Zerspringende Identitäten

Moderne – Identität – Übertragung

Zerspringende Identitäten

Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele

Die Deutschlandpremiere von Ming Wongs „Lecture-Performance with Two Pianos“ Rhapsody in Yellow am Freitagabend im Haus der Berliner Festspiele mit den Pianisten Ben Kim und Mark Taratushkin riss das Publikum zu einem Begeisterungssturm hin. Das hatte natürlich mit der Musik und der artifiziellen Bildtechnik zu tun. Seit seiner Uraufführung am 12. Februar 1924 in der Aeolian Hall in New York City reißt die Rhapsody in Blue von George Gershwin Konzertbesucher auf der ganzen Welt mit. Die Hörer*innen des Zentralen Symphony Orchesters der Volksrepublik China waren ebenfalls enthusiasmiert, als Yin Chengzong 1970 nach Ausbruch der Kulturrevolution die Uraufführung des Yellow River Piano Concerto für das Revolutionsfernsehen einspielte. Nun entfacht Ming Wong mit seiner Rhapsody in Yellow ein visuelles und akustisches Feuerwerk.

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Die entscheidende Frage nach der Identität der Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China wird von Ming Wong, der in Berlin lebt und arbeitet, mit seiner audiovisuellen Komposition Rhapsody in Yellow bearbeitet. Die Tischtennisplatte im Foyer an der Schaperstraße gibt dafür den Ort einer „Ping-Pong-Diplomatie“ ab und die Schnelligkeit des Sports wird zum Modus der Komposition. Die Frage nach der Identität kristallisiert sich um die europäische Musiktradition und Kompositionstechnik, die George Gershwin in der Rhapsody in Blue mit dem Klavierkonzert bestätigt und auf neuartige Weise mit Jazz überschreitet. 1939 hat Xian Xinghai nach dem europäischen Kompositionsprinzip – er hatte in Paris bei Paul Dukas studiert – die Kantate vom Gelben Fluss komponiert. Amerika und China finden mit einem Abstand von fünfzehn Jahren somit ihre nicht nur akustische Identität in der europäischen Musiktradition und einen europäischen Erzählmodus in der Musik.

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Die Rhapsody in Yellow hatte ihre Welturaufführung nicht in New York, Peking, Paris oder Singapore, sondern in der Hauptstadt der Steiermark, Graz, am 22. September 2022 auf dem Festival steirischer herbst. Weil es Ming Wong um Kino und Populärkultur geht, darf an dieser Stelle angemerkt werden, dass die im wahrsten Sinne Inkarnation, Fleischwerdung des amerikanischen Traums zumindest der 80er Jahre Arnold Schwarzenegger ebenfalls in der Steiermark und gewiss mit einem Laut das Licht der Welt erblickte. Die Kombination eines Vortrages mit einem Klavierkonzert für zwei Klaviere und historischen Filmausschnitten unter Abmischung historischer Orchesteraufnahmen dürfte in dieser Form technisch absolut neu sein. Das Livekonzert verschmilzt mit fortgeschrittenster Digitalität, bis sich die Kadenzen der Rhapsody in Blue und des Yellow River Piano Concerto zur Ununterscheidbarkeit in einem Crescendo überschneiden.

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Im September 2022 hatte Yannick Nézet-Séguin beim Musikfest die Symphonie Nr. 1 in e-Moll von Florence Price aus dem Jahr 1932 als Anknüpfung an die Symphonik Antonín Dvořáks vorgestellt.[1] Price komponierte 8 Jahre nach der Rhapsody in Blue ihre Symphonie für die Vereinigten Staaten von Amerika in einer europäischen Musiktradition. Anders als die Rhapsody in Blue verzichtete sie auf eine Kombination mit dem Jazz als Populärmusik in einer neuartigen Form. Bei der Frage um Musik als nationale Identität nimmt Antonín Dvořák z.B. mit den Slawischen Tänzen, die er zwischen 1878 und 1886 komponierte, für Tschechien in Europa eine entscheidende Funktion ein.[2] Nicht weniger wichtig wird zu jener Zeit Bedřich Smetanas sinfonische Dichtung Má vlast (Mein Vaterland) mit der ca. 12 minütigen Vltava (Die Moldau). Damit war ein musikalisches Format konstruiert, das sowohl in der Symphonie Nr. 1 von Price wie von Gershwin in der Rhapsody in Blue als auch von Xian Xinghai mit der Kantate vom Gelben Fluss wiederholt, übertragen und abgewandelt wurde.

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Florence Price geriet mit ihrer Symphonie Nr. 1 als Frau und Farbige in Vergessenheit, während Leonard Bernstein seit den 50er Jahren die Rhapsodie in Blue für den Kanon der amerikanischen Symphonie-Konzertprogramme formalisierte. Das war insofern neuartig und überraschend, als George Gershwins epochale Komposition in die populäre Musik abgedrängt worden war. Dazu trug vor allem Paul Whitemans Revue-Film The King of Jazz (1930) bei, in dem die Rhapsody in Blue zur spektakulären Revue-Nummer mit einem ganzen Jazz-Orchester in einem riesigen türkisfarbenen Konzertflügel transformiert wird. 5 junge Männer im Frack sitzen an den riesigen Taten, als wären sie Fabrikarbeiter an einer großen Maschine und illustrieren den Klavierpart. Neuartige Überblendungen in Technicolor lassen den Pianisten im Showspektakel verschwinden. Jede Note muss betanzt und bebildert werden. Glitzernde Kristalllüster verbreiten Luxus und Wert der Komposition.

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Die allerneuesten technischen Mittel des Farb- und Tonfilms werden von Paul Whiteman, der George Gershwin zur Komposition der Rhapsody in Blue für den Broadway angeregt hatte, mit der Musik kombiniert, um eine Visualisierung der Musik beispielsweise durch schnelle, rhythmische Schnitte zu erreichen. Die Rhapsody in Blue als Filmrevue wird auf einen afrikanischen Trommeltanz mit einem schwarzen, scheinbar nackten Tänzer geschnitten, dessen Choreographie in die weißen Körper im Frack und Zylinder der Revuegirls auf der Showtreppe übertragen wird. Anders gesagt: Paul Whiteman als Jazz-Bandleader nimmt visuell explizit ein Whitewashing des Jazz über das Format der Revue in The King of Jazz vor. Ming Wong schneidet mit exquisit aufgearbeitetem historischen Filmmaterial die visuellen Interferenzen von Rhapsody in Blue und Yellow River gegeneinander. Regionale, ethnische Volksmusik wird von Xian Xinghai und Yin Chengzong durch das europäische Kompositionsprinzip sinologisiert und nationalisiert.

        

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Popularisierung und Kanonisierung werden von Ming Wong in seiner Lecture-Performance auf höchst unterhaltsame Weise erforscht. Für den Berichterstatter kommt es immer wieder zu Interferenzen: Klingt der Ruf des Fischers in dem chinesischen Film zum mythologischen Gelben Fluss nicht nach Karibik? Spielen da gerade zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele von Los Angeles 1932 dutzende, wenn nicht hunderte Pianisten im Stadion die Rhapsody in Blue? Militärisch-industrieller Massenaufmarsch der Pianisten? Revuefilm trifft Nation? Ming Wong hat einzigartiges Filmmaterial gefunden, aufgearbeitet und arrangiert. Zwar beginnt die Lecture-Performance mit der „Ping-Pong-Diplomatie“ der frühen 70er Jahre, aber in der Musik stellen sich die Interferenzen schon viel früher ein. Die Popularisierung der Musik im Dienste einer nationalen Identität oder besser noch umgekehrt: die Musik als Popularisierung des Konzepts nationaler Identität: Tschechien: USA: China: Volksrepublik China.

Screenshot: Ming Wong Berlin: Rhapsody in Yellow.

Henry Kissinger und Richard Nixon initiierten die Ping-Pong-Diplomatie 1971 zuerst über die gegenseitige Einladung der Nationalteams im Ping-Pong, whiff-whaff oder einfach Tischtennis. Wie Guo Liu und Alex Booth mit der Ausstellung ihrer Sammlung zur neuartigen Form der Diplomatie im Foyer zeigen, gehörten auf amerikanischer wie chinesischer Seite Bilder, Schallplatten, Porzellanpuppen wie Mao mit einem Tischtennisschläger in der Hand und Mini-Klaviere aus Eisen zur Visualisierung und Popularisierung von nationaler Politik. So gibt es denn auch Tischtennisschläger mit Karikaturen von Nixon und Mao. 1987 hatte bereits der Komponist John Adams die Oper Nixon in China mit einem kritischen Blick auf Richard Nixon komponiert, was anlässlich einer konzertanten Aufführung mit dem BBC Symphony Orchestra beim Musikfest 2012 besprochen wurde.[3] Wiederholt werden in die Lecture-Performance Ausschnitte aus Aufführungen der Oper eingearbeitet.

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Das Arrangement der Medien auf der Tischtennisplatte visualisiert zugleich einen Wettkampf der Moderne. Die nicht zuletzt nationale Identitätsbildung der Vereinigten (und höchst unterschiedlichen) Staaten von Amerika und Chinas als Nation, während die Berechtigung einer Nationenbildung im Chinesisch-Japanischen Krieg (1937 bis 1945) von Japan bestritten wurde, fand zentral über die Musik als nationales Argument statt. Für Nixon war der erste Besuch eines westlichen Staatsmannes nach Gründung der Volksrepublik China ein globaler Mediencoup. Doch zugleich nutzte 1972 die Kommunistische Partei Chinas mit Zhou Enlai als Premierminister den Besuch zur Darstellung eines von der Sowjetunion losgelösten national-kulturellen Machtanspruches. Die Kulturrevolution, während der ab 1966 zunächst westliche Musikinstrumente wie das als bürgerlich geltende Piano massenhaft zerstört worden waren, transformierte mit Yin Chenzongs Yellow River Piano Concerto klassische westliche Musik zu einem Propagandainstrument um.

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Die von Mao Zhedong und seiner vierten Frau Jiang Qing initiierte Große Proletarische Kulturrevolution kann einerseits als persönliche Machtstrategie  betrachtet werden, andererseits ist sie allererst eine Emanzipation von der russisch dominierten Sowjetkultur und ein Konstruktionsversuch der Identität Chinas.[4] Die Zerstörung westlicher Musikinstrumente wie dem Klavier und deren Wiederkehr unter kulturrevolutionären Vorzeichen mit Yin Chenzong unter der Fürsprache von Mao und Jiang, legt das Dilemma des multi-ethnischen chinesischen Reiches in der Moderne offen. Mao und Jiang mussten den Modus der musikalischen Identitätsbildung durch den Mythos vom Gelben Fluss als europäisches Modell – Vltava (Die Moldau) – übernehmen, um den eigenen Machtanspruch zu legitimieren. Insofern war die Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt 2017, zu einer Zeit als die V.R. China als Wiege der Globalisierung galt, unter dem Protektion von Xi Jinping in Berlin keinesfalls neu.[5] Gegen Ende der Rhapsody in Yellow spielt der Weltstar Lang Lang auf einem Konzertflügel mit dem China Philharmonic Orchestra vor dem Tor des Himmlischen Friedens zur Verbotenen Stadt das Yellow River Piano Concerto.

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Im Zuge der Rhapsody in Yellow als Komposition von Henry Hao-An Cheng werden die beiden Klavierkonzerte zwischen Klassik und Pop in einer Art Überbietung immer ähnlicher. Damit verwischen sich einerseits Grenzen der Genres wie sie von Anfang an in den Kompositionen angelegt waren. Andererseits bleibt die Apotheose durch die kulturrevolutionäre Mao-Huldigung – 东方红 /Dōngfāng Hóng/Der Osten ist rot – ausgespart. Wenn Lang Lang mit modischem Haarschnitt und fast schon an Liberace[6] erinnerndem Outfit mit Feuerwerk über der Verbotenen Stadt das Yellow River Concerto mit großem philharmonischen Orchester vor einem Massenpublikum spielt, dann hat sich der Kampf der Identitäten in eine Interferenz von George Gershwin und Yin Chenzong verflüchtigt. Die Verbotene Stadt als zentrale Mitte von 中国/Zhongguo/Mitte Land/Reich der Mitte hat sich in eine Art Revuepanorama verwandelt. – Die Identität zerspringt im Moment der postulierten Einheit.

Torsten Flüh

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Ming Wong


[1] Siehe: Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[2] Zu Antonín Dvořáks und Bedřich Smetanas Nationalmusik siehe: Torsten Flüh: Tschechische Klassik neu formatiert. Yannick Nézet-Séguins und Lisa Batiashvilis höchst bemerkenswertes Waldbühnenkonzert mit den Berliner Philharmonikern. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2016 20:48.

[3] Siehe: Torsten Flüh: History – berauscht von Geschichte. Edgar Varèses Amèriques und John Adams Nixon in China beim Musikfest 2012. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 12, 2012 17:28.

[4] Zur Sowjetkultur siehe: Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 16, 2017 21:47.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27.

[6] Zu Liberace siehe: Torsten Flüh: Der Horror der Kandelaber. Zu Liberace – Behind the Candelabra mit Michael Douglas und Matt Damon. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 14, 2013 21:59.

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