Die Magie der Schnitte

Schnitt – Kino – Existenz

Die Magie der Schnitte

Zu Lothar Lamberts Schnitt des Films Stellenweise superscharf im Klick-Kino

Das Klick-Kino in der Windscheidstraße 19 ist ein besonderer Ort mit langer Geschichte, in dem am 16. Januar Lothar Lamberts ebenso inspiriert komischer wie präzise geschnittener Film Stellenweise superscharf – Der seltsame Dreh des Herrn Schoppi in der zweiten Aufführung nach der Uraufführung am 9. Dezember 2023 gezeigt wurde. Schoppi gehört zu Lamberts langjährigen Superstars[1], der im Berliner Kinomuseum in der Schönleinstraße 33 zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz lebt. Das Kinomuseum war immer auch Drehort und gelebtes Kino. Insofern passte die wesentlich von Insidern besuchte, superscharfe Projektion im Klick-Kino, das 1911 als Ladenkino mit ca. 230 Plätzen eingerichtet wurde, nahe dem Stutti (Stuttgarter Platz) sicher superscharfe Zeiten erlebte und seit 2020 als liebevolles Programmkino wiedereröffnet hat.

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2020 war nun bestimmt kein gutes Kino-Jahr, weil Kino immer ein Gemeinschaftserlebnis war und ist. Das war 2020 wegen der Lockdowns ziemlich plötzlich zu Ende und niemand wusste so genau, wann und ob es das Kino wieder geben würde. Das Klick-Kino hat überlebt. Im Februar konzentriert es sich auf Filme der unvergleichlichen, der glamourösen Zazie de Paris. Christos Acrivulis, der auch den Abend mit Lothar Lambert moderierte, kuratiert nach mehreren Film Festival nun mit seinem Team im gediegen schicken Kiez zwischen Kantstraße und Stuttgarter Platz mit Bogenschlägen bis zum Kurfürstendamm ein Kinoprogramm des Außergewöhnlichen. Um 17:30 Uhr hatte er MUNCH in der Originalfassung mit Untertiteln, in der Hauptrolle des revolutionären Malers der Osloer Schauspieler Alfred Ekker Strande, gezeigt.[2] Um 20:00 Uhr folgte Stellenweise superscharf.   

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Stellenweise superscharf, wie sollte es anders sein, ist nicht zuletzt durch den Schnitt (Lothar Lambert) eine Hommage an das Kino geworden. Neben dem gemeinsamen Sehen eines Films, den Kinosesseln und der gemeinsam geatmeten Luft sind es der Schnitt und vor allem die Diskurse, die sich um das Kino und das Entstehen eines Films kristallisiert haben. Der Schnitt, den die meisten Kinogeher gar nicht sehen, meistens sehen sie ihn nur, wenn eine überlange Einstellung wirkt, als passiere nichts, der geradezu als natürlich und natürliche Bewegung empfundene Schnitt ausbleibt, bringt Leben in den Film. Aber über den Schnitt wird wenig gesprochen, obwohl er natürlich eine Oscar-Kategorie abgibt. Lothar Lambert, der im Juli seinen 80. Geburtstag feiern wird, sagte im Klick-Kino: „Ich habe den Schnitt immer besonders am Filmemachen geliebt.“

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Im Schnitt entstehen erst Rhythmus, Dynamik und Semantik eines Films zwischen Doku und Drama. Hat es ein Drehbuch von Frank Schoppmeier zum Film gegeben? Wer hat den gedreht? Schoppmeier oder Lambert? Zunächst einmal beginnt der Film im Kinomuseum als Erzählung vom Kino, wenn Schoppi im Bett sitzt und ein populäres Buch mit dem Titel THE GREAT MOVIES LIVE ein wenig missmutig in den Händen hält. Die Wände sind nahezu tapeziert mit Stills aus Filmen. Das Rot der Bettdecke erinnert unwillkürlich an einen Kinovorhang in Samtrot. Das Bett als Ort der Träume ist mit dem Kino verwandt. Der Kinoliebhaber wünscht sich, selbst einen großen Kinofilm zu machen, was doch einigermaßen unmöglich erscheint. Das Versprechen des Buchtitels. beim großen Kinofilm dabei zu sein, wirkt im Medium Buch doch ein wenig enttäuschend. Doch das Kino lebt genau vom Versprechen des Dabeiseins.

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Der Kinoliebhaber und Kinomuseumsleiter möchte einen richtigen Kinofilm machen. Das Kino lebt immer auch von geliebten Täuschungen und Lügen. Der Film wird angekündigt als „Lothar-Lambert-Film von und mit Frank „Schoppi“ Schoppmeier“. Was ist an dem Film Lambert und was Schoppmeier? Die Vermischung der Autorschaft und das Spiel zwischen Doku und Drama haben in den mehr als 40 Filmen von Lothar Lambert immer eine strukturierende Rolle gespielt. Zwischen Oben rum, unten rum (2019)[3] und Ein Schuß Sehnsucht – Sein Kampf (1973) oder 1 Berlin-Harlem (1974), der 2016 auf der Berlinale mit Wieland Speck im Kino International gezeigt wurde[4], überschneiden sich in den Lothar-Lambert-Filmen[5] immer das große Kino mit der Doku. Schoppi war u.a. bei Oben rum, unten rum als Frank dabei. Den Kinofilm umgibt die Wiederkehr bekannter Namen und das Geheimnis seiner Entstehung.

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Nicht nur das Geheimnis der Handlung, sondern auch das der Entstehung muss gewahrt werden, sonst kann ein Spoiler den Genuss am Kino verderben. Filmkritiken müssen gut austariert werden, damit sie nicht zum Spoiler werden. Auf höchst ironische Weise wird in Stellenweise superscharf mit den Gesetzen des Wissens im Kino gespielt. Zwei Experten des Kinos, Lambert und Schoppi, drehen einen Film – „der seltsame Dreh des Herrn Schoppi“ –, um einen Film zu retten, der noch kein Kinofilm ist. Das wäre kurz und knapp die vermeintlich so wichtige Handlung, die zu einem überraschenden Schluss führen soll. Happy End. Tragedy. Comedy. Der Spoiler verdirbt die Spannung, die in der Erzählung angelegt wird. Am Schluss von Stellenweise superscharf wird ein Kinofilm gesehen worden sein. Am Anfang steht Schoppis Frustration, kein Movie hinbekommen zu haben. Das wäre der Spannungsbogen. Und dazwischen die Handlung.

© Lothar-Lambert-Film

Der mehrdeutige Titel Stellenweise superscharf, der sowohl die Einstellung des Objektivs wie eine sexuelle Erregung durch Filmszenen ins Spiel der Bedeutungen bringen kann, gibt einen Wink auf die Schnittstelle von Filmemachen und Lust. Filmemachen und Filmesehen haben etwas mit der Augenlust oder dem Blick zu tun. Deshalb ist die Bettszene mit Schoppi in mehrfacher Hinsicht treffend. In einer Zeit endloser Streamings im Miniaturformat auf dem Smartphone, die zweifelsohne eine Praxis von Intimität und Zerstreuung herstellen, ist gar nicht deutlich genug an das zu erinnern, was der Film im Kino immer auch war. In einer Reihe von Streaming-Formaten gibt es keinen Schnitt mehr. Aber der Schnitt und das scharfe, wenn nicht superscharfe Bild waren alles. Schoppi hat Filmmaterial hergestellt, gedreht, aber er bekommt keinen Kinofilm zusammen. Was lässt ihn scheitern? Und welche Operationen machen doch noch einen Film draus?

© Lothar-Lambert-Film

Wim Wenders verriet im August 2018 ein paar Geheimnisse über seinen legendären Kinofilm Der Himmel über Berlin 1(987).[6] Nicht nur, dass Wenders kein Drehbuch für den Film hatte, was es für ihn unmöglich machte, in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR zu drehen(!), sondern der Cast stellte sich nicht einfach durch ein professionelles Casting einer Agentur zusammen. Die Hauptrolle der Trapezkünstlerin spielte Solveig Dommartin, von der der Berichterstatter, nachdem er mehrere Stadtführungen zum Film[7] durchgeführt hat, wenigstens gerüchteweise durch eine Berliner Anwohnerin weiß, dass Wim Wenders sie jeden Morgen „mit seinem amerikanischen Schlitten abholte“ und der Wagen auch manchmal nachts vor dem Haus stand. Sie soll seine Freundin gewesen sein. Auch der amerikanische Starschauspieler Peter Falk, für das bundesdeutsche Fernsehpublikum als Colombo bekannt, spielte rein zufällig auf persönliche Bitte von Wenders mit. Zugleich ist von dem heute berühmten, weltbekannten Film klar, dass Wim Wenders ihn in Schwarzweiß drehte und Sequenzen in Farbe hineinmontierte, weil plötzlich Geld für Farbfilmmaterial da war. 

© Lothar-Lambert-Film

An dem Einschub zu Der Himmel über Berlin als beispielhaft für das Filmemachen im West-Berlin der 80er Jahre ist, dass sich die Praktiken der Vermischung von Privatem und Professionellem ähneln. Lambert und Schoppi sind nicht Wim Wenders, hätten aber zumindest so etwas ähnliches werden können. Die eigentlich völlig irre Praxis, Farbfilm in den Schwarzweiß-Film Der Himmel über Berlin reinzuschneiden, weil gerade Geld für Farbfilmmaterial eingetroffen war, gibt einen Wink auf Praktiken, die i.d.R. geheim gehalten werden. Mit Wim Wenders Film wurden sie zum Welterfolg. Zugleich ist mit dem Stichwort „Superstar“ nicht nur ein Bogen zu Andy Warhols Factory, vielmehr noch zu Rainer Werner Fassbinder und seinem oft grenzwertigen Verhalten in seiner Filmfamilie zu schlagen. Frank Schoppmeier zelebriert mit seinem Kinomuseum und z.B. dem Portrait von Gottfried John an der Wand den Drehort West-Berlin der 80er Jahre.

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Die Frage für den gescheiterten Kinofilm aus Berlin wurde also, wie sich das Filmmaterial, das Über- wie Unschärfen aufwies und deshalb als unbrauchbar galt, gewitzt zu schneiden, um eine, sagen wir, Storyline zu generieren. Deshalb sitzt Schoppi dann in seinem Kinomuseum, um von missglückten Drehs zu erzählen. Die Drehs sind entweder wegen des Materials oder wegen der Darsteller*innen missglückt. Eine Kinoerzählung wird nämlich unablässig darüber produziert, wie ein Regisseur mit bestimmten Darsteller*innen habe zusammenarbeiten wollen oder umgekehrt, es dann aber aus irgendwelchen Gründen und Zufällen nicht geklappt hat. Filmmaterial von Schoppi und Lambert werden hier anscheinend montiert. Wenn Schoppi im Kinomuseum erzählt, dann stellt Lambert nicht nur die Fragen aus dem Off, sondern sitzt auch hinter der Kamera. Die oft aus der Situation zum Brüllen komische Erzählung wird durch Filmsequenzen ausgeführt.

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Nichts ist komischer als der Leiter des Kinomuseums, wenn er von seinen eigenen Kinokatastrophen spricht. Wenn der Film nicht so gut geschnitten wäre, müsste man ihn als bedrückenden Katastrophenfilm bezeichnen. Doch die eigentliche Kunst des Kinos besteht darin, aus einer Aneinanderreihung von Katastrophen bei der Produktion ein unterhaltsames Kino-Ereignis zu machen. Lothar Lambert und Frank Schoppmeier haben genau das gemacht. Auf höchst unterhaltsame, manchmal fast alberne Weise wird die Verkettung der Katastrophen zu einem beachtlichen Erfolg. Das Publikum im Klick-Kino lachte teilweise schallend los und applaudierte enthusiastisch. – 1 Berlin Harlem wird anlässlich der Berlinale auf der Seite der Deutschen Kinematek bis 30. April 2024 gestreamt – aber kein Kino! – Am 24. Februar 2024 erhält Lothar Lambert den beim 38. Teddy Award der Berlinale den Special Teddy Award in der Volksbühne.

Torsten Flüh

Lothar-Lambert-Film
Stellenweise superscharf – Der seltsame Dreh des Herrn Schoppi
Von und mit Frank „Schoppi“ Schoppmeier
Berlin 2023
Trailer auf YouTube

Lothar Lambert
1 Berlin Harlem (1974)
Deutsche Kinematek bis 30. April 2024

74. Berlinale
Internationale Filmfestspiele Berlin
38. Teddy Award
Special Teddy Award
Volksbühne
24. Februar 2024


[1] Zu den Superstars in den Filmen von Lothar Lambert siehe: Torsten Flüh: „Kindeinhalb“. Erika Rabau in Lothar Lamberts Erika, mein Superstar … In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. August 2015.

[2] Der Berichterstatter hat es einfach nicht geschafft, den ganz bestimmt sehenswerten Film zu Edward Munch zu sehen. Brennend interessiert ihn, wie der Berliner Skandal im Film dargestellt wird. Siehe Torsten Flüh: Verstörend statt bezaubernd. Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. November 2023.

[3] Torsten Flüh: Knallbunte Juwelen und ein Hausschwein. Zur Weltpremiere von Lothar Lamberts 40. Berlin Undergroundfilm. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2019.

[4] Torsten Flüh: Der Film der Stunde. 1 Berlin-Harlem von Lothar Lambert im Panorama der 66. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2016.

[5] Torsten Flüh: Versprechen der Therapie. Lothar Lamberts Zurück im tiefen Tal der Therapierten in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2012.
Auch: Torsten Flüh: Das Sprechen im Kino. Zu Lothar Lamberts Ein Schuß Sehnsucht – Sein Kampf und Rosa von Praunheims Filmen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Januar 2013.

[6] Torsten Flüh: Kühlendes Kino in der Hitzewelle. Zum Freiluftkino und der restaurierten Fassung von Wim Wenders Der Himmel über Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2018.

[7] Nächste Führung: Der Himmel über Berlin – Ein Spaziergang zu den Drehorten des Films von Wim Wenders 23. April 2024 18:00 – 20:00.

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