Nietzsches „intelligente Maschinen“ – Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer

Maschine – Nietzsche – Intelligenz

Nietzsches „intelligente Maschinen“

Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer

Der Riesen-Dampfhammer „Fritz“ wurde von Alfred Krupp am 16. September 1862 bei Essen in Betrieb genommen. Es war der größte Dampfschmiedehammer im Königreich Preußen und dem gesamten Deutschen Bund.[1] Die Gussstahlfabrik bei Essen mit dem zweifelsohne sehr lauten Dampfhammer und seinem Eisenklotz von 50 Tonnen Gewicht lag gleich neben dem Wohnhaus mit großem neobarocken Garten der Familie Krupp. Der recht hohe Schornstein der Fabrik wurde zugleich als Aussichtstempel benutzt. Auch das schlossartige Anwesen des Berliner Lokomotivbauers August Borsig lag in den späten 1840er Jahren in Moabit gleich neben der Fabrik und dem Eisenwalzwerk mit weithin sichtbaren Schornsteinen ungefähr an der Turmstraße. Doch mit dem runden Gewächshaus aus Glas nach dem Vorbild der Blätter der Riesenseerose, Nymphea gigantea, durch gusseiserne Streben zwischen den Glasscheiben und der dampfpumpengetriebenen Fontäne im Garten übertraf Borsig Krupp in Essen. Aber wovon erzählt das Technikmuseum mit seinen Exponaten?

Victoriahaus, Botanischer Garten Berlin

In Friedrich Nietzsches Schreiben und Philosophieren hallt ein Echo der Dampfhammer und Maschinen der Industrialisierung nach. 1862 geht Nietzsche noch in Pforta zur Schule. 1889 wird er die Götzen-Dämmerung mit dem Untertitel „oder Wie man mit dem Hammer philosophirt“ veröffentlichen. Dort gebraucht er den Begriff der Maschine dreimal in recht unterschiedlicher Weise. „Z u r P s y c h o l o g i e  d e s  K ü n s t l e r s“ formuliert er, dass der „Rausch (…) erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben“ müsse.[2] Die Maschine und das Maschinelle werden von Nietzsche in vielerlei Weise gebraucht, um nicht zuletzt schon 1874 als „Denk-, Schreib- und Redemaschinen“ in Unzeitgemässe Betrachtungen angeschrieben zu werden.[3] Wie ambig sind die Maschinen in den Schriften Nietzsches? Und was haben sie mit Intelligenz zu tun? Wie lässt sich Künstliche Intelligenz mit Nietzsche bedenken?

Victoriahaus von August Borsig in Moabit nach dem Modell eines umgekehrten Blattes der Riesenseerose vor 1867. Albert Schwartz CCO

Das Projekt Künstliche Intelligenz wird von John McCarthy und John von Neumann mit The Computer and The Brain Mitte der 1950er Jahre formuliert. Die Maschine wird damit zum Modell der Intelligenz im Unterschied, aber auch in Analogie zur Intelligenz des Menschen, wie sie von Friedrich Nietzsche im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit der Formulierung von „intelligenten Maschinen“ angeschrieben wird. Neben der Lokomotive bzw. der Eisenbahn, mit der Nietzsche häufig fährt, sind es gigantische Dampfschmiedehammer, Dampfsägewerke, die Dampfmaschine für die Fontäne im Park von Schloss Sanssouci und Borsigs Anwesen in Moabit etc., allgemein Dampfmaschinen, von denen der Philosoph nicht nur gehört und gelesen haben wird.

Modell einer Dampfmaschine.

Die Dampfmaschinen mit ihren Konstruktionsteilen aus Dampfkessel, Zylinder, Kolben, Pleuelstange und Schwungrad befördern die Industrialisierung oder auch Industrielle Revolution in Deutschland. In der Schweiz kommen sie wegen der allenthalb vorhandenen Wasserkraft weniger zum Einsatz. Trotzdem bleibt dem Professor für Classische Philologie an der Universität Basel, wie sich später lesen lässt, nicht die Wirkungsweise der Dampfmaschine verborgen. Aber ihm bleibt die Maschinenmusik der Dampfhämmer in Richard Wagners Ring des Nibelungen besonders in der Ouvertüre des Siegfried (1857) unauffällig. Er, der Noten lesen kann und selber komponiert, hört und liest das akustische Schwungrad der Dampfmaschinen und die maschinellen Schmiedehammer 1876 in Wagner in Bayreuth nicht. Stattdessen wird Siegfried „(d)as wunderbar strenge Urbild des Jünglings“.[4] Im Mai 1888 beschreibt er den „Fall Wagner“ abwertend als „Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie“.[5]   

Eisengießerei und Maschinenbauanstalt August Borsig, Eisenwalzwerk in Moabit. Albert Schwartz CCO

Die Dampfmaschinen des 19. Jahrhundert zeichnen sich durch eine tendenzielle Unsichtbarkeit aus. Sie werden vor der Öffentlichkeit verborgen. Die einzige, die in der Malerei wiederholt zum Sujet wird, ist die Lokomotive. Ansonsten verschwinden die Maschinen in Maschinenhäusern wie im Pumpenhaus an der Havel für die Fontäne im Park von Sanssouci 1843 von Ludwig Persius, das als Fremdkörper und Faszination einer orientalisch, maurischen Formensprache wie eine Moschee erscheint. Maschinen sind auch im Park des schlossartigen Wohnhauses von August Borsig nicht zu sehen, obwohl die Fontäne von einer Dampfpumpe an der Spree betrieben worden sein wird. Auf dem angrenzenden Fabrikgelände von Borsig sind Leiterwagen aus Holz, aber keine Maschinen zu sehen. Die Architektur der Fabrikhalle aus Backstein wiederholt Fensterbögen oder gar Bögen von Kirchengängen der Renaissance. Auf einem weiteren Foto des Berliner Fotografen Albert Schwartz liegen mehrere sehr große Zahnräder im Vordergrund. Doch eine Dampfmaschine lässt sich auch hier nicht finden. Die Erscheinungsform der Dampfmaschinen in der Öffentlichkeit am Rande der Städte sind Schornsteine beispielsweise mit Aussichtstempel(!) und Fabrikhallen mit Elementen der Renaissance aus Backstein. 

Eisengießerei und Maschinenbauanstalt August Borsig in Moabit, Eisenwalzwerk. Albert Schwartz CCO

Das Philosophieren mit dem Hammer reagiert durchaus kritisch auf „Denk-, Schreib- und Rechenmaschinen“, noch bevor Friedrich Nietzsche selbst im Februar 1882 eine Schreibmaschine in Genua von seiner Schwester geschenkt bekam. Maschinenschriftliche Druckmanuskripte sind indessen bisher nicht digitalisiert.[6] Vielmehr schreibt Nietzsche bis 1888 weiterhin mit der Hand vor allem in Hefte.
„A u s  e i n e r  D o c t o r – P r o m o t i o n“ zitiert Nietzsche in Götzen-Dämmerung quasi die Frage „Was ist die Aufgabe allen höheren Schulwesens?“, um als Antwort zu geben: „Aus dem Menschen eine Maschine zu machen.“[7] Und als „N o c h  e i n P r o b l e m  d e r  D i ä t“ wird die „Maschine“ gleich zum „Genie“ bzw. das „Genie“ zur „Maschine“[8]: „— Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, beständige Strapazen — das sind, in’s Grosse gerechnet, die Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt gegen die extreme Verletzlichkeit jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst. —“[9]

Halle mit Riesen-Dampfhammer und Schornstein mit (antikem) „Aussichtstempel“.

Die maschinellen Wirkungsweisen von „Dampf“, Wasserdampf, und „Druck“ werden in eine Psycho-Physiologie als Thermodynamik des Genies transformiert. Anders gesagt: Friedrich Nietzsche versteht sehr wohl die Konstruktions- und Wirkungsweisen der Dampfmaschinen seiner Epoche, um sie als „Maschine“ zu verallgemeinern. Die Dampfmaschine ist ein anderes Modell als die Zeitmaschine Uhr, bei der ein Zahnrad in das andere greift. Sie werden im 19. Jahrhundert kombiniert und neu ausgerichtet. Doch das Modell des Uhrwerks als Zeitmaschine im Modus der Verzahnung geht der Dampfmaschine voraus. Beide Maschinen funktionieren in einem Wenn-Dann-Modus. Wenn das Zahnrad in ein anderes greift, dann wird beispielsweise der kleine oder große Zeiger vor- oder zurückgestellt. Wenn der Druck durch den Wasserdampf im Kessel steigt, dann drehen die Räder schneller. Wenn der Druck nicht entweichen kann, dann kommt es zu einer Explosion als Katastrophe. Heute nennt man komplexere Wenn-Dann-Entscheidungen Algorithmen.

Die Maschinenmodelle unterscheiden sich, um dann in der Verkürzung auf „die Maschine“ vermischt zu werden oder gar in eins zu fallen, weil sie streng algorithmisch funktionieren. Das Neuartige der Maschine im 19. Jahrhundert ist ihre Konstruktion als Dampfmaschine. Vorher gibt es die Uhr, die beispielsweise mit der Uhr am Wasserturm auf dem Gelände der „Eisengießerei und Maschinenbauanstalt“ von August Borsig an der Chaussee- Ecke Torstraße am 25. März 1848 mit einem Flugblatt die Fabrik in eine Maschine der Pünktlichkeit und Arbeitszeiten verwandelt. Am 14. April 1848 unterzeichnen August Borsig, der Vertreter der Königlich Preußischen Eisengießerei, Franz Anton Egells u. a. sowie die Arbeitnehmervertreter einen fast gleichlautenden Vertrag.

Sobald die zur Arbeit festgesetzte Stunde geschlagen hat, wird nach wie vor das Gittertor geschlossen. Haben sich welche verspätet, und kommen noch bis 5 Minuten nach dem Glockenschlage, so sollen sie ohne weiteren Nachtheil noch eingelassen werden. Kommen welche noch bis innerhalb ¼ Stunde zu spät, so werden diese zwar auch noch eingelassen, doch wird ihnen eine Stunde von ihrem Lohne abgezogen. Den noch später Kommenden wird erst in der Frühstücks- oder Vesperstunde der Eintritt gestattet. Jedem Arbeiter wird eine Marke ertheilt, die mit einer Nummer und einem Stempel versehen ist, und die er wohl verwahren und immer bei sich tragen muß; diese Marke muß er im Fall des Zuspätkommens dem Portier übergeben, welcher solche im Comtoir abzuliefern hat, wo die mit den Nummern bezeichneten Namenliste vorhanden ist. Beim nächsten Ausgange  wird dem Arbeiter die Marke zurückgegeben. Die Entschuldigung, daß Jemand die Marke vergessen habe, wird nicht angenommen, sondern er muß umkehren und hat sich den Zeitverlust selbst zuzuschreiben. Kommt ein Arbeiter in ein und derselben Woche dreimal zu spät, wo wird er entlassen. (Orthographie wie auf dem Original)[10]

Die Seele als Maschine, wie sie Julien Offray de la Mettrie 1748 in L’Homme Machine als aufklärerische Geste formuliert hatte, ist bei Nietzsche durchaus ambig geworden. Denn wenn es „die Aufgabe allen höheren Schulwesens“ ist, „(a)us dem Menschen eine Maschine zu machen“, dann wird diese Disziplinierung durch den Staat zu einem Problem. Nietzsche formuliert gar das Machinale, wenn er in Anspielung auf den Lateinischen Deus ex machina schreibt, dass „wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit — sammelnd, ökonomisch, machinal — als eine schwache Zeit …“ „zu messen“ sind.[11] Er kritisiert mit dem quasi neologischen Adjektiv „machinal“ das Maschinelle als Schwäche, wo de la Mettrie im Materialismus „der Uhr“ als Maschine eine Befreiung versprach.

Je reduis à deux, les Systèmes des Philosophes sur l’ame de l‘Homme. Le prémier, & le plus ancien, est le Système du Matérialisme; le second es celui du Spiritualisme./ Ich reduziere die Systeme der Philosophen über die Seele des Menschen auf zwei. Das erste und älteste ist das System des Materialismus; das zweite ist das des Spiritualismus.[12]

Friedrich Nietzsche beschreibt (keine) Maschinen und ruft doch die zeitgenössische Dampfmaschine auf, wenn er für das „Problem der M a c h t“ schreibt, dass es sei „wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert“.[13] Wie L’Homme Machine ein Motto von Voltaire voran gesetzt wird, so ist Menschliches, Allzumenschliches am 30. Mai 1878 dem Gedächtnis Voltaires in der Erstausgabe nicht nur gewidmet[14], vielmehr vermerkt Nietzsche in ihr ausdrücklich, dass „(d)ieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winteraufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, (…) jetzt der Oeffentlichkeit nicht übergeben werden (würde), wenn nicht die Nähe des 30. Mai 1878 den Wunsch allzu lebhaft erregt hätte, einem der grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persönliche Huldigung darzubringen“.[15]

Borsig-Direktionsgebäude, Chausseestraße 1, ca. 1870. Albert Schwartz CCO.

Die Geste der Befreiung wird zwar in weiteren Ausgaben nicht mehr mit dieser Ausdrücklichkeit in Anknüpfung an den Schriftsteller, Satiriker, Königsberater und Finanztransaktionsspekulanten Voltaire als „Befreier des Geistes“ wiederholt. Aber die „Befreiung“ wird in dem „monologische(n) Buch“ mehrfach angesprochen. Sie erfolgt als eine von „abergläubische(n) und religiöse(n) Begriffe(n) und Aengste(n)“[16] oder als „Befreiung des Gedankens“[17] oder als „ernstlich gemeinte() geistige() Befreiung eines Menschen“.[18] In der Umwertung der volupté/Wollust von einer christlichen Todsünde in eine Antriebskraft der Maschine bei de la Mettrie zeigt Voltaire seine Wirkung bis Nietzsches Anti-Moralismus. Einerseits kehrt die Maschine bei Nietzsche im Kontext der Befreiung vom Christentum wieder, andererseits macht sie zugleich unfrei, wenn der Mensch zur „Denk-, Schreib- und Rechenmaschine“ wird. Doch zugleich könnte sie zur „umana commedia“ mit Anspielung auf das Inferno der Divina Commedia des Renaissance-Dichters Dante[19] werden:

Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, — ist das die umana commedia?[20]

Unter „G e d a n k e  d e s  U n m u t h s“ formuliert Nietzsche mit den Maschinen ein scharfes Paradox der Nützlichkeit. Die „grossen Maschinen“ geben einen Wink auf die Industrien wie den Kapitalismus, in denen „schonungslos jede(r) Einzelne() als Material zum Heizen“ verwendet wird. Nietzsche führt hier nicht etwa eine Klassengesellschaft ein, vielmehr werden „alle Einzelnen“ für Maschinen verheizt, „die sich selbst Zweck sind“. Man könnte das eine radikale Kapitalismuskritik ohne Klassen nennen. Denn Maschinen machen keinen, nicht einmal ökonomischen Sinn, wenn der Nutzen der Maschine „sich selbst Zweck“ ist. Nietzsche schreibt damit nicht nur eine Maschinenkritik an, vielmehr formuliert er eine radikale Kritik der Industrie als Industrialismus. Als Philosoph positioniert er sich mit den „Maschinen, die sich“ als „Denk-, Schreib- und Rechenmaschinen“ „selbst Zweck sind“, als genauer Beobachter der Industrialisierung.

Das Fegefeuer der „umana commedia“ ist mit Nietzsche jene Nützlichkeit und Berechenbarkeit des Menschen, die einsetzt, wenn er „ausgeglüht und verkohlt“ ist. Neben und vor der Maschine ist es die naturhaft anmutende Rede vom „Kohlemeiler im Walde“, durch den das Holz zur nützlichen Kohle für den Ofen umgewandelt wird bzw. wurde, die den Menschen schon in vorindustrieller Zeit betraf. Ist ein Kohlemeiler im Walde eine vorindustrielle Maschine? „Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie n ü t z l i c h. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem.“ Doch die Nützlichkeit z.B. als einem Verkohlen, das heißt, zur Kohle machen, ist der Befreiung in der Aufklärung bereits eingeschrieben.

Die Funktion der Maschine für den Menschen und seine tendenzielle Bedrohung durch sie erfährt von Peter Sloterdijk in seinem an Wagner und Nietzsche anknüpfenden Text Nach Gott[21] keine nähere Berücksichtigung, obwohl sie mehrfach recht prominent eingesetzt wird. Zwischen Befreiungsmythos und Disziplinierungsinstrument nimmt die Maschine bei Nietzsche verschiedene Funktionen an. Aber Sloterdijk kommt auf die Intelligenz in David Humes The Natural History of Religion von 1757 zu sprechen. Im Unterschied zu Nietzsche „(bekennt) sich die Intelligenz zu ihrer eigentümlichen Transzendenz“.[22] Was bei Nietzsche zu einer prekären Maschinenhaftigkeit der Intelligenz und eben im Manuskript gebliebenen Antichrist zu „intelligente Maschinen“[23] wird, bejaht Sloterdijk fast, wenn er schreibt:

Viele Autoren haben darauf hingewiesen, daß die menschliche Intelligenz die Fähigkeit besitzt, sich eine Intelligenz vorzustellen, von welcher sie überragt wird. Dieser Aufschwung, auch wenn oft nur pro forma vollzogen, ist eine irreduzible Bewegung der Intelligenz über ihr aktuelles eigenes Niveau hinaus.[24]

Paul Friedrich Meyerheim: Vollendungsarbeiten an einer Lokomotive (Öl auf Kupferplatte, 1874) aus der Borsig-Villa in Moabit. (Deutsches Technikmuseum Berlin)

Der Begriff der Intelligenz steht bei Nietzsche wiederholt in der Kritik und im Kontext der Maschine. Die Maschine funktioniert nicht zuletzt nach einem intelligenten Plan, wie er, der sich gar patentieren lässt, auf dem Ölgemälde Vollendungsarbeiten an einer Lokomotive von Paul Friedrich Meyerheim schon eher retrospektiv, also nachträglich, 1874 in die Vollendungsszene gerückt wird. In der Polemik Der Antichrist erklärt Nietzsche nicht nur Gott für erledigt, vielmehr wird die Wissenschaft zur „Mittelmäßigkeit“ erklärt. Anders gesagt: intelligente Maschinen sind mittelmäßig. Oder mit Nietzsches Formulierung:

Das Handwerk, der Handel, der Ackerbau, die W i s s e n s c h a f t, der grösste Theil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufsthätigkeit mit Einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaass im Können und Begehren: dergleichen wäre deplacirt unter Ausnahmen, der dazu gehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus. Dass man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu giebt es eine Naturbestimmung: n i c h t die Gesellschaft, die Art G l ü c k, deren die Allermeisten bloss fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmässigen ist mittelmässig sein ein Glück; die Meisterschaft in Einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmässigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn.[25]

In Die fröhliche Wissenschaft wird die Intelligenz als Vermögen des Denkens im 333. Stück oder Fragment einmal mit Spinozas „sed intelligere“ ausführlicher, aber auch skeptischer beschrieben. Denn letztlich könne „gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden“.[26] Die Intelligenz als Erkennen und Erkenntnis bleibt ambig. In „la gaya scienza“ und im saturnalischen Monat Januar kann das Erkennen den bösen Scherz der Selbsttäuschung mit sich führen.

W a s  h e i s  s t  e r k e n n e n . — Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere! sagt Spinoza, so schlicht und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden? Ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwünschen-wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag: denn, vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und mit einander Recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsscenen und Schluss-Abrechnungen dieses langen Processes zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein g e w i s s e s  V e r h a l t e n  d e r  
T r i e b e  z u  e i n a n d e r  i s t .[27]   

Die Intelligenz birgt bei Nietzsche wiederholt in der Gefahr, den Menschen in eine Maschine zu verwandeln. Hans-Jürg Braun hat bereits vor geraumer Zeit in „Notizen zur neueren Religionsphilosophie unter dem Vorzeichen der Frage nach den Grenzen des Denkens“ angemerkt, dass der „Intellekt des Menschen Worte zu Begriffen (bilde), die für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, niemals aber gleiche Fälle Verwendung finden“. [28] Er bezieht sich dabei auf eine Passage aus Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von 1873. [29] Woraufhin Rüdiger Schmidt-Grépály einwarf, dass „die neuere Nietzsche-Forschung“ wisse, dass der Text „ein Exzerpt (sei)“.[30]     Das Exzerpt wäre eine Art der ausschnittweisen Kopie, der zumindest die Entscheidung für einen Ausschnitt zugrunde liegt. Ansonsten handelte es sich um eine maschinenartige Kopie. Auffälliger Weise unterscheidet Nietzsche nicht zwischen maschineller und menschlicher Intelligenz, vielmehr kann sich die menschliche in „Denk-, Schreib- und Rechenmaschinen“ transformieren. Während wir uns immer noch im Angesicht der „Künstlichen Intelligenz“ einer menschlichen versichern wollen, hatte Nietzsche mehr als ein halbes Jahrhundert, bevor John McCarthy und John von Neumann die Intelligenz mit dem Adjektiv künstlich kombinierten, bereits das Dilemma der Intelligenz für den Menschen in Anschlag gebracht.

Torsten Flüh

Deutsches Technikmuseum
Trebbiner Straße 9
10963 Berlin-Kreuzberg
Dienstag bis Freitag: 9:00 bis 17:30 Uhr
Samstag/Sonntag: 10:00 bis 18:00 Uhr


[1] Mathias Schulenburg:  Ein starkes Stück. Vor 150 Jahren nahm in Essen der größte Dampfschmiedehammer Deutschlands seine Arbeit auf. In: Deutschlandfunk 16.09.2011.

[2] Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemässen. 8 (Digital Critical Edition eKGWB Friedrich Nietzsche, Digital critical edition of the complete works and letters, based on the critical text by G. Colli and M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter 1967-, edited by Paolo D’Iorio).

[3] Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1874. Nummer 5.

[4] Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. Schloss-Chemnitz: Verlag von Ernst Schmeitzner.1876. Nummer 2.

[5] Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. Verlag von C. G. Neumann. 1888. Nummer 5.

[6] Vgl. Nietzsche Source Digitale Faksimile-Gesamtausgabe: Druckmanuskripte.

[7] Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung … [wie Anm. 2] Nummer 29.

[8] Ebenda Nummer 31.

[9] Ebenda.

[10] Unveröffentlichtes Flugblatt von August Borsig vom 25. März 1848 gesammelt durch das Eisengießereiamt im Landesarchiv Berlin, Staatsarchiv des Landes Berlin.

[11] Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung … [wie Anm. 2] Nummer 37.

[12] Julien Offray de La Mettrie: L’Homme Machine. 1748. S. 1. (Digitalisat)

[13] Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede. Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1886. 446.

[14] Ebenda Widmung.

[15] Ebenda Hinweis.

[16] Ebenda 20.

[17] Ebenda 237.

[18] Ebenda 542.

[19] Vgl. zu Dante: Torsten Flüh: „Sandro Botireli“, Codex Hamilton und La Comedia. Zur Ausstellung Der Botticelli-Coup im Kupferstichkabinett. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 15, 2015 21:50.

[20] Friedrich Nietzsche: Menschliches … [wie Anm. 10] 585.

[21] Peter Sloterdijk: Nach Gott. Berlin: Suhrkamp 2017.

[22] Ebenda S. 325.

[23] Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum… 57.

[24] Peter Sloterdijk: Nach … [wie Anm. 21] S. 325.

[25] Friedrich Nietzsche: Der … [wie Anm. 23].

[26] Friedrich Nietzsche: Viertes Buch. Sanctus Januarius. In: Die fröhliche Wissenschaft. („la gaya scienza“). Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei. Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1887. 333.

[27] Ebenda.

[28] Hans-Jürg Braun: Notizen zur neueren Religionsphilosophie. In: Donata Schoeller, Matthias Michel (Hrsg.): Grenzen des Denkens. Zwölf Gespräche zwischen den Disziplinen Philosophie, Theologie, Medizin, Psychiatrie, Germanistik, Neurophysiologie, Kunst, Medienwissenschaft. Weimar: Bauhaus-Universität Weimar 2007, S. 132.

[29] Friedrich Nietzsche: Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. 1.

[30] Gesprächsrunde zum 2. Ensemble vom 22.2.2003. In: Donata Schoeller, Matthias Michel (Hrsg.): Grenzen … [wie Anm. 28] S. 135.

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