales Kino hervor. Der Kinosaal im Untergeschoss wurde von der Initiative detaillegetreu in die 50er Jahre renoviert und neue Filmvorführgeräte wurden angeschafft.

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Martin Aust, Geschäftsführer und Programmverantwortlicher des Metropolis, stellte am 9. November persönlich den C.R.I.C.U.S.F.I.L.M. von Anna Pein und Claudia Reiche als ein einzigartiges und poetisches Filmdokument von 1988 vor. Im Film kommen eine Vielzahl von Fragen zum Medium als Dokument wie z.B. das historische Filmmaterial von VHS-Kameras, Schwarzweiß-Film-Fotografie und Tonspur zusammen. Doch die jungen Hamburger Filmstudentinnen stürzten sich furchtlos in das Abenteuer, den Circus Royal mit seinem Direktor Ewald Sperlich in seinem Winterlager aufzusuchen. Circus im Winterlager war das Gegenteil von Zirkus im Fernsehen mit Prominenten. Fasziniert und mit der Kamera forschend passierte den Filmerinnen eine Verwandlung, fortan wurde „Circus“ für sie zu einer Chiffre, die sie freundschaftlich teilten, aber weder erzählen noch zeigen wollten, wie Claudia Reiche in Erinnerung an Anna Pein zur Einführung mitteilte.

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Circus mit C haben Anna Pein[1] und Claudia Reiche als Schreibweise gewählt, weil das C die Form einer Manege hat, wenn man auf sie von oben blickt. Das C statt Z erinnert an den Blick der Artist*innen in der Zeltkuppel auf die Manege. Auf ihre Weise werden die Filmemacherinnen zu Artist*innen mit dem Medium VHS-Film. Im Unterschied zu Smartphone-Clips möglichst noch im LIVE-Modus auf TicToc oder Instagram etc. waren die Kameras und Videofilmkassetten Ende der 80er Jahre eine praktische Herausforderung. Zirkusfilme, Zirkusfilmserien und Zirkusshows zur Weihnachtszeit gaben die Formate für Erzählungen und Bilder vom Zirkus vor. Prägend war in Deutschland das Versprechen Menschen-Tiere-Sensation, das sich seit dem gleichnamigen Spielfilm von und mit Harry Piel aus dem Jahr 1938 ableitete. Bis 1997 fand in der Berliner Deutschlandhalle alljährlich eine Zirkusshow mit dem gleichen Titel statt. Seit 1999 läuft die „Circusschau“ als „M-T-S“ im Dezember als „Weihnachtscircus“ im Circus Berolina.[2]      

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Im visuell-narrativen Gedächtnis vom Zirkus der Bundesrepublik Deutschland wirkte in den 80er Jahren die Fernsehserie Salto Mortale – Die Geschichte einer Artistenfamilie von 1969 bis 1972 in der ARD nach.[3] Die griffige Titelformel Menschen-Tiere-Sensationen zerschellt am C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. der jungen Filmemacherinnen schon deshalb, weil die Sensationen visuell anders vermittelt werden. Die Menschen und Tiere werden ganz abgesehen vom matschigen Zeltplatz anders ins Bild gerückt. Das Netz der Circus-Familie wird nicht als dramatische Geschichte einer durch die Großstädte Europas von Hamburg bis Wien reisenden Artistenfamilie erzählt, vielmehr wird die nomadische Existenz des Circus‘ thematisiert. Der kleine Circus Royal zieht umher, nicht um an einem Ort anzukommen, vielmehr wird das Winterlager nur eine längere Unterbrechung seiner Bewegung im Raum.

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Die Visualisierungen vom Zirkus in seiner Existenz sind obwohl typisierend ambivalent. Die Figur des Clowns als Visualisierung des Zirkus‘ auf Plakaten ist selbst bei Berolinas M-T-S als ein Versprechen auf Spaß unerlässlich. Zugleich beherrscht die Figur des Clowns und des Zirkus‘ aktuell die Karikaturen zur Wiederwahl Donald Trumps als Präsidenten der USA und seines designierten Kabinetts.[4] Als ob es darum ginge, das Bild des Zirkus‘ und des führenden Clowns zu bestätigen, besuchte der gewählte Präsident eine zirkushafte Kampfsportveranstaltung im Madison Square Garden, um danach Fastfood im Privatjet zu verschlingen.[5] Mehr Zirkus-Klischee, als eine Wrestling-Show-Unternehmerin zur Bildungsministerin zu machen, geht eigentlich gar nicht, selbst wenn es Verbrecher als Tarnung benutzen. Das gerade wiederkehrende Bild vom Zirkus in Form der Wrestling-Show in den Mainstream-Medien gibt einen Wink auf die Abgründe des Zirkus-Narrativs bis hin zur Figur des Jokers in den Batman-Comics und -Filmen oder gar in Horrorfilmen wie Es (1990), Clown (2014) oder Terrifier III (2024).

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Die Figur des Artisten in der Circus-Kuppel erhält bei Anna Pein und Claudia Reiche eine überraschende filmische Umsetzung. Der geheimnisvollen Verwandlung der Royal-Familie um Ewald Sperlich und Nicki Heilig von Menschen im Winterlager in Artisten in der Circus-Kuppel ließe sich als das Hauptthema des Films formulieren. Denn sie lässt sich in ihrer Faszination nur mit den visuellen Konventionen von Spiel-, Fernsehfilm oder Fernsehzirkus verraten. Im Film und in der medial-gesellschaftlichen Wahrnehmung wendet Reiche im Schnitt ein geradezu artistisches Verfahren an. Sie nimmt ein Foto vom Artisten in der Circus-Kuppel und dreht das Foto wie einen, sagen wir, Salto mortale. Mit diesem Verfahren wird die vorherrschende Sichtbarkeit in den Medien durchbrochen. Mit Jacques Rancières Aisthesis, in dem es ihm mit „14 Szenen“ oder „Scènes du régime esthétique de l’art“[6] um gesellschaftliche Umbrüche durch ästhetische Inventionen geht, gesagt, wird das artistische Foto zum gesellschaftlichen Augenblick: der Dreh respektiert das Faszinosum gegen dessen visuelle Ausbeutung. – Der Clown ist im C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. keine Hauptfigur. Sie erscheint eher an den Rändern.  

© Claudia Reiche

Die ambige Figur des Clowns hat heutzutage die der Artisten oder „Stuntman Clowns“ verdrängt.[7] Die visuelle Verschiebung des Zirkus generiert sich an Rancière andockend aus ästhetischen Praktiken. Ein poetischer Artist, der in der Zirkuskuppel unter Einsatz seines Lebens – Salto mortale – Gesetze der Schwerkraft neu praktiziert, um sie mit Geschick außer Kraft zu setzen, ist Donald Trump nie gewesen. In der Figur des Clowns mit den Täuschungs- und Betrugspraktiken der Wrestling-Show und -Scripts, wohl auch bestimmter Kampfsportveranstaltungen als populäres Narrativ, entscheiden heute Wrestling-Managerinnen, Machtkalkül und Manipulationen statt ein poetischer Aufschwung. In der französischen Netflix-Serie Der Käfig (La Cage) wird derzeit die Karriere des jungen Mixed Martial Arts-Kämpfers Taylor (Melvin Boomer) als Erfolgsgeschichte zum Profisportler erzählt. Er kämpft sich gegen Widerstände z.B. von bösen, clownartigen Figuren durch, während im Madison Square Garden für Trump und Musk das abgekartete Spiel von vornherein entschieden war. Die Figur des Clowns legitimiert Rechtsbrüche, die 1988 noch undenkbar waren.

© Claudia Reiche

Jeder mediale Wechsel beispielsweise zu VHS und deren Handhabung in einem Misslingen generiert eine „ästhetische Revolution“, die eine „gesellschaftliche Revolution“ nach sich zieht. Nach Rancière habe die gesellschaftliche Revolution die ästhetische „nur verleugnen können, indem sie den strategischen Willen, der seine Welt verloren hatte, in eine Polizei der Ausnahme verwandelte“.[8] Die Ästhetik des Tramp im Amerikanischen bzw. Charlot im Französischen ist der des Clowns verwandt und wird durch ihre Handlungen in The Circus (1928) wie an der Maschine in Modern Times (1936) zu einer gesellschaftlichen Revolution. In Charlie Chaplins Figur des „Charlot“, eines komischen Vogels, kommen Maschine und Misserfolg zusammen:
„Die Maschine bewirkt Kunst, sofern ihre Erfolge und die ihrer Benutzer ebenso auch Misserfolge sind und ihre Funktionalität sich ständig gegen sie selbst wendet. Auf den Zeichnungen, die Warwara Stepanowa für die Sonderausgabe der Zeitschrift Kino-fot anfertigt, verwandelt sich ein ungeschickter Charlot, der auf den Rücken fällt, in eine Flugzeugschraube und schließlich in einen Mechaniker. Der Text von Alexander Rodtschenko, dem Ehemann der Zeichnerin, erhebt den Clown mit den Automatengesten in den Rang der Helden der neuen mechanischen Welt, zwischen Lenin und Edison.“[9]

© Claudia Reiche

Die Maschine in Form der VHS-Kamera bewirkt im C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. eine poetische Kunst des sichtbar Unsichtbaren zwischen den Bildern. Anna Pein und Claudia Reiche forschten mit den Kameras der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg[10] nach den Rändern dessen, was im Zirkusnarrativ und den visuellen Medien nicht vorkam und -kommt. Sie führten Interviews mit der Royal-Familie, fragten, wie nomadisch lebende Zirkuskinder in die Schule gehen, wenn sie nur für ein oder zwei Wochen an einem Ort bleiben. Sie ließen die Mitglieder der Familie wie Nicki Heilig immer wieder einzeln vor dem Circus-Zelt agieren. Zu sehen sind die Artist*innen, wie sie in ihren Kostümen durch einen Schlitz im Zelt verschwinden. Der Circus in der Manege wird ausgespart, was einerseits mit den Kameras und der sich gegen ihre Funktionalität wendende Bild- und Ton-Qualität zu tun hatte, andererseits soziale Geflecht aus Körperdarstellung, erotischen Versprechen, Kunststücken, Tieren wie dem Elefanten und den Circus-Kindern etc. bedachte. Jenseits der Sensationen ist der nomadische Circus bis heute harte, schlecht bezahlte Arbeit an den Rändern der Gesellschaft.

© Claudia Reiche

Filme entstehen nicht aus der Bewegung der Bilder, vielmehr durch Schnitte. Der Schnitt wird von den meisten Betrachter*innen nicht gesehen. Er entscheidet alles. Claudia Reiche hat wiederholt und lange am Schnitt ihres Films gearbeitet. Wie den Film vom Circus schneiden? Aus dem Bildmaterial mit seinen Mängeln entsteht durch die aufeinanderfolgenden Schnitte eine Syntax. Jeder Schnitt eine Entscheidung, was folgen soll. Heute gibt es digitale Schnittprogramme. 1988 war der Schnitt im VHS-Format auch eine Frage des Verlusts. Jederzeit konnte sich die Funktionalität des Formats gegen den Wunsch nach dem Film wenden. Andererseits erlaubte das Format VHS allererst die kostengünstige Produktion von viel Bildmaterial, um es danach zu schneiden. Das Dilemma von Bildmaterial und Schnitt, auch der Rhythmus der Schnitte war eine Herausforderung die jungen Filmemacherinnen. Die Antwort eines Passanten, dass er Zirkus nur im Fernsehen sehe, wird auf das Winterlager geschnitten.

© Claudia Reiche

Es ließen sich die Schnitte des C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. in ihrer visuellen Vielfalt und Schnitt-Rhetorik genauer analysieren. Denn mit ihnen kommen all jene Fragen wie Tiere im Zirkus zum Zuge, die zwischenzeitlich in größeren Debatten verhandelt worden sind. Ist der Zirkus tiergerecht? Wie müssen Tiere im Zirkus gehalten werden? Im Winterlager 1988 sind die Menschen und Tiere keine Sensationen, sondern krank. Nicht zuletzt beschäftigte die Frage der Herkunft der Zirkusmenschen die Filmemacher*innen. Einerseits wurden sie sehr offen als Begleiterinnen aufgenommen, andererseits gehörten sie nicht zur Royal-Familie. Die deutschen Namen Sperlich und Heilig verraten wenig über die Herkunft. Doch der nomadische Circus war immer auch eine Existenzform für Roma in Deutschland. Wie viel sollte im Film von der Herkunft sichtbar werden? In der Diskussion mit dem Publikum nach der Vorführung kam punktgenau die Frage der Herkunft zur Sprache. Die nomadische Circus-Existenz wird selbst im Kommunalen Kino Metropolis 2024 noch in ethnischen Abgrenzungen zu fassen begehrt!  

© (Claudia Reiche)

Auf der Schwelle zur in den 80er Jahren diskutierten Digitalisierung der Bildmedien bot das analoge VHS-Format erste erweiterte Möglichkeiten. Das Video Home System (VHS) war ein analoges Aufzeichnungsverfahren auf Magnetbändern in Kassetten von unterschiedlicher Länge bis zu 10 Stunden. Einerseits waren VHS-Kameras bzw. der Camcorder seit 1976 eine erhebliche Popularisierung des Filmens, weil sie günstiger als Schmalfilmkameras mit kurzen Filmrollen waren und mit dem Namen Video ein neues Sehen für jeden versprach. Mit der Tonspur waren sie eine erhebliche Weiterentwicklung zum Schmalfilm. Andererseits war das Schneiden der Magnetbänder war aufwendig. Das große Versprechen von VHS vom Leben, vom Urlaub, von der Familienfeier, vom Zirkus endlich einen Tonfilm machen zu können, stieß bestimmt hunderte Millionenfach an seine Grenzen. Pein und Reiche machten daraus Poesie.

© Claudia Reiche

Zusätzlich zum VHS-Videomaterial fotografierte Claudia Reiche mit einer Spiegelreflexkamera in analogem Schwarz-Weiß-Film den Circus und die Circusmenschen. Einen New Circus gab es noch nicht einmal in Ansätzen.[11] Im Unterschied zu der filmischen Fotosequenzen mit Nicki Heilig, der nicht nur eine Pistole ausprobiert und schließlich der Elefantenrüssel ins Bild drängt, sind die VHS-Materialien unscharf und stark verblasst über die Jahre. VHS hatte eine mangelhaftes Farbspektrum, das sich durch Streifen und andere Bildstörungen zwischenzeitlich fast aufgelöst hat. Dennoch gibt es den einzigartigen C.I.R.C.U.S.F.I.L.M., der mit seiner Frage der Sichtbarkeit nicht nur den Film vom Zirkus revolutioniert hat, vielmehr eine gesellschaftliche Revolution in der Sichtbarkeit von Circus mit eingeleitet hat.

© Claudia Reiche

Torsten Flüh

C.I.R.C.U.S.F.I.L.M.
D 1988, 42 min
Regie, Kamera, Ton, Schnitt: Anna Pein, Claudia Reiche
mit: Circus Royal (Direktor: Ewald Sperlich), Verwandten, Gästen, Mitreisenden


[1] Zu Anna Pein siehe auch: Torsten Flüh: „Im Moment höre ich Hörfunk…“ Zu Anna Peins Hörspiel Liebesbriefe ans Personal (2013) bei der Hans Flesch Gesellschaft im La bohème. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juni 2024.

[2] Menschen-Tiere-Sensation: M-T-S.

[3] Wikipedia: Salto Mortale (Fernsehserie).

[4] Beispielsweise: Süddeutsche Zeitung: „Clown“: Robert De Niro kritisiert erneut Trump. 29. Mai 2024, 10:18 Uhr.
Claudia Reiche hat 2017 für CulturMag als Reaktion auf Trumps 1. Präsidentschaft einen Text zum Clown geschrieben: Claudia Reiche: FUNNYSORRYANGRYANONYMOUS. Clowns Variante eines Manifests. CulturMag 2. April 2017.

[5] Deutschlandfunk: Trump und Musk bei Kampfsport-Spektakel in New York. 18.11.2024.

[6] Jacques Rancière: Aisthesis. 14 Szenen. Wien: Passagen, 2013.

[7] Ebenda S. 113.

[8] Ebenda S. 21.

[9] Ebenda S. 257.

[10] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[11] Zum New Circus vor allem ohne Tiere siehe z.B.: Torsten Flüh: Verliebt ins Display. Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2023.

Aufklärung als Wissensprojekt und die Erfindung des Labors

Labor – Aufklärung – Wissenschaft

Aufklärung als Wissenschaftsprojekt und die Erfindung des Labors

Zur allzu didaktischen Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum

Das nackte Auge aus einem Behältnis mit einem halbkugelförmigen Deckel, das um 1700 in Nürnberg als ebenso kunstvolle Handwerksarbeit wie kenntnisreich medizinischem Wissen über das menschliche Organ hergestellt wurde, ziert das Plakat zur Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert, die bis 6. April 2025 gezeigt wird. Liliane Weissberg hat die Ausstellung kuratiert und die „Grundthese der Ausstellung“ formuliert, dass es keine simple Antwort auf die Frage gebe, „sondern Probleme, die gezeigt werden,“ wichtig seien. Dafür wird die Ausstellung in 9 Abschnitte wie „Suche nach Wissen und der neuen Wissenschaft“, „Ordnung der Welt“, „Staatskunst und politische Freiheit“ und „Die Lehren der Antike“ sequenziert. Ausstellungen leben weniger von Texten als von faszinierenden Objekten.

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Das Auge des Nürnberger Drechslers und Handwerkskünstlers Stephan Zick fasziniert als Ausstellungsobjekt ebenso wie eine Große Scheiben-Elektrisiermaschine aus dem Besitz Goethes. Auf der aufgeschlagenen ersten Seite der Berlinischen Monatsschrift der Dezemberausgabe von 1784 beantwortet Immanuel Kant wortgewandt die vom Verleger gestellte Frage „Was ist Aufklärung?“. Doch statt an Antworten knüpft die Ausstellung stärker an den Modus der Frage an. Sie lässt die Besucher*innen über die vielfältigen und faszinierenden Objekte vom Dornhai-Präparat in Alkohol bis zu Stühlen aus Goethes Haus am Frauenplan als Inszenierung eines Salons stolpern. Die entscheidende Transformation des Labors als Raum zur Wissensgenerierung mit z.B. Elektrisiermaschine oder Messgeräten wird konzeptuell kaum beachtet.

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Im Zuge der Aufklärung und Kants formelhaft-vielversprechender Beantwortung der Frage – „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ – werden eine Vielzahl von Apparaten wie Goethes Elektrisiermaschine, „Weltmaschinen“, wie Goethe sie aus dem Laboratorium des Herzogs Ernst II. von Gotha[1] kannte, oder Luftpumpen[2] entwickelt. Goethe hat mehrere Elektrisiermaschinen angeschafft[3], die ihn faszinierten und zu Experimenten angeregten. Doch die Elektrisiermaschine in der Ausstellung wird bis auf den Hinweis, dass Goethe sie gesammelt und z.B. eine Farbenlehre als wissenschaftliches Projekt betrieben habe, wenig kontextualisiert. Unterschlagen wird geradezu, dass Goethe Wolken interessierten und Meteorologie auf dem Ettersberg mit einer Wetterstation betrieben hat.[4] Im Katalog zur Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert fehlt die Elektrisiermaschine. Während gerade Goethe lange Zeit als sogenanntes „Universalgenie“[5] galt und damit das Projekt Aufklärung für einen germanistischen Horizont verkörperte, bleibt er in der Ausstellung mit der blitzenden und spiegelnden Maschine im Stillstand konturlos.

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Die Besucher*innen der Ausstellung über 2 Etagen im Pei-Bau des DHM können fasziniert und befriedigt an der in den Scheinwerfern blinkenden Elektrisiermaschine vorübergehen. Ah, Goethe! Ah, Wissenschaft! Ja, ja, Aufklärung! Und so setzt sich der Parcours über eine „Robe à la française mit Ballonmotiven, vermutlich Frankreich, ca. 1783“, „Geisblatt mit Granatrother Blume aus der Schildbach’schen Xylothek (Holzbibliothek), Kassel, 1780–1800“ und „Figurengruppe Friedrich II. und Voltaire, Volkstedt, nach 1767“, durchkalkulierten Lagerungsplänen von liegenden Sklaven auf Sklavenhandelsschiffen, „Steinschlossgewehr“, „172 Kaurischnecken“ und „Beineisen von Versklavten“ aus dem Ethnologischen Museum Berlin bis zum großformatigen Ölgemälde Jupiter und Ganymed von Johann Joachim Winckelmanns Malerfreund Anton Raphael Mengs aus Privatbesitzt fort. Aufklärung in ihrer widersprüchlichen Vielfalt.

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Die Ausstellung feiert mit ihrem Titel nicht zuletzt Immanuel Kant als Aufklärer im Kant-Jahr zu seinem 300. Geburtstag. Große Debatten zu Kant sind eher ausgeblieben. Wenig Nachdenkliches hallt nach dem 22. April 2024 durch das Feuilleton. Fast schon selbstverständlich wird im Abschnitt 8 zur „Gleichheit des Menschen“ der blinde Fleck des von Bristol aus blühenden Sklavenhandels im 18. Jahrhundert mit einer widerlichen Fußangel für einen Sklaven auf einem Schiff, soll man sagen, repräsentiert? 2021 war im Vorfeld zum Kant-Jahr des Philosophen Begriff von „Menschenrace“ kontrovers diskutiert worden.[6] Insbesondere im Kontext vom „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und europäischem Sklavenhandel wird die große Geste der Befreiung prekär. Die Mündigkeit wurde den Menschen aus Afrika als Ware abgesprochen. Aus Afrika verschleppte Menschen ohne ein Recht auf Mündigkeit waren materielles Eigentum europäischer Herren, Kaufleute.

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Im reich bebilderten Katalog zur Ausstellung wird zwar viel über Kant geschrieben. Doch die Frage zum Begriff der „Menschenrace“ in der Königsberger Schreibstube wird nicht näher erörtert. Gunnar Hindrichs schreibt, dass Kant einen Imperativ formuliert habe. „»Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Sapere aude! – »Wag zu wissen!« ist der Imperativ, alle inneren und äußeren Verhältnisse der Entmündigung umzuwälzen.“[7] Doch um welches Wissen geht es hier? Hindrichs nimmt mit dem Imperativ „»Wag zu wissen!«“ eine leichte Verschiebung vor. Denn die geläufige Übersetzung mit „Wage weise zu sein“ für das mehrdeutige Verb sapere gibt einen Wink auf ein länger zusammengetragenes Erfahrungswissen als auf ein eher mathematisch schließendes Verstandeswissen. Das Wissen des sapere für „schmecken“, „riechen“(!), „merken“ und erst metonymisch verstehen bringt stärker das Sinnliche des Verstehens in Spiel, von dem es bei Kant mit akademischer Geste gereinigt wird.[8] Wissen und Wissenschaft oszillieren in den Wissenspraktiken der Aufklärung.

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Obwohl Immanuel Kant 1784 vom rassistisch legitimierten Sklavenhandel in der Hauptstadt des Herzogtums Preußen wie seit 1701 Krönungsort der Preußischen Könige, seit 1544 nach der Philipps-Universität in Marburg 1727 zweiten lutherischen Universitätsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und seit der Zeit der Hanse herausragenden Handelsstadt Königsberg gehört und gelesen haben dürfte, bleibt die „Menschenrace“ ein blinder Fleck. Freilich wurde Königsberg schon im 18. Jahrhundert als Universitätsstandort und Hauptstadt des Herzogtums Preußens marginalisiert, weil in Berlin und eben nicht in Königsberg bahnbrechende Medien, d.h. Zeitschriften- und Buchverlage entstanden. Der verlegerische „Werbeerfolg“ (Liliane Weissberg)[9] mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ war von dem lutherischen Pfarrer an der Hauptkirche St. Nikolai Johann Friedrich Zöllner im Dezember 1783 ins Komische gezogen worden. Die mit verlegerischem Gespür formulierte Frage stieß vor allem in den Debattenräumen von Berlin und dann bei Kant in Königsberg eine rege Schreibtätigkeit an. Königsberg als bürgerliche Universitätsstadt nahm an der Debatte teil, weil, was selbst von den Ausstellungsmacher*innen wenig berücksichtigt wird, es mit seiner Universität und Philosophie-Professor Immanuel Kant zum bürgerlichen Debattenraum gehörte. In Berlin wurde die Universität erst 1809 gegründet. Schon 1787 war Kant in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden.

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Immanuel Kant formuliert die Menschenwürde nicht so formelhaft wie es beispielsweise die Bundeszentrale für Politische Bildung es gern hätte[10], vielmehr wird der Kategorische Imperativ, kurz KI(!)[11], in den Grundlagen zur Metaphaysik der Sitten (1785) von Kant für die Prinzipien der Freiheit die „Idee der Würde eines vernünftigen Menschen“(!) vor einem mathematisch-kaufmännischen Hintergrund von Äquivalenz formuliert: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder einen Wert. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“[12] Würde hat im Unterschied zur Ware keinen Äquivalent. Sie ist unvergleichlich und unveräußerlich. Doch gerade die Begriffsformulierung der „Würde eines vernünftigen Menschen“ im System Kant zeitigt an anderer Stelle Widerspruch. Urvashi Chakravarty geht im Essay Aufklärung und Rassismus stärker auf dessen „spannungsgeladene(s) Verhältnis“ ein:
„Einerseits ist das der Aufklärung nachgesagte Bekenntnis zu Freiheit und Autonomie ein zentraler Bezugspunkt in der Geschichte des Denkens; andererseits ist die Epoche der Aufklärung auch die Zeit, in der die Sklaverei massiv zunimmt, sich rassistische Hierarchien festigen und Racial Capitalism als ein System entsteht, das bis in unsere Gegenwart fortwirkt.“[13]

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Die Emphase über die neuen Funktionen von Vernunft und Verstand für die Freiheit generiert zugleich Schattenseiten. Kants Wortwahl von „Zweck“ und „Preis“ aus dem bürgerlichen Handel, in dem alles seinen „Preis“ hat und ein „Äquivalent“ gefunden werden kann, bekommt mit der „Würde“ eine preislose Ausnahme, wodurch die Menschenwürde den Prinzipien nicht nur des Handels, vielmehr noch des Kapitalismus im System Kant entzogen wird.  Praktisch geschieht allerdings mit dem Racial Capitalism genau das Gegenteil. Aufklärung bei Kant, so ließe sich formulieren, schließt im Namen einer „Metaphysik“ aus, was an anderer Stelle permanent wiederkehrt. Im Eingangsbereich der Ausstellung wird dies mit der Wissenschaftsinszenierung des Bildes Ein Philosoph hält einen Vortrag über das Tellurium aus dem Jahr 1768 von William Pether nach Joseph Wright of Derby erahnbar, wenn dazu seitlich etwa Francisco de Goyas El sueño de la razón produce monstruos (1799; Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer) oder Johann Heinrich Füssli Der Nachtmahr (1795) projiziert werden.

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Harmut Böhme hatte bereits in seiner Mosse-Lecture auf den Schlaf und Traum als Gegenbewegung zur Vernunft (la razón) hingewiesen.[14] Weit weniger als in einer philosophisch-historischen Begründung von nicht zuletzt kaufmännischem Vernunftwissen lassen sich die Wissensformen der Aufklärung vereinheitlichen, obwohl sich die mathematische Methode durchsetzen sollte. Chrétien Frédéric Guillaume Roths „Wissensbaum“ von 1769 der im Ergänzungsband zu Band 1 der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert veröffentlicht wurde, gibt nach Silke Förschler und Nina Hahne „Auskunft über das Methodenwissen der Aufklärung“.[15] Doch dieses wird von Ulrich Johannes Schneider in seinem Katalogaufsatz Wissen fördern, Wissen ordnen nicht berücksichtigt, obwohl Roths „Wissensbaum“ abgedruckt wird.[16] Einerseits sehen dagegen die Autorinnen in der „Anordnung der Wissensgebiete“ eine „natürliche“ Repräsentation, die aber nicht als „statisch“ dargestellt wird. Andererseits stellt „der Wissensbaum als genealogisches Ordnungsmuster … die Hierarchie im Prozess der Vermittlung von Wissensfelder … durch seinen ästhetischen Eigenwert selbst in Frage“.[17]

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Das Methodenwissen geht einher mit einem „Methodenbewusstsein der Aufklärung“, „das die ganze Spannbreite von heteronom angelegten didaktischen Konzepten der Wissensvermittlung und autonomeren ästhetischen Verfahrensweisen der Erkenntnisgenerierung umfasst“.[18] An dieser Stelle kommt J. W. Goethe ins Spiel, wie er in der Ausstellung nicht vorkommt. Denn Goethe formuliert sein Wissen nicht in philosophischen Begriffstexten wie Kant, vielmehr schreibt er es in einer Bandbreite literarischer Formen von der „Nachtszene“ im Urfaust um 1774 „(i)n einem hochgewölbten engen gothischen Zimmer“[19], das man schon Labor nennen könnte, über die 676 Xenien mit Schiller[20] bis zu Maximen und Reflexionen postum 1833, in denen „Sprüche … aus fünf Dezennien“[21] postum kompiliert wurden. Seine Bibliothek umfasst noch heute mit 1.140 Titeln zu den Naturwissenschaften den größten Teilbereich.[22] Obwohl Goethe z.B. mit der Großen Scheiben-Elektrisiermaschine selbst experimentieren wollte und er in zahlreichen literarischen Genres sein Wissen durch Anschauung formulierte, gibt die Bibliothek einen Wink auf seine Wissensakkumulation durch Bücher!

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Um kurz bei Kant und den Büchern zu bleiben: Goethes und Schillers Xenien als Hauptteil des Musenalmanachs von 1797 können als Kritik an kursierenden Texten in Zeitschriften und Büchern von z.B. von Matthias Claudius – „18. Erreurs et verité.“ – über Immanuel Kant – „63. An Kant.“ – und – „385. David Hume“ – wie der ziemlich despektierlichen Wissenschaft – „62. Wissenschaft.“ – in aphoristischer Form gelesen werden.[23] Die Kritik hat aus der knappen zweizeiligen und pointierten Form heraus einen ebenso zeitlich aktuellen wie räumlich bibliothekarischen Modus, wenn Claudius und Kant ebenso wie Hume aufgegriffen werden. Die Kant-Kritik zielt auf den bürgerlich-mathematischen Diskurs, wenn von Goethe und/oder Schiller mit „Rotüre“ der französische Begriff für „Bürgerpack“ gebraucht wird: „Vornehm nennst du den Ton der neuen Propheten? Ganz richtig,/Vornehm philosophiert heißt wie Rotüre gedacht.“ Sie hatten daher Kants Anknüpfung an die Bürger- und Kaufleute durchaus gelesen. Die „Wissenschaft“ wird in der vorausgegangen Xenie als Broterwerb kritisiert: „Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern/Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.“ Was sich im Modus der Xenien schreiben lässt, kritisiert die Begriffsarchitektur Kants in mehreren aufeinander folgenden Kritik-Büchern, Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790).

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Die Kritik wird zur Frage einer elastischen Ironie durch die Xenien, indem „An Kant“ die „Rotüre“ adressiert wird. Denn der vornehme Ton des Philosophierens, der dem Adel zugerechnet wurde, wird nun dem „Nichtadel“ bzw. abwertend dem „Bürgerpack“ zugestanden. Damit verändert sich der vornehme Ton des Philosophierens zwar abwertend, aber zugleich in politischer Hinsicht demokratisierend. Die Formulierungen der Xenien bleiben mehrdeutig. Auf diese Weise werden sie zu einem Gegenentwurf zur Begriffsliteratur Kants. Sie bringen die Begriffe und das Wissen als mehrdeutige Formulierung ins Schwanken. So auch mit der „Preisfrage der Academie nützl. Wissenschaften.“, die ironisch in eine orthografische Frage verkehrt wird: „Wie auf dem Ü. fortan der theure Schnörkel zu sparen?/Auf die Antwort sind dreißig Dukaten gesetzt.“ Goethe und Schiller geraten in eine bissige Formulierungskunst, wenn die Lateingelehrten mit der „Rechtsfrage.“ eine ironische Kritik an Kants »Sapere aude!« über das „Riechen“ schreiben: „Jahre lang schon bedien ich mich meiner Nase zum Riechen,/Hab ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?“ Denn schon in der vorausgegangenen Xenie zu David Hume wird vor Kant gewarnt: „Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret“.  

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Während Kant in den Xenien 1797 zu einem wichtigen Adressaten wird, formuliert Goethe spätestens seit 1809 mit „Aus Ottiliens Tagebuch“ in den „Wahlverwandtschaften“ wie „längere Prosatexte oder Briefe“ Passagen, die als Sprüche gesammelt, zunächst 1823 als Älteres, beinahe veraltetes und schließlich in Maximen und Reflexionen[24] als Wissens- wie Wissenschaftsprobleme veröffentlicht werden. In Älteres, beinahe veraltetes wie auch in Maximen und Reflexionen macht Goethe „das Problematische“ zum Leitfaden seiner Wissenschaft. Denn es gehe darum „alles zu beachten, was irgend auf eine Art zur Sprache kommt, am meisten dasjenige was uns widerstrebt: denn dadurch wird man am ersten das Problematische gewahr, welches zwar in den Gegenständen selbst, mehr aber noch in den Menschen liegt“.[25] Was „zur Sprache kommt“ und gebracht worden ist, lässt sich im Laboratorium der Sprache für den Büchersammler, Leser und so gebildeten Dichter mit anderen Formen formulieren. Dennoch geht es ihm durch Anschauung darum, dass „das Problematische gewahr“ wird. Wie sieht Goethes Labor nun aus? Wie richtete er es sich ein?

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1790 erscheint in Jena Johann Friedrich August Göttlings Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen, das als Laborbeschreibung in Goethes Bibliothek gelangt.[26] Einerseits gehört die Universität Jena mit dem außerordentlichen Professor für Philosophie und seinem Lehrauftrag für Chemie Göttling zu Goethes Wissenschaftsumfeld, sodass auch denkbar wäre, dass Göttling ihm das Buch überreicht oder zugesandt hatte, andererseits wird das Handbuch an eine breite Leserschaft adressiert, die nicht aus Chemikern besteht, bei denen er aber „etwas Chemie voraussetzen kann“[27]. Das „Probir-Cabinet“ beschreibt ein Labor für „Untersuchungen auf dem nassen Wege“ in einer Phase, in der sich der Begriff Labor im Gebrauch seit 1600 noch nicht durchgesetzt hat. Er kursiert erst seit 1900 in einer hohen Gebrauchsfrequenz. Im Zeitraum von 1790-1799 wird er exakt einmal nachgewiesen.[28] Das richtige Labor nach dem Philosophieprofessor Göttling ist für die „Wiederholung dieser Versuche“ angelegt, die richtige Erscheinungen generieren:
„Es kann sich also jeder durch die Wiederholung dieser Versuche, durch die im Cabinette befindlichen Mittel, sogleich von der Richtigkeit der Erscheinungen überzeugen, den Erfolg davon zugleich auf die Untersuchungen der Körper anwenden, und sie auch bey vorfallenden Untersuchungen gleichsam als Probe gebrauchen.“ (S. V-IV)   

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Das Labor wird mit dieser Beschreibung vor allem auf den Modus der „Wiederholung“ und der Wiederholbarkeit ausgerichtet. Es geht mit dem Laborhandbuch vor allem um die Wiederholung und Überprüfbarkeit durch „Erscheinungen“ als Einübung einer wissenschaftlichen Methode für weitere „Untersuchungen“. Deshalb schreibt Göttling von einem „Probir-Cabinett“, in dem das Probieren Erfahrungswissen generieren soll. Die „Probe“ als Praxis der Wiederholung in einem abgesteckten Rahmen oder Raum wird zwischen 1790 und 1799 dreihundertsechsundneunzigmal so häufig wie Labor gebraucht.[29] Das methodische Erfahrungswissen wird durch wiederholte Anschauung generiert. Anders mit Foucault gesagt: Es wird ein Blick trainiert. Göttling kommt es auf die richtigen „Probirmittel“ an, um Fehlerquellen zu vermeiden. (S.VIII) Das Labor als Raum der Wiederholung wird nicht zuletzt bei Goethe zum Wissensort und in der der Chemie verwandten „Farbenlehre“ als Gegenargumentation zu Isaac Newtons „Brechnungsgesetz“[30] in Stellung gebracht.

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Während Newton ein streng mathematisches „Brechnungsgesetz“ formuliert, setzt Goethe ihm eine „Bilderpolemik“[31] als Anschauung entgegen. Denn die chemischen Aquarellfarben und das Schwarz der Aquatinta[32] als chemisches Ätzverfahren sollen allererst in Tafeln zur Farbenlehre durch Anschauung Newtons Gesetz widerlegen. „Während die bunten Farben des gebrochenen Lichts in Aquarellfarben aufgetragen sind, ist das Schwarz des Schattens in Aquatinta gedruckt und das Weiß des Lichts ist die Farbe des Papiers der Tafel.“[33] Im Unterschied zu Newtons rein geometrischer Illustration seines „Brechungsgesetzes“ als Kupferstich verwendet Goethe mit den Aquarellfarben und der Aquatinta neue chemische Verfahren, um das Gesetz zu widerlegen. Die farbigen Tafeln werden auf diese Weise zum Labor, an dem der Blick des Gesetzes bricht, und Goethe mit seinen Mitteln eine Ganzheit aus Anschauung behaupten kann. Die „Farbenlehre“ kursiert nicht zuletzt in Waldorfschulen weiterhin als Lehrinhalt.[34]

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Die Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ mit ihren prominenten Kurator*innen und Kooperationspartner*innen eröffnet vielfältige Fragen an den seit dem 18. Jahrhundert bahnbrechenden Begriff, der weiterhin als diffuses Wissen in der Öffentlichkeit und den Medien kursiert. Für den Artikel 1 des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit der Grundlage der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist die Aufklärung nach Immanuel Kant in ihrer Ambivalenz weiterhin verbindlich, was leider in der Ausstellung nicht erwähnt wird. Das wäre ein starker Einstieg gewesen gerade in Zeiten menschenverachtender Hassreden in digitalen Medien und des neuen, widergängerischen Präsidenten, der Enlightment höchstens mit FOX-News und Scheinwerfern unterkomplex in Verbindung bringen kann. Die weithin verbindlichen Werte der Aufklärung/Enlightment, die nicht zuletzt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hervorgebracht haben, werden von Vladimir Putin, Benjamin Netanjahu, Donald Trump und dem Regime in Teheran etc. konkret missachtet, verhöhnt und für Null und Nichtig erklärt. Weil sich die Ausstellung zu sehr in ihren Ausstellungsobjekten verliert und Fragen als Probleme nicht ernst nimmt, sollte man sie sich anschauen, aber keine Genauigkeit erwarten.

Torsten Flüh         

Was ist Aufklärung?
Fragen an das 18. Jahrhundert
bis 6. April 2025
Mo-So 10-18 Uhr
Geschlossen 24.12.2024
Deutsches Historisches Museum
Pei-Bau
Hinter dem Gießhaus 3
101177 Berlin
Barrierefreier Zugang

Was ist Ausstellung?
Fragen an das 18. Jahrhundert

Hg. Raphael Gross, Liliane Weissberg für das Deutsche Historische Museum
Beiträge von H. Böhme, H. Bredekamp, U. Chakravarty, R. Chartier, P. Cheek, R. Darnton, E. Décultot, P. Franks, D. Fulda, V. Gerhardt, P. E. Gordon, P. Guyer, J. Habermas, M. Hagner, G. Hindrichs, J. Israel, M. Jacob, A. Lilti, P. Maciejko, M. Mulsow, A. Norton, K. Ospovat, E. Rothschild, U. J. Schneider, M. Suarez, A. Sutcliffe
336 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe
17 x 24 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4413-0
€ 39,90


[1] Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München: Callwey, 1992, S. 69.

[2] Ebenda z.B. S. 139.

[3] Ebenda S. 17 und S. 115.

[4] Siehe Torsten Flüh: „Atlantik-Bläser“ und „Schneewirbel“. Marianne Schuller und Michael Gamper in der Ringvorlesung Source Code der Technischen Universität Berlin In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2012.

[5] So noch Romy König: Getrieben von Neugier und der Lust am Leben. In: Goethe Institut Australien Januar 2021.

[6] Siehe Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[7] Gunnar Hindrichs: Der lange Marsch zur Mündigkeit. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert. München: Hirmer, 2024, S. 59.

[8] Siehe Wikipedia: Sapere aude!

[9] Liliane Weissberg: Fragen stellen. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 13.

[10] „Jeder Mensch ist deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Darum sagt Kant: Alles hat einen Wert, der Mensch aber hat eine Würde.“ Zitiert nach Bundeszentral für Politische Bildung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 03.09.2020.

[11] Stefan Martini: Die Formulierung der Menschenwürde bei Immanuel Kant und die „Objektformel“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Rechtswissenschaften Humboldt Universität zu Berlin ohne Jahr (nach 2005)

10  Hervorhebung durch Fettdruck im Original. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga, 1785, S. 60

[13] Urvashi Chakravarty: Aufklärung und Rassismus. In: Ebenda S. 241.

[14] Siehe Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[15] Silke Förschler, Nina Hahne: Das Methodenwissen der Aufklärung. In: dies. (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und der Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2013. S. 7.

[16] Ulrich Johannes Schneider: Wissen fördern, Wissen ordnen. In: Raphael Gross, Liliane Weissberg (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 108.

16 Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 10.

[18] Ebenda.

[19] Johann Wolfgang Goethe:  Faust (Urfaust). In: Bibliotheca Augustana der Universität Augsburg.

[20] Friedrich Schiller Archiv: Xenien von Goethe und Schiller – Ursache, Entstehung und Reaktionen auf den Xenienalmanach. Weimar (ohne Jahr).

[21] Jutta Eckle: „Irren heißt, sich in einem Zustande befinden, als wenn das Wahre gar nicht wäre; den Irrthum sich und andern entdecken, heißt rückwärts erfinden“: Zu Goethes anschauendem Erkennen in Reihen in den Maximen und Reflexionen. In: Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 11.

[22] Stefan Höppner: Die Welt im Regal: Die materielle Dimension der Naturwissenschaften in Goethes Bibliothek. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen und Benennen. Beiträge zu Goethes Sammlungen und Studien zur Naturwissenschaft. Heidelberg: Winter, 2022, S. 47.

[23] Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller: Xenien. (48 Seiten) Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1900. (Projekt Gutenberg)

[24] Jutta Eckle: „Irren …“ [wie Anm. 21] S. 11.

[25] Ebenda S. 23.

[26] Siehe Suchergebnis „Labor“ in Goethe Privatbibliothek Online im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar.

[27] Johann Friedrich August Göttling: Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen. Jena: Mauke, 1790, S. IV.

[28] DWDS: Verlaufskurve Labor.

[29] Ebenda: Verlaufskurve Probe.

[30] Haru Hamanaka: Präsenz der Farbe. Materialität des Bildes in Goethes Farbenlehre und Newtons Opticks. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen … [wie Anm. 15] S. 117.

[31] Ebenda.

[32] Zum Verfahren der Aquatinta siehe: Torsten Flüh: Trauma und Bildfindungen der Teilung. Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2013.

[33] Haru Hamanaka: Präsenz … [wie Anm. 30] S. 123.

[34] Siehe: Van James: Der Malunterricht der Unterstufe: Die Entwicklung des Farbsinns. In: Waldorf Resources 29.03.2015.

Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften

Wissen – Humanmedizin – Architektur

Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften

Zum Brutalismus der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien und des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie der Freien Universität Berlin

Im September fand das Festival für urbanes Wohlergehen mit der Webadresse urbanepraxismaeusebunker.berlin rund um die sonst seit Jahren abgesperrte im Berliner Jargon Mäusebunker genannte Ikone des Brutalismus statt. Der Mäusebunker liegt an der Krahmerstraße zwischen Hindenburgdamm und Teltowkanal gegenüber dem ehemaligen Institut für Hygiene und Mikrobiologie in ebenfalls brutalistischer Architektur. Beide Forschungseinrichtungen wurden in den 60er Jahren im Kontext humanmedizinischer Forschung an der Freien Universität als Ergänzungen zum nahen Klinikum Steglitz, dem heutigen Charité Campus Benjamin Franklin[1], geplant und erbaut. Auf welche Weise visualisieren sie das in ihnen generierte Wissen vom Menschen?

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Das programmatisch von Le Corbusier formulierte Haus als Maschine wird für beide Bauwerke auf unterschiedliche Weise mit großen Betonflächen als Fassaden konzipiert. Einerseits knüpft das Architekturbüro Fehling+Gogel 1966 mit abgerundeten Flächen zur Krahmerstraße an eine Ästhetik des Screens von Curtis & Davis für das Klinikum an, anderseits entwerfen Gerd und Magdalena Hänska 1967 eine multifunktionale Maschine, deren Funktionen wie Belüftungsrohre und Techniketagen, Abfallbeseitigungstore und Wissenszellen hinter Tetraeder-Fenstern Architektur werden. Vor allem die heftigen Reaktionen in der Berliner Öffentlichkeit erregenden ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien geben einen Wink auf Wissensverschiebungen der letzten 60 Jahre in der Humanmedizinforschung.

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Forschungseinrichtungen wie Laboratorien und Institute, aber auch andere Großbauten sollen Wissen generieren. 2021 feierten die Berliner Festspiele den International Congress Center Berlin (ICC) mit dem David Bowie-Zitat The Sun Machine is Coming Down[2] durch eine künstlerische Intervention. Die Architektin Ursulina Schüler-Witte wurde besonders gewürdigt. Die Planungen reichten ebenfalls bis in die 60er Jahre zurück. Es wurde 1979 eröffnet. Das ICC als Raummaschine generierte mit Kongressen, Messen und Konzerten ebenso wie Shows unterschiedliche Formen von Wissen. Ähnlich wie die humanmedizinischen Bauprojekte war das ICC in politische Debatten um den Status West-Berlins eingebunden. Die Kooperationen von Architektinnen und Architekten in Büros förderten neuartige Arbeitsweisen. Die Berliner Architektenpaare Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler sowie Gerd und Magdalena Hänska mit weiteren Kooperationspartnern sind erst in jüngerer Zeit ins Interesse gerückt worden. Das Modell der Maschine wurde in den 60er Jahre auf unterschiedliche Bereiche der Wissensgenerierung von der Forschung bis zur Unterhaltung architektonisch angewendet.

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Das ehemalige Institut für Hygiene und Mikrobiologie wurde im Januar 2021 unter Denkmalschutz gestellt. Der Berliner Landeskonservator Christoph Rauhut begründete den Denkmalschutz: „Dieses Institut ist ein Gesamtkunstwerk, ein Bau von internationalem Rang und ein bedeutender Beitrag zur ‚organischen‘ und ‚brutalistischen‘ Architektur der Nachkriegsmoderne!“[3] Prof. Dr. Axel Radlach Pries, Dekan der Charité, ordnete das Institut in die Berliner Medizingeschichte ein: „Das Berliner Hygiene-Institut, 1885 von Robert Koch gegründet, ist Teil der Berliner Geschichte. Ohne die hier geleistete Forschungsarbeit wäre Berlin nie Millionenstadt geworden.“[4] Dabei sollte allerdings nicht unter den Tisch fallen, dass Robert Koch als Entdecker des Milzbrandbakterium bei Kühen und der Tuberkulose eher der Vater der Mikrobiologie ist, während sein konzeptueller Gegenspieler und Zelltheoretiker Rudolf Virchow stärker in der Hygienepraxis engagiert war. Insofern führte das Nachkriegsgebäude die beiden humanmedizinischen Stränge der bevölkerungspolitischen Hygiene und mikrobiologischen Forschung zu Bakterien und Viren zusammen.

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Das Landesdenkmalamt erklärte das Gebäude der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin im Rahmen des Modellverfahrens „Mäusebunker“ 2023 zum Denkmal.[5] Einen wichtigen Anstoß für die neue Wertschätzung des Bauwerks gab die Ausstellung „Suddenly Wonderful Westberliner Großbauten der 1970er Jahre“.[6] Damit wurde nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel vollzogen, der das ICC wie den „Mäusebunker“ nicht mehr als Auswüchse des Modernismus in Form des Brutalismus aus dem Stadtbild durch Sprengung tilgen will, sondern urbane Nutzungsformen entwickelt. Die vor allem aus konservativ-reaktionären Kreisen betriebenen Versuche der Tilgung werden schon durch die exorbitant hohen Beseitigungskosten vereitelt. Die Betonmassen des Brutalismus lassen sich nicht einfach wegsprengen. Medizinhistorisch bedacht sind die Zentralen Tierlaboratorien mit der Humanmedizin eng verknüpft, weil Robert Koch am Milzbrand der Kühe mit Hilfe der Fotografie 1876 überhaupt die Mikrobiologie entwickelte. Ohne genaues Wissen des Erregers hatte bereits Ernst L. Wagner 1865 im Handbuch der Pathologie u.a. mit dem Milzbrand die Zoonose als Übertragung von Krankheiten vom Tier auf den Menschen beobachtet und konzipiert.[7]

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Die reinen Betonflächen beider Forschungsstätten bieten Projektionsflächen an der Schnittstelle des Wissens vom Tier und vom Menschen. Sie wirken wie ein Screen zwischen verbergendem Vorhang und Bildschirm.[8] Es wird ein Wunsch nach Wissen geweckt, das gleichsam verbergend ausgestellt wird. Doch der Name wirkt wie ein Screen. Mit dem vereinfachenden Neologismus Mäusebunker als ebenso niedlicher wie massiver Bunker für Versuchsmäuse lässt sich eine Mehrdeutigkeit im Verhältnis des Menschen zum Tier lesen. Der zum Kernnamen gewordene Mäusebunker für das Bauwerk überschreibt die massenhaft tödlichen Tierversuche in den universitären Tierlaboren zum Wohle des Menschen. Zugleich ist ein Bunker landläufig ein massiver Schutzraum für Menschen in Kriegen und Katastrophen. Schützte der Mäusebunker die Mäuse? Bunker erleben gar in den USA einen Hype als Immobilien für Reiche, wie wortreich und bildstark in den Medien berichtet wird. Der massive Mäusebunker kann visuell zugleich an ein interstellares Schlachtschiff zur Verteidigung der Menschheit erinnern.

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Die Zentralen Tierlaboratorien der FU wurden spätestens um die Jahrtausendwende zum Schauplatz für Proteste von Tierschützern. Damit kehrte sich zumindest die Wahrnehmung des Tieres im Verhältnis zum Menschen in der breiten Öffentlichkeit tendenziell um. „Früher protestierten die Tierschützer noch leibhaftig am Steglitzer „Mäusebunker“ der Freien Universität, in dem bis 2020 Versuchstiere gehalten wurden“, erinnerte Helmut Höge in der Taz 2023.[9] Der Mäusebunker bot einen „zentralen“ Ort für Tierschutzproteste. Doch Tierversuche in den Diensten der Humanmedizin sind nicht aus Berlin verschwunden, vielmehr wurden sie durch Dezentralisierung normalisiert. Für Versuchstiere „gibt es mehrere neue „Mäusebunker“ in Berlin-Buch. Dort werden allein im Max-Delbrück-Centrum durchschnittlich 105.403 Tiere pro Jahr „vernutzt“. Daneben gibt es auch noch den Charité-Campus Buch, wo man die Wirt-Virus-Beziehung bei Vampirfledermäusen erforscht, die mit einem neuartigen Morbillivirus infiziert wurden.“[10]

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Hinter dem geschwungenen Betonschirm zur Krahmerstraße des ehemaligen Instituts für Hygiene und Mikrobiologie verbargen sich ebenso Labore mit Sicherheitsschleusen wie Büros, Unterrichtsräume und ein Auditorium zur Wissensvermittlung. „Der zentrale, verhältnismäßig linear ausgebildete Bauteil beherbergt Büros und Labore. Die Labore sind als Sicherheitsbereich ausgeführt, da hier unter anderem unerforschte Krankheitserreger untersucht wurden.“[11] Das Gebäude und die in ihm ausgeführten Funktionen für die Humanmedizin wurden von Fehling+Gogel in differenzierender und variierender Formensprache durch den Sichtbeton ausgestaltet. Das Auditorium als Ort der Wissensvermittlung hinter dem geschwungenen Betonschirm wurde gar mit einer futuristischen Spitze ausgeführt. Zwischenzeitlich wird das Gebäude als Paul-Ehrlich-Haus für Allergieforschung genutzt, was nicht zuletzt einen Wink gibt auf die hohe Dynamik der humanmedizinischen Diskurse gibt.

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Während sich die Architektur des Klinikums Steglitz, Charité Campus Benjamin Franklin, mit seinen Funktionen als hoch anpassungsfähig erwiesen hat, lässt sich vor allem das Gebäude für die Zentralen Tierlaboratorien als ein Paradox vom brutalistischen Großbau mit seinen prognostizierten Funktionen und den Dynamiken in der Humanmedizin bedenken. Dieses Paradox des zu Architektur gewordenen Funktionswissens als Architekturwissen führt aktuell zu den Debatten der urbanen Praxis für eine Umnutzung. In den 60er bis 80er Jahren funktionierte ein gigantisches Schlachtschiff für Tierversuche noch als Verteidigungsversprechen der menschlichen Gesundheit, seither wurden die Theoreme ins Wissen vom Winzigen in Nanobereiche verschoben, wie bereits Marianne Schuller und Gunnar Schmidt in Mikrologien 2003 mit der Formulierung, dass das „Kleine in technischer Form … kein schöner Schmetterling“ sei, es sei vielmehr „eine verstreute Großtechnologie“, zu bedenken gegeben haben.[12] Andererseits wird das Wissen vom Kleinen und Kleinsten beispielsweise bei hoch ausdifferenzierten Lymphomen in der Praxis der Onkologie erfolgreich angewandt.

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Die Größe und die Funktionen des Mäusebunkers orientierten sich an dem Wissen nicht zuletzt der Zoonose und der Bevölkerungsgesundheit nach den Katastrophen des I. und II. Weltkriegs. Es war nicht zuletzt die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die epidemische Kinderlähmung in den 1950er Jahren, die neue massenhafte Tierversuche anregte, worauf Hubert Steinke 2022 aufmerksam gemacht hat. Bereits Paul Ehrlich(!) stützte seine Behandlung der Syphilis in den 1900er Jahren auf „Versuche mit Tausenden Tieren (vor allem Mäuse). In noch weit grösserem Masse wurden Tiere (einige Millionen Makaken) in den 1950er-Jahren zur Erforschung, Entwicklung und Produktion des Polio-Impfstoffs verwendet, der zur Ausrottung der Kinderlähmung führte.“[13] Den Höhepunkt der Tierversuche für moderne Pharmakotherapien sieht Steinke nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1970er Jahren. Die Kinderlähmung war in West-Berlin in der Planungsphase der Tierlaboratorien präsent.[14] Die sogenannte Schluckimpfung für Kinder auf einem Stück Würfelzucker gegen Polio in den 1960er Jahren bevölkerungsgesundheitliche Praxis. Die Dimension der Zentralen Tierlaboratorien und ihre Ähnlichkeit mit einem Schlachtschiff korrelierte insofern mit dem Wissen und den Versprechen der Humanmedizin.

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Die Funktionalität der Architektur und Fassadengestaltung der Zentralen Tierlaboratorien ist wiederholt herausgestellt worden. Unter den Architekturen der Wissenschaft in Berlin fällt das Bauwerk als ein Extrem aus.[15] Der Zuversicht der medizinischen Forschung spielt die Angst vor einer Biogefährdung bzw. einem Biohazard entgegen, vor dessen Gefahren seit 1966(!) mit einem einheitlichen Symbol gewarnt wird. „Fenster gibt es nur wenige, die Zu- und Abluft wird durch ein komplexes Röhrensystem geleitet. Mit Betonplatten verkleidet und abgeschottet, um Hygiene und Sicherheit zu garantieren, gehen Wand und Dach ineinander über.“[16] Während im oberen Forschungs- und Bürobau Fenster als spitze Tetraeder auf drei Etagen gestaltet wurden, finden sich die Tetraeder im unteren Bauteil in drei Reihen aus Beton wieder. Das hervorstechende Element der Tetraeder aus Glas und Stahl für die Fenster und Beton zur Gestaltung der Fassade verstärkt zusätzlich zu den Belüftungsrohren auf der schrägen Betonfassade das Sicherheitsversprechen und die Angst vor einer unkalkulierbaren Gefahr. Durch die „architektonisch geprägte Prozesshaftigkeit von Wissen koppelte sich die Entwicklung der Architektur von Universitäts- und Wissenschaftsbauten an die der Wissenschaft selbst“, schreiben Arne Schirrmacher und Maren Wienigk.[17]

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Die nachträglich schwierig zu verifizierende Planungsphase des Gebäudes und ein kleiner, zwischenzeitlich abgerissener Versuchsbau an der nahen Bäkestraße geben einen Wink auf Wissensprozesse in der Universität wie in der Architektur. „Der Planungsbeginn der Forschungseinrichtung ist nicht eindeutig belegbar. Angaben in der Literatur nennen als Planungsbeginn 1965, 1966 oder 1967. Ein vollständiger Gebäudeentwurf lag spätestens 1967 vor. Baubeginn war 1971, jedoch wurde der Bauprozess wegen hoher Kostenüberschreitung von 1975 bis 1978 unterbrochen. Fertigstellung war erst 1981.“[18] Da das Bauwerk wiederholt wegen Form und Größe als „Betonpyramide“[19] bezeichnet worden ist, ergeben sich sowohl Assoziationen zur kosmologischen Architektur der Pyramiden wie die auf eine Funktion ausgerichtete Architecture parlante der französischen Revolution.[20] Die Großarchitektur im eher beschaulichen Lichterfelde am Industriewasserweg Teltowkanal, erbaut 1900-1906, sollte nicht nur für den Fortschritt der Wissenschaft in der Humanmedizin sprechen. Sie glitt vielmehr in ein psychotisches Weltbild aus Gefahren, Ängsten und Versprechen, das unvorhergesehen hohe Geldmengen verschlang.

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Die Zentralen Tierlaboratorien als Name der Forschungseinrichtung verfehlt nicht weniger als der des Mäusebunkers die Ausmaße und die weit über Tierversuche hinausweisenden Wissensprozesse und das Begehren, vom Menschen wissen zu wollen. In singulärer Weise wird der Baukörper zu einer Ausformung der Wissenschaften, ihrer Versprechen und ihrer Dynamiken zwischen 1960 und 1980. Wann und wie genau sich die Pyramide in ein Raumschiff als ultimatives Wissensprojekt verwandelte, lässt sich schwer rekonstruieren. Doch die zeitliche Nähe zum Apollo-Raumfahrtprogramm 1961 bis 1972 hinterließ ihre Spuren im Baukörper. Das Labor indessen wurde vom Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger als „Experimentalsystem“ für die moderne Wissenschaft untersucht. Das als Zentrale Tierlaboratorien konzipierte Bauwerk mit seinem massiven Baukörper gibt einen Wink auf das Labor in der Wissenschaft vom Menschen:
„… meine eigene Erfahrung, die ich aus dem Labor mitgenommen habe, als ich mich auf den Weg gemacht habe, Wissenschaftshistoriker zu werden, ist die gewesen, dass die Objekte, die Wissensobjekte, mit denen man dort umgeht, doch sagen wir mal, so viel Widerständigkeit aufweisen, dass man sich an ihnen abarbeiten muss.“[21]

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Tierversuche im Labor hat Hans-Jörg Rheinberger nicht näher untersucht. Doch das „Verhältnis von Labor und Klinik“[22], wie es in Steglitz mit dem Klinikum, dem Institut und den Zentralen Tierlaboratorien zu einem ganzen Ensemble Architektur geworden ist, sieht er als eine Verknotung „von staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen vorgegebene(r) Leitvorstellungen über Gesundheit und Krankheit, die Implementierung medizinischer Programme, die Umsetzung von Forschungsstrategien in Diagnoseverfahren, die Wiedereinsetzung diagnostischer oder therapeutischer Routinen in andere Forschungskontexte mit Fragen der institutionellen Allokation, des sozialen Status von Spezialdisziplinen vertretenden Forschungsgruppen bis hin zur räumlichen, architektonischen Gestaltung des Verhältnisses von Grundlagenforschung und medizinische Praxis“.[23] Er macht darauf aufmerksam, dass „das Spannungsfeld von Labor und Klinik ein immenses Reservoir für Fragen nach Status, Bedeutung und Auswirkungen des Experiments“ biete.[24] Anders formuliert: das Lichterfelder Ensemble wurde nicht nur als Schnittstelle der Lebenswissenschaften geplant, vielmehr werden insbesondere am kolossalen Mäusebunker „Experimentalsysteme“ und ihre Neujustierung bedenkenswert.

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Die biologischen und humanmedizinischen Wissenschaften werden von Rheinberger mit der Frage nach dem Labor und seiner Verknotungen mit anderen Wissensbereichen epistemologisch befragt. Welche Rolle Ängste für die Wissenschaften spielen, fragt er nicht. Doch „(f)ührt uns das Experiment nicht gerade in einen Raum, in dem von Wahrheit in einem traditionellen Sinne gar nicht mehr die Rede sein kann? Kommt hier möglicherweise Jacques Lacans eigentümlich anmutende Bemerkung zu ihrem Recht, daß die unglaublichen Hervorbringungen der modernen Wissenschaften gerade in ihrem Charakter begründet liegen, „nicht-wissen-zu-wollen von der Wahrheit als Ursache“?“[25] Rheinbergers Schwenk auf Lacan als Wissenschaftskritik kann zugespitzt werden. Denn es ist Jacques Lacan, der Mitte der 50er Jahre in seinem Seminar zu den Psychosen, darunter der Paranoia das verstandesmäßige Wissen der Wissenschaften befragt. Er tat das in eloquent geführter Rede, die erst nachträglich als gedruckter Text hergestellt wurde.
„Es gibt eine Prüfung, die Sie bei der Lektüre Freuds und fast aller Autoren anstellen können – Sie werden da über die Paranoia Seiten, mitunter ganze Kapitel finden, lösen Sie sie aus ihrem Kontext heraus, lesen Sie sie laut, und Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen. Es fehlt nicht viel und was ich Ihnen gerade von Kraepelins Definition der Paranoia vorgelesen habe, würde das normale Verhalten definieren. Sie werden dieses Paradox ständig wiederfinden, und noch bei Autoren, die Analytiker sind“.[26]

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Lacan schlägt seinen Hörer*innen eine Praxis des lauten Lesens vor, die mit seinem Sprechen im Seminar korreliert. Das laute Lesen hat den Effekt, dass sich das Verhalten in der Paranoia kaum von einem „normale(n) Verhalten“ unterscheiden lässt: „Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen“. Das sich vermeintlich neben dem Verstand abspielende Verhalten wird „normal“. Für Lacan wurde die Paranoia epistemologisch für die „“closure“ of science“ wichtig.[27] Die Frage nach der Wissenschaft bleibt nach Walter Seitter eine „optative Dimension“.[28] Das performative Sprechen Lacans in seinen Seminaren ist wiederholt thematisiert worden u. a. in dem Film Lacan parle (1972) von Françoise Wolff.[29] Die Performanz der Sprache und das Erlernen von Fachsprachen gehören nach wie vor nicht zuletzt neben dem Labor zum Körper der Wissenschaften. Die Wissenschaften, insbesondere Lebens- und Humanwissenschaften werden in den Laboratorien en passant von einer Angst des Nicht-Wissens getrieben. In der historischen Konstellation der 60er bis 80er Jahre nehmen die Ängste eine extreme Form an.

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Das Ensemble aus Laboratorien und Klinik, Diagnostik und Maschinen, Hörsälen und Seminarräumen nach dem Modell des Brutalismus in Steglitz kann als eine Art Zeitkapsel der Wissenschaften gesehen werden. Gerade mit den Elementen, die an die Weltraumfahrt erinnern, lässt sich heute bedenken, dass das Wissensprojekt zu einem großangelegten Tourismusgeschäft für sehr reiche Menschen geworden ist. Die Angst, trotz Vermögen, nicht im Weltraum gewesen zu sein, generiert heute mit Elon Musk Milliarden an US-Dollar. Jeff Bezos ist abhängig von Staatsmilliarden, um Raumfahrtprojekte durchzuführen. Big Money hat längst das Interesse an neuem Wissen abgelöst. Was als Vehikel und Symbol der Wissenschaften zur Definition der Nation und ihres systemischen Vorsprungs konzipiert wurde, hat sich verflüchtigt in Finanzströme.

Torsten Flüh


[1] Siehe Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[2] Siehe Torsten Flüh: Die Raummaschine. Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2021.

[3] Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: Institut für Hygiene und Mikrobiologie unter Denkmalschutz. Pressemitteilung 20.01.2021.

[4] Ebenda.

[5] Landesdenkmalamt Berlin: Neu unter Denkmalschutz: „Mäusebunker“ im Rahmen des Modellverfahrens Mäusebunker unter Schutz gestellt. Kurzmeldung 2023.

[6] Berlinische Galerie: Suddenly Wonderful – Westberliner Großbauten der 1970er Jahre. 26.5.23 – 18.9.23.

[7] Zum Konzept der Zoonose siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[8] Zum Screen siehe: Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[9] Helmut Höge: Alte und neue Mäusebunker. Onkomäuse, Zebrafische und Meerschweinchen: Kaum jemanden interessiert noch, wie viele Tierversuche es in Berlin gibt, kritisiert unser Kolumnist. In: taz 6.6.2023 9:05 Uhr.

[10] Ebenda.

[11] Zitiert nach: Wikipedia: Institut für Hygiene und Mikrobiologie.

[12] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[13] Hubert Steinke: Die lange Geschichte der Tierversuche. In: uni aktuell – Das Online-Magazin der Universität Bern. 12. Januar 2022.

[14] Zur Kinderlähmung siehe: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[15] Arne Schirrmacher, Maren Wienigk (Hg.): Architekturen der Wissenschaft. Die Entwicklung der Berliner Universitäten im städtischen Raum. Berlin: jovis, 2019.

[16] Maren Wienigk: Campus Benjamin Franklin, Lichterfelde. Ebenda S. 241.

[17] Ebenda S. 13.

[18] archINFORM: Zentrale Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin. (Link)

[19] Ebenda.

[20] Staatliche Kunsthalle Karlsruhe: Architecture parlante.

[21] Eva Feyerabend: Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. In: Deutschlandfunk 10.09.2001.

[22] Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner: Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 12.
Zu Hans-Jörg Rheinberger siehe auch: Torsten Flüh: Vom Wissen und der aufgeschobenen Übersetzung.
Marcel Beyer kuratiert Sprache und Wissen im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. April 2016.

[23] Ebenda

[24] Ebenda.

[25] Ebenda S. 8.

[26] Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955-1956) DIE PSYCHOSEN. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. Michael Turnheim. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1997, S. 28.

[27] Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Nicolas Guerin: The Lacanian Concept of Paranoia: An Historical Perspective. In: Front. Psychol., 15. September 2017.

[28] Walter Seitter: Die Wissenschaft der vier Diskurse. In: Ivo Gurschler, Sándor Ivády, Andrea Wald: Lacan 4 D. Zu den vier Diskursen in Lacans Seminar XVII. Wien/Berlin: Turia, 2013, S. 10.

[29] Françoise Wolff: Lacan parle (intégrale) – Conférence de Louvain 1972. (YouTube)

Maximalistic Queerness Mythology

Mythos – Queerness – Show

Maximalistic Queerness Mythology

Zu Taylor Macs & Matt Rays Europapremiere der umwerfenden Show Bark of Millions bei der Performing Arts Season

Die Europapremiere von Bark of Millions am 9. Oktober im Haus der Berliner Festspiele wurde frenetisch gefeiert. Taylor Mac und Matt Ray zauberten eine vierstündige, vielschichtige und funkelnde Show mit 54 Songs ohne Pause auf die Große Bühne des Hauses. Als begnadeter Entertainer moderierte Taylor Mac die Show zum Piano von Matt Ray als eine Show von queer lovers an. Das Publikum dürfe sich frei fühlen, während der Show den Zuschauerraum für einen Drink oder eine Zigarette verlassen oder zum Pinkeln gehen. Die Show sollte gleichsam eine Übung der Befreiung von einengenden Regeln sein. Queerness als Freiheitsversprechen. Bark of Millions wurde vom Sydney Opera House und von den Berliner Festspielen in Auftrag gegeben und von weiteren Stiftungen und Institutionen unterstützt. Im Oktober 2023 fand die Weltpremiere im ikonischen Sydney Opera House statt.

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Taylor Mac mit dem Pronomen Judy und die anderen Drag Queens der Show, Chris Giarmo, Dana Lyn, El Beh, Gary Wang, Greg Glassman, Jack Fuller, Joel E. Mateo, Machine Dazzle, Mama Alto, Matt Ray, Mel Hsu, Sean Donovan, Shirazette Tinnin, Steffanie Christi’an, Stephen Quinn, Taylor Mac, Viva DeConcini, Wes Olivier, machen dem Pronomen drag der Queens alle Ehre. Denn das mehrdeutige to drag heißt auch mitreißen. Sie reißen in ihren Roben von Machine Dazzle, was sich mit Glitzermaschine übersetzen ließe, und den Songs von Matt Ray das Publikum mit. Sie springen ins Publikum und verteilen Songtexte wie Bark of Millions: „The Bark of Millions/Brings the sun/Victorious Again.“ Das heißt zugleich, dass es nicht um das Bellen (bark) von Millionen, sondern um eine Barke für Millionen aus der ägyptischen Mythologie geht. Queerness als Mythologie für Millionen nach dem Gott Atum.

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Das Glitzern und die Sonne gehören in der revueartigen Show Bark of Millions zusammen. Damit die Kostüme, die Schminke und Strasssteine glitzern können, braucht es die Sonne oder wenigstens die künstlichen Sonnen der Scheinwerfer. Der zweite, titelgebende Song nach dem eröffnenden Atum – „I make myself … Crossing heaven on a vessel/Called the Bark of Millions” – rückt die Sonne ebenso wie die Selbstkreation programmatisch ins Interesse. Taylor Mac und Matt Ray verwerfen zwar den Anspruch Historiker, Lehrer oder Wissenschaftler sein zu wollen, aber sie schreiben, singen und performanen nicht weniger als eine unterhaltsame Mythologie der Queerness. Aus was schafft sich Atum, der später Re heißen und als Auge durch die Hieroglyphenschrift wandern wird?

© Fabian Schellhorn

Die Skizze im Fan Deck[1] mit allen Songs zeigt eine ägyptisch gewandete Person, Atum, mit einer Schlange auf sein Smartphone blickend. Obwohl sich Atum wohl eher aus Nichts als „genderneutrale Gottheit“ erschuf, sitzt er für Taylor Mac am Smartphone und scrollt sich durch Instagram, TicToc etc. Geschlechter und Vorbilder werden für die jungen Generationen über Social Media generiert. Geschlechterwechsel, Pronomen, Transformationen und Namensänderungen werden z. B. auf Facebook publiziert, debattiert und mit Likes versehen. Je nach Community und Grad der Öffentlichkeit kann es auch zu Hassattacken kommen. Atum am Smartphone gibt einen Wink auf Praktiken der Queerness und Feindseligkeiten gegen sie.

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Die Übersetzungen der Hieroglyphe für Atum aus dem Alten Reich 2.700 bis 2.200 vor Christus variieren von Sprache zu Sprache. Im Deutschen wird ihm der Beiname „der sich selbst erschaffen hat“[2] gegeben, wobei bereits eine männliche Geschlechtung vorausgesetzt wird. Im Englischen wird die Hieroglyphe mit „to complete or to finish“[3] übersetzt und im Französischen wird die Genese ex nihilo verworfen und Atum als Masturbierer[4] beschrieben, ohne auf das Problem der Hieroglyphen einzugehen.  Die Darstellungen oder Verkörperungen des Atum reichen vom pharaonischen Gott über Schlange, Ichneumon, Widder, Löwe und Affe bis zum Skarabäus, Auge und Vogel. Erst durch seine Teilung entstehen die Geschlechter. Insofern wäre seine Genderneutralität eine Vorgeschlechtlichkeit. Die Vielgestaltigkeit gibt einen Wink auf das Problem der Geschlechtung, die mit Judys (Taylor Mac) queerer Geschlechtung durch Glatze und Glitter korrespondiert. Atums Herkunft aus nichts als aus sich selbst lässt sich ebenso mit der Ausdifferenzierung der Hieroglyphen über die Jahrtausende bedenken. Je weiter sich die Hieroglyphenschrift des Alten Reiches mit der 3. bis 6. Dynastie im Neuen Reich und bis zur 26. Dynastie ausdifferenziert, desto mehr Verkörperungen entstehen.[5]   

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Atum ist durch unzählige Pharaonenfilme seit Beginn der Filmindustrie längst zu einem Popstar geworden. Taylor Mac knüpft insofern an einen Ägyptenmythos der Moderne an, mit dem seit Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798 als Gegennarrativ zum monotheistischen Schöpfergott eine Schöpfung aus sich selbst ermöglicht wird.[6] Die Kostüme von Machine Dazzle machen aus den Drag Queens nicht einfach weibliche Göttinnen oder Hyperwomen, vielmehr werden die weiblichen Attribute der toupierten Frisuren, der aufgeklebten Wimpern, der ultraroten Lippen, der Mieder und Rüschen bis ins Groteske verstärkt und mit Schnurrbärten konterkariert. Die mythologische Barke, mit der seit Stonewall 1969 durch 54 Jahre queere Songs gesegelt und gesungen wird, erinnert nicht zuletzt an ein Narrenschiff der abweichenden Sexualitäten. Das Narrenschiff und die Parade als queere Aktionen ziehen sich durch die Show. Das lässt sich durchaus mit dem Untertitel der Show lesen:
„A Parade Trance Extravaganza for the Living Library of the Deviant Theme”

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Von Atum bis Oscar Wilde und You & Me werden „queere Personen“ oder einfach Queers aufgerufen und in Songtexten verarbeitet, die eine große Bandbreite von Queerness vorschlagen. Mit Taylor Mac: „Something you heard/will hear in the show (but in case you miss it) is that each song in the piece was inspired by a different queer person from world history. Some you’ll know. Some you won’t. Sometimes we tell you the names. Sometimes we don’t. The intention is not to teach you about them, represent them, honour them (some are real assholes), or even acknowledge their existence. The intention is to ground our considerations (and songwriting) in queerness.”[7] Queerness wird auf diese Weise zu einer Praxis, Überzeugungen und Liedtexte zu generieren. Queerness muss nicht verstanden werden. Es kann sogar sein, dass sie Wissensformationen unterläuft. Die Namen der Queers aus der Weltgeschichte wie James Baldwin, Giovanni di Giovanni, Mary Shelley, Audre Lorde, Yukio Mishima oder Leonardo DaVinci werden in verschiedenen Liedgenres von Pop über Country und Arie etc. besungen.

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Selbst mit 54 Songs in 4 Stunden non stopp bleibt die Weltgeschichte (world history) zwischen USA (Herman Melville & Nathaniel Hawthorne), Italien (Leonardo DaVinci), Burma (Shwe Shwe), Griechenland (Sappho & the Amazonians) etc. fragmentarisch und ausbaufähig. Da in der Show die Namen, sofern sie nicht im Liedtext vorkommen, nicht genannt werden, entweder das Wissen einer Weltgeschichte der Queers vorausgesetzt oder ein solches Wissen zumindest mit den Liedtexten generiert wird, bleibt das Wissen im Vagen. Taylor Mac sieht das Wissen nicht als Voraussetzung für den Unterhaltungsgenuss der Show und der Liedtexte. Doch im Vorbeiziehen der Songs könnte der eine oder andere explizite Hinweis helfen. Dass der Roman Moby Dick etwas mit dem Dick (Penis) von Nathaniel Hawthorne zu tun haben könnte, war mir zuvor nicht bekannt.
„Is there a reason Moby Dick’s so long and the middle,
with such excessive fishing like a man who’s lost at
sea when the days are all a’blending
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Is there a reason when a love won’t be returned
Though he peppers you with such unspoken longing
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Nathaniel
Unrequited
You fucker
Nathaniel
So I’m lost at sea
In the cold
In the cold
Masterpiece.“[8]

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Von Herman Melville sind leidenschaftliche Liebesbriefe an Nathaniel Hawthorne erhalten, die über ein freundschaftliches Verhältnis unter Schriftstellern hinausgehen.[9] Taylor Mac verwandelt die Liebesbriefe in ein queeres Verhältnis von Melville zu Hawthorne, wobei Nathaniel seinem Familiennamen Hathorne das sinnstiftende w hinzufügte. Hawthorn, zu Deutsch Weißdorn, ist mythologisch hoch aufgeladen und wird mit besonderer Stärke assoziiert. Die Queerness des Nathaniel Hawthorne gewidmeten Romans Moby Dick, in dem es bei der Erstpublikation kritisierte homoerotische Sequenz zwischen Ishmael und Queequeg mit der Umschreibung „marriage bed“ gibt, wurde nicht zuletzt von Benjamin Britten in Melvilles Erzählung Billy Budd gelesen, so dass er daraus seine Oper komponierte.[10] Queerness entsteht mit anderen Worten durch eine Überschreitung heteronormativer Narrative und den abweichenden Gebrauch von Worten und Formulierungen.

© Fabian Schellhorn

Bark of Millions lässt ein neues Format der Show entstehen. Die Queerness wird in den Lyrics oder Songtexten auf vielfältige Weise durchgespielt und bleibt doch unbestimmt. Die Show bleibt offen für weitere Songs, die mit jedem neuen Jahr hinzugefügt werden können. Das Kollaborative und die Offenheit werden von Taylor Mac und Matt Ray besonders als Konzept hervorgehoben. Queerness wird zu einem Prozess, der immer wieder neu angestoßen werden kann. Für die Performer*innen sind die vier Stunden Show eine Herausforderung, weil sie eben nicht wie das Publikum kurz einmal die Bühne verlassen können. Nur durch den Applaus nach den Songs unterbrochen reiht sich ein Song an den anderen in ständig wechselnden Liedgenres. Das Timing und die Abfolge der Songs sind perfekt.

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Torsten Flüh

Taylor Mac
Bark of Millions
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[1] Fan Deck: Bark of Millions (Vollansicht)

[2] Wikipedia: Atum.

[3] en.wikipedia: Atum.

[4] fr.wikipedia: Atoum.

[5] Zur Frage der Hieroglyphen und Schriften im alten Ägypten siehe auch: Torsten Flüh: Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine. Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2024.

[6] Siehe zum Ägyptenfeld 9 Jahre nach der Französischen Revolution: Torsten Flüh: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @  BERLIN 21. Februar 2024.

[7] Taylor Mac: A Note from Taylor Mac. In: Berliner Festspiele: Taylor Mac & Matt Ray Bark of Millions 9., 11. & 12.10.2024. Berlin 2024, Seite 7 und 9.

[8] Fan Deck: Bark … S. 40.

[9] U.a. Maria Popova: Herman Melville’s Passionate, Beautiful, Heartbreaking Love Letters to Nathaniel Hawthorne. In: The Marginalian 2019/02/13.

[10] Torsten Flüh: Der Terror des Gesetzes und das Versprechen des Rechts. Donald Runnicles und David Aldens grandioser Billy Budd von Benjamin Britten an der Deutschen Oper (6. Juni 2014)