Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden

Sprachen – Lesen – Troja

Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden

Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum

Erinnern Sie sich noch an die digitale Ausgabe der ZEIT vom 4. Januar 2022 mit einem Porträt Heinrich Schliemanns von Moritz Asslinger? – Eine Schliemann-Collage – Sophia als Model für den „Schatz des Priamos“ ganz links, Heinrich mit Gelehrtenbrille mittig und antike Vasen rechts, Wüstenlandschaft mit Kamelen als Hintergrund[1] – gleich auf dem Cover mit den Zeilen „200 JAHRE HEINRICH SCHLIEMANN – Vom Entdecker zum Plünderer – Warum der weltberühmte Archäologe, der das alte Troja fand, heute als Dieb dasteht.“ Mittlerweile wurde am 6. Januar 2022, genau an Schliemanns Geburtstag, der Titel redaktionell in Ein deutscher Held und Räuber abgewandelt. Und dann fiel Heinrich Schliemann zur Eröffnung seiner persönlichen Jahrhundertausstellung Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. am 13. Mai 2022 dem russischen Angriffskrieg zum Opfer. Denn Schliemann war ausgerechnet in Russland, nämlich St. Petersburg als Kaufmann zu Reichtum und bürgerlichem Ansehen gelangt, bevor er ca. 1867 nach Kiew zog.

Schliemann liegt gerade nicht im Trend, war bei seinem Tod am 26. Dezember 1890 in Neapel allerdings derart deutscher Mythos geworden, dass BERLIN SCHLOSS 882 48 29 nach ST. NEAPEL telegrafierte: „EIN.AUFRICHTIGSTES.BEILEID.ZU.IHREM SCHWEREN.VERLUSTE (…) .WILHELM.“ Er war so berühmt geworden, dass Kaiser Wilhelm II. persönlich „FRAU.DR…HEINRICH SCHLIEMANN“ kondolierte. Die Kopie des Telegramms wird an der letzten Schauwand vor dem Ausgang der Ausstellung präsentiert. Davon weiß noch nicht einmal Wikipedia etwas. Hoch über der breiten Treppe zur James-Simon-Galerie von David Chipperfield hängt neben dem Eingang das Plakat mit den ikonischen Elementen zu Heinrich Schliemann: Homer-Büste, Schliemann in russischem Schlittenmantel mit Zylinder, Sophia mit dem „Schatz des Priamos“ als Kopfschmuck, die Grabanlage von Mykene. Alles zugeschnitten auf die Formate von Biographie und Archäologie des größten Sohnes von Neubuckow – nordöstlich von Wismar.

Heinrich Schliemann verwandelte sich und sein Leben qua Literaturen in einen Aufstiegs- und Bildungsmythos des 19. Jahrhunderts. Am Ende seines Lebens wird er nicht nur in einem antikisierenden Palast in Athen, dem Ιλίου Μέλαθρον, leben, seine griechische Ehefrau Sophia mit antikem Gold-Schmuck behängen und fotografieren lassen, er wird sich auch in einem bereits errichteten Mausoleum im dorischen Stil auf dem Athener Zentralfriedhof mit Blick auf die Akropolis beisetzen lassen. Seine Kinder aus der zweiten Ehe nannte er nach der griechischen Mythologie Agamemnon und Andromache. Neubuckow und Athener Zentralfriedhof haben eine gewisse Spannweite, wobei sich Schliemann zwischen 1866 und 1870, als er in Paris lebte und Immobilien anschaffte, sicher von der Mausoleum-Architektur des Pere Lachaise inspirieren ließ. St. Petersburg und Paris waren im 19. Knotenpunkte von Handel, Kultur und Lifestyle. 

Weniger historisch-kritische Kontextualisierung einer zu erkundenden Biographie hat man in den letzten 20 Jahren in einer großformatigen Ausstellung wie Schliemanns Welten in Berlin selten gesehen. Als sei das 19. Jahrhundert ein blinder Fleck, wird die umstrittene Lebens-, Erfolgs- und Wissenschaftsgeschichte Heinrich Schliemanns in einem Parcours zwischen Neubuckow und Neapel als mehr oder weniger zufälliger Sterbeort erzählt. Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin und damit Hausherr der von Schliemann generierten Troja-Sammlung macht das Genre der Biographie zum Format der Ausstellung. Gut, das 19. Jahrhundert ist nicht Arbeitsfeld der Vor- und Frühgeschichte. Oder vielleicht doch? Biographie geht – und Heinrich Schliemann hatte dafür ein Gespür – jedenfalls so:
„Leidenschaft, unbedingter Wille, Leidensfähigkeit und große Belastbarkeit sind Eigenschaften, die auch die größten Kritiker Heinrich Schliemann nicht absprechen werden. Sein Erfolg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Zu seiner Ausgangssituation hätte die dauerhafte Ausstellung in einem Krämerladen in Fürstenberg an der Havel besser gepasst. Dass er genau diesen Weg nicht gegangen ist, sondern mit hohem Risiko sich neue Handlungsfelder erarbeitet hat, prägte sein Leben. In Amsterdam erkannte er, dass die russische Sprache ihm eine deutlich verbesserte Position im auf den Russlandhandel spezialisierten Kaufmannskontor verschaffte, seitdem war das Sprachenlernen – 8 bis 13 sind es am Ende gewesen, die er mehr oder minder beherrschte – ein Schlüssel für seinen Erfolg in fremden Ländern und ebenso für das Studium der antiken griechischen Literatur.“[2]

Gleich zu Beginn, wenn die Ausstellungsbesucher nach der Zeitfensterkontrolle die Einführung lesen wollen, hören sie in ihrem Rücken eine nicht ganz unbekannte Stimme. Ausgelöst durch einen Bewegungsmelder erscheint wie der fast Leibhaftige Katharina Thalbach als Heinrich Schliemann. Der Ton wird von der Schauspielerin perfekt gesetzt. Er geht immer leicht ins Aufschneiderische. Textlich handelt es sich vermutlich um Collagen aus Schliemanns biographischen Schriften wie Briefen und Büchern. Thalbach spricht mit einer Klarheit und leichten Ironie, die die Selbstlebenserzählungen ebenso glaubhaft wie leicht übertrieben erscheinen lassen. Gleich beim ersten Auftritt wird eine Taschenuhr des Vaters gezeigt, die zwar nur kurz gezückt und erwähnt wird, aber die allergrößte Bedeutung für Schliemann hat. Alles hat allergrößte Bedeutung für Schliemann, was er erzählt. Man kann sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Denn zweifelsohne wird Katharina Thalbach auf diese Weise zum Star von Troja und all dem antiken Goldschmuck.

Wie bereits in der Einführung von Matthias Wemhoff angeschlagen, werden das Sprachenlernen, das Lesen und Übersetzen in Amsterdam zu einem Lebensthema von Heinrich Schliemann. Was sich allerdings in der biographischen Erzählweise wie von selbst zur Erfolgspraxis des Kaufmanns und späteren Wissenschaftlers entwickelt, wäre ein erster Ansatzpunkt, um das so wichtige Feld des Sprachenlernens und der Umbrüche der Kommunikation wie dem Telegramm aus dem Berliner Schloss in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer zu betrachten. In der Ausstellung wird die von Schliemann selbst formalisierte Methode des Sprachenlernens thematisiert und inszeniert. Sie situiert sich nicht zuletzt an der Schnittstelle einer intuitiv wiederholenden Praxis, deren Formalisierung in mehreren Schritten und ihrer Publikation in Heften, die schließlich zu Büchern anwachsen. Wie erfolgreich diese „Methode Schliemann“ nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht schon für ihn selbst wurde, ist nicht überliefert.

Unterdessen verspricht bis auf den heutigen Tag jedes Sprachlernwerk den Schlüssel zum Spracherwerb in fast müheloser Weise. Es sei denn, man benutzt in aller jüngster Zeit eine Übersetzungssoftware, die für einen spricht, was man nicht versteht und man vertraut darauf, dass verstanden wird, was man sagen wollte. Wäre der Spracherwerb derart unproblematisch, gäbe es keine umfangreiche Diskussion zur Fachdidaktik. So heißt es beispielsweise zu den Prinzipien der Fremdsprachendidaktik beim Goethe Institut, dass die „Schülerinnen und Schüler (…) mit wenigen einfachen grammatischen Strukturen und Mustern einfache Sätze (bilden), zum Beispiel: Sie berichten und erzählen über gegenwärtige und vergangene Ereignisse aus dem eigenen Erfahrungsbereich“.[3] Doch die zur „Methode“ formalisierte Sprachlernpraxis Schliemanns funktioniert anders. Literarische Texte sollen gelesen und wiederholt werden. Der Methode wird in der Ausstellung eine Art Kabinett gewidmet.

Immerhin finden sich im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz gleich zwei Titel zur Methode Schliemann, die nach dessen Tod veröffentlicht wurden. Es handelt sich um Lieferungswerke. Also Teile eines umfangreichen Werkes, das nach und nach geliefert wird. Das Lieferungswerk Methode Schliemann Französisch / [nach dem Herrn Schliemann vorgelegten …] wurde 1896 „vom Oberlehrer Otto Badke“ in Stuttgart begonnen.[4] Und Leo Mannow publizierte eben dort noch 1922 Methode Schliemann zum Selbsterlernen fremder Sprachen: Russisch : nach einem von Dr. Heinrich Schliemann gebilligten Plane unter Mitwirkung bewährter Fachleute auf Grund einer für den Lehrgang eigens verfaßten russischen Originalnovelle für den Selbstunterricht[5] Zumindest postum knüpfen Sprachlehrer im Violet-Verlag Stuttgart mehrfach an die Methode Schliemann als „Selbstunterricht“ an. In der Ausstellung wird zu einem interaktiven Versuch eingeladen:
„Für Schliemann war es beim Sprachenlernen wichtig, jemandem Texte laut vorzutragen. Ob die Zuhörer ihn verstanden, war ihm nicht wichtig. An der Wand siehst du in verschiedenen Sprachen einen kurzen Text aus dem Buch „Telemach“, das Schliemann zum Sprachenlernen nutzte.
Suche dir die Sprache(n) aus, die du vortragen willst.
Stell dich vor den Monitor.
Wir hören dir zu.“[6]

In der Sprachlernforschung hat die Methode Schliemann heute keine weite Verbreitung mehr, wird allerdings gelegentlich zitiert. Die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Samida machte zuletzt 2017 auf sie aufmerksam. Schliemanns Methode wird nach Samida „erstmals ausführlicher in der Vorrede zu seinem 1869 erschienen Buch Ithaka und dann nochmals in seiner Autobiographie, die er seinem Werk Ilios (1881) vorangestellt hatte“, erläutert.[7] Nach den von Samida zitierten Quellen wird die Methode Schliemann erst im Kontext der Autobiographie formalisiert und publiziert. Der russische Kontext, wie er nun prominent von Wemhoff angeführt und in der Ausstellung inszeniert wird, erscheint hier noch nicht. Bei den Heften, die in der Ausstellung gezeigt werden, handelt es sich offenbar um jene postumen aus dem Violet-Verlag in Stuttgart: „Papier, Pappe 1913 privat“. Das biographische Verfahren der Ausstellung erweist sich an dieser Stelle als etwas kühn. Aus der Rückschau erscheint die Methode Schliemann als nur allzu verständlich, was nicht zuletzt einem verlegerischen Konzept zu verdanken ist, das an einen gewissermaßen Über-Lehrer der Nation andockt. Es ist ein wenig wie mit den „Zuhörern“, die auf dem Monitor wie auf einem Dachboden interaktiv verstehend erscheinen.

Die für das Ausstellungskonzept strukturierende Autobiographie als „Einleitung“ von Ilios kommt in der Ausstellung selbst nicht vor. Nachdem das Kaufmannsleben im Teil der James-Simon-Galerie mit dem Aufbruch von Paris nach Griechenland endet, betreten die Ausstellungsbesucher*innen sogleich TROJA. Die Autobiographie als narratives Scharnier von 1881 wird über die Archäologie vergessen, als spielte sie weder für Heinrich Schliemann noch die Erfindung der modernen Archäologie eine Rolle. Dass diesem Text keine Funktion in der Ausstellung zugestanden wird, der schon mit der Eröffnungsformulierung die erzählerische Verknüpfung von Selbstlebenserzählung und Archäologie herstellt, darf zumindest als verblüffend auffallen. Es ist indessen ein Symptom für das Konzept der Ausstellung. Mit den entsprechenden Rahmungen heißt es dort:
„I L I O S.
EINLEITUNG.
AUTOBIOGRAPHIE DES VERFASSERS UND GESCHICHTE SEINER ARBEITEN IN TROJA.
I. Kindheit und kaufmännische Laufbahn: 1822 bis 1866.
Wenn ich dieses Werk mit einer Geschichte des eigenen Lebens beginne, so ist es nicht Eitelkeit, die dazu mich veranlasst, wol aber der Wunsch, klar darzulegen, dass die ganze Arbeit meines späteren Lebens durch die Eindrücke meiner frühestem Kindheit bestimmt worden, ja, dass sie die nothwendige Folge der derselben gewesen ist; wurden doch, sozusagen, Hacke und Schaufel für die Ausgrabung Trojas und der Königsräber von Mykenae schon in dem kleinen deutschen Dorfe geschmiedet und geschärft, in dem ich acht Jahre meiner ersten Jugend verbrachte.“[8]  

Bereits der TitelI L I O S – des Buches, das als Schliemanns Hauptwerk gerahmt und in keinem geringeren Bildungsverlag als Brockhaus in Leipzig 1881 veröffentlicht wird, gibt einen Wink auf das literarische Verfahren, mit dem sich Heinrich Schliemann selbst in die Literatur und Geschichte einschreibt, indem er die „Eitelkeit“ als Motiv verneint und bestätigt. Denn ILIOS ist ein Neologismus, Schliemanns eigene Konstruktion aus Ἰλιάς (Ilias) von Homer und Ἶλος (Ilos) als dem Namen des Gründers Trojas.[9] Der Unterschied von ιά und ο in den altgriechischen Schriften bzw. von a und o wird mit der Autobiographie buchstäblich jener Ort, an dem sich Heinrich Schliemann als „ich“ einschreibt. Und dann beginnt die „Geschichte des eigenen Lebens“ mit „Hacke und Schaufel“. Für einen derart kosmopolitischen, vielsprachigen Kaufmann und Reisenden, wie es Heinrich Schliemann geworden sein wird, ist es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht ganz selbstverständlich, dass er seine Werke und ILIOS Stadt und Land der Trojaner: Forschungen und Entdeckungen in der Troas und Besonderes auf der Baustelle von Troja, soweit bekannt, einzig und allein auf Deutsch veröffentlicht hat.

Die Vielsprachigkeit Heinrich Schliemanns, die so prominent in der Ausstellung gesetzt wird, steht seinen Publikation in Deutsch auf bemerkenswerte Weise entgegen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa wie bei Alexander von Humboldt wäre Französisch die Sprache der Wissenschaft gewesen.[10] Mit fließendem Englisch und Erfahrung im Goldgeschäft in Sacramento, den Vereinigten Staaten von Amerika, hätte Schliemann seine Werke ebenso in der kommenden Weltsprache veröffentlichen können. Für Russisch gab es vielleicht keinen Buchmarkt. Doch ILIOS im Brockhaus-Verlag, dem deutschen Enzyklopädie-Verlag des 19. Jahrhunderts schlechthin, formuliert nicht zuletzt einen Anspruch auf Wissen und Wissenschaft, der ebenso populär wie persönlich platziert wird. Reiste Schliemann ohne Reiseführerliteratur? Brauchte er keine Reiseführer, weil er schon früh seine Methode zum Sprachenlernen entwickelt hatte und sie scheinbar mühelos überall anwenden konnte? Was passierte aber, als er nach China reiste und wie im Ausstellungskabinett einfach Chinesisch drauflos redete? – Es dürfte einige Verwunderung und Unverständnis gegeben haben, wenn ein Wort mit einem falschen Ton ausgesprochen wurde… Oder: Heinrich Schliemann bewegte sich in einem Netzwerk internationaler Kaufleute, in dem man eine „eigene“ Sprache sprach.

Liest man die Autobiographie auch nur ansatzweise ein paar Zeilen weiter, springt ein literarischer Diskurs des 19. Jahrhunderts zwischen Romantik und Vor- und Frühgeschichte förmlich heraus. Zwischen „gespenstische(r) Jungfrau“ und „Hünengrab“ wird „Neu-Buckow“ zur romanesken Schnittstelle annährend aller Diskurse des 19. Jahrhunderts. Die Autobiographie wird zu einer komplexen Erzählung von der deutschen Nation. Ob und was davon stimmt oder von Schliemann erfunden worden ist, bleibt unerheblich. Die Herkunft wird tief in die – noch junge – deutsche Geschichte und ihrer narrativen Elemente eingeschrieben. Denn bei aller internationalen Kaufmannstätigkeit rund um den durch Dampfschiffe und Eisenbahnen zugänglichen Erdball muss die dörfliche Herkunft als Identität konstruiert werden. Heinrich Schliemann wird nicht zuletzt Jules Vermes Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873) gelesen haben, die bekanntlich durch eine Wette in einem Londoner Gentemen’s Club ausgelöst wird.
„In unserm Gartenhause sollte der Geist von meines Vaters Vorgänger, dem Pastor von Russdorf, „umgehen“; und dicht hinter unserm Garten befand sich ein kleiner Teich, das sogenannte „Silberschälchen“, dem um Mitternacht eine gespenstische Jungfrau, die eine silberne Schale trug, entsteigen sollte. Ausserdem hatte das Dorf einen kleinen von einem Graben umzogenen Hügel aufzuweisen, wahrscheinlich ein Grab aus heidnischer Vorzeit, ein sogenanntes Hünengrab, in dem der Sage nach ein alter Raubritter sein Lieblingskind in einer goldenen Wiege begraben hatte.“[11]   

In der Eröffnungssequenz seiner Autobiographie legt Schliemann mit „Neu-Buckow“ alle Motive an, die in Troja aufgehen sollen. Die Herkunft wird zur Bestimmung und Legitimation der Ausgrabungen im untergehenden osmanischen Reich. Schliemann und seine Wissenschaft nicht im Geflecht der Diskurse zu thematisieren, kann nur als Paradox des Ausstellungskonzeptes bedacht werden. Gelingt es ihm doch prototypisch, alle zeitgenössischen Diskurse miteinander zu verknüpfen. Das vorzeitliche Hünengrab wird zur Grablege eines „Lieblingskindes in einer goldenen Wiege“ des romantischen „alte(n) Raubritter(s)“. Voller Verständnis werden hunderttausende Leser*innen bei dieser Kombination „Hünengrab“ und „Raubritter“ genickt haben. Oder kündigte sich das sich selbst erzählende Ich damit als legitimer „Raubritter“ an? – „Sein Leben.“ als Programm wird lächerlich. Die Ausstellung verfehlt in der Charakterologie – „Schliemann war auf Anerkennung und Bestätigung aus, dies scheint ein nicht zu unterschätzender Antrieb für ihn gewesen zu sein.“[12] – jene Fragen an das 19. Jahrhundert und die Archäologie, die brennend wichtig gewesen wären. Mythen und Selbst werden von Schliemann als Verfahren des 19. Jahrhunderts ultimativ enggeführt. – „Sein imposantes Grabmal auf dem Athener Friedhof ziert ein Fries, der Szenen aus der Ilias mit Darstellungen seinen Grabungen verbindet, seine Büste über dem Portal wird von der Inschrift begleitet: Dem Helden Schliemann.“[13] – Das könnte nicht trotz des Reichtums als Kaufmann, sondern wegen diesem als eine Signatur des 19. Jahrhunderts gelesen werden.

Ilias und Ilios als Verfahren einer Aneignung von Mythos und Schätzen, wo Mangel herrscht, werden insbesondere im 19. Jahrhundert zu einer Praxis der Herrschaft, um die Leere zu stopfen. Weil sich die industriellen Erfolgsgeschichten wie z.B. die von August Borsig nicht erzählen lassen[14] und die neuen Könige sie nicht selbst erzählen konnten, wurden sie nachträglich zur Geschichte. Diese Figur lässt sich bis nach Paris verfolgen. Heinrich Schliemann muss den Mangel auf irgendeine Weise gespürt haben. Denn die unablässigen Reisen und Unternehmungen bis in den Goldhandel im Wilden Westen und nach Yokohama könnten auch eine gewisse Ruhelosigkeit verraten. Überhaupt werden der sagenhafte Goldhandel in Sacramento und die Finanzierung von Schürfrechten und Goldschürfen durch teure Kredite zu einer Art Vorspiel der Aneignung der antiken Goldschätze. Denn das vermeintlich urwüchsige Goldschürfen wird über Schliemann bereits durch das internationale Bankhaus Rothschild u.a. in Paris finanziert und organisiert, das seinerseits durch die Finanzierung von Eisenbahnstrecken reich und mächtig geworden ist. In der ruhelosesten aller Städte des 19. Jahrhunderts, in Paris[15], fasst der Mann aus „Neu-Buckow“ den Entschluss, Troja mit Homers Ilias in Hisarlik zu suchen und auszugraben, als handele es sich beim Epos um einen neuzeitlichen Reiseführer. Er findet und zerstört erstaunliches, von dem wir weiterhin nicht wissen, ob es Homers Troja war.

Als ein Verfahren der Aneignung wird von Schliemann ebenso das Erlernen der Sprachen nach seiner Methode in Ilios insbesondere durch Wiederholungen beschrieben. Das ist insofern bemerkenswert, als die Wiederholungen ohne Übersetzungen gleichsam als ein Gedächtnistraining formuliert werden, bei dem es nicht um ein Verständnis des Wiederholten geht. Schliemann liest und lernt „den ganzen „Vicar of Wakefield“ von Goldsmith und Walter Scott’s „Ivanhoe“ auswendig“, ohne zu verstehen oder zu wissen, was er auswendig lernt. Er vertraut insofern auf ein nachträgliches Wissen. Vor allem aber macht er sich eine Art Überzeugungskraft zu Nutze, die dadurch funktioniert, dass er „laut“ spricht und die anderen zuhören müssen. Das Selbstlernen findet zudem wie selbstverständlich in der Nacht statt. Man könnte sie fast eine unbewusste Methode der Aneignung nennen:
„Vor übergrosser Aufregung schlief ich nur wenig und brachte alle meine wachen Stunden der Nacht damit zu, das am Abend Gelesene noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Da das Gedächtniss bei Nacht viel concentrirter ist, als bei Tage, fand ich auch diese nächtlichen Wiederholungen von grösstem Nutzen; ich empfehle dies Verfahren Jedermann. So gelang es mir, in Zeit von einem halben Jahre mir gründliche Kenntniss der englischen Sprache anzueignen.“[16]

Die Autobiographie der Ilios lässt sich lesen und sollte nicht einfach nur wiederholt werden. Daran krankt das Ausstellungskonzept über weite Strecken. Um Schliemanns Fotostudio-Inszenierung mit russischem Schlittenmantel als wohlhabender Kaufmann der Kaufmannschaft von St. Peterburg zu verifizieren, wird ein ebensolcher aus dem Magazin des Ethnologischen Museums in der Ausstellung gezeigt. Das kann man machen, allemal im Heinrich-Schliemann-Museum in Ankershagen, aber für die Staatlichen Museen Berlin Preußischer Kulturbesitz wird das etwas unterkomplex, ja, naiv. Die Autobiographie Heinrich Schliemanns ist nicht mehr und nicht weniger als ein Roman des 19. Jahrhunderts. Ihre Musealisierung mit erstaunlichen Funden in Museumssammlungen und Archiven als Ausstellung knüpft selbst an Praktiken des 19. Jahrhunderts an. Die Kaufmanns- und Edelmetallhandelskarriere ist eben kein „neue(s) Handlungsfeld()“ im persönlichen Horizont, sondern Handels- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts mit all ihren Widersprüchen und Merkwürdigkeiten, in die Schliemann auch durch mancherlei Zufälle hineingerät.

Die Ausstellung, die noch bis zum 6. November 2022 geöffnet sein wird, erübrigt nicht zuletzt mit den Leihgaben des National Archaeological Museum Athens in diesem Sommer eine Reise in die brütende Hitze von Athen. Denn darin ist die Ausstellung dann doch grandios, dass sie einen Bogen schlägt zwischen dem Heinrich-Schliemann-Museum Ankershagen und den Leihgaben aus Mykene etc. des National Archaeological Museum Athens. Die Ministerin für Kultur und Sport der Hellenischen Republik, Dr. Lina Mendoni, hat nicht nur ein Grußwort geschrieben, sondern die umfangreiche Ausstellung wesentlich ermöglicht. Wenn es nicht nur ein Zufall war, dass der Berichterstatter nahezu ungestört bis auf die wiederkehrenden Auftritte Katharina Thalbachs als Heinrich Schliemann die Ausstellung allein besuchte, dann hat sie ein Besuchermangelproblem.

Torsten Flüh

Schliemanns Welten
Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos.
bis 6. November 2022
James-Simon-Galerie
Museumsinsel Berlin


[1] Das Cover der Zeitausgabe wird nur noch auf Google Bilder angezeigt.

[2] Zur Archäologie siehe auch die künstlerische Intervention von Helene von Oldenburg und Claudia Reiche in: Torsten Flüh: Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.
Matthias Wemhoff: Schliemanns Welten. In: ders. (Hg.): Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. Leipzig: E.A. Seemann, 2022, S. 11.

[3] Goethe Institut: Prinzipien der Fremdsprachendidaktik. (ohne Jahr/ohne Ort, abgerufen am 18.06.2022).

[4] Otto Badke: Methode Schliemann Französisch / [nach dem Herrn Schliemann vorgelegten und von ihm gebilligten Plane bearb. vom Oberlehrer Otto Badke …] Stuttgart: Violet, 1896.

[5] Leo Mannow: Methode Schliemann zum Selbsterlernen fremder Sprachen: Russisch : nach einem von Dr. Heinrich Schliemann gebilligten Plane unter Mitwirkung bewährter Fachleute auf Grund einer für den Lehrgang eigens verfaßten russischen Originalnovelle für den Selbstunterricht ; mit der Beilage: Das russische Zeitwort, einer Anleitung zum Erlernen der russischen Schreibschrift, der russischen Konversationsschule (Russkoe ėcho) und der russischen Handelskorrespondenz / bearb. von L. Mannow und Otto Breuninger. Stuttgart: Violet 1922.

[6] Zitiert nach Ausstellungstext.

[7] Stefanie Samida: Die ‚Methode Schliemann‘ zur Selbsterlernung von Sprachen: Ein Blick zurück – und auch nach vorn. In: Fokus Lehrerbildung. Blog der Heidelberg School of Education. 12/12/2017.

[8] Heinrich Schliemann: Ilios, Stadt und Land der Trojaner: Forschungen und Entdeckungen in der Troas und Besonderes auf der Baustelle von Troja. Leipzig: Brockhaus, 1881, S. 1. (Heidelberger historische Bestände – digital)

[9] Siehe Wikipedia: Ilos.

[10] Zur Frage der Sprache und des Schreibens von Wissenschaft bei Alexander von Humboldt siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 30, 2015 19:05.

[11] Heinrich Schliemann: Ilios … [wie Anm. 8] S. 2.

[12] Matthias Wemhoff: Schliemanns … [wie Anm. 2] S. 13.

[13] Ebenda.

[14] Zu August Borsig siehe: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[15] Zu Paris im 19. Jahrhundert siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

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