Figuren des Dirigenten

Dirigent – Orchesterapparat – Klang

Figuren des Dirigenten

Zum Konzert der Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä und der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann beim Musikfest Berlin 2024

Mehr noch als erstklassige Orchester wie die Wiener oder Berliner Philharmoniker vermögen Dirigenten – und seit geraumer Zeit Dirigentinnen – zu faszinieren und Konzertsäle zu füllen. Während das Oslo Philharmonic nicht zu den bekanntesten Orchestern Europas gehört, sind die Wiener Philharmoniker eines der wenigen Weltspitzenorchester. Doch erst die Figur des Dirigenten und das Versprechen seiner Leistung, sein Feilen an der Phrasierung, am Tempo, am Klang vermag das Publikum in die Konzertsäle zu locken. Die Figur des Dirigenten ist hoch aufgeladen. Ein Mythos. Während des Musikfestes konnten schon Thierry Fischer, Franz Welser-Möst und Matthias Pintscher ansatzweise besprochen werden. Klaus Mäkelä und Christian Thielemann gehören derzeit zu den Stars, wenn nicht Weltstars ihres Metiers und könnten dabei kaum unterschiedlicher auftreten. Auf dem Wimmelbild von Alexandra Klobouk reitet Klaus Mäkelä mittig auf einem Plastik-Einhorn im Pool umgeben von Pinguinen und Schwänen.

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Dass das Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä bzw. dessen Chefdirigent und Künstlerischer Leiter mit dem Orchester auf Tournee geht, darf nicht nur wegen seines Alters von 28 Jahren als eine Sensation wahrgenommen werden. Was hat der junge Stardirigent, der die 5. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch aus dem Kopf und Körper dirigiert, aus dem Orchester im hohen Norden gemacht? Füllt das Orchester oder eher Klaus Mäkelä die Konzertsäle? Die Musikpreisträger*innen im Publikum wollen ihn sehen und hören. Schon vor dem ersten Ton in der Philharmonie ist klar, dass es anders als bei Mäkelä und Oslo mit den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann um ein nicht zuletzt gesellschaftliches Ereignis geht. Das sieht der Berichterstatter daran, dass Lea Rosh, Monika Grütters, Angela Merkel und Herr Sauer neben etlichen Politiker*innen, Diplomat*innen und höheren Berliner Funktionsträger*innen meist im Block A der Philharmonie sitzen. Was wird erwartet?

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Klaus Mäkelä tritt mit einer beneidenswerten Unbefangenheit auf. Das Oslo Philharmonic ist sein Orchester noch vor seiner Rolle als Musikdirektor des Orchestre de Paris, designierter Chefdirigent des Royal Concertgebouw Orkest und designierter Musikdirektor des Chicago Symphony Orchestra, das zu den Big Five der USA gehört. Denkwürdig wurde sein Dirigat der 6. Symphonie von Gustav Mahler mit dem Concertgebouworkest als Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin 2022. Da war er gerade einmal 26. Obwohl er in einer Musikerfamilie in Helsinki aufgewachsen ist, konnte man kaum erwarten, dass er die Tiefen der 6. Symphonie werde ausloten können. Doch er verzauberte nicht nur die Mitglieder des Traditionsorchesters und führte sie zu Höchstleistungen, vielmehr explodierte der Beifall des Publikums förmlich, Standing Ovations und die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth warf sich ihm beim anschließenden Empfang fast zu Füßen.[1]

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Ein offizielles Ranking der weltweit führenden philharmonischen Orchester gibt es nicht. Der Microsoft Copilot weist auf unterschiedliche Kriterien für ein solches Ranking hin, dennoch belegen die Berliner Philharmoniker laut künstlicher Intelligenz Platz 1. Den zweiten Platz halten die Wiener Philharmoniker und auf dem 3. Platz folgt das Royal Concertgebouw Orchestra. Chicago, Los Angeles und The Cleveland Orchestra finden sich noch unter den ersten 8 ein. Das Oslo Philharmonic wird zwar als ein vergleichbares Orchester von der KI genannt und vor allem für das innovative Programm gelobt. Mit 108 Musiker*innen im Vergleich zu den 124 Vollmitgliedern der Berliner Philharmoniker, den 148 der Wiener Philharmoniker und 100 puls des Cleveland Orchestra gehört es zu den größten. Nach der Kritiker*innenumfrage von bachtrack ändert sich im Ranking der Orchester nichts. Oslo Philharmonic ist nicht unter den besten 10 besten Orchestern der Welt. Doch Klaus Mäkelä belegt auf dem 9. Rang den vor Christian Thielemann.[2] Kirill Petrenko und Sir Simon Rattle belegen den 1. und 2. Platz vor dem fast hundertjährigen Herbert Bloomstedt aus Springfield, Massachusetts.

© John Halv

Gerade im Bereich der philharmonischen Orchester und ihrer Dirigent*innen besagt ein internationales Ranking fast nichts und doch nicht Nichts. Aber bei den Orchestern tut sich an der Spitze seit vielen Jahren wenig. Vor der großen Anzahl der symphonischen Orchester in Europa versagt selbst die KI mit dem Hinweis, dass die Musikszene äußerst lebhaft sei und unter den hunderten von Orchestern ständig Neugründungen und Umbenennungen stattfänden. Dennoch kristallisiert sich eine Spitze heraus. Und tendenziell hat der Jungstar Mäkelä den besonders geschätzten Christian Thielemann mit seiner symphonischen Klangintelligenz, die man schon hier als harte Klangdisziplin benennen kann, eingeholt. Es dürfte sich dabei um eine Art Paradigmenwechsel handeln. Der bisweilen höchst unkonventionelle Yannick Nézet-Séguin belegt in der Umfrage übrigens Platz 8 vor Mäkelä.[3]

© John Halv

Solange führende Musikkritiker*innen mit einem derart abgedroschenen Begriff wie Genie aus dem 19. Jahrhundert gegenwärtige Dirigent*innen bewerten, muss man jedes Ranking für fragwürdig halten. Zweifelsohne ist Klaus Mäkelä ein erstaunliches Talent. Die Dirigentenkarriere von Sir Simon Rattle verlief nicht ganz so kometenhaft, als er mit 25 Jahren 1980 Erster Dirigent des City of Birmingham Orchestra wurde. Doch dafür mögen nicht zuletzt veränderte Mechanismen im, nennen wir es einmal, Klassikbetrieb beitragen. Sir Simon Rattle versteht es noch heute, längst bekannte Repertoirekompositionen so zu dirigieren, als hörte und verstünde sie zum ersten Mal. Mäkelä hatte sich für das Musikfest zwei zeitgenössische finnische Komponist*innen, Einojuhani Rautavaara mit Cantus Arcticus und Kaija Saariaho mit Vista, sowie Dmitri Schostakowitsch mit der Sinfonie Nr. 5 d-Moll aufs Programm gesetzt. Der Cantus Arcticus (1972) mit seinen atmosphärischen Einspielungen vom Tonband funktionierte dabei als ein perfekter Einstieg und Ohrenöffner.

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Als Auftragswerk der Arctic University of Oulu gibt der arktische Gesang sogleich einen Wink auf eine sinnliche wie wissenschaftliche Wahrnehmung der Arktis durch Musik in den drei Sätzen Der Sumpf, Melancholie, Ziehende Schwäne. Durch die Feldaufnahmen aus der Arktis und den Schwänen wird eine Wahrnehmung von Natur mit den Satztiteln produziert, die mit dem zweiten Satz Melancholie ein mehr oder weniger regionales Lebensgefühl formuliert. Finnische, schwedische oder norwegische Melancholie ist allemal verbreiteter als Melancholie im Süden Europas. Feldaufnahmen vom Tonband in einem symphonischen Konzertformat waren in den 70er Jahren revolutionär. Für den Berichterstatter stellten sich eingedenk der Reden und Bilder vom Klimawandel mit der finnischen Universitätsstadt Oulu auf dem 65. Breitengrad Nord problematischere Töne ein. Die Natur der Arktis wird von Einojuhani Rautavaara eher als eine unberührte, intakte, romantische komponiert, während heute dieses Arktis- und Finnland-Bild durchaus brüchig ist.

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Die Auftraggeber für Kaija Saariahos Orchesterwerk Vista von 2019 geben durchaus einen Wink auf die Qualität der Komponistin und ihre internationale Anerkennung. Denn Vista wurde vom Helsinki Philharmonic Orchestra, den Berliner Philharmonikern, dem Oslo Philharmonic und der Los Angeles Philharmonic Association in Auftrag gegeben. Es stellt höchste Ansprüche an die Spielpraktiken der Orchester. Neuartige Klangregister werden angestimmt. Die finnische Komponistin arbeitete am von Pierre Boulez gegründeten Musikforschungsinstitut Ircam in Paris nicht zuletzt mit elektronischer Musik. Vista arbeitet (nicht) mit Elektroakustik, erzeugt indessen Klangfelder, die an elektroakustische Musik erinnern. Ob und in welcher Weise sie in Paris mit Éliane Radique aus dem weiteren Umfeld des Ircam in Kontakt kam, entzieht sich der Kenntnis des Berichterstatters. Doch die Kompositionspraxis und die Wechselwirkungen mit der Elektroakustik geben einen Wink.[4] Wie Auftraggeber und Konzertformat mit Horizons: Calmo, espressivo. Attaca. Targets: Audace anklingen lassen, entstehen bei Vista klangliche Transformationen aus der Kenntnis der elektroakustischen Forschung. Klaus Mäkelä dirigierte das Orchesterwerk der 2023 verstorbenen Komponistin In memoriam und hielt beim Applaus die Partitur als Geste der Wertschätzung in die Höhe. Das Oslo Phiharmonic hatte damit durchaus seine Qualität bewiesen.

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Mit der Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47 aus dem in der Sowjetunion hochbrisanten Jahr der Kulturpolitik 1937 von Dmitri Schostakowitsch schlug Klaus Mäkelä allein schon deshalb ein anderes Register auf, weil er nun das symphonische Großwerk aus dem Kopf anstatt vom Blatt dirigierte. Schostakowitsch komponierte seine 5. Sinfonie in dem Bewusstsein, dass er ruiniert, er verurteilt werden könnte, wenn seine Komposition nicht der kulturpolitischen Leitlinie der KPdSU unter der diktatorischen Führung Josef Stalins entsprechen würde. Der Verriss seiner 4. Sinfonie durch die linientreue Musikkritik war eine unverhohlene Drohung während der „Großen Säuberung“ ab 1936 gewesen. Sollte seine Musik noch einmal als „Chaos statt Musik“[5] ausfallen, hätte er mit dem Gulag rechnen müssen. Die musikologische und kulturpolitische Todesdrohung bestimmt insofern und nach Ansicht einiger Historiker die Komposition der 5. Sinfonie. Die Musik durfte auf keinen Fall in irgendeiner Weise nach Chaos klingen. Die chaotische kulturelle Debatte sollte als kontrolliert erscheinen.

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Die Rhetorik der Drohung, die seit dem 21. Februar 2022 durch Wladimir Putin, in die Weltpolitik zurückgekehrt ist[6], steht hinter der Komposition der Sinfonie Nr. 5 d-Moll von Dmitri Schostakowitsch. Eine ganze Reihe politischer Praktiken Wladimir Putins bis hin zur Rehabilitierung Josef Stalins wiederholen dessen nicht zuletzt kulturpolitische Handlungsweisen. Dem eingedenk erhält die Interpretation und Akzentuierung der Sinfonie eine aktuelle Dimension. Wie soll die Sinfonie Nr. 5 d-Moll klingen? Mit der Tonart d-Moll knüpft Schostakowitsch nicht nur gestisch an Beethovens 9. Symphonie an. Das große Werk wird auch an die Musikkritiker und deren Kampfbegriff „Musik“ adressiert. Doch dann wird in deren Erwartung etwas anderes daraus. Mit den Worten von Olaf Wilhelmer:
„Allein die Abfolge der Sätze langsam-schnell-langsam-schnell muss als unkonventionell eingestuft werden, und die ostentative Sprachähnlichkeit des einleitenden Rezitativs – das kanonische Thema kehrt immer wieder zurück – wirft die Frage auf, wer da was sagt.“[7]

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Muss die Sinfonie Nr. 5 d-Moll Brüche hörbar machen, so dass die „Musik“ nicht mehr gut klingt? Brüche erinnern an das „Chaos“ oder gehen mit ihm einher. Die Interpretation der Sinfonie spielt sich an dieser Frage ab. Ein hochgeschätzter Expertenfreund meinte, dass Klaus Mäkelä noch lernen könne, dass Musik nicht immer schön klingen müsse. Mäkelä achtete fast peinlich genau darauf, dass es schön und am Schluss großartig klingt, so dass das Publikum augenblicklich in einen Jubel ausbrach. Sie hörten die Drohung nicht! Die Drohung schwingt noch in den schönsten Klängen mit. Der Berichterstatter brauchte eine gewisse Zeit, um die Mehrdeutigkeit des Schlusses unter Klaus Mäkelä zu verdauen. – Ja, so jubeln sie. So werden womöglich die stalinistischen Musikkritiker innerlich gejubelt haben: Er hat sich unterworfen! Genaueres weiß man nicht und Schostakowitsch hat es nicht aufgelöst. – Die Naivität, es sich mit einer Drohung der Vernichtung bequem einzurichten, kann man aus politischem Kalkül gerade bei mehr als der Hälfte der Wähler*innen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg beobachten. Ich denke, dass der Finne und Weltstar Klaus Mäkele sich ganz genau entschieden hat, es gut, aber bedrohlich klingen zu lassen.

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Das Konzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Christian Thielemann war mit den beiden Sinfonien Nr. 1 von Robert Schumann in B-Dur op. 38 „Frühlingssinfonie“ und von Anton Bruckner in c-Moll in der Wiener Fassung (1890/91) schon deshalb anders konzipiert, weil zwei Klassiker mit einer Steigerung nacheinander aufgeführt wurden. Man könnte schon von der Konzeption und dem Erscheinungsbild des Orchesters sagen, dass es entschieden konservativer als das des Oslo Philharmonic war. Die Wiener Fassung der 1. Sinfonie ist zudem nach Bruckners 8. Sinfonie von 1887, 1890 als seiner letzten vollendeten, überarbeitet worden. Während es sich bei Schumanns 1. Sinfonie um eine frühe Arbeit am Format der Sinfonie handelt, wird die Erste bei Anton Bruckner in der Wiener Fassung zu einem Spätwerk der Kompositions- und Instrumentationskunst. Die Entwicklung der Sinfonie als Großwerk stand insofern im Interesse des Konzerts und seines Dirigenten. Während die Schumann-Sinfonie beschwingt erklingt, wird die Bruckner-Sinfonie zur Maximalausarbeitung des Genres.

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Die hohe Perfektion im Klang der Dirigate von Christian Thielemann gehört zu seinem Ruf.[8] Sollte es in der 1. Sinfonie von Robert Schumann Brüche geben, dann finden sie nicht die Aufmerksamkeit des Dirigenten.[9] Christian Thielemann versteht sich womöglich als Klangzauberer gerade in den klassischen Formaten wie der Oper, wenn er z. B. Die Meistersinger von Nürnberg in der Semperoper dirigiert, und der Sinfonie. War bereits in den Dresdner Meistersingern eine Art Mechanik hörbar geworden, so erhält die Wiener Fassung der Ersten von Bruckner ebenfalls eine zunehmende Mechanik bzw. „(r)ollende und stampfende Motive drehen sich um die eigene Achse“[10]. Thielemann interessierte schon in den Meistersingern, was das für eine „Musik“ sei. Die Frage der Musik als makelloses Klangereignis schimmert auch bei Schumann und Bruckner durch. Die 1. Sinfonie von Robert Schumann wird zu einem ebenso fein ausgearbeiteten wie emphatischen Ereignis des Wohlklangs. Thielemann dirigiert beide Sinfonien aus dem Kopf und mit eher sparsamen Gesten.  

© Fabian Schellhorn

Die Frage der Musik wird mit der Wiener Fassung besonders zugespitzt. Denn dem Organisten und Sinfonie-Komponisten schwebte mit einer Sinfonie für den lieben Gott auch ein Maximum an Musik aus sich selbst heraus vor. In der Wiener Fassung wird mit wiederholtem Crescendo nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Wiener Universität eine Art Gipfel ohne Ironie klanglich aufgebaut. Zu den frühen, herausragenden Konzerterlebnissen des Berichterstatters gehört die Erinnerung an die 8. Sinfonie von Bruckner unter Günter Wand mit dem NDR-Sinfonieorchester in der Hamburger Laeizhalle. Der fast achtzigjährige Dirigent bestieg das Podium und dirigierte 80 Minuten in höchster Konzentration mit minimalen Gesten und großer Leichtigkeit, als flöge er. Er dirigierte vom Blatt und ohne besondere Anstrengung. Bei Christian Thielemann ist das anders. Mit den Wiener Philharmonikern gelingt ihm, die Musik aus der nackten Partitur heraus zu formen. Es liegt darin auch eine Überwältigungslogik durch den Orchesterapparat. Die Musik wird, wie der Berichterstatter beim Hören notierte, eine „Überwältigungsmaschine“ zwischen Reminiszenzen an Lametta und Totentanz.

© Fabian Schellhorn

Die Großartigkeit der Musik in der Wiener Fassung durch das Dirigat von Christian Thielemann erzeugte Jubelstürme und Standing Ovations, während der Bericht erstattende Hörer nach völliger Erschöpfung erst einmal zu sich kommen musste. Die musikalische Großartigkeit lässt sich nicht zuletzt als ein Effekt strengster Disziplin und herausmodellierter Reinheit des Klangs bedenken. Der liebe Gott nach Bruckner und die Überwältigungsmaschine gehören zusammen. Wer zu früh aufspringt, hat sich schon verraten. Denn die Musik als Kunst der Komposition winkt hinüber zur Kunst als Religion, wie sie von Richard Wagner im Parsifal konzipiert wird. Bruckner komponiert anders und macht doch aus seiner Musik eine Religion. Die Ergriffenheit der Standing Ovations für den Dirigenten Christian Thielemann als Priester der Musik gibt einen Wink auf das Begehren des Publikums, einen großen Kontrolleur zu sehen und zu hören.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
Mediathek
Oslo Philharmonic
Klaus Mäkelä
Konzert vom 1. September 2024
bis 5. Oktober 2024

Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann
Konzert vom 15. September 2024
bis 19. Oktober 2024 


[1] Siehe Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.

[2] Bachtrack: Critics’ Choice 2023: Wer sind die zehn besten Dirigenten und Orchester der Welt? 11. September 2023.

[3] Siehe Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Sepember 2022.

[4] Zu Éliane Radigue siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022;
Und: Zur Radikalität der Instrumente. Erwan Keravec mit Dudelsack und Lucia Dlugoszewski mit To Everybody Out There bei MaerzMusik 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2024.

[5] Zitiert nach Olaf Wilhelmer: Über die Grenze hinaus. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 1.9.2022 Oslo Philharmonic. Berlin 2024, S.12.

[6] Zur Rhetorik der Drohung siehe: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[7] Olaf Wilhelmer: Über … [wie Anm. 5] S. 12.

[8] Zu Christian Thielemann siehe: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[9] Zu Robert Schumann siehe: Torsten Flüh: Natur und Intelligenz bei Menschen, Göttern und Schwärmen – Gustavo Dudamel dirigiert Robert Schumann und Richard Wagner mit den Berliner Philharmonikern in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juli 2017.

[10] Olaf Wilhelmer: Anfänge ohne Ende. In: Berliner Festspiele: 15.9.2024 Wiener Philharmoniker. Berlin 2024, S. 13.

Charles Ives‘ Kunst des Ritornells auf der Schwelle der Moderne

Lied – Forschung – Ritornell

Charles Ives‘ Kunst des Ritornells auf der Schwelle der Moderne

Zum Liedkonzert von Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard beim Musikfest Berlin

Am 1. September versprach das Konzert von Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard mit Liedern von Charles Ives, Igor Strawinsky und Claude Debussy im Kammermusiksaal ein ebenso hochkarätiges, wie durchdachtes Ereignis. Die Sopranistin Anna Prohaska ist bekannt für ihre ausgeklügelten Konzertformate. Mit höchster Perfektion wird sie zur Liedforscherin. Traditionelle Liedzyklen beispielsweise aus der Romantik, wie man für Schubert, Schumann oder Brahms sagt, wecken eher nicht ihr Interesse. Am Sonntagnachmittag ging es ihr vielmehr darum, das Lied, wie es von Charles Ives in den 114 Songs in vielfältiger Weise komponiert wird, in Korrespondenz mit Igor Strawinskys Quatre Chants Russes und Full Fadom Five sowie mit Claude Debussys Proses lyriques auszuloten.

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Bereits die Veröffentlichungspraxis von 114 Songs unterschiedlicher Kompositionsweisen bricht mit einer Praxis des Liedzyklus‘. 114 Songs lassen sich nicht nacheinander an einem Abend singen. Eine wie auch immer formulierte autobiographische Erzählung in 114 Lieder zerfällt allein wegen der großen Zahl ins Fragmentarische. Die Ordnung der Liedblöcke in „Erinnerungen … Herbstimpressionen“, „Stadt versus Natur“, „Claude Debussy und der Impressionismus“ sowie „Kindheit … Krieg“ gibt einen Wink auf die Vielfalt und das Fragmentarische. Als Charles Ives 1922 die 114 Songs veröffentlichte, war es für den mittlerweile zu Wohlstand gelangten Versicherungsunternehmer eine Art Befreiungsschlag mit den Worten im Nachwort: „“Why do you write so much -, which no one ever sees?“ There are some good reasons, none of which are worth recording.“[1] Auf dem Wimmelbild für das Musikfest 2024 von Alexandra Klobouk sitzt Charles Ives unten rechts ein wenig abseits auf einer Parkbank. 

©  Fabian Schellhorn

Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard eröffneten das Konzert mit Witz und Traurigkeit durch die beiden so unterschiedlichen Songs, die unter dem Titel Memories (102 Page 236) nacheinander erschienen sind. Einer sehr angenehmen und witzigen Erinnerung (very pleasant) an den Beginn einer Aufführung im Opernhaus folgt eine ziemlich traurige (rather sad) Erinnerung. Während die Aufregung vor dem Beginn der Aufführung in ein Pfeifen mündet, schließlich kurz in ein Ruhe gebietendes „Sh!..s‘..s‘..s‘._“ und fast im aufgeregt schnellen Parlando (As fast as it will go.) gesungen wird, erinnert Charles Ives einen Ton auf der Straße jenen, den sein Onkel summte. Der Ton wird mit der Erinnerung an den Onkel nicht ohne Witz, doch als traurig im Adagio aufgeladen. Es war ein fulminanter Auftakt, der unterschiedliche Stimmungen von der überdrehten Erwartung und Ekstase scharf gegen die eher traurige Erinnerung an den Onkel schneidet.

©  Fabian Schellhorn

Die beiden unterschiedlichen Erinnerungen als Modi der Wiederholung geben einen Wink auf Ives‘ Kompositionsverfahren. Memories ist um die 2:35 Minuten lang bzw. kurz, wovon die Erinnerung an den Beginn im Opernhaus ca. 35 Sekunden dauert. Bereits 2012 hatten Chen Reiss und Thomas Hampson mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Kent Nagano zur Eröffnung des Musikfestes auf die Lieder von Charles Ives aufmerksam gemacht.[2] Im Rahmen jener Aufführung wurde der Komponist und häufige Librettist seiner mit der Frage zitiert, ob „ein Lied immer ein Lied“ sein müsse. Die Frage nach dem Lied bei Ives überschneidet sich mit der Wiederholung, wie sie in den beiden Memories vorgeführt wird. Die traurige Erinnerung fällt entschieden liedhafter aus als die Erwartung und Ekstase. Anna Prohaska knüpft insofern mit ihrem Arrangement der Lieder an eine entscheidende des Librettisten und Komponisten selbst an.

©  Fabian Schellhorn (Ausschnitt)

Was ist ein Lied? Auf die Memories folgte Remembrance von 1921 (12 Page 27) als ein weiterer Modus der Erinnerung. Das vorangesetzte Zitat von Wordsworth – „The music is my heart I bore / long after it was heard no more.“ – unterstützt. Dabei handelt es sich wiederum um ein äußerst kurzes Lied mit einem Text von lediglich 3 Verszeilen. Wiederum löst ein Ton bzw. der Klang eines Horns aus der Ferne eine Erinnerung aus, die Charles Ives als „My father’s song!“ auflöst. Ist das schon ein Lied? Zum Lied (song) wird hier der Klang eines fernen Horns über einem verschatteten See (lake). Dabei ist das Lied von äußerster Kürze, so dass man kaum von einem Lied sprechen kann. Doch dadurch dass die drei Verse gesungen werden, behauptet sich Remembrance als Lied. Während die Opernhauserinnerung textreich auf 35 Sekunden kommt, fällt Remembrance kaum länger aus. Entscheidender als der autobiographische Hintergrund, der wohl bei den drei unterschiedlichen Erinnerungen gegeben sein mag, lässt sich an Ausloten der Möglichkeiten der Gattung Lied denken.

©  Fabian Schellhorn

Entschieden später im Programm kam Anna Prohaska nach mehreren Gedichtkompositionen mit The New River von 1921 (6 Page 13) wieder auf einen Erinnerungstext als Lied von Ives zurück. Diesmal ist es ein Geräusch (noise), das von Menschen gemacht wird. „Der neue Fluss“ formuliert einen Medienwechsel, wenn man genau liest. Der Medienwechsel nach 1900 vom „hunting horn“ zu „Phonographs and gasoline,/Dancing halls and tambourine“ kann als ein romantischer Protest gegen die Stadt gelesen werden. Doch das „hunting horn“ ist ebenso von Menschen gemacht. Und für den mehr oder weniger Opernkenner Ives dürften die „river gods“ von der Bühne bekannt sein. In den 114 Songs ist es nicht ganz so einfach, den Liedkomponisten festzulegen. Vielmehr gibt es eine Ebene er Ironie, die in der Auswahl der komponierten Gedichte und Erinnerungen mitschwingt. Dafür lässt sich auch das „glorious noise“ in The Circus Band (56 Page 128) in Anschlag bringen, wobei das Tempo mit Dancing-Hall-quickstep-time vorgegeben wird.

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Die Heterogenität der 114 Songs gibt im Programm mit Soliloquy einen weiteren Wink auf Charles Ives‘ komponierende Forschung zum Lied. Einerseits knüpft er an ein Gedicht von Ralph Waldo Emerson an, andererseits wird damit der Modus des Selbstgespräches zum Titel. Im Essay Self-Reliance von 1841 verwendet Ralph Waldo Emerson den Begriff soliloquy. Die von Emerson formulierte Eigenständigkeit hat viel mit dem Selbst und dem Modus der Wiederholung zu tun. Das Lied als eine Art Selbstgespräch verweist indessen auf das Ritornell wie es von Gilles Deleuze und Félix Guattari formuliert worden ist:
„… das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen…
Das Ritornell enthält diese Aspekte, es macht sie simultan oder vermischt sie: mal so, mal so, mal so. Mal ist das Chaos ein riesiges schwarzes Loch und man versucht, einem labilen Punkt in ihm als Zentrum zu fixieren. Mal organisiert man um das Zentrum eine ruhige und in sich gefestigte „Haltung“ (weniger eine Form): das schwarze Loch ist ein Zuhause geworden. Mal erweitert man diese Haltung um eine Fluchtbewegung, heraus aus dem schwarzen Loch.“[3]

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Das von Deleuze und Guattari formulierte Ritornell, das von einem Kind ausgeht, „das im Dunklen Angst bekommt“[4], gibt einen Wink auf die 114 Songs nicht zuletzt mit Soliloguy. Mit dem Ritornell kommt man dem Lied bei Charles Ives in seiner Heterogenität näher als mit der autobiographischen Musikerzählung von Wolfgang Rathert.[5] Das äußerst kurze Rememberance schlägt das Lied vom Vater nur kurz an, weil die Erzählung ihn auch verfehlen müsste. Soliloguy wird zum Lied von und für sich selbst wie Ives es geschrieben hat, weil es nicht zuletzt eine Selbsttäuschung wie ein Nicht-Verstehen formuliert.
„When a man is sitting before the fire on the hearth,
He says, “Nature is a simple affair!”
Then he looks out the window and sees a hailstorm,
And he begins to think that
“Nature can’t be so easily disposed of!””[6]

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Die große Zahl der „rund 400 Lieder“ in Charles Ives‘ Musikschaffen, die in ihrer „Breite und Tiefe (ein) beispiellose(s) musiksprachliche(s) Vokabular()“[7] hervorbringt, lässt sich mit der Funktion des Ritornells bedenken. Er verwandelt Töne, Texte, Lektüren, Erinnerungen, Ängste in Lieder für sich und publiziert mit 114 Songs einen Teil, nur damit sie andere „sehen“ können. Das Chaos nicht zuletzt der Stadt oder eines Hagelschlags (hailstorm), das Chaos der Gefühle zum Vater wird zur Rememberance als Ritornell. Es ließen sich viele andere Aspekte finden, die immer wieder zum Ritornell für ihn werden müssen. Auch das von Anna Prohaska ausgewählte und vorgetragene Evidence (58 Page 133) von 1910 gibt einen Wink auf die Funktion des Ritornells bei Charles Ives. Denn die Sonne soll, ja, muss immer nach den Schatten scheinen. Natur? Oder Angst? Treffender lässt sich die Funktion des Ritornells vor Schatten kaum für sich selbst singen:
„There comes o’er the valley a shadow,
The hilltops still are brigth;
There comes o’er the hilltop a shadow,
The mountain’s bathed in light;
There comes o’er the mountain a shadow,
But the sun ever shines through the night!”[8]

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Durch die Kombination der Lieder von Igor Strawinsky und Claude Debussy mit Charles Ives wurden im Konzert die Unterschiede allererst deutlich. Strawinsky sucht mit „melodisch-rhythmischem Stottern“ eher musikhistorische Ursprünge, die einem Ritornell ähneln könnten, wenn man bedenkt, dass „Milieus und Rhythmen“ nach Deleuze und Guattari aus dem Chaos geboren werden.[9] Bei Strawinsky geht es bekanntlich ganz entschieden um den Rhythmus und die abgewandelten altrussischen Walfahrerlieder als Orientierung lassen sich nicht weniger mit dem Ritornell bedenken. Doch für den Komponisten selbst erfüllen sie keine vergleichbare Funktion, weil er sich selbst als Komponist verortet. Mit Claude Debussys Proses lyrique wird ein geradezu sich selbst beruhigendes Erzählen angeschlagen.

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Igor Strawinsky komponierte 1953 Full Fadom Five (fünf Faden tief) aus William Shakespears The Tempest (Der Sturm) ebenfalls als ein Akustikereignis zum Lied. Die Totenglocke (knell) wird hier von den Meer-Nymphen (sea-nymphs) angeschlagen. Doch wenn jemand die Totenglocke hört, wie bei Shakespeare der Luftgeist Ariel – „Hark! Now I hear them,/Ding dong bell.“ –, dann soll sie nicht nur Ferdinand, den Sohn des Königs von Neapel an den Tod des Vaters erinnern, vielmehr auch an den eigenen. Zugleich komponierte Strawinsky damit Shakespeares Gedicht mit einem Stottern am Ende, während Robert Johnson nach 1609 Full Fadom Five als Inbegriff des Lautenliedes komponiert hatte.[10] Durch das rhythmische Stottern bei Strawinsky am Schluss wird das Lied, wenn nicht in Frage gestellt, so doch entschieden gegen das Lautenlied ausgespielt.

Torsten Flüh


[1] Zitiert nach: About. In: Charles Ives. In: Song of America. Siehe auch: UNT Digital Library: 114 Songs Page 276.

[2] Siehe Torsten Flüh: Die Lieder des Charles Ives. Eröffnung des Musikfestes Berlin 2012 mit Charles Ives, dem Mahler Chamber Orchestra, Kent Nagano, Chen Reiss und Thomas Hampson. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2012.

[3] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve, 1992, S. 424-425.

[4] Ebenda S. 424.

[5] Wolfgang Rathert: Neue Zeiten, neue Lieder. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2024 Anna Prohaska I & Pierre-Laurent Aimard I. Berliner Festspiele, 2024, S. 5-10.

[6] Zitiert nach ebenda S. 21.

[7] Ebenda S. 5.

[8] Ebenda S. 26.

[9] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend … [wie Anm. 3] S. 426.

[10] Villa musica: Robert Johnson: Full fadom five.

Die Heilung des Naturbildes

Natur – Bild – Schmerz

Die Heilung des Naturbildes

Zu Jinran Kims Ausstellung Nature Morte im Project Space Kimgo in der John-Schehr-Str. 1

Jinran Kim hat mit ihrer Ausstellung Nature Morte mit Bildern von der Natur aus dem Naturstoffgewebe Gaze, das in der Medizin für Wundverbände verwendet wird, ihre Gazebildpraxis verdichtet. 2018 stellte Jinran Kim ihre Bildarbeiten mit Gaze erstmals in der Kunstgalerie im Boulevard Berlin in der Steglitzer Schlossstraße aus. Die Arbeiten mit Gaze wurden kombiniert mit Asche als Farbmaterial. Die Materialien sind für die Künstlerin immer entscheidend. Schon ihre Trümmerfrauen, mit Aschetusche gemalt, verwiesen auf die Zerstörung durch Brände im Krieg. Waldbrände auf dem ganzen Globus – Kanada, Brasilien, Sibirien etc. – sorgen heute für Angst und Schrecken. Doch ein Krieg war in Europa wie in Südkorea 2014 kaum denkbar. Zwischenzeitlich gibt es Trümmerfrauen wieder in Europa – in der Ukraine. Gaze als Verbandsmaterial hat wieder an Bedeutung zu genommen.

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Die Materialität der Bilder in der Ausstellung Nature Mort zeitigt dreidimensionale Effekte. Soll die sterbende Natur, die Berggipfel, der Wasserfall, das Meer mit Gaze ins Plastische gehen? Oder müssen die sterbenden Gletscher im Hochgebirge verbunden werden? Die Verwendung der Gaze eröffnet mehrere Sichtweisen. Landläufig ist Nature Morte in der Malerei ein Genre, das im Deutschen Stillleben genannt wird. Doch Jinran Kim hält sich nicht an den Begriff als Genre Bezeichnung. Vielmehr erweitert sie dessen Gebrauchsweise. Die schäumenden Wellen des Meeres wären kein Stillleben, sondern eher Landschaftsmalerei. Doch schon das Stillleben mit seiner reichhaltigen Ausgestaltung sollte zugleich als ein Memento Mori betrachtet werden. Die Vergänglichkeit der Früchte, Fische, des Fleisches und der Blumen sollte als Bild die Betrachter*innen an den eigenen Tod erinnern.

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Das Genre der Nature Morte wird sowohl für die Malerei wie für die Literatur in Anschlag gebracht, wenn Rebekka Schnell es 2016 im Plural für die „Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon“ in Anschlag bringt.[1] Bedenken lässt sich, dass auch der französische Begriff für Stillleben auf die niederländische Malerei im 17. Jahrhundert zurückgeht.[2] Er diente der Benennung eines Bildsujets, auf dem stillstehende  Gegenstände, Blumen, Pflanzen, Geschirr wie Gläser als Faszinosum, Meeresfrüchte, Fische etc. zu sehen sind. Umso verblüffender wirkt dann das Klavierstück Stillleben von Philipp Scharwenka, das 1887 in Breslau erschien.[3] Scharwenka betont in seinen Spielanweisungen wiederholt den „Ausdruck“: „Nicht zu schnell, mit Ausdruck.“, „ausdrucksvoll“, „ruhig mit Ausdruck“, „sehr ausdrucksvoll“.

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Die Unbewegtheit des Bildes bzw. der Dinge im Bild ist durch die erste hohe Gebrauchsfrequenz des Stilllebens zwischen 1880 und 1890 einer Ausdruckslogik gewichen, ließe sich mit Scharwenkas Klavierstück sagen.[4] Bis ca. 1950 nimmt die Gebrauchsfrequenz wieder ab, um sich dann bis 1999 geradezu inflationär als Wissen vom Bildgenre durchzusetzen. Nach 2000 nimmt die Gebrauchsfrequenz wieder ab. Der Gebrauch des Begriffs Stillleben bzw. Nature Morte für künstlerische Produktionen in der Malerei über die Videokunst bis zur Klavierkomposition gibt einen Wink über den Gebrauchswandel. Nach wiederholtem Crescendo endet Scharwenkas ebenso ausdrucksstarkes wie kitschiges Klavierstück bedeutungsvoll „verhallend“. Bürgerliches Sentiment hatte das Stillleben kursieren lassen, bevor es zum geläufigen Fachbegriff wurde.

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Ulrich Baron hat den Begriff Nature morte 2020 in den Frankfurter Heften zum Titel für eine Besprechung von zwei Büchern zum Artensterben gemacht.[5] Im Kontext der Besprechung von Jinran Kims Ausstellung erscheint Barons Begriffsverschiebung erwähnenswert, weil dadurch der Fachbegriff stärker mit dem vom Menschen verursachten Sterben in der Natur verkoppelt wird. Baron rezensiert vor allem Matthias Glaubrechts 1.000seitige Studie Das Ender der Evolution. Der Mensch und die Vertreibung der Arten.[6] Der Evolutionsbiologe und Biodiversivitätsforscher Glaubrecht beschreibt in seinem Buch die odysseische Situation, politisch zwischen Skylla und Charybdis hindurch zu navigieren. Eine Situation wie sie durch das Heizungsgesetz der Grünen zum Menetekel geworden ist.
„Dieses Wachstum aber läuft auf einen globalen Kollaps zu, den Glaubrecht in einer »Rückschau auf 2062« antizipiert: Überschwemmungen aufgrund des steigenden Meeresspiegels haben Großstadtregionen unbewohnbar gemacht; die auf wenige Getreidesorten konzentrierte Landwirtschaft hat sich nicht auf Dauer gegen Infektionen durch Pilze, Bakterien und andere Schädlinge schützen lassen. Neben der Grundversorgung mit Nahrung ist auch die mit Trinkwasser zusammengebrochen. Die einen Menschen sind verhungert oder verdurstet, die »anderen an den Folgen der Knappheit, von gräulichen Krankheiten bis zu den ewigen Verteilungskämpfen und -kriegen« gestorben.“[7]

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Baron fordert, dass Glaubrechts Prognosen politisch mit den Wähler*inneninteressen in Einklang gebracht werden müssen. Nature Morte visualisiert ein nicht zuletzt globales politisches Dilemma. Lässt sich die Gletscherschmelze noch stoppen, wenn wir zugleich von einer neuen internationalen Art Instagram-Klettertourismus am Mount Everest lesen müssen.[8] Nicht nur wurde der Berg der Berge vom Klettertourismus schon vor 11 Jahren verdreckt, vielmehr kostet er Menschen das Leben. Am Mount Everest gibt es ein gigantisches Müllproblem, wie BILD im Juni 2023 kolportierte.[9] Chinesen, Deutsche, Südkoreaner etc. sind am Mount Everest zu Tode gekommen, weil sie ihn, wie es so schön heißt, „bezwingen“ wollten:
„Unser Team ist am Mount Everest, um an diese Expedition vor 50 Jahren zu erinnern. Doch wir müssen erleben, dass der Berg der Berge zum Symbol für alles geworden ist, was mit dem Alpinismus falschläuft. 1963 waren nur sechs Bergsteiger auf den Gipfel gelangt – im Frühjahr 2012 schafften es mehr als 500. Als ich am 25. Mai den Gipfel erreichte, drängten sich dort so viele Leute, dass ich kaum Platz zum Stehen fand. Weiter unten, am Hillary Step, war die Schlange so lang, dass Kletterer auf dem Weg nach oben zwei Stunden warten mussten.“[10]

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Der Mount Everest ist nur der Gipfel des Instagram-Tourismus, der jedes Naturbild in mehrfacher Hinsicht zur Nature Morte macht. Ob Wasserfall, Meeresstrand, Kirschblüte oder Berggipfel per Mobile-Selfie wird die Natur stillgestellt und zur Staffage für ein sich aus Nature Shots auf Instagram generierendes Subjekt. Mögen Dich die Followers lieben. Das Naturbild ist verletzbar geworden. Die Verletzlichkeit des Naturbildes schwingt in den Arbeiten mit Gaze von Jinran Kim mit. Denn sie hat sich immer für Grenzbereiche des Lebens zum Tod interessiert, wie schon 2009 mit Last Matress und dem 108 Stufen Tempel im Kunstraum Mausoleum auf dem St.-Matthäus-Kirchhof deutlich wurde.[11] 2014 kamen in der Galerie im Körnerpark in der Ausstellung After the Rain ihre Trümmerfrauen und Malerei mit Asche zur Geltung.[12] Die Arbeiten mit Verbandsgaze kamen 2018 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit.[13] Und während der Covid19-Pandemie gab es im November 2020 in der Galerie Z22 schon mit PAINSTAKING einen mehrdeutigen Hinweis auf die psychische und physische Wundbehandlung mit Gaze.[14]

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Das Naturbild hat sich seit und mit Sigmund Freuds Trauma-Forschung bei Jinran Kim immer stärker zu Bild der Heilung entwickelt. Ihre Naturbilder vom Meer sollen beruhigen und seelische Wunden heilen. Die Rede von der verletzten Natur hat sich zwischenzeitlich zugespitzt. Hitzerekorde bedrohen Flora wie Fauna und den Menschen. Im Caspar David Friedrich-Jahr mit seinen Männern am Meer und auf dem Berggipfel wie Mönch am Meer aus der Zeit von 1808 bis 1810 oder Wanderer über dem Nebelmeer von 1818 bewundern im 250. Jubiläums Jahr tausende, zehn-, ja, hunderttausende Museumsbesucher*innen die Leere der Naturbilder, vor die bei Friedrich lange nur ein Mann gestellt wird. Bei Jinran Kim bleiben die Naturbilder menschenleer und nur die Betrachter*innen müssen ihre Haltung vor den Gazebildern finden. In Heinrich von Kleists Bildbesprechung Vor Friedrichs Seelandschaft in den Berliner Abendblättern vom 13. Oktober 1810 nennt der Rezensent das Meer eine „unendliche Wasserwüste“.

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Eine „unendliche Wasserwüste“, wie es Kleist für Friedrich formuliert, kann seit Ewald von Kleist nicht nur ein Überschwemmungsgebiet[15] benennen, vielmehr gibt die Kombination von unendlich und Wüste einen Wink auf die Leere, die als Einsamkeit empfunden werden kann. „Seelandschaft“ wie „Nebelmeer“ sind nach Caspar David Friedrichs eigener Formulierung vorm „geistigen Auge“ entstanden. Die Bilder der Leere des jungen Mannes haben viel mit ihm selbst zu tun. Später kommen Frauen und Kinder in die Bilder des Malers. Gegen Ende seines Lebens verschwinden sie wieder. Die Gaze-Bilder von Jinran Kim haben mit den Bildern der Naturzerstörung zu tun, von denen wir hören und die uns gezeigt werden, um sich in uns festzusetzen.
„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“

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Jinran Kims Ausstellung Nature Morte im Projekt Space Kimgo bringt die Betrachter*innen vor die Bilder, sie konfrontiert sie mit zunächst ansehnlichen Bildern vom Meer, von den Berggipfeln, vom Wasserfall etc. um dann mit dem Verbandsmull den verstörenden Schmerz, der in ihnen gespeichert ist, erahnbar zu machen. Nature Morte ist eine Reise in die Bilder und die Diskurse, die sie hervorgebracht haben. Sie sind eine Reise ins Innere wert.

Torsten Flüh

Nature Morte
verlängert bis 28. September 2024
Open FR 4-7 PM and by appointment 
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Tel 0176 6705 1098 
Projetraum KIMGO
John-Schehr-Str. 1
10407 Berlin

BACH, BENJAMIN BRITTEN, E.MORRICONE
Concert 8. September  4pm   Entrance Free
Musician Youjung Lee   Solo Oboe


[1] Rebekka Schnell: Natures Mortes: zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016.

[2] Wikipedia: Stillleben.

[3] Philipp Schawenka: Clavierstücke: Stillleben. Breslau: Julius Hainauer, 1887. (Digitalisat)

[4] DWDS: Stillleben: Verlaufskurve 1600 bis 1999.

[5] Ulrich Baron: Nature morte. Vom Artensterben. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Die Zeitschrift für Politik und Kultur. Ausgabe 3 2020, 10.03.2020.

[6] Matthias Glaubrechts Studie Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vertreibung der Arten. München: Bertelsmann, 2019.

[7] Ulrich Baron: Nature … [wie Anm. 5]

[8] Anna-Kathrin Hentsch: Instagram-Tourismus: Warum sich immer mehr Orte wehren. In: National Geographic 6. August 2021, 18:03 MESZ.

[9] Bild: Müll-Problem auf dem Mount Everest: Sherpa zeigt dreckigstes Camp 1. Juni 2023.

[10] National Geographic: Not am Mount Everest. Der Klettertourismus schadet dem Everest und gefährdet Menschenleben. Heft 06 / 2013, Seite(n) 108 bis 127.

[11] Torsten Flüh: Unter Spinnweben. Ausstellung Kunstraum Mausoleum auf dem St.-Matthäus-Kirchhof mit Jinran Kim und ihrem 108 Stufen Tempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2009.
Siehe auch: „Die Matratze war noch warm“ – Ein Interview mit Jinran Kim über Last Mattress in der Galerie Förster. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. September 2010.

[12] Torsten Flüh: Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood. Zur Ausstellung After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Mai 2014.

[13] Torsten Flüh: Koreas Wunden unter Gaze. Jinran Kim zitiert Sigmund Freud und macht Landschaftsbilder aus Verbandsgaze. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Februar 2018.

[14] Torsten Flüh: Von der Poesie des Naturbildes. Zu Jinran Kims visueller Poesie in ihrer Ausstellung PAINSTAKING in der Galerie Z22. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2020.

[15] Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Wasserwüste.

Tradition und Frische

Orchester – Klang – Hammer

Tradition und Frische

The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024

Das Musikfest Berlin entfaltet eine Vielfalt an erstklassigen, internationalen Orchestern von der kontrabassdunklen Tradition bis zur jugendlichen Frische und Offenheit. Die Vielfalt der Orchester wurde gleich in der ersten Woche hörbar mit The Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst, der Kansas City Symphony unter der Leitung von Matthias Pintscher und der Filarmonica della Scala mit Riccardo Chailly am Pult. Genau darin besteht die Faszination des Musikfestes Berlin der Berliner Festspiele und der Berliner Philharmoniker. Als das jüngste der Big Five blickt das Cleveland Orchestra auf eine Geschichte seit 1918 zurück. 1778 wurde das Teatro alla Scala eröffnet. KC Symphony wurde 1982 gegründet.

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Die amerikanischen Orchester befinden sich vor dem eigentlichen Saisonbeginn auf Europatournee und die Filarmonica della Scala kam als Vorprogramm zu Italien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2024 nach Berlin. Mit ihren Konzertprogrammen schärfen die Orchester ihr Profil, so dass The Cleveland aus Ohio mit der Deutschen Erstaufführung der Composer in Residence 2022/2023 Allison Loggins-Hall mit der Frage Can You See? aufwartete. Die folgende Kombination aus John Adams Guide to Strange Places mit Sergej Prokofjews Sinfonie Nr. 2 stellte den Klang des Orchesters unter Beweis. KC Symphony setzte mit Charles Ives Decoration Day und The Fourth of July sowie George Gershwins Rhapsody in Blue bemerkenswerte Akzente, um im zweiten Teil Aaron Coplands Symphony No. 3 folgen zu lassen. Die Filamonica della Scalla akzentuierte ihr Programm mit Luciano Berios Quatre dédicaces und Wolfang Rihms Dis-Kontur buchstäblich mit einem riesigen Holzhammer, um im zweiten Teil in Maurice Ravels Daphnis et Chloé zu schwelgen.

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Die in New York lebende Allison Loggins-Hall gehört aktuell wohl zu den engagiertesten Komponistinnen der USA. Der Titel ihres 2023 für das Cleveland Orchestra abermals umgearbeiteten und erweiterten Ensemblestückes zitiert den Anfang der Nationalhymne The Star Spangled Banner, in der es heißt: „O! say can you see[1]/by the dawn’s early light,/What so proudly we hailed/at the twilight’s last gleaming,/Whose broad stripes and bright stars/through the perilous fight,/O’er the ramparts we watched,/were so gallantly streaming?” Doch die zitierte Eingangsfrage wird nicht zuletzt als Reaktion auf die „Phase rassistischer Polizeigewalt der Nach-Corona-Zeit“[2] vertieft, indem sie die Komponistin nach eigenen Worten weitertreibt: „Sind die Dinge klar? Sind sie konzentriert? Tun wir das, von dem wir sagen, dass wir es tun sollen, das, worum es uns geht? Ist das wahr?“[3] Die melodisch emphatische Hymne als Selbstvergewisserung nationaler Identität, wenn man z.B. nur einmal an ihre Zelebrierung beim jährlichen Super Bowl denkt, wird insofern an ihrem Anspruch gemessen.

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Die Flöte spielt in der melodischen, doch zerklüfteten Komposition schon deshalb eine entscheidende Rolle, weil Allison Loggins-Hall selbst Flötistin ist und sie ihre Komposition von daher denkt. Mit dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst erhält Can you see? durch die Streicher eine besonders wolkige Umgebung, die von der Komponistin als Unschärfe gedacht wird. Diese Unschärfe könnte man auch das mit der Hymne imaginierte Amerika nennen. Loggins-Hall erweitert die Spielpraktiken nicht nur für die Streicher, wenn diese in kreisende Bewegungen auf den Saiten gleichsam als in eine ständige Wiederholung verfallen. Doch es kommt durch unterschiedlichen Druck und Schlagzeug auch zu Verzerrungen. Im Soloinstrument der Flöte lassen sich durch erweiterte Spieltechniken Klänge der amerikanischen indigenen Bevölkerung hören, die sonst in der philharmonischen Musik verdrängt werden. Auf diese Weise geht Allison Loggins-Hall in ihrer mehrfach erweiterten und überarbeiteten Komposition vom Modus der Frage aus, um dadurch an eben jene zu erinnern, die weder gesehen noch gehört werden.

©  Fabian Schellhorn

Die Deutsche Erstaufführung von Can you see? in Anwesenheit der Komponistin fand stürmischen Beifall. Denn gerade die emphatische Frage nach dem Sichtbaren des von Francis Scott Key im September 1814 formulierten, sich reimenden Gedichtes knüpft an das Sichtbarkeitsparadigma an, das sich um 1800 durchsetzt. Im Original hat die Frage eine rhetorische Funktion, von Allison Loggins-Hall wird sie zur entscheidenden Frage in der amerikanischen Demokratie und Gesellschaft zugespitzt. Das Versprechen der Hymne als Sieg nicht zuletzt über die Dämmerung und Dunkelheit entspricht dem Freiheitsnarrativ der Aufklärung. Doch hörbar werden nun jene in der Flöte, die als indigene Bevölkerung und farbige Sklaven unsichtbar bleiben sollten. Der dezidiert europäische Klang nicht nur des Orchesters, vielmehr noch das Visuelle des Klangzauberers Franz Welser-Möst im Frack mit weißer Fliege und Taktstock stand optisch ein wenig im Widerspruch zur Komposition.

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John Adams Guide to Strange Places vermochte mit seinen Anklängen an die Minimal Music, besonders zu faszinieren. Mit dem paradoxen Reiseführer zu seltsamen Orten wird bereits ein geheimnisvoller Modus in der Musik angeschlagen. Adams hat die Entstehungsgeschichte als die Erfahrung, einen Reiseführer in der Provence zu nutzen, formuliert. In derartigen Reiseführern wird jeder Ort genau mit unterschiedlichen Wissensformaten beschrieben. Über die Landschaft legt sich ein Netz des Wissens aus Geologie, Zoologie, Botanik, Archäologie[4] und Geschichte, Vermessungen und Verkartungen: „in this location there was a strange geological formation; in another unusual climactic occurrences; somewhere else a horrific historical event had taken place or perhaps a miracle had been witnessed“.[5] Wie lässt sich das Reiseführerwissen in Musik transformieren bzw. befragen? Denn die Landschafts- und Witterungsbeschreibung hat in der Musik eine lange Tradition beispielsweise in der Pastorale, in der quasi eine idyllische Landschaft klanglich gebaut wird oder in Richard Strauss‘ hoch ironischer Alpensinfonie.[6]

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Das Reiseführerwissen wird von John Adams in Guide to Strange Places befragt und hinterfragt. Die unterschiedlichen Wissensbereiche werden, wie Adams sagt, mit besonderen Symbolen versehen im Reiseführer. Strange Places oder „paysages insolites“ entziehen sich als das Ungewöhnliche oder Seltsame der Einordnung, die sich als schon gewusst auffassen ließe. „In a sense, all of my pieces are travel pieces, often through paysages insolites – it’s the way I experience musical form”[7], sagt der Komponist. Insofern sind es geheimnisvolle, sich im Klandestinen vorantastende Reisen des Komponierens. Es werden weniger die philharmonischen Modi der Landschaftsbeschreibungen erfüllt, als vielmehr mit der minimalistischen Musik entfaltet und eben auch im Seltsamen belassen. Martin Wilkening hat in seiner Einführung mit dem Titel „Geprägt von Krisenangst“ vorgeschlagen, dass John Adams eine „Folge vorbeiziehender Bilder in einer Art Road-Movie-Ästhetik“ komponiert habe.[8] Hörbar wurden für mich rhythmische Phasen wie ein perpetuum mobile oder das Schwungrad einer Dampfmaschine, zugleich kommt der ganz große Orchesterappart des Cleveland Orchestra zum Einsatz. Gar an einen Totentanz oder Dantes Inferno lässt sich hörend denken.

©  Fabian Schellhorn

Die Sinfonie Nr. 2 d-Moll op. 40 von Sergej Prokofjew aus der Zeit von September 1924 bis Mai 1925 ermöglichte dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst, die ganze Klangentfaltung vorzuführen. Mit den Sätzen Allegro ben articolato und Tema con variazioni beschreitet Prokofjew neue Wege der sinfonischen Komposition, indem er an Beethovens Klaviersonate 32 in c-Moll op. 111 anknüpft. Die schöne Artikulation lässt sich als eine starke durch zahlreiche Dissonanzen bedenken. Indem der russische Komponist im Pariser Exil von einem Eisen-und-Stahl-Charakter der Sinfonie sprach, spielt er nicht nur auf einen Mythos der industriellen Moderne an, vielmehr noch schwingen die Mythen der Männlichkeit und des starken Subjekts mit, wie mit der entscheidenden Funktion der Klaviersonate für Thomas Manns späteren Roman Doktor Faustus zu bedenken wäre.[9] Insbesondere Beethovens 5. Variation im 2. Satz kann als ein wichtiger Bruch in der Sonatenkomposition wahrgenommen werden. Franz Welser-Möst lässt das Marschthema fast ins Brutale ausführen, um dann wieder die Violinen versöhnliche Töne anstimmen zu lassen.

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Das Konzert der Kansas City Symphony unter der Leitung von Matthias Pintscher wird ganz gewiss als eines der überraschendsten Orchester nicht nur der Musikfest-Ausgabe 2024 in Erinnerung bleiben. Nicht nur die Kombination von zwei kurzen Kompositionen von Charles Ives, dessen 150. Geburtstag sich am 20. Oktober jährt, George Gershwins Rhapsody in Blue, die vor 100 Jahren uraufgeführt wurde, und Aaron Coplands Symphony No. 3, vielmehr noch die Zugabe von Count Basies Li’l Darling, das 1958 auf dem Album The Atomic Mr. Basie veröffentlicht wurde, sprengte den üblichen Konzertrahmen. Insbesondere an der Interpretation der Rhapsody in Blue, diesem amerikanischen Konzertkracher mit internationalen Folgen[10], durch den jungen Pianisten und Komponisten Conrad Tao ließ an die Widersprüchlichkeit der Großstadthymne denken. Denn in seinem Solo phrasiert Tao und setzt Pausen, die an Einsamkeit im Furor der Großstadt denken lassen. Das hatte der Berichterstatter so noch nicht gehört.

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Die beiden kurzen Stücke Decoration Day und The Fourth of July von Charles Ives verarbeiten die Kindheitserinnerungen an die beiden amerikanischen Feiertage. Es sind insofern biographische Kompositionen in einer für Charles Ives ebenso eigenwilligen wie einzigartigen Weise. Einerseits erinnert den Berichterstatter die Eröffnungssequenz von Decoration Day als Feiertag am letzten Montag im Mai an Central Parc in the Dark[11], andererseits wird ein militärisches Trompetensignal hörbar. Das Heraufsteigen der Erinnerung und die damit verknüpften Gefühle werden von Ives gleichsam als Thema eingeführt. Brian Coffill hat die Komposition von 1912 stärker in den Kontext von Charles Ives‘ Bewunderung für seinen Vater gestellt, der in einer Militärkapelle eher glücklos spielte: „Despite this checkered service history, Charlie seemingly saw George as a hero, not a deserter, a sentiment he carried into adulthood.“[12] Der auch Memorial Day genannte Decoration Day wird auf diese zu einem mehrdeutigen Tag der Auszeichnung.

©  Fabian Schellhorn

The Fourth of July als Erinnerungstag an die Unabhängigkeitserklärung bietet ein musikalisches Panorama des Volksfestes. Mit wiederholten Dissonanzen wird ein Tumult, wenn nicht gar Chaos hörbar. Ein Glöckchen und Schüsse sind zu hören. Eine allgemeine Aufregung und Freude der Massen wird von Dissonanzen durchbrochen, was Ives Kritik eintrug. Doch bereits in einer Notiz des Komponisten an seinen Kopisten bestand er auf die vermeintlich falschen Noten bzw. Töne: „Please don’t try to make things nice! All the wrong notes are right. […] I want it that way.”[13] Der Independence Day als amerikanische Selbstvergewisserung sollte also in ca. 6 Minuten nicht nur schön (nice) klingen. Vielmehr wird die Massenveranstaltung in ihrer Widersprüchlichkeit vorgeführt, was mit Kindheitserinnerungen und einem Erfahrungswissen von 1912 in New York bedacht werden kann. Matthias Pintscher, der selbst in New York lebt, machte die Widersprüchlichkeit mit Genauigkeit und großer Empathie für die überwiegend jungen Orchestermitglieder der KC Symphony akzentuiert wahrnehmbar. Überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, dass der neue Musikdirektor und Chefdirigent sein Orchester oder umgekehrt gefunden hat.

©  Fabian Schellhorn

Die Musiker und der Dirigent haben offenbar ihre Freude am gemeinsamen Musizieren. Dieser Eindruck setzte sich auch bei der Rhapsody in Blue und der Symphony No. 3 von Aaron Copland durch. Wobei Aaron Copland Ives als ein Produkt Amerikas schätzte: „Only America could have produced a Charles Ives.“ Die Symphony No. 3 fällt dann auch 1946 (revidiert 1966) als eine amerikanische Mythologie der Erhabenheit, Größe, des Optimismus und der Euphorie aus. Einem amerikanischen Mythos wie er heute beispielsweise mit Allison Loggins-Halls Can you see? schwerlich denkbar ist und nur noch befragt werden kann. Im Finale baute Copland seine Fanfare for the Common Man ein, die 1942 als Beitrag „to the war effort“ entstanden war. Coplands Symphonie ist mit dem Wissen, auf der richtigen Seite im Weltkrieg gegen den Faschismus zu stehen, komponiert und instrumentiert. – Die USA waren am 11. Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour in den 2. Weltkrieg gegen die faschistischen Machthaber in Deutschland, Japan und Italien eingetreten. Die Symphony No. 3 ist insofern dezidiert politisch gerahmt.

©  Fabian Schellhorn

In der Programm-Konstellation von Charles Ives Decoration Day und den „wrong notes“ von The Fourth of July mit der nicht nur krachenden Rhapsody in Blue im systemischen wie ideologischen Wettstreit zwischen den USA unter Richard Nixon und der Volkrepublik China unter Mao Zedong[14] bekam die Third Symphony mit ihrem „grand manner“ etwas Bedenkliches. Die ganz große Orchestermaschine mit 4 Hörnern, 4 Trompeten, 2 Posaunen und Bassposaune, etc. 2 Harfen, Celesta, Glockenspiel und Klavier, aber nicht ganz so zahlreich besetzten, fetten Streichern wie im Cleveland Orchestra lässt sich wohl als eine große Komposition wiederentdecken. Doch sie ist eben auch mit dem Krieg und dem Anspruch einer Dominanz als Weltmacht verknüpft, die nicht mehr ganz so euphorisch rezipiert werden kann. Sie lässt einen durchaus fragwürdigen Amerika-Mythos erklingen, der durch desaströse Politiken gelitten hat. Es gibt kaum einen Mythos, der sich stärker hält als der, dass die Musik unpolitisch sei.

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Der Auftritt der Filarmonia della Scala als Vorspiel zur Ehrengast-Rolle Italiens auf der Frankfurter Buchmesse darf durchaus mit gemischten Gefühlen wahrgenommen werden, weil der parteilose, italienische Kulturminister Gennaro Sangiuliano der Regierung der Postfaschistin Giorgia Meloni angehört. Darüber lässt sich schwerlich hinwegdenken, wenn das Flaggschiff der italienischen Philharmonie-Orchester mit seinem hochdekorierten Chefdirigenten Riccardo Chailly beim Musikfest auftritt. Schließlich lässt sich Giorgia Meloni eher mit Björn Höcke als mit Jörg Meuthen vergleichen. Dennoch oder gerade deshalb fiel das Konzert nicht identitär italienisch aus, worauf man nach der Fraktion der rechtspopulistischen, nationalistischen und rechtsextremen Parteien im Europäischen Parlament unter der neuen Führung von Jordan Bardella des Rassemblement National oder zuvor Marco Zanni der Lega aus Italien gefasst sein müsste. Faschistische Politiker*innen (mit Sternchen und immer mit Sternchen) wollen nicht nur einen irgendwie abstrakten Diskurs verändern, sondern zielen auf die Sprache und die Musik. 

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Mit Luciano Berio, dessen 100. Geburtstag im nächsten Jahr zu feiern sein wird und der sich im 2. Weltkrieg einer antifaschistischen Widerstandsgruppe angeschlossen haben soll[15], Wolfgang Rihm und Maurice Ravel wurde zumindest ein Bogen zwischen Berio und dem kürzlich verstorbenen Rihm geschlagen. Denn 1969 habe dieser bei den Donaueschinger Musiktagen als 17jähriger im Publikum gesessen und die Sinfonia von Luciano Berio gehört. Wolfgang Rihm erinnerte sich später, „etwas Brillantes, im Grunde aber ,Unerlaubtes‘ gehört zu haben“.[16] Es waren nicht zuletzt in der Musik revolutionäre Zeiten, die das Unerlaubte der Grenzüberschreitungen praktizierten. Mit den postum zusammengestellten Quatre dédicaces von Luciano Berio, die zwischen 1978 und 1989 entstanden zwischen 60 und 112 Takten lang sind, kultiviert er einen überaus reichen Orchesterklang, mit dem Orchester zwischen dem Rotterdams Philharmonischen Orkest und dem Dallas Symphony Orchestra durch Kompositionsaufträge brillieren konnten. Die Filarmonica della Scala stellte also mit Fanfara, Entrata, Festum, Encore ihr musikalisches Können unter Beweis.

©  Giovanni Haennin (Unten links der Holzhammer im Einsatz)

Besonderes Furor machte der riesige Holzhammer in Wolfgang Rihms Dis-Kontur. Höchstwahrscheinlich 4 jüngere Italienerinnen zückten im Block E Rechts ihre Smartphones, um den mehrfachen Einsatz des Holzhammers zu Filmen. Der Holzhammer mit einem nicht minder konstruierten Holzblock und einer kreisrunden Öffnung nach vorne bzw. dessen dumpfer Ton kann für vieles stehen. Seit Gustav Mahlers 6. Sinfonie von 1904 wird in den Sinfonieorchestern mit dem Hammer und am Klang des Hammers gearbeitet[17]. Gustav Mahler schwankte in seiner Entscheidung, wie oft der Hammer am Schluss zu hören sein sollte. Wolfgang Rihm lässt in Dis-Kontur die Musik aus dem Hammerschlag entstehen. Heute kann man selbst in der Philharmonie Berlin nicht sicher sein, ob eher der visuelle oder der akustische Effekt des Holzhammers das Publikum fasziniert. Rihm setzt den „große(n) Hammer“ bestimmt 5 bis 6 Mal ein. Der Berichterstatter hat nicht rechtzeitig mitgezählt.

Holzhammer mit Unterbau

Der Titel Dis-Kontur von 1974 mit einer Revision von 1984 ist ein bedenkenswerter Neologismus, der in eine Zeit fällt, in der der Begriff Kontur seine höchste Gebrauchsfrequenz hatte.[18] Für den 22jährigen Wolfgang Rihm dürfte mit der Vorsilbe dis- wie nicht zuletzt in Disharmonie als Verneinung eine Gegenposition zum Modewort Kontur eine Rolle gespielt haben. Gleichzeitig wird mit dem Dis in der Musik an die Halbtonart z.B. im dis-Moll oder dis-Dur erinnert[19], womit Dis-Kontur mehrdeutig wird. Mehrdeutigkeit generiert indessen eine Unschärfe im Unterschied zur Kontur. Rihm knüpft zweifellos an den Hammerschlag in der 6. Sinfonie Mahlers an, wobei eben auch jener permanent diskutiert und interpretiert wird. Der Hammerschlag, so ließe sich mit Rihms Dis-Kontur formulieren, muss keinesfalls ein Ende der Musik bedeuten. Oder reagiert Mahlers Hammerschlag in der 6. Sinfonie nicht schon auf die allzu zuversichtlichen Hammerschläge in Richard Wagners Ring des Nibelungen? Sie bringen vielmehr höchste industrielle Produktion in die Musik, was seit dem sogenannten Jahrhundertring mit Pierre Boulez klar ist.[20]

© Giovanni Haennin

Die schon im 18. Jahrhundert bei Jean-Philippe Rameau in der Suite des vents verwendete Windmaschine als Musikinstrument[21], die maschinell Wind hörbar machen soll, feiert in Maurice Ravels Daphnis et Chloé 1911 im Nocturne ihren großen Auftritt. Mit der Windmaschine und aus der Akustik des Luftstroms entsteht die nicht zuletzt erotische Hitze der Liebenden. Die Sinfonischen Fragmente Suite Nr. 1 (1911) und Nr. 2 (1912) entfalten sich weniger als eine Natur-Maschine als vielmehr eine Lust-Maschine für die Ballets russes von Sergei Diaghilew im Nocturne, Interlude, Danse guerrière und Lever du jour, Pantomine, Danse générale. Die beiden Sinfonischen Fragmente werden eher selten aufgeführt. Riccardo Chailly lässt die Filarmonica della Scalla in den impressionistischen Farben schwelgen, was sich auf das Publikum übertrug und zu einem Beifallssturm führte.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
bis 18. September 2024


[1] Unterstreichung Torsten Flüh.

[2] Martin Wilkening: Can You see? In: Abendprogramm 26.8.2024: The Cleveland Orchestra. Berlin: Berliner Festspiele 2024, S. 8.

[3] Allison Loggins-Hall zitiert nach ebenda.

[4] Zur auditiven Archäologie siehe auch die “Ortsbestimmungen“ in: Torsten Flüh:  Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.

[5] John Adams: Guide to Strange Places: Notes.

[6] Zur Alpensinfonie siehe: Torsten Flüh: Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch. Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. September 2023.

[7] John Adams: Guide … [wie Anm. 5].

[8] Martin Wilkening: Can … [wie Anm. 2] S. 10.

[9] Siehe: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[10] Siehe: Torsten Flüh: Zerspringende Identitäten. Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2023.

[11] Zu Central Parc in the Dark siehe: Torsten Flüh: Brasiliens Mythen der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. August 2024.

[12] Brian Coffill: Charles Ives’s Decoration Day: A Conductor’s Guide. In: SAGE open March 29, 2019.

[13] Charles Ives zitiert nach Olaf Wilhelmer: Aus vielem eines, aus einem vieles. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 28.8.2024. Berlin 2024, S. 9.

[14] Torsten Flüh: Zerspringende … [wie Anm. 10]

[15] Musik der Jahrhunderte: Luciano Berio.

[16] Zitiert nach: Lotte Thaler: Fest der Farben. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 29.8.2024 Filarmonica della Scala. Berlin, 2024, S. 8.

[17] Siehe zur Frage wie oft der Hammerschlag eingesetzt werden soll: Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.

[18] Siehe Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Kontur.

[19] Ebenda: dis-.

[20] Zur Frage der Industrialisierung bei Richard Wagner siehe auch: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Silvesterstimmung. Das Silvesterkonzert 2012 der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Januar 2013.

Brasiliens Mythen der Moderne

Musik – Brasilien – Mythos

Brasiliens Mythen der Moderne

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band

Die Temperaturen in Berlin am 24. August waren den Gästen aus São Paulo würdig. Noch spät am Abend herrschten 27° C wie sonst im Februar in São Paulo. Mit ca. 12 bis 13 Millionen Einwohnern ist die Stadt im subtropischen Klima am Rio Tietê, der fast dreimal so lang ist wie die Spree, natürlich viel größer. Das São Paulo Symphony Orchestra wurde vor 70 Jahren gegründet und befindet sich derzeit als eines der besten Orchester Südamerikas auf Europatournee. Thierry Fischer ist seit 2020 sein Musikdirektor und Chefdirigent. Er ist nicht in Südamerika geboren, sondern als Sohn schweizerischer Eltern in der südafrikanischen Föderation von Rhodesien und Njassaland. Über Hamburg und Zürich begann er seine internationale Musikerlaufbahn, um nun in São Paulo mit seinem Orchester Erfolge zu feiern. Beifallssturm in der Philharmonie nach Amériques.

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Als zweiter Teil des Eröffnungsabends trat die São Paulo Big Band unter der Leitung von Daniel D’Alcântara mit einem Programm der Música Popular Brasileira auf. Das Konzert begann um 21:30 Uhr und forderte nach einem Nachmittag auf der Landzunge zwischen Heiliger See und Jungfernsee im Neuen Garten in Potsdam den Berichterstatter in seinen Kapazitäten heraus. Bereits die Bildunterschrift im Programm des Musikfestes zu einem Foto des einst höchsten Gebäudes Südamerikas dem Martinelli-Hochhaus in São Paulo, spielt auf Claude Levi-Strauss mit einer Verneinung an: „Keine traurige Tropen“. Doch der Begründer des ethnologischen Strukturalismus prägte nach seinen Aufenthalten in São Paulo und dem Amazonasgebiet auch einen neuen Mythenbegriff für Kulturen. Während Levi-Strauss das mondäne Martinelli-Hochhaus mit Palast in den obersten Stockwerken bekannt gewesen sein dürfte, erforschte er mit Tristes Tropique das Menschliche und Ursprüngliche.

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Nicht zuletzt das Konzertprogramm mit Charles Ives, Alberto Ginastera, Heitor Villa-Lobos und Edgar Varèses Amériques (1918-1922, rev. 1927), wohlgemerkt im Plural, stellte die Frage nach dem Mythos Brasilien bzw. den Mythen Brasiliens. Claude Levi-Strauss war in São Paulo und im Amazonasgebiet in der Zeit von 1934 bis 1939 mit Unterbrechungen auf das engste mit der Suche Brasiliens nach sich selbst verknüpft. Heitor Villa-Lobos komponierte 1917 nicht nur seine Symphonische Dichtung Amazonas, sondern auch die Dichtung von einem glückbringenden Urwaldvogel Uirapurú, die der Komponist auf 1934 nachdatierte, damit sie am 25. Mai 1935 in Buenos Aires vom Komponisten selbst als ursprünglich brasilianisch uraufgeführt werden konnte. Der imaginäre Mythos vom Primitiven und Ursprünglichen, der von Heitor Villa-Lobos mit seinen artifiziellen Symphonischen Dichtungen vor dem Hintergrund nationalistischer Politik äußerst erfolgreich gesetzt wurde, lässt sich mit Tristes Tropique bedenken.

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Claude Levi-Strauss ging es in seiner ethnologischen Studie zu den lange fast sprichwörtlichen Nambikwara im Amazonasgebiet, die von der Ausrottung durch Europäer und internationale Wirtschaftsinteressen bedroht waren, nicht nur um ein primitives Naturvolk, sondern um die Frage nach dem Menschen. Die Funktion der Sprache für das Menschliche spielte eine wichtige Rolle. Nach der menschenverachtenden Katastrophe der Shoa fand Claude Levi-Strauss um 1955 „den“ Menschen am Amazonas, der sich ihm zugleich „entzog“:
„Was mich betrifft, so war ich auf der Suche nach dem, was Rousseau ‚die kaum merklichen Fortschritte der Anfänge‘ nennt, bis ans Ende der Welt gegangen. Hinter dem Schleier der allzu weisen Gesetze der Caduveo und der Bororo hatte ich meine Suche […] fortgesetzt … [dann] glaubte ich, diesen Zustand bei einer im Sterben liegenden Gesellschaft entdeckt zu haben […] Doch sie war es, die sich mir entzog. Ich hatte eine auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierte Gesellschaft gesucht. Die der Nambikwara war so einfach, daß ich in ihr nur den Menschen fand.“[1]

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Die einfachsten Menschen, die Nambikwara, die Claude Levi-Strauss in Brasilien fand, sollten nicht nur primitive Menschen nach dem rassistischen Konzept des Primitivismus sein, der in den Kompositionen von Heitor Villa-Lobos anklingt. Vielmehr ringt Levi-Strauss nach 1945 überhaupt, um eine Definition des Menschen, nicht im Imaginären aufgeht, sondern sich der Bestimmung „entzog“, nachdem nicht nur in Deutschland faschistische Regime den Juden und anderen Menschen ihre Menschenwürde abgesprochen hatten. Die Moderne, auch die brasilianische Moderne in der Musik mit Heitor Villa-Lobos ist zutiefst in die nationalistische Politik des „diktatorisch agierenden brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas“ verstrickt.[2] Denn er begleitete Vargas im Mai 1935 in der Funktion eines „Staatskomponisten“[3] nach Buenos Aires, wo Uirapurú gleichsam als Staatskomposition Brasiliens erklang. Vargas pendelte so lange als möglich zwischen einer Allianz mit Hitler-Deutschland und den USA hin und her. Brasilianische Juden wurden als unbrasilianisch markiert.

©  Fabian Schellhorn

Doch das Konzertprogramm begann gerade nicht im Amazonas, sondern in New York und dem Central Park in the Dark (1906-09, rev. Ca. 1936) von Charles Ives. Anders gesagt: für die brasilianische Moderne gaben Spuren der Musik in New York, Paris und Berlin den Takt an. Denn Edgar Varèse hielt sich ab 1907 wenigstens zeitweilig in Berlin auf, um Kontakte zu Busoni, Richard Strauss, Arnold Schönberg herzustellen und zu pflegen, während Villa-Lobos und Varèse ab 1928 einen persönlichen Kontakt pflegten. Das Konzertprogramm, das sich ab 30. August in der Mediathek des Musikfestes Berlin nachhören lassen wird, schlägt insofern keine chronologischen, sondern motivische Spuren vor. Denn Central Park in the Dark des Autodidakten und zu Reichtum gekommenen Versicherungsunternehmers Charles Ives passt in keine akademische Schule der Komposition. Was und wie er komponiert hatte, schimmert in der umständlichen und mehrdeutigen Titelgebung zwischen „A Contemplation of Nothing Serious or Central Park in the Dark in The Good Old Summer Time““ durch.

©  Fabian Schellhorn

Die kurze, ca. 6minütige Komposition als ein Nachdenken über nichts Ernstes oder den Central Park im Dunkeln etc. gibt zumindest mit dem „Nothing Serious“ einen Wink auf eine, sagen wir, amouröse Begegnung. In Liebesdingen wird zu jener Zeit zwischen Ernstem und Nicht-Ernstem unterschieden. Ebenso dürfte der New Yorker Central Park im Dunkeln als ein Ort für ein Rendezvous denkbar werden. Die Kürze der Komposition deutet wenigstens etwas Erinnerns wertes, aber schwer zu formulierendes an. Überhaupt wurde die Komposition zwar noch zu Lebzeiten von Charles Ives, aber doch erst am 11. Mai 1946 in der Juilliard Graduate School aufgeführt. In Kenntnis der europäischen Kompositionspraktiken emanzipiert er sich indessen auch von diesen, um nicht nur ein städtisches Naturidyll klingen zu lassen. Immerhin dürfte Ives die Künstlichkeit der großstädtischen Parklandschaft bewusst gewesen sein. Thierry Fischer und das São Paulo Symphony Orchestra ließen mit den Klangfarben des Stücks aufhören.

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Das Konzert für Violine und Orchester op. 30 von Alberto Ginastera von 1963 mit Roman Simovic als Solisten setzte mit seinen eröffnenden Kadenzen sogleich auf die Virtuosität, um im dritten Satz Niccolò Paganinis berühmtes 24. Caprice a-Moll zu zitieren. Ginastera knüpft in seiner Komposition an einen durchaus unzeitgemäßen Expressionismus starker Gefühlsausbrüche an. Zugleich wird die Expressivität als südamerikanisch bzw. argentinisch kultiviert. Wolfgang Rathert weist daraufhin, dass Ginastera im Violinkonzert an „Sergej Prokofjews 2. Klavierkonzert mit einer zerklüfteten mehrminütigen Solo-Kadenz“ musikhistorisch anknüpft.[4] Zugleich wird der zweite Teil mit dem Orchester in sechs „Studi“ höchst virtuos ausgearbeitet, so dass die Komposition nicht nur dem Solisten, vielmehr noch den Solisten im Orchester erlaubt ihr virtuoses Können unter Beweis zu stellen. So konnten der Roman Simovic und das Orchester unter der Leitung von Thierry Fischer derart brillieren, dass der Solist als Encore Eugène Ysayes Sonata No.3 in D minor „Ballade“ spielte.

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Nach der Pause folgten Uirapurú und Amériques, die in ihrer motivischen Kompositionspraktik gegenübergestellt wurden. Uirapurú wird von Heitor Villa-Lobos als eigenständig nationale Musik des „Brasilianismo“[5] konzipiert, indem er Strawinskys L’oiseau de feu ins Brasilianische transformiert. Der Wechsel von Melodischem und Rhythmischen, der in eine Emphase mündet, als Ballettmusik und bei Villa-Lobos als Symphonische Dichtung mit brasilianischem Klangmaterial orientiert sich an der akustischen Konstruktion des vermeintlich Russischen bei Strawinsky.[6] Man kann Villa-Lobos-Kompositionspraktik und nationale Rahmung kritisieren oder gar verwerfen. Strawinsky durchbrach mit seinen Kompositionen nicht zuletzt ein klassisches Musikwissen. Dass sich die Musik im „Brasilianismo“ verfangen konnte und bereitwillig als musikalische Identität aufgenommen wurde, ist nicht allein dem Komponisten anzukreiden. Vielmehr lebt davon eine Musikrezeption, die die Arbitrarität der Klänge festlegen will. Vom Publikum in der Philharmonie wurde nicht unbedingt nur die musikalische Exzellenz bejubelt, vielmehr wollte es das Brasilianische hören.

©  Fabian Schellhorn

Mit fast noch größerem Jubel wurde Edgar Varèses Amériques belohnt, während doch manche akustische Nuance der Moderne wie das Hupen, ja, Krach, den es in der Komposition gibt, zurückgenommen wurde. Insbesondere der Einsatz der Sirene, der Bootspfeife und der Windmaschine steht im krassen Gegensatz zu Charles Ives‘ Central Park in the Dark. Gleichwohl dockt auch Varèse an Strawinsky an. Die wiederholte Praxis des Crescendos reißt die Hörerinnen mit. Wie die anschwellende Größe der amerikanischen Kontinente und nicht zuletzt ihrer Großstadtarchitektur baut sich die Komposition zu einem überwältigenden Klangerlebnis aus. Insofern das Stück als Abschluss und Höhepunkt des Programms gut gesetzt. Doch in welche Richtung soll man die Amerikas akzentuieren? In den Tumult der Großstadt New York und das 1922 für São Paulo geplante und 1929 fertiggestellt Martinelli-Hochhaus, das sich mit New York messen will? Oder in den überwältigenden Urwald des Amazonas? Seit den 1920 wuchs die Stadt São Paulo zur führenden Industrieregion Brasiliens. Vielleicht ließe sich der Programmablauf auch so hören, dass ähnliche Kompositionspraktiken unterschiedlich gerahmt worden waren.

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Die São Paulo Big Band trug bis hin zur Tropicana die Música Popular Brasileira mit reichen Improvisationen so sehr zum Erfolg, dass nahezu jede Improvisation vom Publikum beklatscht wurde. Die Improvisation im Jazz knüpft an das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts an. In der südamerikanischen Musik erinnert durch die unzeitgemäße Überschneidung von Expression als Virtuosität ausgerechnet Alberto Ginasteras Violinkonzert an die Kunst der Improvisation. Die Unterscheidung von ernster und unterhaltender Musik, die in der Música Popular Brasilieira mitschwingt, war immer eine trügerische, die Traditionskonzepte heraufbeschwört. Es war übrigens die in Paris geborene Deutsch-Italinierin Caterina Valente, die in Brasilien und International mit der Música Popular Brasileira Welterfolge feierte. Doch beide Musik- und Konzertformen geben vielmehr einen Wink auf Kombinationspraktiken, die immer etwas Neues hervorgebracht haben, das nachträglich als nationale oder subjektive Identität verortet wurde.

© Fabian Schellhorn

Im globalen Konzertbetrieb funktionieren Identitäten als Alleinstellungsmerkmal noch immer, obwohl die Orchester höchst internationalisiert sind. In den Spitzenorchestern spielen Musiker*innen aus vielen bis sehr vielen Nationen und von unterschiedlichen Herkünften, um einen Klangkörper zu erzeugen. Das gilt auch für das São Paulo Symphony Orchestra mit Thierry Fischer, vielleicht allein schon wegen der Größe weniger in der Big Band. Auch die Música Popular Brasileira hat sich aus dem Showbusiness, Caterina Valente, und Mythen herausgebildet. In der Berliner Philharmonie bleibt das Publikum auf seinen Sitzen, während man sich ebenso gut hätte vorstellen können, in den Sitzreihen zu tanzen. Doch im Konzert als Gemeinschaftspraxis herrschen nun einmal bestimmte kulturelle Regime, die das Tanzen verhinderten.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
bis18. September 2024

Mediathek
Eröffnungskonzert
São Paulo Symphony Orchestra mit Thierry Fischer
Verfügbar ab 30. August 2024, 16:00 bis 29. September 2024

São Paulo Big Band
Verfügbar bis 25. September 2024


[1] Claude Levi-Strauss: Traurige Tropen.  (dt. v. Eva Moldenhauer) Frankfurt am Main: Suhrkamp wissenschaft, 1978, S. 314.

[2] Wolfgang Rathert: Klingende Brücke über den Atlantik. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm 24.8.2024, São Paulo Symphony Orchestra … Berlin 2024, S. 12.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda S. 11.

[5] Ebenda S. 12.

[6] Vgl. zu Strawinsky Torsten Flüh: Visuelle Musik. Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. September 2021.
Siehe zur Konstruktion nationaler Musik insbesondere an der verspäteten Russlands auch: Torsten Flüh: Sehnsucht nach einem Ich und Du. Zu Lieder und Dichter*innen: Nur wer die Sehnsucht kennt mit Yoko Tawada im Foyer der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. März 2024.

»ça a été«

Witz – Mikro – Wissen

»ça a été«

Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg

In der Extended Library der HFBK am Hamburger Eilbekkanal über der Eingangshalle mit dem hohen Hellglasfenster Die schöne Botschaft Willy von Beckeraths fand anlässlich des ersten Todestages von Marianne Schuller die Tagung Lesen und Schreiben – Figuren des Kleinen statt. Zum Treppenhaus ist die Regalwand mit Scheiben durchbrochen. Die Erweiterung der Bibliothek deutet einen Raum an, der über die Geschlossenheit einer kanonischen Bibliothek hinausgeht. Fetting, Feuerbach, Fiebig, aber auch Caspar David Friedrich stehen im Regal. Für ihr Buch Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen verwendete Marianne Schuller ein Detail aus Giovanni Battista Piranesis Carceri d’invenzione. Treppen und Brücken mit winzigen Zeichnungen wimmelnd geschäftiger Arbeiter, die an Maschinenkonstruktionen vorbei in eine Höhe und Tiefe zugleich, in ein Nichts führen.

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Marianne Schuller war der HFBK auf vielfältige Weise nicht zuletzt über Debatten zum Feminismus und einer feministischen Literaturwissenschaft verbunden. Zwischen der Hochschule für bildende Künste im Lerchenfeld 2 und dem Philosophenturm der Universität Hamburg im Von-Melle-Park 6 entfalteten sich ihre Forschungen, Interventionen und ihre Lehre. Auf der Tagung sprachen Weggefährt*innen wie die ehemalige Presse- und Öffentlichkeitsreferentin der HFBK Karin Pretzel und die ehemalige Professorin für Ästhetische Theorie an der HFBK Michaela Ott. Gunnar Schmidt, der 2003 zusammen mit Marianne Schuller das titelgebende Buch Mikrologien. Philosophische und literarische Figuren des Kleinen publiziert hatte, verlas den Vortrag des verhinderten Jürgen Link. Zusammen mit Iris Därmann und Günther Ortmann hat er den Band Marianne Schuller: Bunte Steine Texte 1984-2023 herausgegeben. Karl-Josef Pazzini, Julia Pestalozzi und Ute Gerhard trugen weitere an Marianne Schuller erinnernde Vorträge bei.

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Die Teilhabe, in Momenten gar Teilnahme am Lesen und Schreiben von Marianne Schuller hat wenigstens Studienverläufe, wenn nicht gar Lebensläufe beeinflusst. Karin Pretzel erinnerte bei ihrer Begrüßung an ihre häufiger gebrauchte Formulierung „Ja, Mensch“, indem sie den Titel der Rede von Julia Pestalozzi vorwegnahm. Sie konnte nicht nur mit Ausrufezeichen zwischen Verwunderung und das Menschliche aufrufend vielfältig intoniert werden. Der Ausruf konnte ebenso mit Frage- oder Pausenzeichen, Gedankenstrich danach. Vis-à-vis gesprochen konnte Marianne Schullers „Ja, Mensch“ Leben verändern. Sie schaffte Nähe und Distanz gleichzeitig nach Karin Pretzel, schwebte im Zwischenraum. Für das Tagungsprogramm erinnerte sie an den Schluss des Vor-Worte(s) Nanologie aus Mikrologien:
„Nano- und Mikrochiptechnologie, Mikrobiologie, mikroinvasive Chirurgie, Quantencomputer, Elektronenrastermikroskopie. Winzige Rechner und Roboter werden erdacht, die, versteckt in Geräten und Körpern, Arbeiten verrichten. Diese Zwergenwelt ist alles andere als schwach und gewiss nicht mehr zu schlagen. Im Gegenteil, als ubiquitäre Anwesenheit kommt ihr eine Mächtigkeit zu, die bisweilen paranoisch erlebt wird. (…) Das Kleine in technischer Form ist kein schöner Schmetterling, es ist eine verstreute Großtechnologie.“[1]  

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Die technischen Formen des Kleinen operieren nicht nur mit Wissen z.B. im „Elektronenrastermikroskop()“ bzw. dem Rasterelektronenmikroskop, sie generieren zugleich ein solches in einer Repräsentationslogik, wenn hier nur einmal an die großformatigen Hintergrundbilder von SARS-CoV-2 in den Nachrichtensendungen von 2020 erinnert werden darf.[2] Ganz zu schweigen von den Menschenversuchen Elon Musks mit dem Chip Neuralink. Marianne Schuller und Gunnar Schmidt haben frühzeitig auf die Fragen an die Macht des Kleinen aufmerksam gemacht. Die Rechenprozesse bringen das Kleine zugleich hervor, wie sie mit dem Binarismus von 0 und 1 errechnet werden. Viele haben forschend daran, wie Marianne Schuller zeitweilig mit Vorliebe sagte, angedockt. Die literarischen Figuren des Kleinen aus der Zeit um 1800 wie 1900 geben weiterhin einen Wink auf andauernde Fragen nach dem mächtigen kursierenden Wissen und Wissensformen.

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Bevor auf die einzelnen Vorträge eingegangen werden soll, darf an dieser Stelle an das rahmende Umschlagbild von Moderne. Verluste.[3] mit einem Detail aus Carceri d’invenzione von Piranesi erinnert werden. Die Carceri begründeten quasi Piranesis Ruf in der Moderne. „Er wurde gefeiert als Vorläufer des Expressionismus und Surrealismus und in erster Linie mit seinen »Carceri d‘invenzione« identifiziert, einer Serie wilder, alptraumhafter, mit sadistischen Handlungen gespickter Kerkerszenen“, urteilten Georg Schelbert und Moritz Wullen 2020.[4] Doch zum Frontispiz der Serie geht Felicitas von Beughem detailliert und sich als „Betrachter“ imaginierend auf den bedenkenswerten Kerkerraum ein, der auf das Wissen wie den Wahn ebenso wie den Traum anspielt. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Radierung von 1761 mit 55 x 41,9 cm kleinformatig ausfällt.
„Als Betrachter betreten wir ihn (den Kerker, T.F.) durch einen dunklen Bogen und haben Sicht auf ein Wirrwarr aus Balken, Brücken, gemauerten Rundbögen, Ringen und Ketten. Der Raum scheint sich zum rechten Bildrand in undurchschaubaren Gewölben auszudehnen, sodass es nicht möglich ist, ein Ende zu erkennen, geschweige denn eine klare Raumstruktur.“[5]

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In der Forschung zur Sprache und dem Sprechen ging es Marianne Schuller, wie sich schon in ihrem frühen Text Hörmodelle zu Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti von Ingeborg Bachmann ankündigte, um die „lautliche Qualität von Sprache“[6] und die „Musikalität der Sprache des Imaginären“.[7] Die Reihe der Vorträge eröffnete Iris Därmann, Professorin für Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, nicht zuletzt deshalb einer „Fährte“ Marianne Schullers zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert folgend, mit Kinder versammeln. Benjamins Theorie der Kindheit habe die Sprache erweitert um das, was sich ihr entziehe. Iris Därmann entwickelte an dem Beispiel von Fernand Delignys Zusammenleben mit sogenannten „autistischen“ Kindern in den Chevenen ein Denken des Menschlichen, das nicht dem Gesetz der Sprache unterworfen ist. 2019 hatte Leon Hilton auf my-blackout.com mit Mapping the Wander Lines: The Quiet Revelations of Fernand Deligny die „Fährtenlinien“ der Kinder neuerlich ins Interesse gerückt.

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Die Frage nach der Sprache und dem Kommunikationsvermögen von Kindern, die nicht sprechen, schneidet zugleich den Bereich der Psychiatrie an, den Gilles Deleuze und Félix Guattari mit Tausend Plateaus kritisch bearbeitet haben. Milles Plateaux gehörte seit der Übersetzung ins Deutsche 1992 zu den Theorietexten, die in den Seminaren von Marianne Schuller gelesen wurden und mit denen Haus-, Bachelor-, Masterarbeiten sowie Dissertationen und Habilitationen bei ihr entstanden.[8] – In Lothar Lamberts Die Liebeswüste geht es ebenfalls um die Sprache und eine stumme Frau (Ulrike S.), die aus der Psychiatrie entflohen ist.[9] Anders gesagt: es ließe sich mit Tausend Plateaus eine Kartografie der Fluchtlinien der stummen und unter dem Trenchcoat nackten Frau durch Berlin zeichnen. Fernand Deligny wurde für das Denken der Karte und des Rhizoms für Deleuze und Guattari wichtig, woran Iris Därmann verstärkend anknüpfte:
„Fernand Deligny transkribiert die Linien und Bahnen autistischer Kinder, er macht Karten: er unterscheidet sorgfältig zwischen „planlosen Linien“ und „gewohnten Linien“. Und das gilt nicht nur für das Gehen, es gibt auch Karten von Wahrnehmungen, Karten von Gesten (kochen oder Holz sammeln) mit gewohnten Gesten und planlosen Gesten. Ebenso für die Sprache, wenn es sie gibt. Deligny hat seine Schriftlinien für die Lebenslinien geöffnet.“[10]

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Für Marianne Schuller war in der Lehre wichtig, Theorie-Texte zu lesen, obwohl dieser Zug in ihren Texten heute von jungen Forschenden nicht gleich lesbar werden könnte. Sie zitierte Theorien von Sigmund Freud, soweit die Psychoanalyse als Theorie gedacht werden kann, Jacques Lacan, Jaques Derrida, Roland Barthes, George Didi-Huberman, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Marcel Mauss, Julia Kristeva, Carlo Ginzburg etc. nicht als Wissen, vielmehr knüpfte sie an ausgelegte Fährten der französischen Theoretiker*innen an. Das war im forschenden Schreiben für und mit Marianne Schuller keinesfalls einfach zu praktizieren, vielmehr erforderte es einen Bruch mit der Tradition einer akademischen, Wissen zitierenden Schreibweise. Fast als ein methodologischer Kontrast dazu hörte sich Jürgen Links von Wissen sprühender Vortrag Die kleinen Chocs der Moderne. Statische Normalisierung und literarische Denormalisierung, von Gunnar Schmidt vorgelesen, an.

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Mit der Normalisierung knüpft Link an Michel Foucault an. Jürgen Link und Marianne Schuller waren seit ihrer frühen Zeit in Bochum Weggefährt*innen nicht zuletzt durch die medienkritische und diskurswissenschaftliche Zeitschrift KultuRRevolution, die er seit 1982 herausgibt. Marianne erwähnte sie gelegentlich in ihren Vorlesungen, um eine Hörerinnerung mitzuteilen. Der Normalisierung gilt es entgegenzuwirken. Eine Kulturrevolution verspricht eine Denormalisierung. Im Kontext der Geschichte der Volksrepublik China bekam der Begriff Kulturrevolution für mich in Shanghai wenig später, Mitte der 90er Jahre, einen ganz anderen Klang. Mao’s Kulturrevolution von 1966 bis 1976 hatte einen entschieden totalitären Charakter, der zwischenzeitlich eher schleichend unter Xi eine weitere nationalistische Kulturrevolution totalitärer Einheit gefolgt ist. Link erinnerte in seinem Vortrag nicht zuletzt an die Forschungen von Marianne Schuller und „die massenhaft kleinen Chocs in der Moderne“ bei Benjamin und Baudelaire. Der „Normalismus“ führe seit der Zeit um 1800 zu verdateten Gesellschaften.

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Karl-Josef Pazzini erinnerte in seinem Vortrag Marianne Schuller hört Kafka lachen an das Lachen in den Texten von Franz Kafka. Sie habe die Texte mit Freud als ein Überbleibsel ihres Medizinstudiums gleichsam auf Symptome abgehört. 2016 veröffentlichte sie in RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse den Text Ein «großer Lacher». Kafka. In einem Brief an Felice gehe es 60mal ums Lachen. Nach Pazzini habe Marianne darin etwas von sich wiedererkannt. Es sei ein keine Bedeutung produzierendes Lachen. Einmal abgesehen von Kafka, kam Marianne Schuller verschiedentlich auf das Lachen, das sich einer Kontrolle der Lacher*in entziehe, zurück.  Das Lachen platze aus einem heraus. Das Lachen räume nach Pazzinis Lektüre den Zwang zur Seite, alles verstehen zu müssen. Dem Lachen nachgehört, könne es auf vielfältige Weise entstehen. So könnten Entsetzen und Erschrecken plötzlich auflachen lassen. Zugleich sei das Lachen Lustquelle und Jouissance in einem. Und mit Marianne Schuller gab Karl-Josef Pazzini zu bedenken:  „Wieso soll denn das Hören ein Fernsehen sein?“

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Die für Marianne Schuller nicht zuletzt als Verfahren des Hörens und Sehens wichtige Psychoanalyse spielte zugleich in der Rede „Ja, Mensch!“ – Höre ich sie noch sagen von Julia Pestalozzi auf verwandtschaftlicher Ebene eine diskrete Rolle. Julia Pestalozzi wurde 1934 in Budapest geboren, studierte dort wie in Zürich als auch in London, heiratete Marianne Schullers Verwandten Pestalozzi und wurde eine schwesterliche Zuhörerin wohl nicht zuletzt am Telefon. Sie praktiziert als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Basel. In ihrer persönlichen Rede von den Erinnerungen an die 8 Jahre jüngere Marianne bzw. Manni rief sie nicht zuletzt die generationellen Verstrickungen in der Familie auf.[11] Julia Pestalozzi erwähnte fast schon als Nachwort, dass es in ihrer Familie in Budapest jüdische Verwandte gegeben habe. Der biographischen Redeweise stand Marianne Schuller im Kontext ihrer Literaturforschung ablehnend gegenüber. Mit Julia Pestalozzis Rede indessen, die sie insbesondere an Heidrun Kaupen-Haas als Hinterbliebene adressierte, tat sich indessen ein Riss auf. – Das Verfahren der Psychoanalyse im Lesen, Hören und Schreiben war auch überlebenswichtig gewesen.

Blick über die Außenalster mit den Mundsburg-Türmen und dem Kirchturm von St. Gertrud in der Nähe der HFBK.

Die hohe Intensität der Tagung, die intensive Adressierung der Redebeiträge an Marianne Schuller hatten zweifellos mit der Rede von Julia Pestalozzi dem Sagbaren, dem Angedeuteten und der schwesterlichen Hinwendung einen besonderen Punkt erreicht. Das Tagungsessen an der Alster in einem gehobenen italienischen Restaurant soll schon deshalb erwähnt werden, weil sich unter zunächst wenig Bekannten oder gar Unbekannten ein respektvolles, fast enthusiasmiertes Gespräch entspann. Das geheimnisvolle Spiel von Nähe und Distanz, das sich beizeiten mit Marianne einstellte, stiftete Gegenwart und Abschied. Sollten die Gespräche, die Hinwendungen noch über den Abend und die Tagung hinausgehen? Zumindest versicherten sich die Teilnehmenden untereinander, dass die Stimmung für einen Moment mit der An- wie Abwesenheit von Marianne Schuller zu tun gehabt habe. „Das ist sie auch gewesen.“

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Am Sonntagmorgen rückte Ute Gerhardt Marianne Schuller als Theoretikerin des Witzes und Lachens in Erinnerung, indem sie die Fluchtlinien des Kleinen in Siegfried Kracauers Roman Ginster von 1928 verfolgte. Und sie erinnerte sich an Marianne, die in Bochum auf Tische und Stühle gesprungen war. Zugleich rahmte sie ihren literaturwissenschaftlichen Vortrag mit dem Hinweis auf die aktuelle Debatte der „Kriegstüchtigkeit“. Denn Ginster entziehe sich den Kategorien des Normalen und der Normalität. Dem Protagonisten gehe es darum, sich in seiner witzigen Wendung zum Drücken und Drückeberger dem Krieg zu entziehen. Dafür setze er das Verfahren des Witzes ein. Kracauer habe den Roman anonym veröffentlicht und so schon im Titel formuliert: als habe Ginster ihn selbst geschrieben: Ginster Von ihm selbst geschrieben. Damit habe Kracauer auch die traditionelle Autobiographie verfremdet. So werde in Ginster und mit Ginster durch das Kleine und Verschwinden mit Witz formuliert, wenn es im Musterungsraum um die statistische Vermessung für die Kriegsteilnahme geht und er sich über den Begriff Volk wundert:
„Ginster hatte immer nur Leute kennengelernt. Niemals Völker.“[12]

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Die Originalausgabe von Siegfried Kracauers anonym im Berliner S. Fischer Verlag veröffentlichten Roman schlägt bereits in der Eröffnungssequenz die Themen des Einzelnen und der Masse mit den Verfahren des Witzes an. Der Name sei „ihm aus der Schule geblieben“[13], womit sich eine ganze Reihe von Assoziationen des oft streng riechenden Ginsters ergeben. Häufig kommt er auch als Stechginster vor. Syntagmatisch weckt der Witz Erwartungen, die auf paradoxe Weise nicht eingelöst werden: „Es befriedigte Ginster, daß der Kellner einem Klub die Treue hielt, der niemals kam.“ Ginster beherrscht den Sprachwitz, indem er sich schon eingangs durch Homonyme von der „Masse“ ironisch abhebt. Als er auf einem Platz der Stadt M. auf eine Menschenansammlung stößt, werden deren Köpfe zu „Kopfpflaster“ bzw. Kopfsteinpflaster:
„Der helle Nachmittag lud dazu ein, auf ihren Köpfen spazieren zu gehen, die wie Asphalt glühten. Ginster wurde durch die Vorstellung erschreckt, daß das Kopfpflaster plötzlich auseinanderbrechen könnte.“[14]

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Michaela Ott knüpfte in ihrem Vortrag Minoritär-Werden von Philosophie und Kunst ebenfalls an Gilles Deleuze/Félix Guattari mit Zeichnungen und Wortmutationen der HFBK-Absolventin Nanne Meyer an. In den Zeichnungen der Linien werden Formen angedeutet, während zugleich die Wörter mit Adverbien wie, aber oder wie immer kleiner werden. Michaela Ott erinnerte daran, dass sich im nächsten Jahr der 100. Geburtstag von Gilles Deleuze jähre. Ohne Deleuze wäre sie nicht an der HFBK gelandet, aber auch nicht ohne Marianne. Das von Deleuze eröffnete Denken des Werdens habe sich gegen die Philosophiegeschichte als Geschichte eines Unterdrückers geäußert. Das Minoritärwerden wende sich gegen die Statik der Größe und Klarheit. Deleuze habe sich gegen die Nichtbeachtung der in Frankreich aus Afrika lebenden Schriftsteller gewendet, was für ihre Forschungen wichtig wurde. Damit habe er großen Einfluss auf ihre eigenen Forschungen wie den afrikanischen Film ausgeübt.

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Mit seiner frei vorgetragenen Rede Organisationstheoretische Mikrologien erinnerte Günther Ortmann zunächst an den Salon von Marianne Schuller und Heidrun Kaupen-Haas in der Bornstraße. – Bornstraße ist auch für mich ein Zauberwort. In der Bornstraße 7c wohnten meine Großeltern in der 5. Etage unter dem Flachdach, die ich als Kind oft besuchte. Im Betonteich des Von-Melle-Parks der Universität wollten die Spielzeugschiffe nicht so recht schwimmen. Später Philosophenturm und Marianne. Jüdisches Leben als literarischen Spaziergang für die VHS. – Günther Orthmann hatte im November 2016 zusammen mit Marianne Schuller die transdisziplinäre Tagung »Was ich berühre, zerfällt« „Organisation, Recht, Schrift – Kafka“ im Haus Huth der Daimler und Benz Stiftung in Berlin organisiert. Aus der Tagung ist 2019 der Band Kafka – Organisation, Recht, Schrift hervorgegangen. Durchaus mikrologisch eröffnete Günther Ortmann seinen Beitrag mit dem Comic Yo! Yes? von Chris Raschka.[15] Durch die lautliche Begrüßung „Yo!“ werden zwei Jungen schließlich zu Freunden.

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Ortmann entwickelte aus dem „Yo!“ in freier Rede eine praxeologische Organisationstheorie vom Begrüßen und Danken als Formen des Tausches. Dabei erwähnte er zugleich das an Marianne erinnernde Lachen als ein Geschenk. Denn der Dank sei eine Sache, zu der man nicht verpflichtet ist. Zugleich wird der Dank in unterschiedlichen Kulturen ganz verschieden verbalisiert oder durch Gesten bekundet. Seine Organisationstheorie basiert auf der Rekursivität, zu der Günther Ortmann in der Rede wie im Kafka-Band bemerkte:
„Organisationen lassen sich nach alledem als Veranstaltungen/Einrichtungen selbsterzeugter Gesetzlichkeit auffassen, deren Abgründigkeit latent bleiben muss und von ihnen auch fast immer, auch unter Einsatz organisationaler Mittel, latent gehalten wird. Die Gefahren und die Unheimlichkeit dieser Selbstreferentialität und Rekursivität blitzt nur von Zeit zu Zeit auf“.[16]

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Die Tagung endete mit einem Video aus Fotos, die Claudia Reiche von Marianne Schuller 1989-1991 gemacht hatte. Nach der Projektion kommentierte sie die Fotos kurz:
„Es ist einfach so, dass das Fotografieren mit der Spiegelreflexkamera eine optomechanische Inszenierung von Nachträglichkeit bietet: Sobald der Auslöser gedrückt wird, verschwindet mir das Bild  kurz im Sucher, das heißt, fotografieren, was gewesen sein wird.“
Marianne lächelte, wurde wieder ernst und wir machten noch ein Foto.

© Claudia Reiche

In der Fotografie ist es vor allem die Zeitlichkeit, die Roland Barthes in seinem Buch La chambre claire, ein Buch des Abschieds und der Trauer, mit dem nur unscharf zu übersetzenden »ça a été« formuliert hat.

Torsten Flüh

post scriptum: Eine auf die Beiträge der Tagung bezugnehmende Auf-Zeichnung von Erik Porath:

© Erik Porath

Marianne Schuller
Bunte Steine
Texte 1984-2021.

Herausgegeben von Iris Därmann, Günther Ortmann und Gunnar Schmidt.
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2024.
39,90 EUR


[1] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003, S. 24-25.

[2] Siehe zur Sichtbarkeit von SARS-CoV-2: Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

Siehe auch die frühe Besprechung zu Verschwörungstheorien während der Pandemie: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[3] Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 1997.

[4] Georg Schelbert, Moritz Wullen: Das Piranesi-Prinzip. Einführung, Gruß und Dank. In: dieselben (Hg.): Das Piranesi-Prinzip. Berlin: E. A. Seemann, 2020, S. 4.
Siehe auch die Online-Ausstellung: Das Piranesi-Prinzip. Zum 300. Geburtstag des großen italienischen Meisters. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin.

[5] Felicitas von Beughem: Kat. 13 Kerker (Titelblatt) In: Georg Schelbert, Moritz Wullen: Das … [wie Anm. 4] S. 58.

[6] Marianne Schuller: Hörmodelle. Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti [Ingeborg Bachmann]. In: Marianne Schuller: Bunte Steine. Texte 1984-2021. Herausgegeben von Iris Därmann, Günther Ortmann und Gunnar Schmidt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2024, S. 12.

[7]  Ebenda S. 16.

[8] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve 1990.

[9] Vgl. zur Sprache ebenso wie der Thematisierung des Mediums Film mit dem Schneidetisch im Film in Korrespondenz mit Hörspiel bei Ingeborg Bachmann der „Rasierklingenmann“: Torsten Flüh: Mehr Ruhm! Lothar Lambert zum 80. Geburtstag und seine Filmen Die Liebeswüste, Verbieten Verboten und Fucking City. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Juli 2024.

[10] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend … [wie Anm. 8] S. 277.

[11] Wir wissen nicht, ob sich Marianne Schuller auf die Frage der „Literatur, Autofiktion und Fiktion“, wie sie von Falk Richter mit The Silence auf die Bühne gebracht worden ist, hätte anfreunden können. Doch es gibt einen generationellen Wink hinüber in das Familiäre und die Geschichte. Siehe: Torsten Flüh: Auf dünnem Eis. Zur gefeierten Deutschen Erstaufführung von Falk Richters The Silence an der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Dezember 2023.

[12] Bedenken ließe sich mit dem Namen Ginster die gleichnamige Buschpflanze, die zur Unterfamilie der Schmetterlingsblütler gehört. So wurde bereits 1753 von Carl von Linné der Deutsche Ginster beschrieben und kategorisiert.

[13] (Siegfried Kracauer:) Ginster. Von ihm selbst geschrieben. Berlin: S. Fischer Verlag, 1928, S. 9.

[14] Ebenda S. 9-10.

[15] Chris Raschka: Yo! Yes? United States: Orchad Books, 1993. (YouTube)

[16] Günther Ortmann: Kafka: bootstrapping avant la lettre. In: Günther Orthmann, Marianne Schuller: Kafka – Organisation, Recht, Schrift. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2019, S. 206.

Mehr Ruhm!

Ruhm – Überleben – Kino

Mehr Ruhm!

Lothar Lambert zum 80. Geburtstag und seine Filmen Die Liebeswüste, Verbieten Verboten und Fucking City

Lothar Lamberts 41 Filme waren immer nah am Leben und galten dem Überleben in Berlin. Am 24. Juli feiert er in Berlin seinen 80. Geburtstag. 17 seiner Filme erlebten ihre Weltpremiere auf der Berlinale. 2024 erhielt er auf der Berlinale den Special Teddy Award für sein Lebenswerk. Bis 1. September läuft im ACUDkino, BrotfabrikKino, Bundesplatz-Kino, Klick und zusätzlich bei Hauptrolle Berlin im Zoo Palast die große Lothar Lambert/Dagmar Beiersdorf Retrospektive LoLa DaBei – Ein Sommer mit queerem West-Berliner Undergroundkino. Das kleine Kinomuseum in der Schönleinstraße 33 lädt an Samstagen zum LoLa DaBei Schwerpunkt ein. Bereits am 1. April feierte Dagmar Beiersdorf ihren 80. Geburtstag. Die Berlinerin wirkte als Autorin, Darstellerin, Regieassistentin und Ratgeberin an vielen seiner frühen Filme mit. Anders gesagt: Bei LoLas Filmen war sie dabei.

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Die Filme von Lothar Lambert, die heute unter dem Begriff früher German Mumblecore, zu zählen wären, waren beispielsweise mit Die Liebeswüste (1986) so nah am Leben und der damaligen Filmtechnik, dass aus dem umfangreichen Verlust des Films im Kopierwerk, ein einzigartiger Film mit Resten am Schneidetisch mit Dagmar Beiersdorf, Lothar Lambert, Albert Heins und Ulrike S. entstand. Die legendäre Berlinale Fotografin und Lothars Superstar, Erika Rabau, platzt für ein Shooting in den Schneideraum. In dem Episodenfilm Verbieten Verboten von 1987, der im NDR ausgestrahlt wurde, taucht in einem winzigen Take der Grabstein von Heinrich von Kleist (*1777) am Kleinen Wannsee als Referenz für die Suizid-Episode mit Renate Soleymany als Stadtstreicherin auf. Wie die Kamera (Albert Kittler/Lothar Lambert) die Stadtstreicherin von hinten durch die Stadt verfolgt, nimmt sie die Ästhetik so manches Mobile Mystery Films von heute vorweg.

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Die Episode mit Renate Soleymany als Stadtstreicherin gibt mit dem Titel Selten so gelacht einen Wink auf das Tragikomische als Erzählverfahren in den Filmen von Lothar Lambert. Die Stadtstreicherin zwischen den Geschlechtern mit Hut und Mantel wird mit schwankender Kamera und harten Schnitten zwischen dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten vor dem Schloss Charlottenburg, Mülltonnen, Kleist-Grabstein, Berliner 750-Jahr-Feier und Brücke über der Spree verfolgt. Zur 750-Jahr-Feier entsprach das nicht gerade dem Image von Fest-Berlin. Von der Brücke lacht die Figur schallend und verzweifelt nicht zuletzt über die 750-Jahr-Feier im in Ost und West geteilten Berlin, bis sie sich auf den Weg neben dem Fluss stürzt.Genau das zeichnet die Inventionen und Innovationen von Lothar Lamberts Filmen aus. Mit größter Genauigkeit wird die Existenz einer Stadtstreicherin portraitiert, die 37 Jahre später nichts an ihrer Aktualität verloren hat.

Verbieten Verboten ,1987 (Dorothea Moritz, Dagmar Beiersdorf)

Verbieten verboten mit seinem eingeblendeten Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, filmt sich’s völlig ungeniert. Variation eines deutschen Sprichworts“ knüpfte ästhetisch an Die Liebeswüste mit dem expliziten Motto „Kein Schwanz ist so hart wie das Leben. Berliner Toilettenspruch“ an. Denn es bezog sich auf die schwule Kultur der Kontaktaufnahme zu Männern auf den öffentlichen Herrentoiletten, Klappen oder dem Berliner Café Achteck, die aus dem öffentlichen Raum und der Queer Culture so gut wie verschwunden ist. LoLa und DaBei waren 43 und so sehr in der Berliner Filmszene vernetzt, dass Dieter Schidor und Ingrid Caven als, sagen wir, große Namen gleich in beiden Filmen ebenso beziehungsreich wie schonungslos ohne Gage mitwirkten. Beide Filme wurden am 19. Februar nacheinander im Klick in Anwesenheit von Lothar Lambert, Ulrike S. und Doreen Heins gezeigt und sie unterhielten sich mit dem Filmjournalisten und LoLa-Experten Jan Gympel.

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Der Film entsteht am Schneidetisch, als Slogan für Lothar Lamberts Filmpraxis war bereits im Februar mit Die Magie der Schnitte in NIGHT OUT @ BERLIN besprochen worden.[1] In Die Liebeswüste spielt der Schneidetisch gewissermaßen die Hauptrolle. Vor allem Lambert, Beiersdorf und Heins werden dabei gefilmt, wie sie die Filmreste sichten und kommentieren. Der Film in einem Handlungsstrang ist verloren. Es geht darum, zu sichten, was sich retten lässt. Damit wird unter der Hand zugleich das vorhandene Filmmaterial stärker in den Vordergrund geschoben.  War das stringente Erzählen einer Filmhandlung überhaupt noch möglich? Ging es beim Underground und Mumblecore nicht genau darum, dass nicht mehr mit der Einfalt u.a. der Fernseh-Krimiserien Derrick und Der Alte, in denen Dieter Schidor mitwirkte, erzählt werden konnte? 1982 hatte Rainer Werner Fassbinder Jean Genets tagebuchartigen Roman Querelle de Brest verfilmt.

Die Liebeswüste 1986 (Lothar Lambert, Ulrike S., Albert Heins, Dagmar Beiersdorf)

Die Erzählung im Medium Film war und ist bis heute an gesellschaftliche Narrative geknüpft. Im Kino oder Fernsehprogramm, heute auch Streamingdienst, wird erzählt, was sich an Narrative andocken lässt. Während in den Literatur- und Medienwissenschaften das Erzählen in den 80er Jahren thematisiert und dekonstruiert wird, entsteht also ein Lothar-Lambert-Film der nur noch Erzählelemente von der Suche nach Liebe aufblitzen lässt. Dazu trägt 1986 nicht zuletzt die erste Welle der AIDS-Epidemie in West-Berlin bei, die die Lebensentwürfe und Lebensversicherungen von Männern bombardierte. Plötzlich werden die Schwulen nicht mehr alt, sondern sterben wie Dieter Schidor ein Jahr später jung mit 39. Bei Lothar Lambert durfte der bekannte Schauspieler seine Sehnsüchte und Todesängste ausagieren. Dabei ging er entschieden weiter als auf dem Still. Eine Penetration mit einem Baumstamm wird blutig dargestellt.

Die Liebeswüste, 1986 (Ulrike S., Frederike Menche)

Erhalten geblieben sind trotz des Filmwerkkopierfehlers Szenen mit Ulrike S. als stumme Frau, die unter ihrem Trenchcoat nackt durch Berlin irrt. Sie verkörpert die klassische Figur der Närrin.Das Kinomuseum von Schoppi widmet sich auch den Filmkopierwerke(n).Die Närr*innen der Moderne sitzen indessen nicht mehr an der Seite eines Herrschers, sondern werden in den 80er Jahren in der Psychiatrie weggeschlossen. Ob Lothar Lambert und Dagmar Beiersdorf Gilles Deleuze und Felix Guattaris Buch Mille Plateaux – Capitalisme et Schozophrénie [2] von 1980 gelesen hatten oder die Kapitalismus- und Psychiatriekritik nur vom Hörensagen in die Berliner Szene geschwappt war, lässt sich kaum verifizieren. Immerhin lag für den promovierten Juristen Schidor und den Star Ingrid Caven Paris um die Ecke. Seit Ende der 70er Jahre feierte sie als Chansonsängerin und Diva u.a. im Olympia in einem von Yves Saint-Laurent entworfenen schwarzen Samtkleid Erfolge und war die Witwe von Rainer Werner Fassbinder.

Die Liebeswüste, 1986 (Ulrike S.)

Die Figur der Närrin als aus der Psychiatrie entwichene stumme Frau spielt Ulrike S. brillant und überaus mutig. Am Schluss steht sie vor dem Tor einer Berliner Psychiatrie des Deutschen Roten Kreuzes. Der Befreiungsversuch in die Welt endet, so schlägt es der Schnitt syntagmatisch vor, in der Freiheit der geschlossenen Abteilung. Gut könnte der Film-Rest heute in einem großen Arthouse-Film mit Kristen Stewart etc. umgesetzt werden. Doch dann würde die Katastrophe der Einsamkeit und Liebe unter aufwendigen Kostümen und Bühnenbildern verschüttet werden. In der Eröffnungssequenz steigt die Närrin mit einem alten Fotoalbum unter dem Arm über eine Mauer und Müllkästen. Das Fotoalbum, das sie in allen Szenen mit sich führt, ließe sich in einige Richtungen kontextualisieren. Doch die Nacktheit der Frau unter dem Trenchcoat, wie er sonst vom klassischen Exhibitionisten genutzt wird, gibt sowohl einen Wink auf ihre Schutzlosigkeit wie ihre Existenz am Rande der Gesellschaft, wenn sie gleich zu Anfang mit einer „Dame“ im Pelzmantel kontrastiert wird.

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Lothar Lambert nutzt in Die Liebeswüste den Schneidetisch als gesellschaftlichen Echoraum für den Blick auf die Figur der Närrin und die verzweifelte Suche nach körperlicher Liebe als Erfüllung des Begehrens. In den Mienen und Kommentaren von Dagmar Beiersdorf und Albert Heins werden die vorherrschenden gesellschaftlichen Reaktionen gespiegelt. Wiederholt muss sich Lothar Lambert für Szenen rechtfertigen, warum sie so im Film vorkommen müssen. Das ist eben auch hochkomisch und ironisch, weil die Protagonisten sehr wohl wissen, welch stereotype Narrative sie kolportieren. In der vermeintlichen Liebesszene zwischen Abbas Kepekli und Doreen Heins schaut sie eher gelangweilt direkt in die Kamera, während sich der junge Türke mehr oder weniger lustvoll zum Orgasmus abmüht. Auf diese Weise wird das Genre der Liebes- und Sexszene als Höhepunkt der Zweisamkeit im Kino entstellt. Lambert hatte immer das Glück, dass sich seine Darsteller*innen mutig auf die Szenen einließen. Dagmar Beiersdorf und Albert Heins lieferten treffend die Erwartungshaltungen an das Kino in ihren Kommentaren und Mienen. Das zeigt man doch nicht im Kino! Genau! Mehr noch als durch die Szenen selbst werden auf diese Weise die Konventionen des Kinos und der Narrative offengelegt und fragwürdig.

Die Liebeswüste, 1986 (Abbas Kepekli, Doreen Heins)

Das Komische in den Filmen von Lothar Lambert ist keinesfalls lustig. Es ist in dem Maße wie es aus der glokalen[3], globalen wie lokalen Szene West-Berlins in den 80er Jahren entspringt, zugleich unheimlich. Es bedroht die vorherrschende Ordnung, die zumindest als eine genetisch deutsche imaginiert wurde. Die Mitwirkenden türkischer Herkunft lassen sich auf gesellschaftlichen Reibungen ein. Eine Debatte über den nationalistischen, sexistischen und rassistischen Wolfsgruß mit großem türkischem Engagement war undenkbar, obwohl 1984 die Anwältin Seyran  Ateş während eines juristischen Beratungsgesprächs mit ihrer Klientin lebensgefährlich verletzt wurde. Der mordende türkische Mann war Mitglied der Grauen Wölfe und Auftragskiller für Ehrenmorde. Die bereits erwähnten Namen und der weiteren Darsteller*innen – Jessica Lanée, Hans Marquardt, Friederike Menche, Stefan Menche, Dorothea Moritz, Semra Uysallar – geben einen Wink auf die vielfältige Herkunft. Einerseits wird der Liebesakt als komisch dargestellt, andererseits wird das ostentative Nicht-Mitmachen oder Machenlassen unheimlich. Liebemachen hat nicht zuletzt mit dem Mitmachen als Modus der Spiegelung zu tun. Die Spiegelung wird verwehrt oder wie Slavoj Žižek es einmal für das Kino formuliert hat: Es muss gezeigt werden, was wir begehren sollen.

Die Liebeswüste, 1986 (Dieter Schidor)

Die Liebeswüste und Verbieten Verboten sind kleine Meisterwerke des Kinos, die aus der Situation heraus das Medium und gesellschaftliche Narrative sezieren. Fucking City (1981) in der wiedergesehenen Fassung von Verdammt noch mal Berlin – Fucking City revisited (2016/2017), wie er im Zoo Palast gezeigt wurde, zitiert ebenfalls Szenen aus den beiden Filmen. In Fucking City (1981) hatte Lothar Lambert bereits seine Kritik am Kino filmisch formuliert. In Verbieten Verboten mit dem Epilog „Die Peep Show ist tot, es lebe die Peep Show!“ stehen ein Mann (Dieter Schidor) und eine Frau (Ingrid Caven) vor dem Eingang zum Theater des Westens, ein weiterer sitzt auf den Stufen (Klaus Marner). Sie blicken auf die andere Seite der Kantstraße, wo der Nachkriegsflachblau mit der Peep Show von Baggern abgerissen wird. Die Stadt soll zum 750-Jahr-Jubiläum „sauberer“ werden. Es entspinnt sich ein Dialog über Peep Show und Subventionen. Schidor sagt zur Caven, die auf einem Theaterplakat im Schaukasten zu sehen ist, dass sie wegen der „dummen 750-Jahrfeier“ abgerissen werde, während das Theater „mit Millionensubventionen“ werde, indem „du als Superstarnutte umjubelt wirst“.

Verbieten Verboten, 1987 (Dieter Schidor, Ingrid Caven)

Schärfer ließ sich 1987 keine Kritik an Städtebau und Subventionen, Sexpraktiken und Gesundheitspolitik formulieren. Das improvisierte Gespräch zwischen Schidor und Caven konnte kaum paradoxer enden als mit einer Schachtel Tabletten, die er aus einer Plastiktüte zog: „Die brauch ich als Sicherheit für die Verzweiflung.“ In der letzten Einstellung steht Schidor die Plastiktüte in einer Showgeste schwenkend im Eingang der Peep Show. Der Fatalismus des angekündigten Suizids ließ sich kaum divenhafter inszenieren. Wenige Tage später nahm er die Tabletten aus Angst vor seiner AIDS-Erkrankung. Lothar Lambert hatte Dieter Schidor den großen, letzten Auftritt bereitet. Für das Publikum, sofern es nicht aus queeren Menschen bestand, dürfte Verbieten Verboten etliche Grenzen überschritten haben. Zugleich werden von Ingrid Caven der Ruhm als Superstar und das Begehren kommentiert. Allein schon deshalb, weil sie im legendären Theater des Westens auf der Bühne stand. Lothar Lambert ist wegen seiner im Gespräch schlagfertigen Bescheidenheit vom Ruhm nicht verwöhnt worden, aber einer der größten Regisseure in der Geschichte des Queer Movie. Zum Ruhm in der Literatur hat schon der Schriftsteller Friedrich Kröhnke 2015 in seiner Erzählung Diebsgeschichte beigetragen:
„In losen Variationen sitzen gelegentlich weitere Herrschaften dabei, unter ihnen der Filmregisseur Lothar Lambert, in dessen Filmen Frau Gropp gespielt hat, ferner eine Richterin aus Luxemburg, die ihre Urlaube in Berlin verbringt…“[4]

Happy Birthday, Lothar!

Torsten Flüh  

Die Liebeswüste (1986)
Verbieten Verboten (1987)
So. 11. August 2024 15:30 Uhr
Bundesplatz-Kino

Begegnung mit Lothar Lambert
Überraschungsprogramm
Sa. 3. August 2024, 15:30 Uhr
Sa. 17. August 2024, 15:30 Uhr
Sa. 31. August 2024, 15:30 Uhr
Das kleine Kinomuseum
Schönleinstraße 33

LoLa DaBei
Ein Sommer mit queerem West-Berliner Undergroundkino

Programm bis 1. September 2024


[1] Torsten Flüh: Die Magie der Schnitte. Zu Lothar Lamberts Schnitt des Films Stellenweise superscharf im Klick-Kino. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Februar 2024.

[2] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Mille Plateaux – Capitalisme et Schizophrénie. Paris: Minuit, 1980. Deutsch: Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin, Merve, 1992, S 12.

[3] Zum Glokalismus siehe: Torsten Flüh: Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine. Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2024.

[4] Friedrich Kröhnke: Diebsgeschichte. Salzburg – Wien – Berlin: müry salzmann, 2015, S. 19.

Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine

Global – Insel – Lokal

Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine

Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie

Sie waren noch nie auf Elephantine? – Immerhin gibt es für Nil- und Ägyptenbegeisterte Zimmer, Suiten und Villen in einem Ressort einer schweizerischen Hotelkette auf der Nordspitze der 1.200 Meter langen und an der breitesten Stelle 400 Meter messenden Insel 5 Minuten vom Hauptbahnhof Assuan und 20 Minuten vom Flughafen. Gewiss ein globaler Knotenpunkt des gehobenen Tourismus‘. Das besondere an der Insel ist, dass sie zumindest an der Südspitze bereits vor 5.000 Jahren ein Hotspot des kulturellen Austausches war. Wie unter einem Brennglas der weltweit erhaltenen, aber auch in New York, Berlin, Paris, Rom etc. verstreuten Papyri und Ostraka von Elephantine kommen die Kulturen unter der Leitung von Verena Lepper erstmals in einer Ausstellung ans wohldosierte Licht.

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Verena Lepper und ihr internationales Team haben gewissermaßen die Pyramiden im mikroskopisch Kleinen zusammengesetzt, aus etlichen alten Schriften und Sprachen von Hieroglyphen bis zum Arabischen entziffert und für uns mit der „Glokalisierung“ lesbar gemacht. Wie von Zauberhand wurden nicht nur Papyri zu größeren Textblöcken zusammengesetzt, vielmehr soll diese Ausstellung kognitiv, visuell, taktil und olfaktorisch wahrgenommen werden, um die kulturelle Einzigartigkeit Elephantines in Berlin erfahrbar zu machen. Dank Grundlagenforschung und technologischer Innovation ebenso wie künstlerischer Kreativität werden an einem singulären Punkt der Welt 4.000 Jahre Kulturen und kultureller Wandel mit Elephantine vorgestellt.

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Die Ausstellung verdankt sich nicht nur exzellenter Forschung durch das Ägyptische Museum und die Papyrussammlung im Neuen Museum auf der Museumsinsel, vielmehr noch dem Europäischen Forschungsrat (European Research Council ERC) und dem zehnjährigen Jubiläum der Arabic-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Frau Prof. Dr. Verena Lepper ist Principal Investigator, also leitende Forscherin und Sprachexpertin für Hieroglyphisch, Hieratisch und Aramäisch an der AGYA, was schon allein deshalb erwähnenswert ist, weil ihr männlicher Mitarbeiter bei Treffen wiederholt für „Professor Lepper“ gehalten wurde. Während die große Schliemann-Ausstellung 2022 in den gleichen Räumen wissenschaftlich durchaus kritikwürdig war[1], überzeugt die Elephantine-Ausstellung nun in jeder Hinsicht.

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Die ebenso geheimnisvolle wie schwer zugängliche Erforschung eines Papyrus‘ wird durch die Ausstellung zu einem spannenden Erlebnis. Denn die Besucher*innen werden eingeladen, selbst zu Forscher*innen von der Auffindung von Papyri und Ostraka im Sand über die Materialien vom Papyrus, Leder, Tonscherben und Papier mit unterschiedlichen Tinten bis zur Kombination von Fragmenten gar aus internationalen Sammlungen zu einem längeren Text zu werden. Aus den Schnipseln und Scherben werden plötzlich exemplarische Texte. Oft sind es nur kurze Formulierungen, die indessen auf Lebenspraktiken schließen lassen und Erzählungen in Gang setzen. In einem Pahlavi-Papyrus aus dem 7. Jahrhundert, der aus dem Norden Ägyptens stammt, wird die Lebensqualität auf Elephantine insbesondere mit dem Schlaf formuliert. In dem in Berlin verwahrten Papyrus 8849 heißt es:
„»Meine Frau ist in Elephantine und Du…
Ich habe mich niedergelassen auf Elephantine, wegen
des Vorteils des Schlafens.«“[2]

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Der gute Schlaf auf Elephantine schlägt den Bogen zu den Träumen. Denn die Ausstellung hat viel mit Träumen und Übertragungen zu tun. In der Abteilung „Pluralität und Identität“ findet sich nicht zuletzt ein aus der Berliner Sammlung stammender Papyrus unter der Beschreibung „Hieratisches Traumbuch mit demotischen Einflüssen über die Identität eines Mannes, der auf Elephantine träumt“ aus der ägyptischen Spätzeit der 26. Dynastie 664-524 vor Christus. Die hieratische oder priesterliche Schrift kam als Tuscheschrift seit der 1. Dynastie 3032 vor Christus in Gebrauch. Sie hängt mit den Hieroglyphen eng zusammen, wird allerdings als Kursivschrift bis ins 1. Jahrtausend nach Christus verwendet. In der Spätzeit entwickelt sich aus ihr die demotische oder volkstümliche Schrift. Insofern wird das Traumbuch zum Zeugnis eines Übergangs in der Schriftgeschichte auf Elephantine. Der Traum reicht prophetisch ins Wachen hinein, wenn es heißt:
»Ein Mann, der von sich selbst auf Elephantine träumt, der wird ein langes Leben haben.
Ein Mann, der träumt, … dass er eine Schramme am Kopf hat, der wird sterben.«[3]

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Ein genaueres Wissen der Lebens- und Rechtspraktiken auf Elephantine vor mehr als 1.000 Jahren lässt sich nur mit den materiellen Monumenten von der Tonscherbe, Ostraka, in Schrift, Bild, Plastik und Architektur zusammenstellen. Ostraka sind gewissermaßen nachhaltige Schriftstücke. Denn die Tonscherben von Haushaltsgefäßen wurden für unterschiedliche Zwecke wie Rechnungen oder Schreibübungen beschriftet. Verena Lepper bringt einerseits das kulturhistorische Konzept des „Glokalisierung“ nach Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel in Anschlag für den einzigartigen Ort Elephantine.[5] Globale Praktiken überschneiden sich durch „Handel und Wirtschaft“ z.B. dem Gewürzhandel lokal. Andererseits schlägt sie mit der sinnlichen Erfahrung des Riechens, Fühlens, Sehens einen Bogen in die individuelle Wahrnehmung jede/r/n Einzelnen. Indem wir, die Besucher*innen z.B. den Pfeffer in der Installation der Duftkünstlerin und Wissenschaftlerin Sissel Tolaas riechen, wird unser kulturelles, olfaktorisches Wissen direkt angesprochen. Denn sie sagt:
„4.000 Jahre Kulturgeschichte anhand von Gerüchen zu erforschen, ist ein reizvolles Unterfangen, welches es uns ermöglicht, uns kreativ und mit Freude auf die Themen einzulassen, die uns beschäftigen.
Nichts stinkt, nur das Denken macht es zum Gestank.“[6]

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Die Wahrnehmung funktioniert in der Moderne seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem über den Blick, wie es Michel Foucault mit dem ärztlichen Blick formuliert hat.[7] Geruchs- und Tastsinn sind bei uns als, sagen wir, Enkel der Moderne schlecht bis mangelhaft ausgebildet. Beispielsweise vertrauen wir lieber dem berechneten Verfallsdatum von Lebensmitteln als der Nase, mit der sich gesundheitsgefährdender Verfall eines Lebensmittels riechen ließe. Die Menschen der Kulturen auf Elephantine über 4.000 Jahre dürften andere Praktiken der Wahrnehmung gehabt haben als wir. Der Schlaf hat zumindest nach dem Papyrus 8849 eine gewisse Priorität für Elephantine als Lebens- und Wissensraum. Doch die unterschiedlichen Schriftmonumente geben zumindest einen Wink auf Regeln und Praktiken, die über die Jahrtausende auf der Nil-Insel ausgeübt wurden. In der Abteilung „Medizin und Wissen“ findet sich u.a. ein „Hieratischer Text mit Rezepten und deren Anwendung bei möglichen Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden“ wiederum aus der Spätzeit:
»… Fischschuppen(?) …
… im Wirbelkanal wie …
… aufrichtend …
…-Pflanze … mit Honig …
…-Krankheit …
… Erfahren (seines) Zustandes …
… ihm die Medizin geben …«[8]  

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Das Wissen der Medizin (und Körperhygiene), wie es durch Papyri auf Elephantine in mehreren Grabungen oder gar Raubgrabungen aufgefunden wurde, fand anscheinend beim New Yorker Journalisten, Übersetzer, Unternehmer und Ägyptologen Charles E. Wilbour ein besonderes Interesse, denn die Ägypto- und Papyrologie entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Leidenschaft wohlhabender Abenteurer wie ihn. Ab 1880 verbrachte Wilbour die Winter auf seinem Schiff The Seven Hathors, benannt nach der Göttin Hathor, auf dem Nil. Er ließ im Januar 1882 Frauen für sich auf Elephantine graben und „erntete“ in Liter (pint) gemessene Papyrus-Fragmente.[9] In Assuan kaufte er Papyri von Elephantine, die nach seinem Tod in das Brooklyn Museum in New York gelangten. Das Brooklyn Museum hat gleich mehrere Medizin-Papyri aus der Spätzeit für die Ausstellung ausgeliehen. Die medizinischen Ratschläge bewegen sich in Hieratisch zwischen „17 Sprüchen gegen Ohrenschmerzen“ und „Schutz gegen Beschwerden an Zähnen, Lippen und Zahnfleisch“.[10] Sie werden nun erst im ERC-Projekt „Elephantine: Localizing 4000 Years of Cultural History. Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt“ erforscht und übersetzt.
„Erst danach können Vermutungen über den ursprünglichen Verwendungskontext des Papyrus angestellt werden. Die bislang bekannt gewordenen medizinischen Papyri in Brooklyn aus dem gleichen Materialfund sind der iatromagische Obstetrik-Papyrus (47.218.2), ein Papyrus, der sowohl Rücken- und Afterbeschwerden als auch Frauenbeschwerden enthält (47.218.75+86), ein Papyrus zu Mund- und Zahnbeschwerden (47.218.87) und ein Papyrus mit Frauenproblemen der Geschlechtsorgane (47.218.47).“[11]

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Zur Geschichte von Elephantine und der Schriftmonumente gehört auch, dass sie gleichsam im Wettbewerb gesammelt wurden, worauf Wilbours Brief vom 12. Januar 1882 mit der Mengenangabe einen Wink gibt, doch selten systematisch erschlossen und übersetzt worden sind. Die 157 Papyrusboxen im Brooklyn Museum, die Wilbours Tochter dem Museum 1947 übergeben hatte, und die darin aufbewahrten Papyri waren meistens „weder klassifiziert noch in irgendeiner Weise erfasst“.[12] Das Team um Verena Lepper konnte „diese Kisten sichten, öffnen und für die Digitalisierung des Projekts Vorbereiten“. Auf der Projektseite Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt lassen sich zwischenzeitlich 10745 Objekte mit einer eigens entwickelten Suchmaske von 120 Fragen systematisch in Kontexten erschließen. Die Berliner Ausstellung und das angeschlossene europäische Wissenschaftsprojekt stellen die Papyrus- und Ostraka-Forschung erstmals in einen gesellschaftlichen Kontext, der das Projekt Europa in seiner Pluralität und Identität mitdenkt.

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Die Grabungsgeschichte auf Elephantine lässt sich mit Charles E. Wilbours Brief von 1882 vordatieren. Denn offiziell beginnt sie erst mit den Grabungen von Otto Rubensohn und Friedrich Zucker im Auftrag der Königlichen Museen in Berlin am 30. Januar 1906. Doch bereits in den Nachwirkungen von Napoleons Ägyptenfeldzug gelangten „im frühen 19. Jahrhundert insbesondere aramäische Papyri und andere Handschriften von der Nilinsel Elephantine auf den europäischen Antikenmarkt“.[13] Durch die französische Revolution und Napoleons Feldzug hatten die Archäologie und Ägypten als Ursprung der Zivilisation eine neuartige Relevanz und Faszination erhalten.[14] Schriftzeugnisse versprachen, das Rätsel der Herkunft zu lösen. „Schon im Jahre 1819 kaufte Giovanni Battista Belzoni aramäische und demotische Papyri, die sich heute in Padua befinden“[15], schreibt Verena Lepper. 1907 veröffentlichte Otto Rubensohn die Elephantine-Papyri als Sonderheft der Königlichen Museen, in dessen Vorwort er vor allem die „Verwüstungen“ der Stadt Elephantine hervorhebt und zugleich an Napoleons Expedition anknüpft:
„Ganze Tempel, die noch von Gelehrten der französischen Expedition aufrecht gesehen und gezeichnet worden waren, sind vernichtet worden, ihre Steine in die Gebäude der modernen Stadt Assuan gewandert.“[16]

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Die Ursprungsfrage und das moderne Wissen der Archäologie als deren Beantwortung klingen bei Otto Rubensohn 1907 noch nach. Bei späteren Ausgrabungen wird das Grabungsgebiet zwischen den Berliner Archäologen und dem französischen Orientalisten Charles Clermont-Ganneau geteilt. Keinesfalls überraschend unter der Frage des Ursprungs „führte das Pontificio Istituto Biblico (PIB) in Rom 1918 ebenso eine kurze Grabungskampagne auf der Nilinsel durch, unter der Leitung von A. Strazzulli und S. Ronzevalle“.[17] Denn die Hoffnung auf frühe Zeugnisse der Bibel war groß. Das Bibelinstitut des Vatikans setzte nun Hoffnungen in die neue Wissenschaft. Doch das „Grabungsarchiv“ geriet in Vergessenheit und wurde erst von Verena Lepper und ihrem Team wiederentdeckt. Noch heute nimmt Elephantine eine wichtige Funktion für die „Bibelwissenschaft“ ein, wie Angela Rohrmoser 2010 ausgeführt hat.[18] Vor diesem Hintergrund gewinnt das „multi-kulturelle und multi-religiöse“ Konzept der Ausstellung an zukunftsweisender Bedeutung.

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Das Elephantine-Panorama im Untergeschoss des Neuen Museums mit den Zeugnissen des Alltagslebens, der Jenseitswelt und der Götterwelt des Ägyptischen Museums lädt nicht nur zum Selfi mit dem Smartphone ein, vielmehr wird in den Nebenkammern auch die neueste technologische Entzifferung beispielsweise von Papyrusamuletten vorgeführt. Der Physiker Heinz-Eberhard Mahnke vom Helmholtz-Zentrum Berlin, der Mathematiker Daniel Baum vom Zuse Institut Berlin für Wissenschaftliches Rechnen und Hochleistungsrechnen sowie Verena Lepper haben in einem interdisziplinären Schlüsselprojekt erstmals Papyri entfaltet. Die kleinformatigen, gefalteten Amulette können nun in der Kombination von Tomografie, Materialkunde, verwendeter Tinte und Rechenvorgängen virtuell zu einem lesbaren Text entfaltet werden.
„Sollte die Absorptionstomografie keine Buchstaben oder Schrift nachweisen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ein möglicher Text mit Kohletinte geschrieben wurde, welche die Standardtinte vom Alten Reich bis in unsere Zeit war. In diesem Fall fehlt noch eine Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Tinte und organischem Material, die jedoch intensiv untersucht wird. … Im Vergleich zum virtuellen Entrollen ist die Entfaltung noch nicht etabliert. Daher haben wir die Entfaltung erfolgreich an einem Modell getestet, das aus modernem Papyrus hergestellt, mit Tinte mit hohem Z-Element-Gehalt wie Zinnober (z. B. Hg) und Minium (z. B. Pb) beschrieben und gemäß der »magischen Faltung« gefaltet wurde, die senkrechte Faltlinien enthält.“[19]

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Die Dimension der Magie der Schrift, die nun mit ihrer virtuellen Entfaltung über Religionen hinweg mit Amuletten lesbar wird, lässt sich sowohl am hieroglyvischen „Ankh“ wie am Koptischen „Herr“ mitdenken. Als Praxis der Einfaltung eines Textes und dem Tragen des Schriftdokumentes gegen schlechte Einflüsse werden Amulette offenbar sowohl in den ägyptischen Religionen wie von den frühen Christen in Ägypten, den Kopten, getragen. Die Schrift wird gerade dann als Schutz mächtig, wenn sie nicht für jedermann lesbar, eingefaltet als Unterpfand am Hals getragen wird. In technologischer, museumsdidaktischer und ägyptologischer Hinsicht setzt Elephantine. Insel der Jahrtausende neue Maßstäbe. Ein umfangreiches Begleitprogramm gibt mit wissenschaftlichen Vorträgen und künstlerischen Inventionen detaillierte Einblicke. Zur Ausstellung ist ein standardsetzender Katalog mit vielen Abbildungen im Kadmos Verlag erschienen.

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Torsten Flüh

Elephantine.
Insel der Jahrtausende

James-Simon-Galerie
bis 27. Oktober 2024

Begleitprogramm:
Klein aber fein. Griechische Ostraka aus Elephantine
Vortrag & Führung zu: „Elephantine. Insel der Jahrtausende“ (Sonderausstellung)
18. Juli 2024, 18:00 Uhr
James-Simon-Galerie
Lesung, Gespräch

KATALOG MIT HOCHWERTIGEN, FARBIGEN ABBILDUNGEN)
392 SEITEN
24 X 29.7 CM
ISBN 978-3-86599-579-7
54,80 €

[1] Siehe: Torsten Flüh: Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden. Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juni 2022.

[2] Verena M. Lepper: Elephantine – global und lokal. In; Verena M. Lepper (Hg): Elephantine. Insel der Jahrtausende. (Ägyptisches Museum und Papyrussammlung der Staatlichen Museen zu Berlin). Berlin: Kadmos, 2024, S. 23.

[3] Katalog der ausgestellten Objekte. In: ebenda S. 148-149.

[4] Ebenda S. 326-327.

[5] Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 15.

[6] Sissel Tolaas: Geruch ist Information, Zweck und Kommunikation. In: Ebenda S. 114.

[7] Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Carl Hanser, 1973.

[8] Katalog … [wie Anm. 3] S. 204-205.

[9]  Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 18.

[10] Katalog … [wie Anm. 3] S. 206-211.

[11] Science in Ancient Egypt: Papyrus Brooklyn 47.218.87.

[12] Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 18.

[13] Ebenda S. 16.

[14] Siehe Torsten Flüh: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Februar 2024.

[15] Ebenda.

[16] Otto Rubensohn: Elephantine-Papyri. In: Königliche Museen in Berlin (Hg.): Sonderheft. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1907. S. 1.(Digitalisat)

[17] Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 18.

[18] Angela Rohrmoser: Elephantine. In: Deutsche Bibelgesellschaft Juni 2010.

[19] Heinz-Eberhard Mahnke und Verena Lepper: Virtuelles Entfalten von gefalteten Papyri. In: : Verena M. Lepper (Hg.): Elephantine. … (wie Anm. 2] S. 95.

„Im Moment höre ich Hörfunk…“

Hören – Worte – Pflege

„Im Moment höre ich Hörfunk…“

Zu Anna Peins Hörspiel Liebesbriefe ans Personal (2013) bei der Hans Flesch Gesellschaft im La bohème

Die Hans Flesch Gesellschaft, Forum für akustische Kunst, trifft sich turnusmäßig 4 bis 5 Mal im Jahr in der „Hörgalerie“ La bohème, Winsstraße 12, Prenzlauer Berg. Das Treffen am 25. Juni 2024 war Anna Pein und ihrem Hörspiel Liebesbriefe ans Personal gewidmet, das Oliver Sturm als Regisseur mit O-Ton der Hauptfigur Jutta Kiezmann sowie Margit Bendokat als alte Jutta und Kathrin Angerer als die junge Jutta inszeniert hat. Die Figur Jutta kommt somit gleich dreifach zu Gehör. Mitglieder und Freund*innen der Hans Flesch Gesellschaft waren als Hörexpert*innen versammelt. Denn Hans Flesch gehörte 1923 zu den Pionieren des Hör- bzw. Rundfunks in Berlin und dem „Unterhaltungsrundfunkdienst“, aus dem das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin hervorgegangen ist.[1]

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Die Hörfunkschaffenden der Gesellschaft verstehen sich nicht nur als ästhetische Interessenvertretung, vielmehr wollen sie auch politisch bei der Verbreitung vom Hörspiel bis zum Podcast Gehör finden. Anna Pein wurde, woran Oliver Sturm erinnerte, nahezu gegen ihren Willen zur Vorstandsvorsitzenden des Vereins. Um 2010 begann sie die Briefe mit Zeichnungen, die Jutta Kiezmann an sie und andere Pflegekräfte adressiert hatte, zu sammeln, transkribieren und montieren. Die Arbeit am Hörspiel faszinierten die Autorin und ihren Regisseur so sehr, dass Sturm die bewilligte Produktionszeit verdoppelnd überschritt, was im berühmt berüchtigten Apparat der Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerügt wurde. Frei nach den jüngsten Anhörungen im RBB-Untersuchungsausschuss: alle sind hochengagiert und verantwortlich, aber niemand will Verantwortung tragen – und vielleicht ist ein grandioses Hörspiel auch viel wichtiger als der Kostenplan.

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Der Hörfunk und die Öffis stehen unter Druck. Die große Zeit der Hörspiele ist zu Ende gegangen. Podcasts als neues Hörformat stehen hoch im Kurs. Als Radiohörer gestehe ich: Hörspiel ja, Podcast, nein. Im März 2022 wurde Anna Peins Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten in der Akademie der Künste am Hanseatenweg mit bedrückender Aktualität eingespielt.[2] Die Hans Flesch Gesellschaft kümmert sich u.a. darum, dass Hörspiele verfügbar bleiben und werden. Anna Pein und Oliver Sturm haben sich für eine bessere Vergütung der Hörspielautor*innen beim Deutschlandfunk stark gemacht, weil zuvor die regionalen Sender wie WDR oder NDR mehrfach vergüteten. Mit dem Hören und was wir hören, ist es überhaupt eine vertrackte Angelegenheit. Ein Hörspiel erfordert ein konzentriertes Hören. Es ist nicht dazu gemacht, es einfach beim Autofahren vorbeirauschen zu lassen. Zum Hörspielhören im Hörfunk muss man sich vor einen Apparat mit zwei Lautsprechern setzen. Die Audiodatei Liebesbriefe ans Personal wurde im La bohème in Stereo eingespielt.

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In Anna Peins Hörspiel funktioniert das Hören bei Jutta anders. Wenn Stefan sie bittet zuzuhören, löst das bei ihr andere Assoziationsketten aus. Zwischen Poesie und Psychose, zwischen Dichtung und Demenz wollen die Worte nicht passen und passen zugleich viel zu sehr:
„STEFAN
Jutta, hör doch mal. Ich – muß Dir was sagen…
JUTTA älter
Lieber Stefan! Eigentlich gab es heute keine Zwischenfälle, ich gehe erleichtert zu Bett, wenn die Zeit ruft. Im Moment höre ich Hörfunk. Sie bringen ihn bis in den späten Abend hinein. Es ist einfach schön. So manches Mal möchte man in den Rund – Funk – Sender hineinkriechen. Aber ihn nur zu hören ist auch schön…“[3]

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Wie funktioniert Kommunikation? Die Liebesbriefe ans Personal gibt es wirklich. Sie sind ebenso berückend wie verstörendund suchen Kommunikation. Der Produktion der Texte gingen i.d.R. Zeichnungen voraus. Oft nahm Jutta K. in ihren Texten Bezug auf die Zeichnungen, um sie zu beschreiben oder einzuordnen. Ein Teil der Briefe wurde am 8. August 2010 um 02:25 a.m. auf die interplanetarische Ausstellungsplattform von mars-patent.org übertragen. Der zertifizierte, gleichwohl virtuelle Ausstellungsraum der Studien- und Künstler-Freundin Claudia Reiche auf dem Mars wurde vor allem für Originaltexte auf unterschiedlichen Papieren wie Bögen zur „Pflegeplanung“ zum Thema Mars genutzt. Auf einem Querformat verfolgt eine, sagen wir, Figur aus zwei Kreisen bzw. Kugeln eine andere Figur mit einer Art dreizackigen Krone. In die Leer- und Zwischenräume schrieb Jutta Kiezmann:
„Der Mars steht über der Erde und macht den Frauen ein schönes Gedicht. Sie arten nicht aus, guten Glaubens. Unbesehn. Man kann schon sagen, das Leben ist schön. Da stillt kein Trugschluß in seinem Innern, sondern nur Glück. Der größte Planet ist die Sonne: Mit einer Krone bestückt. Die Erde ist klein wie ein Pünktlein, auch in der Ferne, zum Sonnenschein.“ (https://mars-patent.org/projects/letters_by_jutta_k/letters_by_jutta_k.htm )

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Auf Mars-Patent sind 43 Liebesbriefe von berückender Poesie veröffentlicht worden. Sie stehen auch für eine Vorarbeit zum Hörspiel. Anna Pein hatte nach Auskunft von Oliver Sturm zu jener Zeit die Liebesbriefe an allen Wänden ihrer Moabiter Wohnung geheftet. Aus der Überfülle der Briefe und ihrer Vieldeutigkeit destillierte und montierte Pein den Hörspieltext. Sie lebte zu jener Zeit in den Briefen von Jutta Kiezmann, die ihr diese übergeben hatte. Aus so viel Poesie musste sich doch etwas machen lassen?! Zugleich rückte die verfehlende Kommunikation von Stefans „hör doch mal“ und Juttas Antwort „Im Moment höre ich Hörfunk.“ ins Interesse. „So manches Mal möchte man in den Rund – Funk – Sender hineinkriechen. Aber ihn nur zu hören ist auch schön.“ Die Antwort rückt (gefährlich) nah. Jutta hört anders und antwortet mit Formulierungen, die alles und nichts bedeuten könnten. Will sie in Stefan oder den Hörfunk „hineinkriechen“?

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Beim Hören wird die Verfehlung in der Kommunikation meistens erst im Nachhinein auffällig. Hört Jutta nun Stefan zu? Oder hört sie gerade nicht auf ihn, wenn sie „Hörfunk“ hört. Neben anderen Pflegekräften wurde vor allem Stefan Adressat der Briefe, die sich bei den Leser*innen gerade wegen der Verfehlung verfangen konnten. Oft werden die Syntax und die Worte nur leicht verdreht, um die Leser*innen zu irritieren.
„Im Mond des Auges der Schein der Sonne ist schön. Schön wie der Flieder, er blüht. Auf Erden. Die Erde ist fest und dreht sich zugleich. Die Kinder spielen im Sand und schauen zum Mond, Gottes gesand. Das Gesicht in ihm sind Gase, zu ewiger Zeit. Dies ist berechenbar mit einem Teleskop – der Sonne zu. Diese schießt dann ihre Strahlen der Erde hin. Die Erde nimmt sie auf im Erden – Sein. Und hat die Größe wie der Sonnenschein.
Viele Grüße, Deine Jutta“ (Brief 16)

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Bisweilen taucht in den Liebesbrief der Reim eher unvermittelt ohne Zeilenbrüche auf: „Erden – Sein“ und „Sonnenschein“ zum Beispiel. Der Reim vermittelt fast Sinn und Sicherheit. „(S)pielen im Sand“ und „Gottes gesand“. Zugleich produziert er Kollisionen von Sinn und freiem Reimwunsch. Oder auch: „Pünktlein“ und „Sonnenschein“. Planetarische Wissensformationen („Mond“, „Sonne“, „Erde“) und Wissensdisziplinen („Gase“) werden erinnert und verschoben. Eine Anrede fehlt, aber die Grußformel fällt mit „Viele Grüße, Deine Jutta“ vertraulich aus. Wer darf sich gemeint fühlen? Ist überhaupt jemand gemeint? Schon beginnen Subjekt und Objekt zu schwanken. Wer ist das Du für „Deine Jutta“? Und schnell folgt die Frage: Meint sie mich? – Das ist aber nett, liebe Jutta! – Es ist selbst mit der Transkription auf Mars-Patent.org nicht leicht, die Liebesbriefe zu lesen, weil sie zwischen Emphase und wortloser Verschwisterung schweben.
„Lieber Mein!
Ich möchte Dir etwas Konkretes schreiben. Dies ist normal. Es zieht kein Gewitter vorüber, das ich nicht mag. Die Gewitter, sie rollen bis zum nächsten Tag. Man kann sie dennoch nicht greifen, sie lodern in Elektrizität vom Himmel herab. Es kann dabei auch zum Einschlag kommen. Das sind die höheren Bauten der Natur: Es geht schon seinen opolebtischen Gang. Und die Sphäre da oben hat dazu beigetragen.
Man kann die Paare nicht kitten, die an einem vorüberziehen. Und wenn es ginge, zerspringt die Vase neu. So war es auch mit dem zerbrochenen Krug von Wilhelm Tell. Er ist einfach von den Händen der Menschen zu Boden gefallen und zerbrach. Heute steht er noch im Museum. Die Leute beachten die Daten der Zeit. Sie bricht an.“ (Brief 6)

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Jutta Kiezmanns Liebesbriefe sind Briefliteratur, bei der die Leser*innen darüber erstaunen können, wie schnell die zerbrochenen Paarbeziehungen zu „Wilhelm Tell“ und „dem zerbrochenen Krug“ überspringen. Und das Zerbrechen mündet schließlich in der Zeit, die anbricht. Das Zerbrechen wird quasi durchdekliniert, während die Leser*innen und Hörer*innen rufen mögen: Moment! Doch der Brief ist nicht zuletzt mit Ausrufezeichen an „Lieber Mein!“ adressiert. Anna Pein und Oliver Sturm haben die Briefe für das Hörspiel einerseits stärker biographisch gerahmt, als es bislang in diesem Text geschehen ist, weil die Rahmung das Potential der adressierenden Verstrickungen einhegt. Die Briefe sind nicht zuletzt der aktuellen Demenzliteratur in der Literaturforschung zuzuschlagen, wie sie von Monika Leipelt-Tsai mit Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart [4] bedacht worden ist. Als ebenso sprachliches wie gesellschaftliches Problem der Bestimmung von Demenz hat Leipelt-Tsai auf die hohe gesellschaftliche Relevanz der Demenz-Erzählungen nicht zuletzt als „Sorge um sich“ besonders im Alter hingewiesen.[5]

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Die Sorge um sich in der unauflösbaren Verschränkung von Selbst-Erzählungen und Körper bzw. einer Angst vor dem Verfall des Körpers, insbesondere dem Gehirn, der das Wahrnehmen und Artikulieren verändert, durchzieht die Gesellschaften hoch entwickelter Industrienationen. Das Ich in den Liebesbriefen Jutta Ks umgeht die gesellschaftlich tief verbreitete Sorge. Indem sie Liebesbriefe ans Personal schreibt, wird die Sorge quasi auf dieses übertragen, die jede/n Einzelne/n heimsuchen kann. Oliver Sturm hat in seiner akustischen Inszenierung das Problem des Hörens nicht geglättet, sondern durch die polyphone Überlagerung und Aufspaltung der Stimmen verstärkt. Die Hörer*innen werden trotz der starken Rahmung mit einem vielstimmigen Raum konfrontiert, dem sie sich nur aussetzen, aber kaum beherrschen können.

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Obwohl die Rahmung der in einer psychiatrischen Wohngemeinschaft lebenden Jutta K. deutlich ist und die Autorin sich leicht als Altenpflegerin Annegret entschlüsseln lässt, bestätigen Sturm und Pein die Demenzdiagnose im weiteren Sinne nicht, vielmehr wird das medizinische Wissen von Psychose und Alkoholkrankheit als Symptome der Demenz mit der Produktivität und Wortgewandtheit der Bewohnerin konterkariert. Die Altenpflegerinnen Lilly und Dagmar füllen die Erhebungsunterlagen für die Bewohnerin aus, in dem sie „optische() und akustische() Halluzinationen sowie Wortfindungsstörungen“ diagnostizieren.
„LILLY
Als nächstes muß beschrieben werden, was sie nicht kann, zum Beispiel: Konzentrationsstörung, verlangsamtes Denken, in einer psychischen Krise kommt es zu optischen und akustischen Halluzinationen sowie Wortfindungsstörungen.
DAGMAR
TÜ: teilweise Übernahme. VÜ: Vollständige Übernahme. – Hilfebedarf bitte in der Spalte H wie Hilfe ankreuzen.“[6]

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Die Praxis der Altenpflege wird zum Kontrast der durchaus beunruhigenden Liebesbriefe ans Personal. Die hochformalisierte Praxis in der Altenpflege übernimmt in mehrfacher Hinsicht eine gesellschaftliche Schutz- und Sorgefunktion. Indem Anna Pein mit dem Sammeln, Transkribieren, Ausstellen und Montieren der Liebesbriefe die Schutzfunktion überschritten hat, gibt sie mit ihrem Hörspiel die Frage nach der Demenz an die Gesellschaft zurück. Zugleich ist es ihre Praxis, die hohe Belastung der Arbeitssituation mit Bewohner*innen in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung zu bearbeiten. Das Offenhalten der Frage von Dichtung und Demenz, was sie auch immer sein mag, wird mit dem Hörspiel Liebesbriefe ans Personal auf hohem Niveau durchgehalten. Dafür braucht es Mut. Während derartige Einrichtungen und Wohngemeinschaften i.d.R. hinter verschlossenen Türen für die Gesellschaft unsichtbar und unhörbar existieren, kehrt das Verdrängte im Hörspiel zurück.

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Jutta Kiezmanns Briefe wie Anna Peins Liebesbriefe ans Personal stellen mit ihrer dem Genre der Briefliteratur eigenen Geste der Adressierung auf höchst beunruhigende Weise die Frage nach der Kunst und Literatur. Denn eine Bejahung der Briefe als belletristische Literatur überdeckt nur die Beunruhigung, die von ihnen selbst in dem geschützten wie schützenden Raum einer geschlossenen Alterseinrichtung ausgeht. Um Bilder und Worte ringend will Jutta mit den sie umgebenden Menschen kommunizieren. Das gelingt und gelingt auch nicht. Jutta Kiezmann verstarb am 18. Februar 2011 in ihrer Wohngemeinschaft. Sie schreibt nicht mehr. Annegret Anna Pein verstarb am 13. Juni 2024 und hinterlässt eine Vielzahl von unabgeschlossenen Film- und Hörspielprojekten. Liebesbriefe ans Personal ist Juttas und Annas Vermächtnis. Claudia Reiche wird die Briefe von Jutta K. demnächst als Buch herausgeben.

Torsten Flüh

Annegret Pein-Völker
*21.11.1957  †13. Juni 2024
Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung
29. Juni 2024, 12:00 Uhr
Kapelle Stadtfriedhof Pinneberg


[1] Siehe zum 100jährigen Jubiläum des Rundfunk Sinfonieorchesters: Torsten Flüh: Vom Politischen in der Musik. Zu den Donnerstagkonzerten von ultraschall berlin festival für neue musik im Haus des Rundfunks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Januar 2024.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[3] Anna Pein: Liebesbriefe ans Personal. Köln: WDR/Henschel Verlag, 2013, S. 54.

[4] Monika Leipelt-Tsai: Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart. Lusanne: Peter Lang, 2021.

[5] Ebenda S, 13.

[6] Anna Pein: Liebesbriefe … [wie Anm. 3] S. 20.

Eine deutsche Utopie des Islam

Islam – Mission – Vernunft

Eine deutsche Utopie des Islam

Zum 100jährigen Jubiläum der „Berliner Moschee“

Hinter dem Rathaus Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz, einem monumentalen Verwaltungsbau des kaum bekannten A. Remmelmann von 1941 verbirgt sich, wenn man in die Brienner Straße einbiegt, über die Baumkronen hinausragend die erste Moschee in Berlin und sogenannte Berliner Moschee. Fehrbellin und Brienne-le-Chateau wurden als historische Schlachtfelder Preußens in dem Platz- und Straßennamen verewigt. An der Berliner Moschee kristallisieren sich um 1924 Debatten um den Islam als fortschrittliche Religion, gar Religion der Zukunft heraus. Deutsche Christen und Juden konvertieren zum Islam akademisch ausgebildeter Inder aus Lahore, heute Pakistan. Die unter der britischen Kolonialmacht westlich ausgebildeten Akademiker finanzieren in der deutschen Hauptstadt durch ihre Bewegung أحمديه أنجمن اشاعت اسلام لاهور  Ahmadiyya Andschuman Isha’at-i-Islam Lahore (AAIIL) die Mission in Europa.

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Die einzigartigen Debatten um den Islam in Deutschland und Europa ab 1924 werden vor allem durch zwei Publizisten zunächst durch Hugo Marcus (1880-1966) in der Moslemischen Revue als eine Art Vereinsblatt und etwas später durch Leopold Weiss (1900-1992) als Muhammad Asad mit modern-salafistischen Schriften wie Islam at the Crossroads (1934) und The Principles of State and Government in Islam (1961) geführt. Während Muhammad Asad seit dem 22. November 2013 am Haus Hannoversche Straße 1 Ecke Chausseestraße mit einer Berliner Gedenktafel als „Wegbereiter für einen Dialog zwischen den Kulturen“ und als einer der „bedeutendsten muslimischen Autoren seiner Zeit“ geehrt wird, ist Hugo Marcus fast vergessen und wird vom amtierenden Imam im Vortrag zur Geschichte des Moschee nicht erwähnt.

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Hugo Marcus gehörte zu den Gründungsmitgliedern der ersten deutsch-islamischen Gemeinde, wurde deren Geschäftsführer und veröffentliche zwischen 1924 und 1936 regelmäßig in der Moslemischen Revue zu Fragen des Islams. 2019 hat Abraham Rubin im Jewish Quarterly Review seinen konversionskritischen Aufsatz Hugo Hamid Marcus (1880-1966) The Muslim Convert as German Jew veröffentlicht, der die bislang umfangreichste Würdigung darstellt. Rubin untersucht insbesondere die Frage, wie Marcus als deutscher Jude zum Islam konvertieren konnte. Er kommt zu dem Schluss:
„Marcus’s writings seek to Germanize Islam by demonstrating its correspondences with the thought of eighteenth-century German luminaries such as Kant, Lessing, and Goethe. This particular conception of Germanness, associated with a cosmopolitan philosophical tradition, follows a specifically Jewish pattern of identification with German culture. According to historians George Mosse and David Sorkin, the timing of Jewish emancipation shaped the course of acculturation into German culture.‟[1]

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Hugo Marcus wie der zwanzig Jahre jüngere Leopold Weiss finden sich um 1924 in Berlin in einer nicht nur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise der Debatten um Bildung, Religion als Lebenspraxis, Demokratie, Sexualstrafrecht und Moral wieder. In der Berliner Topografie zwischen Studentenbude in der Hannoverschen Straße in der Nähe zur Humboldt Universität, damals Berliner Universität, Sexualwissenschaftlichem Institut von Magnus Hirschfeld im Tiergarten, dem Wissenschaftlich-humanitärem Komitee in Charlottenburg und der Wilmersdorfer Moschee in der Brienner Straße sowie der Moslemischen Revue mit Sitz in der Giesebrechtstraße am Ku’damm schlägt sich ein Netz der Debatten um den Islam aus, das sich nicht einfach als ein liberaler Islam in einer ebenso schwierigen wie hoffnungsvollen Zeit abtun lässt. Vielmehr kursieren in dieser grob umrissenen Topografie Formulierungen, Gespräche, Sehnsüchte, Gedichte, Literaturen, in denen zuvor praktisch undenkbare Narrative von Deutschland und dem Islam für eine kurze Zeit zusammengeführt und zunächst mehr oder weniger lose verknüpft werden.

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Imam Amir Aziz sagt auf Nachfrage bei einem Moscheebesuch im Mai 2024, dass Homosexualität und Islam gar nicht gingen. Allerdings signalisierte er lebenspraktisch-seelsorgerisches Verständnis. Wie konnte sich Hugo Marcus, der sich nach ersten Veröffentlichungen bald Hamid nannte, als nach der Propaganda und den Gesetzen des nationalsozialistischen Regimes, wie den Nürnberger Rassegesetzen (1935) Jude bis 1936 scheinbar unangefochten als Geschäftsführer des Moschee-Vereins halten? Die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen, wie sie im 18. Jahrhundert von Gotthold Ephraim Lessing mit der Ringparabel in Nathan der Weise formuliert worden war, hatten die Nationalsozialisten längst in eine biologistische Rassenideologie verdreht. Unmittelbar nach der Machtergreifung Ende Januar 1933 setzten die Nationalsozialisten mit dem euphemistisch genannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April ihre Rassenideologie gegen Juden im Staatsdienst durch. Jüdische Notare, Staatsanwälte, Richter etc. wurden von einem auf den anderen Tag arbeitslos. Als Juristen hatten sie so gut wie keine Aussicht auf ein Asyl in anderen Ländern.

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In der Moslemischen Revue lässt sich seit der ersten Ausgabe vom April 1924 der von Sadr-ud-Din als erster Imam und Missionar in Berlin initiierte Islambegriff beobachten. Als Zeuge für die Konversion zum Islam wird „Sir Archibald Hamilton“ mit seinem Artikel vom 13. Januar 1924 in der in London erschienenen Zeitung The People zitiert. Bei Hamilton handelt es sich um den aus altem britischem Adel entstammenden Sir Charles Edward Archibald Watkin Hamilton, 5. Baronet of Trebishun, Breconshire und 3. Baronet of Marlborough House, Hampshire (10. Dezember 1876 – 18. März 1939), der am 20. Dezember 1923 zum Islam übergetreten war und sich fortan Sir Abdullah Hamilton nannte. Damit hatte die Ahmadiyyah Missionsbewegung aus Lahore durch Sadr-ud-Din als Imam seit 1922 an ihrer Shah-Jahan-Moschee in Woking südwestlich von London ein namhaftes Mitglied der Church of England zur Konversion aus moralischen und intellektuellen Gründen bewegen können.
„Seit ich das Alter des Verstandes erreicht habe, hat mich die Schönheit und die einfache Reinheit des Islams stets begeistert. Ich konnte nie, obwohl ich als Christ geboren und erzogen war, an die dogmatischen Bestimmungen der Kirche glauben und setzte stets Vernunft und Verstand an die Stelle blinden Glaubens.
Bei fortschreitenden Jahren wünschte ich, mit meinem Schöpfer zum Frieden zu kommen, und ich fand, daß weder die römische noch die englische Kirche für mich von wirklichem Nutzen war.“[2]

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Maulvi Sadr-ud-Din knüpft mit dem Zitat des prominenten Zeugen aus London nicht nur an seinen Missionsdiskurs eines Islam des Verstandes und der Vernunft an, vielmehr setzt er bzw. ein Helfer bei der Übersetzung mit den Begriffen Verstand und Vernunft vom englischen reason zugleich den Tenor für die Verknüpfung mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Deutschland und den Dichtern Goethe und Lessing. Der Islam des Missionars Sadr-ud-Din ist vernünftig und in der Krise zu Beginn des 20. Jahrhundert für die Diskurse der Moderne anschlussfähig. Was heute häufig am fundamentalistischen Islam aus Teheran oder Mekka kritisiert wird, dass die arabische Welt des Islam keine Aufklärung erlebt habe, wird von Sadr-ud-Din in London erprobt und anschließend auf Berlin übertragen. Die islamische Mission aus Lahore geschieht insofern unter genau jenen Vorzeichen, die gemeinhin heute als Manko des Islam kritisiert werden und bis zur Islamophobie reichen. Die Superorität Europas gegenüber Indien und dem Orient wird von niemand geringerem als einem Adeligen der Kolonialmacht eingeräumt und zugunsten des Islam verworfen:
„Daß ich Moslem geworden bin, verdanke ich vornehmlich den Regungen meines Gewissens und ich fühle mich seitdem als ein besserer und aufrichtigerer Mensch.“[3]   

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Wenige Seiten später übernimmt das Gründungsmitglied Dr. Khalid Banning in seinem Text Die Rettung formelhaft die Argumentation von Verstand, nun als „Menschenverstand“ und Vernunft die Definition des Islams und fügt ihr hinzu, dass er „wirklich demokratisch (keine Scheindemokratie), antikapitalistisch ohne Klassen-, Rassen- und sonstige Unterschiede“ sei.[4] Für Banning kommt in Abgrenzung zum Christentum in der Verstand-Argumentation hinzu, dass der Islam eine „höhere Moral“ repräsentiere „ohne (…) ethisch anstößige und unmännliche Momente“ des Christentums.[5] Damit wird dem Islam ein Konzept der Männlichkeit zugeschrieben, das ihn vom Christentum unterscheide. Verstand und Männlichkeit werden nicht zuletzt in der ersten Ausgabe mit dem eröffnenden Foto von Mohammed Taufiq Killenger, Maulvi Sadr-ud-Din und Dr. Khalid Banning mit der Unterschrift: „Der Osten und der Westen im Islam vereinigt“ in Szene gesetzt. Die drei Gründer tragen westliche Anzüge und Krawatten bis auf den indischen Turban Sadr-ud-Dins und sind mit den Armen ineinander verschränkt. Killenger und Banning treten später nicht mehr in der Moslemischen Revue in Erscheinung.

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Im Umfeld der Zeitschriftengründung erscheint 1924 Maulvi Sadr-ud-Dins kleine Schrift von kaum 60 Seiten im Eigenverlag mit der wenigstens bürgerlichen Kontaktadresse Berlin-Charlottenburg Giesebrechtstraße 5III Der islamische Mensch. Die Moslemische Revue unter gleicher Adresse und Der islamische Mensch finden Eingang in die Bibliothek der Berliner Universität, wo sie noch heute im Jakob und Wilhelm Grimm-Zentrum mit deren Siegel zu finden sind. Das heißt zumindest, dass diese frühen Schriften, noch bevor die Moschee im Frühjahr 1925 fertiggestellt und eingeweiht wird, an der Berliner Universität, heute Humboldt Universität zu Berlin, archiviert und wahrgenommen werden. Die kleine Schrift war als Vortrag an der Schule der Weisheit in Darmstadt gehalten worden. Die von Hermann Graf Keyserling und dem Verleger Otto Reichl 1920 gegründete „Lebensschule“ hatte insofern Sadr-ud-Din den honorablen Rahmen für einen ersten Vortrag in Deutschland bereitet, der auf dem Rückumschlag der Moslemischen Revue wiederholt bis in die 30er Jahre für „M. 0.50“ angepriesen wurde.

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Der Vortrag in der Schule der Weisheit findet an einer Scharnierstelle der zeitgenössischen Orient- und Okzident-Debatte statt. Denn Graf Hermann Keyserling hatte 1922 den mehr als 500 Seiten umfassenden Band Schöpferische Erkenntnis mit der „Einführung in die Schule der Weisheit“ mit einem Vortrag veröffentlicht, den er am 15. Januar 1920 in der Kantgesellschaft in Berlin gehalten hatte, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hohe Zuwächse auf über 1.500 Mitglieder verzeichnen konnte: „Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn“. Der Vortrag beginnt mit der bemerkenswerten Formulierung, dass „wer viele Sprachen beherrsche“, wisse, „dass es eigentlich keine übersetzbaren Gedanken“ gebe.[6] Dennoch verkoppelt Keyserling das abendländisch rationale Denken als „wissenschaftlicher Verstand“ mit dem östlichen als „metaphysisches Wissen“ (S. 23). Mit anderen Worten: Die Schule der Weisheit in Darmstadt befindet sich an einer Schnittstelle des zeitgenössischen Gedankenaustausches zwischen Kant, Nietzsche, Lebensreform und Morgenland. Die Einladung Sadr-ud-Dins passte insofern in ihr Konzept. Mit einem Wink auf Friedrich Nietzsche wird der Vortrag unter der Überschrift „Der Islam, die Religion der Tat“ eröffnet.[7] Auf den Tatbegriff wird zurückzukommen sein.

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Die Lebensreformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts rückt mit dem Vortrag an der Schule der Weisheit in Darmstadt, noch bevor er in Berlin verbreitet werden konnte, ins Interesse der islamischen Mission und umgekehrt. Bildung und Lebensreform bieten Anknüpfungspunkte für eine Übersetzung des Koran ins Deutsche und die Bildung einer Gemeinde für die Berliner Moschee. Wie weit Maulvi Sadr-ud-Din zu diesem Zeitpunkt der deutschen Sprache mächtig war oder ihm bereits Hugo Marcus als Mitübersetzer zur Verfügung stand, lässt sich nicht verifizieren. Indessen unterrichtete Marcus nach dem Ersten Weltkrieg, als seine Familie ihr Vermögen und die Unternehmen in Posen verloren hatten, er an der Berliner Universität bei Georg Simmel, Friedrich Paulsen und Max Dessoir studiert hatte, „jungen Muslimen, die vor allem aus Indien nach Europa kamen“, Deutsch. In der von Manfred Backhausen erstellten, umfangreichen Chronik Die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung in Europa wird Hugo Marcus als Mitübersetzer der Koranübersetzung Sadr-ud-Dins von 1939 genannt.[8] Insofern liegt es nahe, dass ebenso ein Muttersprachler bei der Abfassung des Vortrages insbesondere hinsichtlich der anspielungsreichen Lexik wie „Religion der Tat“ oder auch „Der Islam und das Rassenproblem“ mitgearbeitet hat. 1924 führt das bereits zur Formulierung:
„Westeuropäischer Imperialismus und islamische Toleranz.
(…) Worum es dabei geht, das ist der Versuch, die Ostvölker in ewiger Sklaverei zu halten mit dem Endziel, sie bis aufs Blut auszusaugen.“[9] (S. 23)

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Die Lexik, die in Der islamische Mensch verwendet wird, gibt mit „(w)esteuropäischer Imperialismus“ und wie bereits bei Khalid Banning mit „wirklich demokratisch (…), antikapitalistisch“ so auch mit „Die islamische Regierung: Das demokratische Prinzip im Staatsleben und in den Religionseinrichtungen“ einen Wink auf ein zumindest linksliberales Milieu, in dem der „Islam“ bzw. der Koran übersetzt wird. Zugleich wird sie mit der Demokratie-Debatte der Weimarer Republik verkoppelt. Der islamische Mensch situiert sich im Vortrag zwischen Modernität, „Religion der Tat“, „panislamischer Solidarität“, Demokratie, Antikapitalismus und „allzu freien und unstatthaften Verkehr zwischen Männern und Frauen“[10] vor dem Hintergrund nicht ehelich geborener Kinder zu großer Zahl in Deutschland und dessen Großstädten, was zugleich von Magnus Hirschfeld in der Sexualstrafrechtsreform mit dem § 218 StGB thematisiert worden war. Der Begriff Homosexualität oder Liebe unter Männern kommt nicht vor. Vor allem aber geht es Sadr-ud-Din mit einem Beispiel zu indischen Bildungs- und Aufstiegschancen, um eine Beseitigung der imperialen Vorherrschaft.
„Ein englischer junger Examensabsolvent aus Cambridge oder Oxford wird erster Professor an einer indischen Universität und wird dann immer über die alten, erfahrenen und gelehrten indischen Professoren gestellt, zu deren Demütigung.“[11]

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Die Eröffnung der Berliner Moschee findet aus einem weit verzweigten Netz nicht nur der indischen Mission, vielmehr noch der deutschen Debatten zwischen der Berliner Universität und der Schule der Weisheit in Darmstadt statt. Die deutsche Suche nach einer Reform der Lebensweisen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs, dem Untergang einer Weltordnung, trifft ganz und gar nicht zufällig auf den Wunsch nach der Verbreitung des Islams. Unter diesem Aspekt einer Diskursverknüpfung durch die Moslemische Revue ist die Arbeit an der Berliner Moschee bislang nicht betrachtet worden. Hugo Marcus wird zum wichtigsten Beiträger dieser Verknüpfung, während Leopold Weiss sich nicht in der Moslemischen Revue artikuliert, aber 1926 in der Berliner Moschee konvertierte und sich fortan Muhammad Asad nannte. Doch wie geschah die Konversion? Erst 1929 im Januarheft wird die Frage „Wie wird man Moslem“ von der Redaktion geradezu minimalistisch beantwortet.
„Um Moslem zu werden, ist keinerlei Zeremonie erforderlich. Der Islam ist nicht nur eine rationale, weit verbreitete und praktisch nützliche Religion, sondern er steht auch in vollem Einklang mit den natürlichen, menschlichen Anlagen. Jedes Kind wird mit diesen Anlagen geboren. Daher bedarf es bei niemandem einer Umwandlung, um Moslem zu werden. Man kann Moslem sein, ohne es irgend jemandem zu sagen. Es ist nur eine reine Formsache für die Organisation, sich zum Islam zu bekennen. Der Grundsatz des islamischen Glaubens ist: „Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Muhammad ist Sein Gesandter“.“[12]

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In der Moslemischen Revue veröffentlicht Hugo Marcus bis in die 30er Jahre seine Artikel zur deutsch-islamischen Interkulturalität. Das zweite Heft der Zeitschrift wird im Juli 1924 programmatisch mit Mahomets Gesang von Johann Wolfgang Goethe eröffnet und mit einem redaktionellen Beitrag, Goethe über die Moslems, versehen. Hugo Marcus‘ Beitrag Das Wesen der Religion im gleichen Heft gipfelt in der Schlussformulierung, dass „wenn man die Religion als Spitze des praktischen Verhaltens“ ansehe, „der Kult (…) von neuem wichtig, wichtiger noch als das Weltanschauliche“ werde. Er stelle „die religiöse Stimmung praktisch in uns her unabhängig von aller Erkenntnis“. Die Religion sei „Tat des Ich am Ich“.“[13] Einerseits wird für das „Ich“ populärwissenschaftlich die Psychoanalyse in Anschlag gebracht. Andererseits nimmt Marcus in seiner Formulierung mit der „Tat“ seinen Beitrag Nietzsche und der Islam vorweg, der in der Aprilausgabe 1926 erscheinen sollte.
„Goethe und Nietzsche, die beiden überragenden deutschen Geister, haben gleicherweise nach dem Orient geblickt, Goethe im „Westöstlichen Divan“, Nietzsche im „Zaratustra“. So unterschiedlich nun die Grundstimmung ist, die im „Westöstlichen Divan“ und im „Zaratustra“ lebt, so unterschiedlich war die Auffassung dieser beiden allerwichtigsten Deutschen vom Orient.“[14]

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Obwohl Hugo Marcus nicht näher auf Nietzsches „Buch für Alle und Keinen“ Also sprach Zarathustra von 1883 eingeht, bestimmen der Lebens- und der Tatdiskurs zum Islam seine Verknüpfungspraktiken. Das reicht von Das Leben ist des Lebens Sinn (Januar 1925) über Christus, Tolstoi und Marx (Oktober 1924) im Kontrast zu Mohammeds Gestalt im gleichen Heft bis zu Die Religion und der Mensch der Zukunft (Januar 1931) nun von „Hamid Marcus“. Der Islam wird so zu einer religiös grundierten Lebenspraxis für die Zukunft ganz im Sinne der Rede Zarathustras:
„Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes
die That, ein Anderes das Bild der That. Das Rad
des Grundes rollt nicht zwischen ihnen.

Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich.
Gleichwüchsig war er seiner That, als er sie that:
aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie gethan war.

Immer sah er sich nun als Einer That Thäter.
Wahnsinn heisse ich diess: die Ausnahme verkehrte
sich ihm zum Wesen.

Der Strich bannt die Henne; der Streich, den
er führte, bannte seine arme Vernunft — den Wahn¬
sinn nach der That heisse ich diess.

Hört, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn giebt
es noch: und der ist vor der That. Ach, ihr krocht
mir nicht tief genug in diese Seele!“[15]

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Anlässlich des 200. Geburtstages von Gotthold Ephraim Lessing hält Hugo Hamid Marcus im Missionshaus der Wilmersdorfer Moschee am 22. Januar 1929 einen Vortrag, der keinen Eingang in die Moslemische Revue findet, aber in seinem Nachlass erhalten ist.[16] Die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam wird von Lessing parabelartig mit den Verwandtschaftsverhältnissen in Nathan der Weise durchgespielt.[17] Alle sind untereinander verwandt. Dass die drei Ringe der Ringparabel, dann noch einmal die Gleichwertigkeit der Religionen bestätigt, ist nur eine weitere Spiegelung. Warum erschien der prominente Vortrag zu Lessing, der immerhin im Baseler Nachlass nachgewiesen werden konnte, nicht in der Moslemischen Revue? Nach Abraham Rubin verhandelt Marcus in seinem Jubiläumsvortrag zu Lessing die Frage der Intoleranz in Bezug auf Religion, Rasse und Klasse hinsichtlich des Einkommens. Während die religiöse und rassistische Intoleranz die Minderwertigkeit der Minderheit zur Richtschnur mache, werde in sozio-ökonomischer Sicht die Geschäftstüchtigkeit und der wirtschaftliche Erfolg zum Argument der Intoleranz.

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Wichtiger als Lessing und Goethe im Bildungskontext ist für Hugo Marcus Friedrich Nietzsche, mit dem vor allem die Religion als Lebens- und Selbstpraxis beschrieben wird. Fast zeitgleich formuliert er in der Moslemischen Revue 1924 mit Mohammeds Gestalt und in Kurt Hillers, heute würde man sagen queer-politischem Ziel-Jahrbuch 5, Geistige Politik von 1924 mit Die Entlarvung der Tiefe ein „Selbstgefühl“[18] und „natürliche() und unveräusserliche() Menschenrechte(), zu denen er (Mohammed, T.F.) auch den Liebesanspruch zählt“.[19] Was nicht ausformuliert wird mit dem „Liebesanspruch“, lässt sich doch in der Formulierung lesen: „Denn seine Weisheit ist immer auf das gemeinhin Erreichbare gerichtet und realistisch, ungeachtet sie auf einem idealen Hintergrund ruht.“[20] Mohammed wird so zum Pragmatiker anstelle dogmatischer Rechtsgelehrter. Der Islam, wie ihn Marcus formuliert, während er bereits an der Koran-Übersetzung beteiligt ist, steht nicht im Widerspruch zum Selbstgefühl des Ziel-Jahrbuchs.
„Wenn Hungerstillung, das ist individuelle Erhaltung des Selbst, und Liebe, das ist überindividuelle Erhaltung des Selbst, gesichert sind, dann setzt im Seelenleben die stärkste Triebfeder alles Geschehens ein: die Steigerung des Selbst und der Genuß am gesteigerten Selbst: das sogenannte Selbstgefühl.“[21]

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In der Aprilausgabe 1933 erscheint anscheinend der letzte mit „Hamid Marcus“ gezeichnete Beitrag, Der geistige Gehalt der Ramadanzeit, der wiederum in der Tatlogik formuliert wird. „Wenn Gott uns ein Tun befiehlt, so entstrahlt diesem Tun nicht ein Zweck, nein, es entstrahlt ihm gleich ein ganzes Bündel von Zweckmäßigkeiten und Segenswirkungen.“[22] Die Fokussierung auf das Tun und die Tat durch Maulvi Sadr-ud-Din muss im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung in Indien bzw. auf dem indischen multiethnischen, vielsprachigen und multireligiösen Subkontinent gesehen werden. Die historische Hauptstadt des Punjab, Lahore, im Nordwesten Indiens wird 1956 der Islamischen Republik Pakistan zugeschlagen. An der Ausarbeitung der islamischen Verfassung war eben jener Mohammad Asad beteiligt, der dreißig Jahre zuvor in der Berliner Moschee zum Moslem geworden war. Stefan Weidner hat vor allem auf dessen für den modernen Salafismus prototypisches Buch Islam at the Crossroads von 1934 hingewiesen. Durch diese Schrift werde der Islam zu einer „geschlossenen Weltanschauung“ ohne die er nicht hätte „mitspielen können beim großen Spiel der Anschauungen und neuen Weltordnungen“.[23]

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Islam at the Crossroads wird in Delhi im März 1934 ein autobiographisches Vorwort vorangestellt, das den Islam als Lösungsangebot in einer Zeit zahlreicher Probleme ankündigt, die unerwartete Lösung und neue Sichtweisen (angle of vision) erforderten.[24] Am Ende des Vorworts formuliert Mohammad Asad eine ideologische Kampfansage gegen den Westen, die nicht aktueller nachhallen könnte. Das Koranstudium hat nicht etwa zu einem Austausch der Religionen und Kulturen untereinander geführt, vielmehr wird im März 1934, zehn Jahre nach Gründung der an Austausch interessierten Moschee, ein Kulturkampf formuliert:
„This little book (…) does not pretend tob e a dispassionate survey of affairs; it ist he statement of a case, as I see ist: The case of Islam versus Western civilisation. (Hervorhebung durch kursiv im Original) And it is not written for those with whom the Islam is only one of the many, more or less useful accessories of social life, but rather for those in whose hearts still lives a spark of the flame which burned in the Companions of the Prophet – the flame that once made Islam great as a social order and a cultural achievement.”[25]

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Die Ideologisierung der Religion Islam wird im Umfeld der indischen Unabhängigkeitsbewegung zur entscheidenden Strategie. Die Lebenspraxis muss vollkommen auf den Islam ausgerichtet werden. Wo in der Moslemischen Revue im 3. Heft 1924 noch wohlwollende Zitate über den Islam von Mahatma Ghandi abgedruckt wurden, ist 1934 kein Platz mehr für den Islam als „more or less usefull accessories of social life“. Die Debatten um den Islam trafen und verzweigten sich an der Berliner Moschee in den 20er und 30er Jahren. Danach war nichts mehr wie zuvor. Für den September 2024 ist zur Wilmersdorfer Moschee im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim eine Ausstellung vorgesehen. — Und dann gibt es noch die Erzählung eines Freundes über eine Begegnung an der Moschee vom Mai 2024:
„Eine Frau kommt hinter dem Vorhang vor und begrüßt mich freundlich. Ein einzelner Beter kommt und ich traue mich nicht, mehr Fotos zu machen.
Stattdessen will ich die Informationstafel lesen, als mir drei orthodoxe Juden entgegen kommen. Shabbat Shalom. Alle drei sind etwas verwundert, dass ich so auf sie zugehe und bleiben fragend stehen. Ich frage sie, woher sie kommen und was ich für sie tun könne. Sie sind etwas verlegen, aber auch freudig überrascht dann. Sie sind aus Kiew, Ternopil und irgendwonoch.
Als der Imam kommt, sprechen wir zu fünft und sie wollen wissen, ab wann morgens der Muezzin ruft. Als ich ein Foto von ihnen allen machen möchte, verweisen sie auf den Shabbat. Keine Fotos, erst morgen wieder! Das eine Foto lösche ich nicht und denke, der Liebe Gott wird mich wegen meiner Neugier vielleicht verstehen.
Ich rede vom House of One Berlin, was der Imam kennt, die anderen aber nicht. Sie erzählen von ihrer Flucht aus der Ukraine. Ich habe leider eine Verabredung in der Dänischen Gemeinde und breche die Unterhaltung ab. Aber das Zusammentreffen geht mir doch nicht aus dem Kopf. Gott sei Dank.“[26]

Torsten Flüh

Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim


[1] Abraham Rubin: Hugo Hamid Marcus (1880–1966): The Muslim Convert as German Jew. In: THE JEWISH QUARTERLY R EVIEW, Vol. 109, No. 4 (Fall 2019) 598–630, S. 606.
Zur Konversion: Siehe auch: Torsten Flüh: Vom Umkehren, Bekennen und Schmuggeln. Zur aktuellen Reihe Konversionen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Juni 2015.

[2] Sir Archibald Hamilton: Warum wurde ich Moslem? In: Moslemische Revue Herausgeber Maulvi Sadr-ud-Din 1. Jahrgang April 1924 Heft 1, Berlin, 1924, S. 25.

[3] Ebenda.

[4] Khalid Banning: Die Rettung. In: ebenda S. 31.

[5] Ebenda.

[6] Graf Hermann Keserling: Schöpferische Erkenntnis. Darmstadt: Otto Reichl, 1922, S. 3. (Archive.org) Siehe auch: Margit Ruffing: Geschichte und Gegenwart der Kant-Gesellschaft e.V. 2014 (PDF)

[7] Maulvi Sadr-ud-Din: Der islamische Mensch. (Eigenverlag) Berlin, 1924, 3.

[8]  „Einer dieser Mitarbeiter war Dr. Hamid Markus, der in der Danksagung aus politischen Gründen zwar nicht mehr genannt wird, der aber, wie mir Maulana Sadr-ud-Din selbst bestätigt hat, an der sprachlichen Gestaltung des deutschen Texts und des Kommentars maßgeblich beteiligt war …“ In: Manfred Backhausen: Die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung in Europa. (ohne Ort, ohne Jahr – 2006) S. 77-78. (PDF)
Siehe auch: Wolfram Setz: Einleitung. In: Hugo Marcus: Einer sucht den Freund und andere Texte. Ein Lesebuch zusammengestellt von Wolfram Setz. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2022, S. 42.

[9] Maulvi Sadr-ud-Din: Der … [wie Anm. 6] S. 23.

[10] Ebenda S. 37

[11] Ebenda S. 27.

[12] Die Redaktion: Was ist der Islam. In: Maulvi Sadr-ud-Din und Professor S. M. Abdullah (Hg.): Moslemische Revue: Fünfter Jahrgang 1929. Berlin 1929, S. 190-191.

[13] Hugo Marcus: Das Wesen der Religion. In: Moslemische Revue Herausgegeben von Maulvi Sadr-ud-Din 1. Jahrgang Juli 1924. Berlin 1924, S. 84.

[14] Hugo Marcus: Nietzsche und der Islam. In: Moslemische Revue Herausgegeben von Maulvi Sadr-ud-Din und Maulvi F. K. Khan Durrani Dritter Jahrgang 1926 Heft 2 April 1926. Berlin 1926, S. 79.

[15] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Band 1. Chemnitz: Schmeitzner, 1883, S. 49. (Deutsches Text Archiv)

[16] Abraham Rubin: Hugo … [wie Anm. 1] S. 604.

[17] Siehe: Torsten Flüh: Genealogische Operationen mit Witz. Nathan In The Box von und mit Bridge Markland wird bei der Premiere gefeiert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2021.

[18] Hugo Marcus: Die Entlarvung der Tiefe. In: Kurt Hiller (Hg.): Geistige Politik! (Ziel-Jahrbuch 5, 1924) S. 92. Zitiert nach: Hugo Marcus: Einer … [wie Anm. 8] S. 35.

[19] Hugo Marcus: Mohammeds Gestalt. In: Moslemische Revue 1926. Zitiert nach ebenda S. 437.

[20] Ebenda.

[21] Hugo Marcus: Die … [wie Anm. 18]. S. 35.

[22]1937 findet unter dem Nachruf Hudah Johanna Schneider gestorben noch das Kürzel M. H..
Hamid Marcus: Der geistige Gehalt der Ramadanzeit. In: Maulana Sadr-ud-Din, Dr. phil. S. M. Abdullah: Moslemische Revue. 9. Jahrgang, April 1933, Heft 1 und 2. Berlin,1933, 12.

[23] Stefan Weidner: Hin und weg. Warum bekennen sie Europäer zum Islam? Das Beispiel Leopold Weiss alias Muhammad Asad. In: Ulrike Vedder, Elisabeth Wagner (Hg.): Konversionen. Erzählungen der Umkehr und des Wandels. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin: Vorwerk 8, 2017, 130.

[24] Muhammad Asad: Islam at the crossroads. Sixth (revised) edition. Punjab: Arafat Publications Dalhousie, 1947, S. 1. (Archive.org)

[25] Ebenda S. 6.

[26] Veröffentlicht auf Facebook am 11. Mai 2024 von KD L. Ehmke.