Lustvolles Komponieren mit Sprachoperationen

Oxymoron – Rhapsody in Blue – Sprache

Lustvolles Komponieren mit Sprachoperationen

Zum Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und der Pianistin Maria Radutu unter der Leitung von Enno Poppe bei ultraschall berlin 2025

Das Plakat für ultraschall berlin 2025 zeigt einen ebenso ikonischen wie überraschenden Blick aus dem berüchtigten Fußgängertunnel des ICC in Orange gekachelt nach oben ans Tageslicht mit weißen Wolken und Kugellampen.[1] Eine Komposition wahrscheinlich mit Hilfe von Photoshop, weil die Kacheln ebenso scharf sind wie die Wolken. Trotzdem ein Blick, wie er sich aus dem „Tunnel des Grauens“ (Berliner Zeitung) auf dem Weg vom S-Bahnhof Messe/Nord zum Haus des Rundfunks bieten könnte. Im besagten Tunnel verlustieren sich Skater auf ihren Boards, überleben Obdachlose, wird die Notdurft verrichtet und gehen Konzertbesucher*innen zum Festival ultraschall berlin, während darüber sich der Verkehr über die 32-spurige Kreuzung ergießt. Autogerechte Stadt hieß die Utopie der späten 70er Jahre im 20. Jahrhundert. 

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Auf dem Weg zum zweiten Konzert des Festivals im Radialsystem V an der Spree muss man vom Ostbahnhof die 6-spurige Holzmarktstraße überqueren. Das 20. Jahrhundert wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Verkehrsschneisen und Allmachtsfantasien durchzogen, die entweder von den USA oder der UdSSR geprägt wurden. Die Rhapsody in Blue von George Gershwin von 1924 kündigte als Klavierkonzert zweifellos die Widersprüche des langen 20. Jahrhunderts in der Musik zwischen Einsamkeit in der Masse, Verlassenheit und Allmachtsfantasien an. Die erfolgreiche in Wien lebende und arbeitende Komponistin Margareta Ferek-Petrić komponiert in ihrem Klavierkonzert The Orgy of Oxymorons (2022) lustvoll Widersprüche, indem sie an Gershwins Rhapsody anknüpft. Die Deutsche Erstaufführung in der in Blau ausgeleuchteten Halle des Radialsystem V mit der im hellblauen Hosenanzug gekleideten Pianistin Maria Radutu wurde am 16. Januar zum durchschlagenden Erfolg. Die Kompositionen von Georg Katzer, Misha Cvijović, Christian Mason und Márton Illés fanden ebenfalls lebhafte Zustimmung.

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Im Gespräch mit Rainer Pöllmann verrät Margareta Ferek-Petrić, dass sie sich als Tochter einer Pianistin gefragt habe, was es heißt, im 21. Jahrhundert ein Klavierkonzert zu schreiben. Im ersten Akkord spielt die Komponistin verfremdet auf die Rhapsody in Blue in ihrer Komposition The Orgy of Oxymorons an. Gershwins widersprüchliche Komposition einer amerikanischen Großstadt-Musik kommt fast 100 Jahre später nie ganz zum Zuge bei Ferek-Petrić, aber sie lässt sich nicht ignorieren. Spielpraktisch lässt die Komponistin die Pianistin Maria Radutu, für die sie das Stück komponiert hat, mit erweiterten, schlagzeugartigen Verfahren die Saiten des Klaviers bearbeiten. Das Klavier als Schlagwerk wurde vor allem im dritten Viertel des 20. Jahrhundert entdeckt, wie es unter anderem vom Ensemble PianoPercussion Berlin mit der Pianistin Ya-ou Xie programmatisch weiterentwickelt wird.[2]

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Den Titel ihrer Komposition The Orgy of Oxymorons erläutert Margareta Ferek-Petrić ausführlich programmatisch als „rhetorische Figur“ für „›oxy‹: scharfsinning/›moros‹: dumm“.[3] Es geht ihr um einen lustvollen Umgang mit Widersprüchen, in der Musik und der Welt. Insofern arbeitet sie mit der widersprüchlichen Verortung des Klaviers als Saiten- und Schlaginstrument ebenso wie mit der Interpretation der Widersprüchlichkeit in Rhapsody in Blue. Ob sich Gershwin des Oxymorons in seiner Komposition bewusst war, wissen wir nicht. Eher nicht. Zumal eine Partitur der Uraufführung nicht überliefert ist. Erst in der jüngsten Zeit wurde sie stärker in Konzerten und von Komponist*innen herausgearbeitet. Fast 100 Jahre hatten sich die Pianisten und das Publikum einfach mitreißen lassen. Von was? Vom Rhythmus? Vom Jazz? Von den Allmachtsfantasien einer amerikanischen Identität?[4] Schimmert gar MAGA (Make America Great Again) hindurch?

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Margareta Ferek-Petrić macht das Oxymoron als rhetorische Figur und literarische Form für ihr Klavierkonzert fruchtbar. Das Widersprüchliche soll gerade nicht geglättet werden, weil sie es überall entdeckt und schätzt. Wenn MAGA gerade daran geht, die uramerikanischen Widersprüche in der Rhapsody in Blue gewaltsam auszumerzen, dann läuft die faschistische Gewalt auf dem Niveau einer Reality Show Country Sängerin im Capitol wenigstens George Gershwins Komposition aus Klassik und Jazz als Klavierkonzert entgegen. Es geht in The Orgy of Oxymorons hintergründig auch um die USA, aber vor allem um ein Nachdenken über das Komponieren mit Klängen:
„Die erweiterten, experimentellen Klänge der zeitgenössischen Musik werden von den gewöhnlichen Klangvorstellungen entfremdet und können zusammen mit den Ohrwürmern eine groteske Wirkung erzeugen. Die grundsätzliche Suche nach der Kreation eines oder mehreren Oxymora in der Komposition hat für mich mit diesen Gedanken angefangen und wird mich sicherlich noch weit über das Klavierkonzert hinaus beschäftigen.“[5]

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Gegen Schluss zitiert die Komponistin das bekannte Eröffnungsthema im Glissando, den Ohrwurm, der Rhapsody und transformiert es in den stampfenden Rhythmus einer Orgie, worauf die Orchestermitglieder die Worte „The — Oxymoron — is — an Orgy“ sprechen. Danach ließen sich als witziger Kommentar die Anfangstakte und die Triangel aus Cy Colemans und Dorothy Fields Song Big Spender hören. „Spend a little time with me.“ Margareta Ferek-Petrić will diesen witzigen Schluss feministisch gehört wissen. Denn einerseits wird damit die inhärente Allmachtsfantasie der als amerikanisch und männlich komponierten Musik abgelöst, andererseits setzt sie einen Kontrapunkt zur historischen Marginalisierung und Unterdrückung von Frauen in der Musik und Gesellschaft an den Schluss:
„Komponiert für eine Pianistin und Dirigentin, für die ich höchsten Respekt und Bewunderung hege, ist dieses Stück eine Explosion von Ohnmachtsgefühlen, sowie Allmachtsfantasien und es feiert den einfachen Genuss und die pure Liebe (was auch immer das ist). Gleichzeitig spuckt es auf diese verdorbene, primitive und kranke Welt, die wie ein majestätisches Oxymoron-Denkmal weiter existiert und die eigentlich Zeit und Ruhe für Orgien nötig hätte.“[6] 

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Rainer Pöllmann moderierte Georg Katzers Baukasten von 1972 nonchalant als eine Komposition der Widersprüche an und erinnerte an die Debatte um das Stück in der DDR, das zunächst gefeiert und in den Lehrplan der allgemeinen Schulen übernommen wurde, um dann kritisiert zu werden.[7] Doch rechteigentlich fand es das modellhafte Stück wohl in das Programm von ultraschall berlin 2025, weil der Komponist am 10. Januar 1935 geboren wurde, und seinen 90. Geburtstag hätte feiern können, wenn er nicht bereits 2019 verstorben wäre. Die strukturierende Macht der Jahrestage im Diskurs. Katzer gründete an der Ostberliner Akademie der Künste 1982 das Studio für Elektroakustische Musik. Baukasten für Orchester ist eine technisch streng durchdachte Komposition als ein Zusammensetzen von Bauklötzen aus einem Baukasten, die auch 1972 nichts an ihrer Originalität verloren hat. Vielmehr wurde in der Aufführung des Rundfunk-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Enno Poppe in gut 9 des auf 12 Minuten angelegten Stücks bravourös durchgespielt.

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Baukasten und seine modellhafte Funktion für die Musikanalyse wie -komposition könnte man auch als einen Mythos bezeichnen, während Georg Katzer die Musik mit der Komposition von ihren Mythen befreien wollte. Umso bedenkenswerter ist deshalb, dass junge Komponist*innen wie Misha Cvijović weiterhin und verstärkt an Mythen anknüpfen wie in der Deutschen Erstaufführung von Lica Persefone (2013/2014). Die Mythen sind aus der neuen Musik nicht herauszubekommen, vielmehr stoßen sie Kompositionen an und werden in Musik verwandelt, wie es die in Belgrad geborene und in Berlin lebende Komponistin mit ihren Zwei Szenen für Orchester vorführt.
„Die Musik des Balkans ist bekannt für ihre komplexen Rhythmen, die für mich als Komponistin schon immer eine große Inspiration waren. Ich habe den 7/8-Takt verwendet, um Persephone, die Tochter von Zeus und Demeter, musikalisch zu beschreiben. Persephone ist mit Hades, dem Gott der Unterwelt, verheiratet.“[8] 

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Der 7/8-Takt wird von Misha Cvijović in den zwei dem Mythos der Persephone eingeschriebenen Bereiche von Szene in der Unterwelt für Winter und der Oberwelt für Sommer durchdacht eingesetzt. Phonetische ließe sich mit -phone auch der Laut, Ton oder die Stimme hören, während etymologisch von einem Kompositum von pertho für zerstören und phatta für Garbe ausgegangen wird. Die winterliche Zerstörung wird zur sommerlichen Blüte. Doch die Komponistin argumentiert vor allem mit dem Metrum des 7/8 Taktes für ihr Stück.
„Für die Wahl des Metrums 7/8 gab es zwei Gründe. Zum einen wollte ich eine unerwartete Mischung von Traditionen schaffen, indem ich mich der metrischen Elemente der alten serbischen Volksmusiktradition bediente, um eine Figur aus der griechischen Mythologie darzustellen. Das 7/8-Metrum schien mir eine gute Wahl, um einen Kontrast zwischen der Welt (Isochronie) und der Unterwelt (Nicht-Isochronie) zu schaffen, in die sich Persephone nach der Ernte zurückzieht, aber auch, um die alten Agrarkulte der landwirtschaftlichen Gemeinschaften musikalisch darzustellen.“[9]

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Christian Mason zitiert und vertont in Eternity in an hour die eröffnende Strophe aus William Blakes Gedicht Auguries of Innocence von 1803, das postum 1863 veröffentlicht wurde. Mason komponiert mit dem literarischen Material ein ebenso dramatisch schreitendes wie farbig erzählendes Orchesterstück, das dem Paradox von Ewigkeit in einer kurzen Dauer innerhalb von 16 Minuten nachgeht. Diese Programmatik ist keinesfalls eine komische Kunst, wie es in der Anmoderation von Pöllmann klingen könnte. Vielmehr werden in der englischen Literatur mehrfach Formulierungen aus dem Gedicht als populäres Wissen zitiert und Masons elaborierte Komposition kann im englischsprachigen Raum als ebenso „serious“ wie „romantic“ gelten.
„o see a World in a Grain of Sand
And a Heaven in a Wild Flower
Hold Infinity in the palm of your hand
And Eternity in an hour“[10] 

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Die poetische Erzählung der Auguries of Innocence von Blake wird von Mason bis zum Rascheln des Sandes und tänzerischen Passagen, die sich aus der Unendlichkeit in der Handfläche mit dunklen Bläserakkorden hörbar machen, bis zum Gezwitscher in den Flöten in Musik modelliert. „A Robin Red breast in a Cage/Puts all Heaven in a Rage/A Dove house filld with Doves and Pigeons/Shudders Hell thro all its regions”. Eternity in an hour dockt an eine paradoxe Welterzählung der Unendlichkeit und Ewigkeit im Kleinen an. Die Unendlichkeit und Ewigkeit im Kleinen – der ganze Himmel in Rage wegen einer Rotkehlchenbrust – in der Literatur um 1800 haben insbesondere Gunnar Schmidt und Marianne Schuller in ihren Mikrologien erforscht.[11] Blakes Gedicht wird ebenso poetisch-literarisch formuliert, wie mit den knappen Versen als Wissen ausgestellt. Doch anders als Margareta Ferek-Petrić befragt Christian Mason sein Material für die Frage nach Zeit und Ewigkeit in einer Formulierung des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht. Vielmehr bestätigt seine Musik eine nicht nur paradoxe, sondern problematische Wissensformulierung. Verführerisch und für das Orchester herausfordernd klingt Eternity in an hour schön. Es erinnert vielleicht gar an eine sinfonische Tondichtung[12] des 20. Jahrhunderts, aber soll sie für das 21. Jahrhundert fortgeschrieben werden?

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Ljubljana24 für 24 Streicher von Márton Illés lässt sich mit seinem „primordialen Klangraum“ als Klangforschung beschreiben. Einerseits wurde das Streichkonzert vom Slowenischen Philharmonischen Streichorchester in Ljubljana als zeitgenössische Interpretation der 6 Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach in Auftrag gegeben. Andererseits sucht Márton Illés nach erweiterten Klangformen. Darin erweist er sich nicht zuletzt als Schüler des kürzlich verstorbenen Wolfgang Rihm.[13] Er arbeitet selbst als Konzertpianist, Dirigent und Komponist. Ljubljana24 wurde am 28. November 2024 vom Münchner Kammerorchester unter der Leitung von Bas Wiegers uraufgeführt. Wegen Krankheit musste Enno Poppe das Dirigat von Bas Wiegers übernehmen. Das musikalische Material der Brandenburgischen Konzerte wird von Illés hinsichtlich seiner Klangmodi erforscht und verwandelt. Dafür werden insbesondere erweiterte Spielpraktiken der Streicher verwendet.

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Die 24 Streicher des Rundfunk-Sinfonieorchesters spielen unter der Leitung von Enno Poppe das Streichkonzert im 21. Jahrhundert nicht ohne Witz. Womit durchaus an die Brandenburgischen Konzerte, die oft von Radiohörern als Ohrwürmer wahrgenommen werden, angeknüpft wird. Denn Johann Sebastian Bach wollte in seiner Widmung nicht nur den zeitgenössischen „Geschmack“ des Markgrafen von Brandenburg wecken, vielmehr entwickelte er für die kammermusikalischen Hoforchester zugleich neuartige Spielweisen mit solistischen Einfällen, die ebenfalls witzig oder geistvoll gehört werden können. Bach komponierte in seinen Konzerten ebenfalls einen Klangraum, der neuartig war. Márton Illés Ljubljana24 klingt anders, doch die Spuren Bachs können noch vernommen werden. Das lässt sich auf ultraschall berlin 2025 nachhören.

Torsten Flüh

Maria Radutu, Klavier
Rundfunk-Sinfonieorchester
Enno Poppe, Leitung
im Rundfunk:
radio 3 vom rbb: 16. Februar 2025, 20:03 Uhr, radio3 Konzert 


[1] Zum ICC siehe: Torsten Flüh: Die Raummaschine. Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2021.

[2] Siehe u.a. Siehe Torsten Flüh: Über sinnliche Spektren. Ensemble BERLIN PIANOPERCUSSION spielt Spektralmusik im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 21, 2013 22:36. (PDF)

[3] Margareta Ferek-Petrić: The Orgy of Oxymorons. In: ultraschall berlin: Maria Radutu // RSB // Enno Poppe. 16. Januar 2025.

[4] Zur Rhapsody in Blue und Einsamkeit siehe: Torsten Flüh: Tradition und Frische. The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. September 2024.

Siehe auch: Torsten Flüh: Zerspringende Identitäten. Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2023.

[5] Margareta Ferek-Petrić: The … [wie Anm. 3]

[6] Ebenda.

[7] Siehe zu Baukasten auch: Torsten Flüh: …

[8] Misha Cvijović: Lica Persefone. In: ultraschall … [wie Anm. 3]

[9] Ebenda.

[10] Christian Mason: Eternity in an hour. In: Ebenda.

[11] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003.
Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[12] Zur sinfonischen Tondichtung Alpensinfonie siehe: Torsten Flüh: Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch. Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. September 2023.

[13] Zu Wolfgang Rihm siehe: Torsten Flüh: In Schriften lesen. Zur Frage der Schrift und der Musik Sir Simon Rattle dirigiert Lutosławski, Mahler, Rihm und Janáček mit den Berliner Philharmonikern. (9. September 2013)

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