Verschlungenes Kino

Kino – Agent – Schnitt

Verschlungenes Kino

Zur Weltpremiere von Reflet dans un diamant mort im Berlinale Palast  

Das Digitale organisiert jetzt die Kinokarten auf der 75. Berlinale. Man scannt einfach den QR-Code am Roten Teppich vor dem Berlinale Palast. Restkarten für die 22:00-Uhr-Vorstellung von Reflet dans un diamant mort, Wettbeweb, Weltpremiere, werden so um 19:30 Uhr angezeigt. Bezahlmodus gewählt mit Kreditkarte oder PayPal und schwupps wird die Kinokarte als Strichcode heruntergeladen. Kein Schlangestehen mehr. Kein Drängeln. Keine Hektik für die letzten Kinokarten an der Tageskasse und dann quer über den Marlene-Dietrich-Platz in den Berlinale Palast. Kein Ab- oder Einreißen der Kinokarte mehr. Die Kinokarte lebt weiter als digitales Strichgespenst. Sie lässt sich nicht mehr ins Tagebuch kleben. In der großen Hommage an das Kino, insbesondere das europäische, den belgisch-französisch-italienisch-luxemburgischen Krimi und Agententhriller, den Surrealismus des Reflet dans un diamant mort hätte die Kinokarte vorkommen müssen.   

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Hélène Cattet und Bruno Forzani, beide Regie und Drehbuch, haben mit Reflet dans un diamant mort eine wilde, bilderflutende Hommage an das Kino und den Agententhriller gedreht. Mit Fabio Testi als 70jähriger Ex-Agent John, der in einem einzigartigen Grand Hotel an der Côte d’Azur seinen Lebensabend verbringt, überschneidet sich das Genre deutsch-italienischer Kriminal- und Agentenfilme. Er spielte in Italowestern und Kriminalfilmen in den 70er Jahren. Testi hat seinen großen Auftritt auf dem Roten Teppich der Berlinale: wenn er aus der E-Limousine Cupra Tavascan steigt. Eine Legende.

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1970 hatte Fabio Testi im deutsch-italienischen Kriminalfilm Blonde Köder für den Mörder an der Seite von Ini Assmann, Nadja Tiller und Anita Ekberg gespielt. Der Film basierte auf einem Illustriertenroman der Neuen Revue aus dem Bauer Verlag.[1] Die Haarfarbe blond im deutschen Titel versprach blonde Frauen als Objekte mit viel nackter Haut. In der englischen Version hieß der „Sex-Krimi“ Death Knocks Twice. 1973 spielte er im italienischen Kriminalfilm L’ultima chance an der Seite von Ursula Andress und Barbara Bach, der in Deutschland als Diamantenpuppe ins Kino kam.[2] Ursula Andress war 1962 als Bond Girl in James Bond jagt Dr. No berühmt geworden und Barbara Bach sollte 1977 als solches in Der Spion, der mich liebte weltberühmt werden.

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Diamanten lassen sich vielseitig einsetzen. Sie schmücken Frauen. Sind deren beste Freunde. Diamonds are the girls best friend. Diamantbohrer gibt es im Baumarkt. Sie werden als Zahlungsmittel benutzt. Diamonds are forever hieß der James-Bond-Film von 1971. Diamanten haben Feuer und funkeln verführerisch. John trägt einen Diamantring. Der Diamant ist zu einer spitzen Pyramide geschliffen, so dass er nicht nur als Schmuckstück, vielmehr noch als schneidende Waffe benutzt werden kann. Diamanten werden in Reflet dans un diamant mort auf vielerlei Weise ins Bild gerückt. Für John sind Diamanten seine Altersversicherung für das Zimmer im Grand Hotel.

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Diamanten blitzen in Reflet dans un diamant mort neben der Brustwarze einer jungen Frau in der Sonne für John. Eingedenk des deutschen Filmtitels Diamantenpuppe, in dem es eher trivial für Floyd Gambino (Fabio Testi) um gestohlene Diamanten, die nach einer Liebesnacht mit Michelle Norton (Ursula Andress) verschwunden sind, geht es mit den Diamanten immer auch um den heute 83jährigen italienischen Schauspieler Fabio Testi. Der Agentendarsteller und die Frauen schimmern noch bei seiner Begrüßung der Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, durch. Er will die sichtlich irritierte deutsche Staatsministerin weit nach Me-too küssen. Auf die Wange, aber immerhin. 1975 hatte er an der Seite von Romy Schneider in Andrzej Żuławskis Skandalfilm Nachtblende gespielt.[3]

Screenshot Trailer Reflet dans un diamant mort (Ausschnitt)

Neben Fabio Testi ist die Kamera die andere Hauptdarsteller/in des Films. Manuel Dacosse hat als Kameramann bereits mit dem in Brüssel ansässigen Regie- und Drehbuchpaar Cattet und Forzani für vier Filme zusammengearbeitet. Extreme Nahaufnahmen von Augen beispielsweise werden gegen funkelnde Diamanten neben Brustwarzen geschnitten. Ein Auge lugt aus Diamanten hervor. Die Kamera beobachtet kaum. Sie ist mittendrin im Bild und schaut aus ihm hervor. Auf diese Weise erinnert die Kamera an die Eröffnungssequenz aus Luis Bunuels und Salvador Dalís Un Chien Andalou (1929).

Screenshot Trailer Reflet dans un diamant mort (Ausschnitt)

Kino und Traum überlagern sich. Sprachoperationen generieren Bilder oder als Zwischentitel: „La prise de vues: Duverger“: Filmaufnahme: Duverger. Die Mittel des Films zwischen Nahaufnahme und Schnitt – Gegenschnitt: das Auge der Frau mit Hand, die ein Rasiermesser hält, Schnitt: das Rasiermesser, das ein (Kuh)Auge durchschneidet – generieren die Psychologie des Surrealismus. Das Kuhauge sahen die ersten Zuschauer des Films nicht. Sie sahen erschaudernd das Auge der Frau. Der Schnitt (Bernard Beets) wird schneller und schneller. Die Schlusssequenz von Un Chien Andalou spielt am steinigen Strand. Durch den Schnitt bekommen die Cineast*innen nie zu sehen, was sie sehen wollen. Im Traum wie im Kino ist es immer etwas anderes, was man zu sehen bekommt.

Screenshot Trailer Reflet dans un diamant mort (Ausschnitt)

Das Schauen und das Verschwinden generieren den Plot des Films mit dem kryptischen Titel. Was reflektiert sich in dem toten Diamanten? Warum die paradoxe Formulierung als Titel? Hélène Cattet und Bruno Forzani schreiben filmisch. Sie haben ihr Drehbuch aus dem Medium Kino und seinen Genres herausgeschrieben. Posen werden reproduziert. Posen statt Plot. Wände im Hotelzimmer werden zu Projektionsflächen. Immer wieder wird versucht, durch ein kleines Loch zu schauen. Und der Zuschauer fürchtet, dass ihm etwas ins Auge gestochen wird. „But when the woman mysteriously disappears, John is beset by flashbacks – or perhaps fantasies – of his glamorous and grotesque past, and the alluring women and dastardly villains who lived and died there.”

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Das Verschwinden löst ein immer stärkeres Verlangen nach dem Schauen aus. Die Exposition mit John am Hotelstrand ruft nicht zuletzt Dirk Bogarde als Gustav von Aschenbach in Viscontis Tod in Venedig in Erinnerung. John setzt sich im weißen Sommeranzug mit weißem Hut auf einem Stuhl an einen Tisch. Der Ober serviert einen Drink. Eine Frau legt sich davor in einen Liegestuhl. Dann bleibt der Liegestuhl leer. Man muss das Kino lieben für all die Schrecken, die es bereithält. Erinnerungen, Wahnsinn, Filmemachen. Hélène Cattet ist nach der Weltpremiere auf der ganz großen Leinwand überwältigt nach sechs Jahren, die sie und Bruno Forzani in den Film investiert haben. „Memory,madness and moviemaking become increasingly difficult to separate. Are his old enemies back to wreak havoc on his idyllic life? Are there yet more conspiracies and treacheries waiting to be unmasked? Or has he simply been bewitched by the beautiful and dangerous lure of escapist cinema itself?”

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Die Verlockung des Kinos wird zur ebenso lustvollen wie gefährlichen, aber auch komischen und unheimlichen Handlung des Agententhrillers. Hinter oder nach jedem Bild tut sich ein neues auf. Bilderflut fast wie in einem Music-Clip. Clip Art. Filmblut spritzt viel. Das geschlängelte Teppichmuster des Grand Hotels in Orange und Schwarzbraun verwandelt sich in Schlangen. Die Schlangen werden zum geheimnisvollen Agentenbuchtitel bis die Autos in einer Verfolgungsjagd die Serpentine hinunter- oder auch hinaufjagen. Die Schauspieler in den Latexanzügen bekommen eine Ähnlichkeit mit Kobras. Der Film soll verschlungen werden. Die Verkettung der Bilder zum Film funktioniert gerade nicht als eine Geschichte, die sich als eine geschlossene erzählen ließe.

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Liegt es an der Maske, dass John seine Hotelzimmernachbarin nicht, aber immer wieder neue Frauen findet. Masken generieren wie in der Kunst des Surrealismus von der afrikanischen Maske bis zur Filmmaske, die sich abziehen lässt, als immer wieder neue Masken einen Handlungsstrang. In den Maskenwunden wird gebohrt. Die Schnittwunden werden zu Masken. Johns Agententätigkeit findet hinter den Masken nichts als Masken. Das hatte schon den jungen John (Yannick Renier) gelockt und in Bewegung gehalten. Atemlos. Wer im Film wer sein könnte, wird von den Schnitten der Handlung hinweggerissen.

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Reflet dans un diamant mort ließe sich als eine Reflektion über den Surrealismus und das Filmemachen bedenken. Morde, die nach Gemälden, Bildfindungen aus der Kunstgeschichte gestaltet werden, finden ebenso Erwähnung wie, dass Botschaften aus Buchstabenmontagen überbracht werden. Montage und Collage sind Praktiken des Films wie des Surrealismus. Der Film, das Kino ist eine visuelle Kunst, die sich in endlosen Verschlingungen immer wieder anders erfindet, weshalb Reflet dans un diamant mort keinen Schluss hat, sondern abbricht und – vom Premierenpublikum lautstark gefeiert wurde.

Torsten Flüh  


[1] Wikipedia: Blonde Köder für den Mörder.

[2] Wikipedia: Diamantenpuppe.

[3] Wikipedia: Nachtblende.

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