Stadt – Architektur – Kirche
Bedenkenswerte Wiederkehr der Klänge und Stimmen
Zur St. Matthäus-Kirche mit der Ausstellung Godspeed in 4/4 Time von William Engelen und Die verschwundene Stadt – Im Tiergartenviertel von Brigitte Landes
In der St. Matthäus-Kirche im Kulturforum Berlin am Matthäikirchplatz ging es bei einer Veranstaltung mit dem Kunstbeauftragten der Stiftung St. Matthäus, Pfarrer Hannes Langbein, zweifach um eine Wiederkehr. Der Modus der Wiederkehr ist bekanntlich in den Bibeltexten ein prominenter. Insbesondere in der Zeit nach Ostern kehrt Christus seinen Jüngern wieder als Versprechen auf das ewige Leben. In St. Matthäus kehrt nun in den 366 metallenen Klangröhren von William Engelen das Kirchenjahr 2024 als Kalender wieder. Verstärkt wurde das Thema der Wiederkehr – auch der unbequemen – durch ein Gespräch von Thomas Sparr mit Brigitte Landes über ihr Projekt Die verschwundene Stadt in St. Matthäus, das 2024 als Insel Taschenbuch erschienen ist.

Die Wiederkehr kommt in der Kirche St. Matthäus unterschiedlich vor. Im 2. Weltkrieg wurde die Kirche nach Entwürfen des Schinkel-Schülers Friedrich August Stüler schwer zerstört. Die Kirche bildete den Mittelpunkt des Tiergartenviertels im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die wohlhabenden Bürger des Wohnviertels zwischen Potsdamer Straße und Tiergarten hatten sich darauf geeinigt, 1844 einen Kirchenbau vor dem Potsdamer Tor bei König Friedrich Wilhelm IV. zu beantragen. Der Wiederaufbau der zertrümmerten Kirche zwischen Ruinen erfolgte bereits 1956 bis 1960. Die Kirche kehrte wieder in historischer Form und Fassade auf einer Betonkonstruktion. Doch der Potsdamer Platz war durch Bombenhagel und die Teilung in Sowjetischen und Amerikanischen Sektor verschwunden. Das Stadtviertel existierte nicht mehr. Was war geschehen? Berliner Stadtplaner und Architekten konstruierten das Kulturforum mit Nationalgalerie, Staatsbibliothek, Gemäldegalerie und Kunstgewerbemuseum, Philharmonie.

St. Matthäus wurde zur Kunstkirche. Seit ich das erste Mal Mies van der Rohes Nationalgalerie Anfang der 70er Jahre mit meiner Berliner Patentante aus Schöneberg besuchte, wunderte ich mich über die Kirche ohne Wohnbebauung. Staatsbibliothek und Philharmonie lagen in weiter Ferne. Die Kirche war wochentags geschlossen. Allein die Nationalgalerie war für meine Patentante und mich zugänglich. Da stand eine Kirche im städtischen Freiraum. Es gab für mich keine erkennbare Gemeinde. War die Kirche also mehr aus kulturellen Überlegungen wieder aufgebaut worden, weil August Stüler sie erbaut hatte? – Die Stiftung St. Matthäus wurde schließlich nach einigen Anläufen 1999/2000 gegründet und die Kirche zum Zentrum der Kunst- und Kulturstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Fortan werden Künstler*innen eingeladen, den Kirchenraum der Citykirche, in dem wieder Gottesdienste stattfinden, Kunstprojekte zu realisieren.

Das Tiergartenviertel war in meiner Wahrnehmung verschwunden. Was ist ein Viertel? In Berlin nennt man die Viertel häufig Kiez, wobei die Benennung für das zunächst ländlich-herrschaftlich-geprägte Gebiet vor der letzten Berliner Stadtmauer kaum passen will. Es war allenfalls ein ganz besonderer Kiez mit einem sozialen Geflecht der Königs- und Kaiserzeit, der bereits durch Weltkrieg, Wirtschaftskrise, Machtergreifung und durch die Pläne Albert Speers für die Hauptstadt Germania beschädigt worden war. Denn Albert Speer hatte für die geplante Nord-Süd-Achse der gigantomanischen Hauptstadt an der Tiergartenstraße 1938-1942 Villen abreißen lassen, um die Italienische und Japanische Botschaft bauen zu können.[1] Thomas Sparr formulierte 2020 für das Projekt Die verschwundene Stadt – Rekonstruktion des alten Tiergartenviertels 1846 – 1950:
„Wir sehen Spuren der stolzen Selbstbehauptung von Juden in der Berliner Gesellschaft, aber vernehmen sogleich Antisemitismus und Anfechtung. Im Berliner Tiergarten zeigt sich im Mikrokosmos eines Viertels der rasante Aufstieg der Metropole, ihr Glanz und ihr Elend, ihr Anspruch und ihre Wirklichkeit und vor allem die furchtbare Zerstörung durch Albert Speer und seiner Gefolgsleute im Nationalsozialismus.“[2]

Der niederländische Künstler William Engelen arbeitet mit Musik in Räumen. In Osnabrück hat er 2018 in einem ehemaligen Kirchenraum, dem Dominikaner Kloster, die Klanginstallation Heute hat die Orgel wieder schön gespielt eingerichtet.[3] Im Haus für Medienkunst Oldenburg hatte im Mai seine Performance-Installation One Man Band Weltpremiere.[4] Er visualisiert auf besondere Weise Musik. Das gilt schon für die Partituren wie die Instrumente im erweiterten Spektrum. Durch Klangröhren aus verschiedenen Metallen, die an Orgelpfeifen erinnern, aber keine Pfeifen sind, schafft Engelen einen Andachts- und Mitmachraum in der Kirche. Mit rotem Samt bezogene Hämmerchen stehen neben der Partitur auf einem Tisch vor dem Altar, um von Musiker*innen und Besucher*innen benutzt zu werden.

In der Apsis hängt statt eines Kreuzes ein einzelnes langes Klangrohr aus Kupfer, das besonders lang ist. Assoziationen setzen ein: die unterschiedlichen Rohre sind die Gemeinde und das einzelne könnte Jesus symbolisieren. Die Klangröhren aus Aluminium, Edelstahl, Messing und Kupfer erlauben visuelle Assoziationen. Doch Partitur und Installation sind nach dem Format des Kalenders im Kirchenjahr eingerichtet. Wir können den Kalender des Kirchenjahres 2024 sehen und hören.
„366 Klangröhren, die unter den Emporen der Kirche entlanglaufen, bilden die einzelnen Tage des Jahres 2024 ab. Jeder Tag hat durch Unterschiede in Dimension und Material seinen eigenen Ton – Kupfer für die Hochfeiertage und den Grundton über dem Altar, Messing für die Vollmonde, Edelstahl für die persönliche Zeit des Künstlers und Aluminium für alle anderen Tage.“[5]

Die Straßenfront der Villa Parey in der Sigismundstraße 4a, heute 4, ist eingeschlossen in den Museumsbau der Gemäldegalerie der Architekten Hilmer, Sattler und Albrecht. Sie gehört zu den wenigen Zeugnissen des Tiergartenviertels. Die Villa wurde für den Verleger Paul Parey quasi mustergültig ab 1895 erbaut. Es gab eine Zentralheizung. Die Anordnung der Räume war genau durchdacht. Im Untergeschoss befanden sich hinter den vergitterten Fenstern links ein Billardzimmer und rechts das Zimmer für den Pförtner. Im Hauptgeschoss links mit dem renaissanceartigen Erker bis über den Eingang war der Salon angelegt. Im rechten Teil war mit einer Verbindungstür das Wohnzimmer von Anfang an vorgesehen. Im Obergeschoss waren das Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer mit Erker zur Straßenseite angelegt.[6]
„Die repräsentative, mit Sandstein verkleidete Straßenfront blieb erhalten, sie ist im Stil des 16. Jahrhunderts gestaltet, mit Elementen der deutschen Spätgotik und Frührenaissance, mit Maßwerkbrüstungen, Reliefs und Friesen, Fenster mit Pilasterrahmungen, einem reich geschmückten Giebel…“[7]

Brigitte Landes interessiert sich in ihrem Buch, der Nr. 1539 in der Insel-Bücherei, für die Sigismundstraße 3, in der Adolph von Menzel sein Atelier hatte. Denn sie kann ihn mit einem Brief vom 13. März 1892 an den Vermieter seines Ateliers sprechen lassen. Gegenstand des Briefes sind der Ärger über „das Aussehen der Hinterwand“ und die hohe Miete.
„»Ich muß Ihnen hiermit Mitteilung machen, daß der Zustand des Mauerputzes an der Hinterfront des Hinterflügels des Hauses Sigismund-Str. No. 3, der Wand, auf welche meinen beiden Atelier-Fenster münden jetzt beginnt gefahrdrohend zu werden. Das Unwetter dieser letzten Tage hat wiederholt große Stücke des Kalkabwurfs herabgestoßen, so daß Niemand mehr wagen kann auf dem Balkon des Saals unterhalb meines Ateliers zu verweilen, ohne jeden Augenblick schwer getroffen werden zu können … Von diesem Aussehen der Hinterwand – für ein herrschaftl. Haus mit hohem Mietzins – geradehin skandalös zu nennen, noch gar nicht zu reden!«“[8]

Die Stimmen aus dem Tiergartenviertel, die Brigitte Landes über Medien zum Sprechen bringt, beleben den Stadtraum wieder. Denn das Viertel lässt sich über wechselnde Bewohner und Zeiträume schlecht rekonstruieren. Ganze Straßenzüge sind verschwunden. Es hat immer wieder Löschungen gegeben. Durch den Bau der Philharmonie und des Musikinstrumentenmuseums 1963 wurde nicht nur die Adresse Tiergartenstraße 4 gelöscht, vielmehr wurden in der von Georg Liebermann erbauten Villa seit Frühjahr 1940 die Euthanasie-Morde an kranken und geistig behinderten Menschen unter dem Tarnnamen T4 geplant und systematisch koordiniert. Wo zuvor Antiquariate wie das von Paul Graupe ihre Adresse hatten, wurde nun über die Ermordung hilfsbedürftiger Menschen entschieden.
„Hierhin, in die Tiergartenstraße 4, verirrt sich Walter Benjamin in eine Ausstellung bei dem Kunsthändler Graupe. Seine Rundfunkgeschichten für Kinder hat er noch geschrieben, kurz bevor er 1933 nach Paris ins Exil ging:
»Für die jedenfalls, die Labyrinthe gern haben, gibt es hier zum Schluß noch eine besondere Einlage. Ich will ihnen nämlich verraten, wo gerade die schönsten Labyrinthe, die mir je vorgekommen sind, zu sehen sind. Das ist bei dem Buchhändler Paul Graupe, der in seinem großen schönen Haus einen ganzen Saal für die schnurrigen Stadt-, Wald-, Berg-, Tal-, Burgen- und Brückenlabyrinthe eingeräumt hat, (…)«“[9]

Die Transformationen des ländlichen Tiergartens, der Ausflugslokale und Landhäuser an der Tiergartenstraße sind der industriellen Entwicklung, nicht zuletzt des Maschinen- und Eisenbahnbaus, zur „Weltstadt Berlin“[10] geschuldet. Theodor Fontane war selbst Zeuge dieser Transformationen zum Luxus der Salons. Nicht zuletzt war er im Herbst 1872 in die Potsdamer Straße 134c in den 3. Stock oder nach der Einteilung der Villa Parey in das Obergeschoss über Haupt- und Untergeschoss gezogen. Bevor die Villen mit Zentralheizung im Kaiserreich gebaut wurden, war das Tiergartenviertel ländlich geprägt.
„Zehn Jahre zuvor hatte es noch anders ausgesehen, wie Theodor Fontane die Wohnung des Dichters Friedrich Scherenberg in der Tiergartenstraße beschreibt in die er um Ostern 1838 gezogen war, »(…) Unseres Dichters Wohnung lag im ersten Stock, aber diese ›Beletage‹ bestand aus nichts als aus zwei geweißten Stuben, in denen es, als der Winter kam, bitterlich kalt wurde. (…)«“[11]

Die verschwundene Stadt von Brigitte Landes ist ein faszinierend vielstimmiges Buch mit einer eher skizzenhaften Chronologie geworden. Es beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts und endet mit Gabriele Tergits Formulierung zum Potsdamer Platz vom Mai 1948. Sie war aus dem Exil in London zurückgekehrt und von der Zerstörung erschüttert. Die berühmte, oft satirische Journalistin und Autorin – Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1932) – findet statt ihres vertrauten Viertels nur noch Ruinen, die denen Pompejis gleichen.
»Das eigentliche Tiergartenviertel sah aus, daß ich Heinz schrieb, ich hätte meine Verdächte wegen Pompeji, die Ruinen des Tiergartenviertels sähen genau so aus, da eine schlanke gerillte Säule, ein Stück Wand mit Fensteröffnungen, die eine mit einer runden, die andere mit einer dreieckigen Bekrönung, eine Terrasse mit Balustern. Tradition seit Rom, nie ganz zerstört. Da und dort blühten noch Flieder oder Goldregen. Altes Europa. …«“[12]

Das Buch ist auch ein Labyrinth geworden, wie Walter Benjamin es 1933 den Kindern verspricht. Ein Labyrinth aus Straßennamen, die verschwunden sind, und im übertragenen Sinne aus Stimmen. Ein Labyrinth der Erinnerungen an die „Weltstadt Berlin“ und die Verbrechen vom Antisemitismus bis zur Gigantomanie der Nord-Süd-Achse. Inmitten hinter der Potsdamer Straße, wo Fontane wohnte, steht fast schon wie ein Mahnmal die St. Matthäus-Kirche. Das Buch zu lesen, hilft bei einem Besuch die Kirche in ihren Kontext einzuordnen und gleichzeitig die Kunst- und Kulturstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz kennenzulernen.
Torsten Flüh
William Engelen
Godspeed in 4/4 Time
bis 7. September 2025
St. Matthäus-Kirche
Kulturforum Berlin
Matthäikirchplatz
10785 Berlin
Di bis So, 11:00 bis 18:00 Uhr
Eintritt frei

Brigitte Landes
Die verschwundene Stadt
Im Tiergartenviertel
Fester Einband, 124 Seiten
978-3-458-19539-9
Insel-Bücherei 1539
15,00 €
[1] Zu den Planungen und Bautätigkeiten für die Hauptstadt Germania siehe: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.
[2] Thomas Sparr: Klappentext. In: Stiftung St. Matthäus: Die verschwundene Stadt – Rekonstruktion des alten Tiergartenviertels 1846 – 1950. Berlin, 2020, Rückseite.
[3] William Engelen: Today the organ played beautifully again. Exhibitions.
[4] William Engelen: One man band. In: Haus für Medienkunst Oldenburg: Archiv.
[5] Zitiert nach: Stiftung St. Matthäus: Ihr Tag! Ihr Klang! (Online)
[6] Siehe Grundrisse aus Kayer & von Großheim – Blätter für Architektur und Kunsthandwerk, 11(1898), No.6, 1.Juni 1898 auf Wikipedia.
[7] Sibylle Nägele und Joy Markert: Tiergartenviertel 1900-1933. In: Stiftung St. Matthäus: Die … [wie Anm. 2] S.34.
[8] Brigitte Landes: Die verschwundene Stadt. Im Tiergartenviertel. Insel Verlag Berlin 2024, S. 16.
[9] Ebenda S. 99-100.
[10] Ebenda S. 19
[11] Ebenda S. 32.
[12] Ebenda S. 113-114.