Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Quilombismo – Welt – Pluriversum

Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Zur Wiedereröffnung des HKW in der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Ausstellung und Freiluftkonzert

Welt macht jetzt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im HKW. Bona, wie ihn viele im Berliner Bezirk Wedding nennen, wo er 2009 SAVVY CONTEMORARY gründete, bald ins aufstrebende Kulturquartier silent green zog und er bis zu seiner Berufung zum Intendanten des HKW in einem Brutalismus-Bau an der Reinickendorfer Straße kuratierte[1], ist jetzt, wie Claudia Roth in ihrer Eröffnungsrede betonte, „aus der Unabhängigkeit von Savvy herausgetreten und in die staatlich geförderte Kultur eingetreten“[2]. Die Welt ist eine andere geworden. Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hatte schon bei seiner Vorstellung des neuen HKW-Teams am 14. März mutig  und lässig dazu aufgerufen, das Substantiv world zum Verb zu machen: „to unworld, to world, to reworld“. Das Universum wurde von ihm zum Pluriversum erklärt.[3]

Fannie Lou Hamer Spiegelteich – Semra Ertan Garten – Pavillon raumlaborberlin

Am 2. Juni nachmittags um 16:30 Uhr hatte sich eine noch eher kleine Schar vor dem Eingang des HKW versammelt, um einer afrikanischen Zeremonie mit Wasser, elektrischen Teelichtern, einem weißen Granulat und geheimnisvollen Ornamenten beizuwohnen. Zugleich begann damit das neue Jahr nach dem nigerianischen Kalender der Yoruba. Fernsehteams und Fotograf*innen waren anwesend. Freund*innen, Künstler-Freund*innen wie Ulrike Ottinger und queere Afrika-Aktivist*innen wie Mahide Lein waren gekommen, bevor die offiziellen Reden der Kulturstaatsministerin, des neuen Intendanten und weiteren Redner*innen gehalten werden sollten. Mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde zugleich die Ausstellung O Quilombismo eröffnet. Auf der Dachterrasse spielte abends der kongolesische, in Frankreich lebende Sänger Awilo Longomba ein umjubeltes Konzert mit einem ironischen Berlin-Josefine-Baker-Zitat. Zwei Tänzer*innen von Longomba tanzten in Bananen-Röcken auf der Bühne.

Itō Noe Eingang

Die Koinzidenz der Bühnenshow mit den mondänen Auftritten von Josefine Baker auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor 1926 und ihrem Burlesque-Auftritt mit Bananen[4] war gewiss kaum jemandem im rhythmisch tanzenden, überwiegend jungen Publikum bewusst. Vielleicht spielte Awilo Longomba auf Baker in seinem Song an, was sich indessen nicht so genau verstehen ließ. Eine „Pluralität der Kulturen“ und die „Zukunft der Wissenschaft“ sollen nach der Eröffnungsrede Setzen wir unsere eigenen Akzente! von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Programm des HKW bestimmen.[5] Ndikung, der in Biotechnik über Leukämie an der Technischen Universität Berlin 2006 promoviert wurde und die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, kennt auch die Wissenschaften und ihre Wissensverfahren in den Naturwissenschaften. Kulturen und Wissenschaften generieren Wechselwirkungen, die politisch gerne noch separiert werden. Eine Kulturstaatsministerin des Bundes gibt es noch nicht lange in Deutschland. Und das Bundeswirtschaftsministerium heißt seit der aktuellen Bundesregierung Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz!

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Gegenüber seinem Vorgänger und einstigem Goethe Institut-Mitarbeiter Bernd Scherer als Intendant des HKW ist der Posten für Ndikung weitaus politischer geworden. Die Debatten um Kulturen und Wissenschaften, Geschichten und Künste, Politiken und Erbe haben sich zugespitzt. Wie Claudia Roth in ihrer sehr persönlich gehaltenen Rede mitteilte, schrieb Ndikung vor knapp zehn Jahren seiner Mutter, dass er die Wissenschaften („sciences“) aufgegeben habe. Doch als Intendant befindet er sich nun mitten in den Debatten um Wissenschaften und Kulturen:
„Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie und zahlreiche Umweltkatastrophen haben gezeigt, wie begrenzt die uns bekannten Wissenschaften sind. Die Zukunft der Wissenschaft lässt sich daher nur aus ihrer Geschichte heraus verstehen, und diese Geschichte ist eng mit der Erfindung der Moderne und ihrem nahen Verwandten, dem Kapitalismus, verbunden. Sie ging auch einher mit dem Kolonialismus, einem wissenschaftlich verbrämten Rassismus und der Diskriminierung von Frauen. Welche alternativen – für den Menschen wie die Natur gerechteren – Wissenschaften gibt es und wie kann man ihren Erkenntnissen Raum verschaffen?“[6]    

Miriam Makeba Auditorium, 14. März 2023

Bernd Scherer versuchte, die Debatten um die Welt und die Kulturen im Anthropozän-Projekt zu bündeln.[7] Das Zeitalter des Menschen und seine Industrialisierung hatte alarmierende Klimaspuren hinterlassen, was um 2014 keinesfalls dazu führte, Wirtschaft und Klimaschutz in einem Bundesministerium zu bearbeiten. Lexikalisch erwies sich das Anthropozän als ein neuer Begriff, der kaum verbreitet war. Der unablässige Verbrauch der Ressourcen der Erde kündigte das Ende der Welt, wie wir sie kannten, an. Die Fakten über den Verbrauch der Ressourcen änderten wenig. Kaum zehn Jahre später spricht Ndikung von der Welt im Plural – „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ –, womit ein entschiedener Perspektivwechsel vollzogen wird:
„Wir brauchen Kraft und Inspiration für die Suche nach Antworten auf die virulente Fragen, was mir der Welt zu tun ist, und wissen: Wir dürfen nicht müde werden, sie zu stellen. Sie laut zu stellen.
Denn diese Welten sind unsere, for better or worse.“[8]   

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Gegenüber dem Philosophen und Kulturmanager Scherer knüpft Ndikung an einen Diskurs der Praxeologie an, wenn er formuliert: „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ Das kulturelle und historische Erbe der Deutschen wurde denn auch wie Skylla und Charypdis von der Kulturstaatsministerin rhetorisch aufgebaut. Was sich leicht und flockig als Welten und Kulturen formulieren lässt, wird zu einer Gefahr, wenn gleichwertige Welten aufeinanderprallen. Roth wünschte sich ein „modernes Deutschland“ als „Einwanderungs- und Erinnerungsland()“. „Kurz: … eine() Kulturnation, die diesen Namen verdient.“[9] Als Intendant des Hauses der Kulturen der Welt muss Ndikung nun zwischen der Einwanderung aus vielen, heute islamisch geprägten Ländern Afrikas und der Erinnerung an die Shoa geradezu bundespolitisch navigieren. Ndikungs in häufigen Anzugswechseln zwischen Rosa, Blau und Schwarz performte, anerkennenswerte Lässigkeit im Unterschied zum Understatement eines Yamamoto-Schwarz ist erfrischend und gefahrvoll.

Prof Dr Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Staatsministerin Claudia Roth, Acts of Opening Again: Eine Choreografie der Konvivialität, Haus der Kulturen der Welt (HKW), Les Nana benz Terasse, © Marvin Systermans/HKW (Ausschnitt)

Das HKW wurde unter dem Namen „Kongresshalle“ als Geschenk der amerikanischen Regierung zur Interbau im Hansaviertel 1957 den Ideen und der Lebenspraxis Benjamin Franklins gewidmet. Die erst kürzlich restaurierten Widmungsinschriften auf Englisch und Deutsch werden nun durch Texte von Erna Brodber, Saša Stanišič, Ken Bugul, Hinemoana Baker und anderen auf farbigen Plexiglasplatten kontrastiert. Das Geschenk, englisch gift, war immer ambig. Die US-Regierung mit John Foster Dulles als Außenminister in der Regierung von Dwight D. Eisenhower und Richard Nixon als Vizepräsident war in eine ganze Reihe von Konflikten verstrickt. Allerdings stand für John Foster Dulles vor allem die Gefahr kommunistischer Regierungen in Nordafrika im Blickfeld. Die Institutionen der Moderne wie dem Museum gilt Hinemoana Bakers Kritik, die seit 2015 in Berlin lebt und väterlicherseits Maori-Angehörige ist.
„We’re carved into sky, born into museums. Marched into land, old money. We are layers and slayers and everywhere, all. Don’t ask me to speak for the nations, we shift the hate with the light from our fascinators.”
(Wir sind in den Himmel gemeißelt, in Museen hineingeboren. Ins Land marschiert, altes Geld. Wir sind Schichten und Jäger und überall, alle. Bitten Sie mich nicht, für die Nationen zu sprechen, wir vertreiben den Hass mit dem Licht unserer Faszinatoren.)

Alberto Pitta

Eine Reihe von Umbenennungen zur Wiedereröffnung des Hauses lässt einen Bruch mit seiner Geschichte erkennen: Itō Noe Eingang, Sylvia Wynter Foyer, Mrinalini Mukerjee Halle, Hedwig Dohm Eingang, Paulette Nardal Terrasse, Angie Stardust Foyer, Lili Elbe Garten, Anna Seghers Garten etc. und nicht zuletzt das Miriam Makeba Auditorium. Wohl allein die Magnus Hirschfeld Bar hieß schon vor dem Wechsel so. Das ist eine ziemlich plurale, feministische Raumverteilung zwischen der Frauenaktivistin Hedwig Dohm, der dänischen Transfrau Lili Elbe, der japanischen Feministin und Anarchistin Itō Noe, der jamaikanischen Schriftstellerin und Philosophin Sylvia Wynter, der indischen Bildhauerin Mrinalini Mukerjee, der südafrikanischen Sängerin, Komponistin, Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Miriam Makeba u.a.m. Die durch (weiße) Männer konstruierte Kongresshalle mit ihrer Benjamin Franklin-Widmung erhält mit den Namen ihrer Räume eine feministisch-diverse Widmung und Geschichte. Allein Magnus Hirschfeld als weißer, schwuler Mann, „jüdisch-deutscher Arzt, Sexualwissenschaftler, Empiriker und Sozialist“ bleibt in das Haus eingeschrieben:
„2015 nach Magnus Hirschfeld benannt, bewahrt die Magnus Hirschfeld Bar dessen zukunftsweisendes Erbe und wird künftig vom angrenzenden Lilie Elbe Garten ergänzt.“[10]      

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Die Ausstellung O Quilombismo führt wiederum einen nicht ganz neuen, aber in Deutschland zuvor kaum verwendeten Begriff von gesellschaftlichem Handeln ein, den Abdias do Nascimento 1980 als eine „Afro-Brazilian Political Alternative“ beschrieben hat. 2019 wurde in Sao Paulo postum eine größere Dokumentensammlung zum Quilombismo aufgelegt.[11] Ndikung hat seinem Vorwort eine längere Passage aus diesem Text vorausgeschickt. Das ist nicht ganz einfach zu lesen, weil die Leser*innen auf diese Weise direkt in die Begriffsbildung aus der Brasilianischen Sklaverei-Geschichte hineingestoßen werden. Nascimento formuliert den Begriff neu, um ein Gesellschaftsmodell zu konstruieren. „Quilombo“ bedeute keinesfalls „nicht entflohener Sklave“, vielmehr bedeute es „brüderliche und freie Wiedervereinigung oder Begegnung“.[12]
„Die quilombistische Gesellschaft verkörpert ein hochentwickeltes Stadium des soziopolitischen und menschlichen Fortschreitens im Sinne eines wirtschaftlichen Egalitarismus.“[13]

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Mit O Quilombismo vollzieht das HKW unter seinem neuen Intendanten eine Geste der Revolution. So zitiert Ndikung aus dem Manuskript Black Metamorphosis: New Natives in a New World von Sylvia Wynter als eine „Spirale … der Geschichte des Quilombismo“. Geschichte wird von ihm als Prozess von Häutungen formuliert. „Durch ihre Häutungen wird die Geschichte aufgefrischt, neu justiert, regeneriert und verjüngt, und gewinnt so stets einen weiteren Anfang, ein weiteres Ende hinzu.“[14] Das Häutungsparadigma steht jenem einer Erinnerungskultur an die Shoa vielleicht nicht entgegen, denn auch diese hat sich in Deutschland über einen längeren Zeitraum entwickeln müssen, aber es greift eine hegemoniale Geschichtsschreibung herrschender Klassen und Staaten an. Die 1928 in Holguin, Kuba, geborene jamaikanische Schriftstellerin Sylvia Wynter lebt als Professor Emerita an der Stanford University in Kalifornien. Sie war Vorsitzende für Afro-American Studies und kritisiert die „kulturelle Kolonisierung“.
„Jede Rückführung, ob symbolisch oder tatsächlich, war ein schwerer Schlag für die große kulturelle Mission der Revolution. […] Jedes Entkommen, jede Flucht war eine Form von Maroonage, diese Suche nach einem freien Ort, von dem aus die fortwährende Revolte gegen die kulturelle Kolonisierung seitens der unentwegt produktiven Bourgeoisie geführt werden konnte, die Amerika nach ihrem Abbild zu entwerfen suchte.“[15]

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Der von Sylvia Wynter verwendete Begriff der Maroonage kommt aus dem Spanischen von cimarron für entlaufenes Vieh, das in der Freiheit der Wildnis lebt und wird ebenso für Fluchtbemühungen von versklavten Afrikanern gebraucht. Insofern geht es Wynter um ein positives Verständnis von Flucht als ein ursprüngliches Recht auf Flucht. Wynter schreibt und argumentiert auf poetische Weise. Die Geschichte der Sklaverei in Brasilien, Jamaika wie Amerika schimmert deutlich als immer noch zu wenig bearbeitetes Thema programmatisch in der Ausstellung durch.[16] Freiheit artikuliert sich auch in den großformatigen, bunten, überschwänglich bedruckten Stofftüchern von Alberto Pitta, der 1961 in Salvador de Bahia geboren wurde und weiterhin dort lebt. Er leistet damit „einen wichtigen Beitrag zur afro-bahianischen Ästhetik, die mit Stickmotiven, spirituellen Symbolen der diasporischen Candomblé-Religion und Dokumentarfotografie dem Karneval ein ganz eigenes Gepräge  gibt. Nicht von Ungefähr würdigen Pittas Stoffe oft afro-bahianische Meister wie den Künstler und Candomblé-Priester Meister Didi.“[17]    

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Es ist ein Feuerwerk der visuellen Kulturen, das quasi überall im Haus mit der Ausstellung entfacht wird. Die Ausstellung erfordert allerdings auch das Handbuch, um die Skulpturen, Bilder, Videos, Stoffe näher erschließen zu können. Das günstige Handbuch in englischer und deutscher Version ist mit viel Sachverstand und Engagement zusammengestellt. Denn indigene Visualisierungen funktionieren häufig auf andere Weisen als die europäischen. In der Mrinalini Mukerjee Halle dominiert geradezu eine Art monumentaler Schlangenhahn Piwuchen (2023) von Bernardo Oyarzún den Raum.
„Im Kontext des Widerstandes der indigenen Mapuche-Kultur („Menschen der Erde“) in Chile und Argentinien thematisiert Bernardo Oyarzún in seiner Arbeit Erfahrungen mit Rassismus. Der Künstler, der selbst von den Mapuche abstammt, reaktiviert seit den 1990 Jahren ihre populären Praktiken und Ästhetiken, um das in ihnen geborgene Wissen zu bewahren – sei es in Handwerk, Erzählungen, kulinarischen Fertigkeiten, Ritualen oder Festivitäten. In Kilombo: Piwuchen nimmt er die mythologische  Gestaltwandler-Figur Piwuchen die allegorische Form eines Paradewagens an, wie er für die Welt des Karnevals typisch ist.“[18]

Bernardo Oyarzún: Kilombo: Piwuchen (2023)

Die Geschichten und Erzählungen zu den visuellen Installationen wie Transatlantic Stargate (2023) von Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic sind unerlässlich. In der Ausstellungshalle sind Arbeiten oft mehr oder weniger direkt für O Quilombismo angefertigt. Indigo-gefärbte Textilien mit unterschiedlichen Mustern lassen den aus Panama stammenden Guzman mit der in Jugoslawien geborenen Jankovic zu einem transatlantischen Projekt aufbrechen.
„Für O Quilombismo präsentieren sie ein neues Arrangement eigens hergestellter Textilien, die in der traditionellen Indigo-Blockdrucktechnik Ajtakh gefärbt wurden. Wie schon bei früheren Werken kooperieren Guzman und Jankovic mit dem Team von Sufiyan Ismail Khatri im indischen Ajrakhpur. Das 4.000 Jahre alte Ajrakh ist mehr als eine Drucktechnik; im Geiste des Quilombismo ist es eine Lebens- und Lernweise, die über Generationen hinweg mündlich weitergegeben wurde.“[19]

Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic: Transatlantic Stargate (2023)

Quilombismo zeigt sich in der Ausstellung als eine äußerst vielschichtige Strategie, die Queerness miteinbezieht. In der Magnus Hirschfeld Bar treffen wir auf den international agierenden philippinischen Tänzer, Performer und Aktivisten Joshua Serafin. Zwar wird die Performance VOID überwiegend nur als Film gezeigt, aber am 23. Juni soll sie live aufgeführt werden. Der spanische Kolonialismus des 17. Jahrhunderts hat mit der katholischen Mission und seinem Binarismus von Adam und Eva nach Serafin eine indigene Queerness zerstört.
„Serafins Beitrag zu O Quilombismo ist der Film VOID, Teil der Trilogie Cosmological Gangbang (2021-2024), der auf eine totale Nicht-Präsenz Bezug nimmt – und das damit verbundene Potenzial, etwas – was auch immer – zu werden: eine Situation, in der sich queere Subjektivitäten wiederfinden, wenn sie sich mit ihrer Tilgung aus Geschichte und Zukunft konfrontiert sehen. VOID ist eine Dualität: eine nicht-binäre, geisterhafte Gottheit mit Braunem Körper und alternativer Identität, sowie ihre eigene Repräsentation oder deren Fehlen. Sie bricht auf, findet Stärke in sich selbst und bietet Zuflucht in der indigenen Welt der Vorfahren und ihrer Queerness. Passender Modus hierfür ist der Mythos, der für die fluiden, vorkolonialen philippinischen Vorstellungen der Geschlechter charakteristisch ist, in einer mündlich über Generationen hinweg überlieferten Spiritualität.“[20]

Joshua Serafin: VOID (2023)

Das Handbuch in Englisch und Deutsch zur Ausstellung O Quilombismo ist nach dem Eröffnungswochenende vergriffen. Das ist erfreulich, weil es das große und intensive Interesse am – neuen – HKW zeigt. Aktuell wird das Handbuch bis zum Eintreffen der 2. Auflage als PDF zur Verfügung gestellt. Ein Ausstellungsbesuch hat immer mit Wissensformationen zu tun, die wir gemeinhin Interesse nennen. Allerdings werden meistens Kataloge wie zuletzt bei Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit publiziert, die das Vorwissen nicht leichter erweiterbar machen. Oft wird die visuelle Wahrnehmung schon als Wissen verkannt. Mit der Ausstellung und dem Handbuch ist es dem HKW-Team um Cosmin Costinaş und Paz Guevara gelungen, das Nichtwissen als eine Barriere durchlässig zu machen und Interesse zu wecken, indem sie das „Publikum“ dazu einladen, „sich ein Bild vom HKW als einem konvivalen, kollektiv organisierten und pluriversalen Haus zu machen. O Quilombismo folgt in seiner Komposition den Rhythmen der ästhetischen Welten, die das Projekt versammelt.“[21]

Olu Oguibe: DDR: Decarbonize, Decolonize, Rehabilitate (2023)

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat mit dem Eröffnungswochenende die Rede vom Pluriversum als eine Praxis von Vielfalt in der Welt eindrucksvoll vorstellen können. Vielleicht haben am Eröffnungstag einige Besucher*innen das Handbuch nur genommen, weil es kostenlos auslag. Entscheidend ist allerdings, ob sie sich von den Texten begeistern lassen. Die geradezu homerischen Gefahren – Skylla und Charybdis – der Intendanz sind nicht zuletzt deshalb von der Kulturstaatsministerin angesprochen worden, weil Kulturpolitik an politischer Brisanz in einer pluralen Welt gewonnen hat, wie der BDS-Skandal um die documenta fifteen im Sommer 2022 gezeigt hat. Die Hegemonie der „westlichen“ von amerikanischen Konzernen zwischen Warner Bros. Discovery, Netflix oder Amazon dominierten Kultur, ganz zu schweigen von einer kulturdeutschen Akademismus, steht exemplarisch mit O Quilombismo wenigstens zur Debatte.

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Auf der Paulette Nardal Terrasse waren nicht nur die Fahnen des Dichters und bildenden Künstlers Olu Oguibe mit Anspielung auf das deutsche Schwarz, Rot, Gold und Grün mit den Buchstaben D, D, R gehisst. In der Nähe zum Kanzleramt und dem Regierungsviertel konnte diese Buchstabenfolge für Irritationen sorgen. Doch „Oguibes Fahnen (…) mit den Buchstaben DDR bestickt, die hier für Dekarbonisieren, Dekolonisieren, Reparieren (Rückführen oder Rehabilitieren) stehen“[22], verweisen einmal mehr auf die Vieldeutigkeit und die Praxis der Benennung als Strategie. Unter den Fahnen von Olu Oguibe fand zur Musik von Awila Longomba am Freitagabend eine erfrischend wilde Party statt, in der sich die Debatten und Wissensformationen rauschhaft verflüchtigten.

Torsten Flüh

Haus der Kulturen der Welt
Ausstellung
O Quilombismo
Vom Widerstand
und Beharren.
Von Flucht als Angriff.
Von alternativen
demokratisch-
egalitären politischen
Philosophien
bis 17. September 2023
Mi.-Mo. 12:00-19:00 Uhr
Tickets: 8 €/6 € ermäßigt.

Beim Kauf einer Eintrittskarte
zur Ausstellung ist das Handbuch
im Preis inbegriffen.

Freier Eintritt immer montags
und jeden ersten Sonntag im Monat
(Museumsmontag Berlin)

Joshua Serafin
VOID
Live-Performance
23. Juni 2023


[1] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[2] Bundesregierung: Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Wiedereröffnung des Hauses der Kulturen der Welt unter dem neuen Intendanten Ndikung. Freitag, 2. Juni 2023.

[3] Anm. der Berichterstatter hatte die Pressekonferenz am 14. März 2023 im Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt besucht, kam aber nicht dazu, eine Besprechung zu schreiben.

[4] Zu Josephine Baker in Berlin siehe: Torsten Flüh: Macht Euch sichtbar! Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020 Begegnungen und Verbindungen – sichtbar werden – sichtbar bleiben in der P120. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2020.

[5] Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Setzen wir unsere eigenen Akzente! In: Eröffnungsprogramm 2.- 4. Juni 2023, S. 1. (Zeitungsformat).

[6] Ebenda.

[7] Zum Anthropozän-Projekt siehe: Torsten Flüh: Die Erde, die Fakten und der Mensch – Zum Anthropozän-Projekt im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Oktober 2014. (als PDF auf Publikationen)

[8] Bonaventure …: Setzen … (wie Anm. 5).

[9] Bundesregierung: Rede … [wie Anm. 2].

[10] HKW: Andere Geschichten schreiben: Zur Benennung der Räume am HKW. In: Eröffnungsprogramm … [wie Anm. 5] S. 7.

[11] Abdias do Nascimento: O Quilombismo. Documentos de uma Militância Pan-Africanista, 3a. ed. Com textos de Kabengele Munanga e Valdecir Nascimento. São Paulo: Editora Perspectiva / IPEAFRO, 2019.

[12] Zitiert nach Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: O Quilombismo. Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien. In: HKW: O Quilombismo. Berlin: HKW, 2023, S. 6.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 7.

[15] Zitiert nach ebenda.

[16] Zum Thema von Sklaverei und Rassismus siehe auch: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[17] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 45.

[18] Ebenda S. 104.

[19] Ebenda S. 108.

[20] Ebenda S. 138.

[21] Cosmin Costinaş, Paz Guevara: Ein Gang durch die Ausstellung O Quilombismo. In: Ebenda S. 20.

[22] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 240.

Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit

Zoom – Übertragung – Vorhang

Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit

Zur Ausstellung Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit in der Gemäldegalerie

Im März und April 2023 erschien plötzlich der junge König Balthasar in einem prächtig ausgemalten grünen Samtmantel eine goldene Schale in der rechten Hand haltend auf vielen Plakaten überall in der Stadt. Er richtete seinen konzentrierten Blick auf etwas, was nicht zu sehen war. Seine Lippen umspielte ein leichtes Lächeln, wenn man genau hinschaute. Das kurze, lockige, schwarze Haar über der bräunlichen Haut des Kopfes war akkurat geschnitten. Vielleicht war Balthasar noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Dass dieser junge, hübsche Mann kaum aus unserer Zeit sein konnte, wurde nicht nur durch das Gewand und die Malweise, sondern mit dem Schriftzug HUGO VAN DER GOES und kleiner ZWISCHEN SCHMERZ UND SELIGKEIT signalisiert.

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Dem Gemälde, das in der Stadt per Zoom für die Werbung zur Ausstellung im Ausschnitt vergrößert worden war, sieht man an, dass die portraitierten, individuellen Züge des jungen Mannes ein reales Vorbild gehabt haben müssen. Der farbige der heiligen drei Könige auf dem weltberühmten Monforte-Altar der Gemäldegalerie zu Berlin mit dem Titel „Anbetung der Könige“ muss existiert haben. Der Zoom als Ausschnitts- und Vergrößerungsfahren lässt den jungen Mann mit den einzeln gemalten Haaren allererst als Star des Gemäldes selbst sichtbar werden. In der Komposition des Gemäldes steht er am rechten Rand fast unscheinbar, während die älteren, weißen Könige schon vor dem Neugeborenen im Schoß der Mutter knien und es anbeten. Der Detailreichtum seiner Darstellung machte für den Kunsthistoriker und späteren Direktor der Gemäldegalerie Max J. Friedländer zu einem Werk Hugo van der Goes‘.

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Hugo van der Goes und sein Werk werden um 1900 zu einem Effekt der neuartigen Praxis des Vergleichs von Details in der Kunstwissenschaft. So kommt denn auch der Kurator der Berliner Ausstellung Stephan Kemperdick in seiner akademisch gehaltenen Diskussion der Chronologie des Werks zu dem Schluss, dass „(a)lle Werke Hugos (…) nicht allein mit einer in den Niederlanden zuvor unerreichten Monumentalität auf(warteten), sondern ebenso mit einer höchst prägnanten, mitunter geradezu detailbesessenen Ausarbeitung und einer einzigartigen Erfindungskraft im Ganzen wie in den Einzelheiten“.[1] Hauptargument für die Chronologie beispielsweise vom Florentiner Pontinari-Altar und dem Berliner Monforte-Altar werden die Details, die erst nach einer Restaurierung sichtbar wurden. Denn „die große Berliner Tafel (sei) dem Florentiner Triptychon in Wirklichkeit nahe verwandt (…), und zwar sowohl was Gesichtstypen und Gewandfalten als auch das farbige Helldunkel oder die malerische Durcharbeitung der Details betrifft“.[2]

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Stephan Kemperdick verwendet viel Sorgfalt auf das Detail, weil sich erst dadurch das Werk Hugo van der Goes generiert. Er hat seine Werke nicht signiert. Nur wenige gelten als erhalten. Mit der Signatur als Abschluss eines selbst geschaffenen Bildes in der Malerei schreibt der Künstler dem Bild seinen Namen ein. Doch das Fehlen der Signatur auf den Bildern aus dem 15. Jahrhundert sorgt für „Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers“[3], der 1482/83 im Roode Kloster bei Brüssel gestorben sein soll. Durch den Brüsseler Bibliothekar Alphonse Wauters wird 1863 die handschriftliche Klosterchronik von Caspar Ofhuys aus den Jahren 1509/13 veröffentlicht, in der er von seinem Mitbruder und dessen Wahn wie Tod berichtete. Erstmals konkretisierte sich die Existenz des Malers im 19. Jahrhunderts. Seit den 1820er Jahren war es zu zahlreichen Zu- und Abschreibungen nicht zuletzt von zwölf Gemälden durch eine Monographie Alphonse Wauters gekommen, „von denen lediglich der Portinari-Altar seinen Platz zu Recht einnahm“[4].

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Die aktuelle Werbung für die Hugo van der Goes-Ausstellung in der Gemäldegalerie im Kulturforum zoomt Ausschnitte aus den Tafeln und Tüchern auf der zentralen LED-Tafel zu einer monumentalen Höhe von mehr als 2 Stockwerken. Der Ausschnitt von, nennen wir ihn noch einmal, Balthasar aus dem Monforte-Altar und dem nur 33,8 x 23 cm großen Sündenfall aus der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien werden, per Kamerafahrt nach oben geschoben. Eine Art Animation im Doppelsinn. Animiert werden Details, die seit den 1870er Jahren zur „Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst“ beitragen, wie es Carlo Ginzburg formuliert hat.[5] Hugo van der Goes und die das Detail feiernde Werbung verdanken sich der nach dem Kunsthistoriker Giovanni Morelli benannten Methode, woran Ginzburg erinnert. „Man solle (…) die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflusst sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Figuren, Händen und Füßen.“[6]         

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Das unbeabsichtigte Detail hat sich als Paradigma in der Kunstgeschichte und für den Kunsthistoriker wie Experten für Mittelalterliche Malerei ebenso wie Kurator für deutsche, niederländische und französische Malerei vor 1600 in der Gemäldegalerie Stephan Kemperdieck gehalten und wird in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt. „Gesichtstypen“ wie „Ährenbündel“[7] können als Details zur Argumentation für Herkunft wie Chronologie eines Werks eingesetzt werden. Wo die Grenze zwischen Künstler und seiner Werkstatt oder seinen Helfern im Roode Kloster verlaufen, lässt sich schwer verifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der halluzinatorische Wahnsinn Hugo van der Goes zu einem so entscheidenden Künstlermythos, dass der Neffe des Bibliothekars und Chronikherausgebers, der Maler Émile Wauters, das Gemälde 1872 La folie d’Hugues van der Goes malt und eine kunsthistorische Debatte u.a. mit Erwin Panofsky[8] und Max J. Friedländer zur Chronologie[9] entfacht.

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Über Hugo van der Goes weiß die Kunstgeschichte wenig. In der ersten niederländischen Kunstgeschichte von Karel van Mander, dem Schilder-Boeck von 1604, wird ein „seit langem schon verschwundenes Werk“ von ihm ausführlich beschrieben.[10] Deutlich über 100 Jahre nach seinem Tod geht er somit in das Format eines historiografischen Wissens von den Bildern ein. Bilder bekommen eine Geschichte und werden räumlich wie zeitlich verortet. Das ist im 17. gegenüber dem 15. Jahrhundert eine neuartige Betrachtungsweise. Albrecht Dürer hatte bereits 1520/21 die Niederlande bereist und Hugo van der Goes als „grosz maister“ in seinem Tagebuch erwähnt.[11] Da war Hugo ca. 40 Jahre tot. Dürers Reise diente auch seiner Generierung von durch Malerzünfte organisiertem praktischem Wissen in Malweisen wie Motiven. Denn das Zunftwesen des Spätmittelalters spielt in der Auswertung der „Schriftzeugnisse“ zu Hugo van der Goes eine wichtige Rolle. So heißt es im genalogischen wie mediävistischen Essay Hugo van der Goes in den Quellen, dass „die meisten Menschen im Spätmittelalter in einem komplexen Netz von gegenseitigen Mikrokrediten verstrickt“ gewesen wären.[12]

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Hugos Eintritt ins Roode Kloster und damit in den Augustinerorden als Novize und als zuvor in der Genter Zunft organisierter Maler-Meister wird in der Kunstgeschichte als individuelle, autonome Entscheidung formuliert. Weniger Beachtung hat offenbar bislang die Frage nach dem Organisationswechsel von der Zunft zum Orden gefunden. Die ausgewerteten Quellen legen „einen erfolgreichen und bestens vernetzten Künstler“ nahe, „der die Anerkennung der gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit genoss“.[13] Dagegen setzt die Kunstgeschichte mit der Morelli-Methode das unbeabsichtigte Detail als das das Individuum verratende Indiz voraus. Der Wechsel von der Zunft in den Orden wird allerdings zugleich zum theologisch-organisatorischen Problem und gefährdet die Ordens- wie Mönchsregeln, was sich mit der Chronik von Caspar Ofhuis entfalten lässt. Durch den fast schon identifikatorischen Streit um den Wahnsinn wurde das strukturell lebenspraktische Problem der Ordensregeln überlesen. Die Regel für das Klosterleben legte Augustinus von Hippo auf der Schwelle vom 4. zum 5. Jahrhundert schriftlich fest. Sie wird als Augustinusregel tradiert.[14]

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Dankenswerterweise wird die lateinische Textpassage des Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia im Katalog vermutlich erstmals alsmöglichst genaue Umsetzung des lateinischen Textes ins Deutsche“ zugänglich.[15] Der lateinische Text mit seinen stilistischen Eigenheiten wird nicht geglättet.[16]
Im Jahr des Herrn 1482 stirbt der Konverse Hugo, der hier seine Profess abgelegt hatte. Dieser war so berühmt in der Malkunst, dass diesseits der Berge keiner seinesgleichen, wie man sagte, in jener Zeit gefunden werden konnte. Wir waren zur gleichen Zeit Novizen, er und ich, der ich dies hier niederschreibe. Bei seiner Einkleidung und im Noviziat gestattete ihm Pater Prior Thomas sehr vieles, was die Unterhaltung der Weltlichen betrifft, allerdings aus guten Gründen, weil er unter den Weltlichen bedeutend gewesen war, was mehr zum Prunk dieser Welt führte als zum Pfad der Buße und Demut.[17]    

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Mit den ersten Sätzen der Passage formuliert Caspar Ofhuys ein Ordens- bzw. Ordnungsproblem in theologischer Hinsicht. Das Weltliche außerhalb der Klostermauern und das Geistliche der Klosterpraktiken werden von Ofhuys argumentativ gegeneinander in Stellung gebracht. Dabei geben die schriftlichen Quellen einen Hinweis darauf, dass Caspar „aus einer begüterten Brüsseler Familie“, der des Goldschmieds Jan van Ofhuys d. Ä.[18], mithin ebenfalls zünftig organisierten Familie entstammte. Doch Hugo unterwirft sich nicht restlos den geistlichen Ordnungsregeln, sondern der Abt des Klosters „gestattet ihm … sehr vieles“. Die Tagesabläufe im Kloster sind streng geregelt, wie z.B. früh morgentliche Gebete und gemeinsame Gesänge, die nicht zuletzt Giorgio Agamben im vierten Teil seines Homo Saccer-Projekt unter dem Titel Höchste Armut – Ordnungsregel und Lebensform erforscht hat.[19] Hugo hätte kaum noch Malen können, wenn er die Mönchspraktiken des Klosters eingehalten hätte. Stattdessen wird er nach Caspar „von vielen hohen Herrschaften und sogar von seiner Durchlaucht Erzherzog Maximilian besucht“.[20]

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Liest man Caspar Ofhuys Klosterchronik mit Agamben als einen Beitrag zur „Literaturform“ der „Mönchsregeln“[21], dann verschiebt sich der identifikatorische Blick auf Hugo, weil er lediglich zu einem Exemplum einer Krise der Mönchsregeln wird. Der Chronist und Verteidiger der Mönchsregeln berichtet von Hugos Wahnsinn, „weil Gott dies alles meiner Meinung nach erlaubte, …, … auch um uns zu belehren“.[22] Die Einhaltung der Mönchsregeln schützt nicht zuletzt vor Wahnsinn, lässt sich sagen. Zum Schlüsselbegriff für das Leben im Kloster wird die Demut (humilitas), welcher Hugo nicht gerecht werden konnte, weil er bereits berühmt und „erhöht“ worden war. Deshalb betont Caspar, dass „(a)ls der Bruder selbst dies begriffen (intelligens) hatte, übte er, sobald der genesen war große Demut (humiliavit), indem er freiwillig unser Refektorium verließ und demütig mit den Laien die Mahlzeiten zu sich nahm“.[23] (Unterstreichungen T.F.) Die zeitlich und hier ebenso räumlich genau eingeteilte Einnahme der Mahlzeiten von Mönchen und „Laien“ gibt einen Wink darauf, „dass das gesamte Leben des Mönchs von einer ebenso lückenlosen wie unerbittlichen Zeiteinteilung bestimmt war“[24], wie es Agamben formuliert hat.[25] „Das Zönobium ist also zunächst ein lückenloser Stundenplan des Daseins: Jedem Augenblick entspricht ein Offizium, sei es das des Gebets, der Lesung oder der Handarbeit.“[26]     

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Hugo van der Goes‘ Eintritt ins Kloster sorgt für nahezu chaotische Verhältnisse in der getakteten Lebenspraxis der Mönche. Sie macht die Mönche (fast) wahnsinnig, weil nun ständig Ausnahmen von der Regel geschaffen werden. Hugo kleidet sich nicht wie alle anderen Augustiner-Mönche – und noch der Augustinermönch Martin Luther –, er hält kaum den Zeitplan ein und bekommt auch noch ständig weltlichen Besuch, mit dem er zu Unzeiten spricht, isst und trinkt. Was womöglich gut für die Finanzen und die weltliche Reputation des Klosters ist, greift die Mönchsregeln zutiefst an. Dass das Malen eine Form der meditatio sein könnte wird von Caspar gar nicht erst erwähnt, stattdessen suchen Hugo nach Caspar „fantasiis et emaginationibus“ heim.[27] Dabei war es gerade Augustinus, der die meditatio als Lese- und Gedächtnispraxis nach Agamben ins Mönchsleben einführte.
„Bekanntlich verbreitet sich seit dem 4. Jahrhundert die Praxis des leisen Lesens, die Augustinus mit Erstaunen bei seinem Lehrer Ambrosius zur Kenntnis nimmt. »Wenn er las«, schreibt Augustinus (Conf., 6, 31), »glitten die Augen über die Seiten und das Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten«.“[28]

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Was der Kunstgeschichte und den Feuilletontiteln – Wirklich ein Genie im Wahnsinn? (Berliner Zeitung), Genie im Großformat (Süddeutsche) – heute als Anknüpfungspunkt zwischen Geniediskurs und Wahnsinnszweifel bei Hugo van der Goes zur Identifizierung eines Malerindividuums gilt, wird durch eine andere Leseweise der Klosterchronik ad absurdum geführt. Noch dem Spätmittelalter widerstrebte eine derartige Denkweise. Über den Wahnsinn Hugos wissen wir durch Caspar Ofhuys nicht mehr und nicht weniger, als dass er ihn präzise im Kontext der Mönchsregeln als Wissensfeld diskutiert wird. Obwohl Caspar eine Unterscheidung von „er“ und „ich“ einführt, richtet sich die Kritik auf eine den Mönchsregeln nicht konforme Lebensweise, die nur durch „große Demut“ geheilt werden kann. Die Kunstgeschichte als eine Disziplin des Individuums als Genie ignorierte geflissentlich die Forschung der Mediävistik. Der Katalog zur Ausstellung und die Ausstellung selbst verschieben nicht zuletzt mit der Präsentation der Handschrift die schwierige kunsthistorische Perspektive nur ein wenig. Quasi im letzten Ausstellungsraum trifft das fatale Wahnsinnsbild von Émile Wauters auf die Chronik, als hätten wir den Maler nun selbst vor Augen, von dem es weder ein Bild noch eine Signatur gibt.

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Die malende Hand Hugo van der Goes‘ lässt sich als Schnittstelle von Handwerk und Kunst bedenken. Produziert die Hand den Stil? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten, weil sie eine entscheidende für die Zu- und Abschreibungen der Gemälde im Werk gilt. Wir wissen wenig von der Hand im Spätmittelalter. Wie werden Malweisen mit der Hand praktisch eingeübt? Wie wird die Hand motorisch trainiert? Mittelalterliche Handschriften wie die Caspars folgen Regeln. Obwohl Hugo nach Caspar berühmt ist, signiert er seine Bilder nicht. Das Fehlen einer handschriftlichen Signatur im Zeitalter der illuminierten Handschriften gibt eher einen Wink darauf, dass Hugo van der Goes sich nicht als Individuum begreift. Wir kennen keine Signatur Hugos weder in Bildern noch in Dokumenten. Womöglich argumentiert Erik Eising in seinem Essay Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weydens auch deshalb mehr über „Motive“ und „Figuren“. Die Hand bleibt diskret und wird dann doch in Bezug auf einen Maler aus Hugos Umfeld explizit zum Argument der Herkunft zweier Gemälde:
„Eine Königsanbetung in New York (Kat. 23) kann derselben Hand wie die Tafel in Urbino zugeschrieben werden. Obwohl die Komposition gewisse Parallelen zu zwei von Hugo entworfenen Königanbetungen zeigt (Kat. 2, 24), reichen aber auch diese nicht, um den jungen Hugo in Joos an Wassenhoves Werkstatt zu lokalisieren.“[29]  

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Die Hand als Indizienparadigma in der Kunstgeschichte bleibt elastisch und wird kaum näher formuliert.[30] Sie entzieht sich in ihrer Komplexität einer Beschreibung, um genau deshalb „die auf geringfügige(n) und unwillkürliche(n) Merkmale(n) basierende Kenntnis vom Individuum“[31] zu generieren. Wir wissen heute beispielsweise durch das biometrische Passfoto, dass sich das Individuum datentechnisch erfassen lässt. Doch in der Kunstwissenschaft führt die Hand dennoch bislang zu keiner eindeutigen Zuschreibung von Gemälden oder Zeichnungen. Vielmehr bleibt die Hand immer in einem Bereich individuell-visuellen Wissens von Kunsthistoriker*innen, das sich sprachlich schwer erfassen lässt. Hinsichtlich der „einige(n) hundert niederländische(n) Zeichnungen des 15. Jahrhundert“, die bewahrt geblieben sind, bemerkt Stephanie Buck, dass keine „signiert“ sei. Genau deshalb kommt die Hand Hugos wiederum prominent zum Zuge:
„Zwei Zeichnungen haben sich in der Forschung als eigenhändige Werke von Hugo van der Goes durchgesetzt: Jacob und Rachel in Oxford (Kat. 6) und Christus am Kreuz in Windsor (Kat. 7.1).“[32]  

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Die Hand als heuristisches Werkzeug, um die Herkunft zu klären, gehört in der Kunstwissenschaft zum Feld des Geschlechts. Mit der Hand soll die Herkunft des Gemäldes wie der Zeichnungen geklärt werden. Für das 15. Jahrhundert als Schwellenzeit in den Niederlanden lässt sich zumindest praxeologisch sagen, dass die Hand sich möglicherweise ankündigt, gewissermaßen im Kommen ist, aber keinesfalls da ist. Die Grenzen zwischen Malerindividuum und Werkstatt bleiben unscharf. Doch gleichzeitig vermag Hugo van der Goes als Maler und Mönch, die Mönchsregeln zu sprengen. Gesprengt werden sie indessen nicht zuletzt durch Gespräche, Gerüchte, Empfehlungen, Schmeichelleien, kolportierten Geschichten, neuartigen Erzählungen. Und Caspar formuliert zugleich einen Zweifel an der Hand und ihrer Leistungsfähigkeit. Die Hand kommt ins Spiel, wenn der Glaube in Gott schwindet, wenn der Chronist schreibt:
„Was die Leiden der Seele betrifft, so weiß ich genau, dass sie dem erwähnten Konversen sehr zusetzten. Er sorgte sich nämlich sehr darum, wie er die Werke, die er malen sollte, zu Ende bringen sollte. Er hätte sie, wie es damals hieß, kaum in neun Jahren vollenden können.“[33]

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Möglicherweise gehört die manus scientia oder das Wissen von der Hand deshalb auch in einen exklusiven Bereich der Übertragung, wie sie nicht zuletzt in den christlichen Gemälden von Hugo van der Goes immer wieder dargestellt wird. Die beispielsweise des sogenannten Monforte-Altars ist eine geschlossene. Herrscherfiguren wie die Könige suchen das neugeborene Jesuskind nicht nur auf, sondern erkennen es als Macht über der von ihnen verkörperten Macht an. Sie wollen an der im Neugeborenen unschuldig dargestellten Macht teilhaben. Maria trägt als Mutter keine materielle Krone, aber eine immaterielle aus Gold gemalten Lichtstrahlen. Der erste König im Vordergrund hat seine Krone aus Pelz und Goldgeschmeide bereits zur Seite gelegt, um mit barem Haupt die Strahlen des Heiligenscheins, wie man sagt, empfangen zu können. Dieser Übertragungsvorgang wird als Altarbild ein großes Geheimnis, das nur an bestimmten Tagen des christlichen Jahres zu schauen gegeben wird, denn die Scharniere für die verdeckenden Altarflügel sind noch gut erhalten.

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Die Übertragung, des mit einem anderen Wort, Heiligen Geistes muss als erstrebenswerter, gleichwohl geheimnisvoller Vorgang auf einer Bühne in Szene gesetzt werden. Deshalb setzt sich mit Hugo van der Goes und seinem Umfeld eine Theatralisierung der Übertragungsszenen durch. Diese Übertragungsszene soll den Regeln entsprechend kniend in anbetender Haltung geschaut werden. Die Mönche, die Auftraggeber etc. sollen sich am besten Verhalten wie der bereits kniende König. Er ist in Haltung und Verhalten das zentrale Vorbild. Im Katalog heißt es unter anderem:
„Die Gestalten sind groß im Verhältnis zur Bildfläche, die sie in der Höhe beinahe ausfüllen. Eine bis dato unbekannte, den Eindruck von Monumentalität steigernde Perspektive wird vor allem beim König deutlich: Als stünden (besser: knieten, T. F.) wir unmittelbar vor ihm, blicken wir auf seine Füße hinab, sehen aber von seiner rechten Hand an alles in Untersicht, sodass seine Gestalt über unsere Köpfe aufzuragen scheint.“[34]

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Die Geburt Christi aus der Zeit von 1480, die Hugo van der Goes zugeschrieben wird, steigert in gewisser Weise die Theatralisierung im Modus einer Erfüllung der Heiligen Schrift bzw. des Alten Testaments. Zwei Propheten ziehen nunmehr allegorisch einen halbtransparenten Vorhang auf einer Stange zur Seite. Denn das Neue Testament, das mit der Geburt Christi in den Evangelien beginnt, generiert sich als Realisierung der Ankündigung des Messias. Die Vorhänge werden im 14. Jahrhundert zu einem verbreiteten Motiv der Gemälde, die das Schauen und Wissen einüben sollen.
„Erwin Panofsky deutet (die Propheten mit Vorhang) als Umsetzung einer im Mittelalter geläufigen Vorstellung, die Aurelius Augustinus so formulierte: „Das Alte Testament wird im Neuen enthüllt, im Alten siehst du das Neue [Testament] verhüllt“ (Enarrationes in Psalmos 105, 369). Hier enthüllen die Propheten selbst, was sie vorausgesagt haben, …“[35]    

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Theatralisierung erzeugt Emotionen, die im Verhaltensrepertoire der Menschen im Mittelalter eher neu waren. Ob sie sich Zwischen Schmerz und Seligkeit abspielten, wie die Ausstellung vorschlägt, wissen wir nicht. Wann, wo und durch welchen Maler sie zum Motiv werden, lässt sich schwer verifizieren. Der medial stark vernetzte Mensch des 21. Jahrhunderts hat andere Praktiken entwickelt, Emotionen hör- und sichtbar zu machen. Seligkeit gehört in vielen Gesellschaften nicht mehr zu einem der bevorzugten Gefühle. Zumindest hat der Gebrauch des Begriffs Seligkeit seit dem 17. Jahrhundert und dann noch einmal seit den 1950er Jahren rapide abgenommen.[36] Seligkeit als Versprechen und Empfinden ist selten geworden. Sie hatte womöglich auch weniger mit einem Gefühlsmoment als vielmehr mit der streng geregelten Lebensführung im Weltlichen wie im Kloster zu tun. Insofern wird der Ausstellungsbesuch in der Gemäldegalerie zu einer Entdeckungsreise in eine fremdgewordene Welt des niederländischen Spätmittelalters, in dem Künstlernamen selbst als Promis, Signaturen wie Autogramme und die Hand eine geringe Rolle spielten.

Torsten Flüh

Gemäldegalerie
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit

bis 16. Juli 2023

Katalog zur Ausstellung:
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit

Hg. Erik Eising, Stephan KemperdickBeiträge von M. W. Ainsworth, T.-H. Borchert, S. Buck, L. Campbell, E. Capron, K. Dyballa, E. Eising, S. Kemperdick, B. Ridderbos, G. Wedekind u.a.
304 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
24 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3847-4
55,00 EUR0 (D) 


[1] Stephan Kemperdick: Hugo van der Goes. Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit. München: Hirmer, 2023, S. 17.

[2] Ebenda S. 15.

[3] Ebenda. S. 11.

[4] Ebenda S. 12.

[5] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. D/er Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kund und soziales Gedächtnis. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988, S. 78.

[6] Ebenda S. 79-80. 276

[7] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 17.

[8] Siehe: Gregor Wedekind: Hugos Wahn. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 81.

[9] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 12.

[10] Ebenda S. 11.

[11] Ebenda.

[12] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo van der Goes in den Quellen. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 23.

[14] Wikipedia: Augustinusregel.

[15] Katalog: Caspar Ofhuys: Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 276-279.

[16] Ebenda Anm. 3 S. 279.

[17] Ebenda S. 276.

[18] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo … [wie Anm. 12] S. 22.

[19] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Homo Saccer IV,1. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.

[20] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 276.

[21] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 15.

[22] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.

[23] Ebenda.

[24] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.

[25] Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt siehe auch: Torsten Flüh: Leben auf der Schwelle. Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt und der Pfingstserenade in Kloster Chorin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28.05.2012. Jetzt als PDF unter Publikationen.

[26] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.

[27] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 279.

[28] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 43.

[29] Erik Eising: Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weysens. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 35.

[30] Zum Indizienparadigma siehe: Carlo Ginzburg: Spurensicherung … [wie Anm. 5] S. 108-109.

[31] Ebenda S. 109.

[32] Stephanie Buck: Hugo van der Goes als Zeichner. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 63.

[33] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.

[34] S. K.: Anbetung der Könige (Monforte-Altar). In: In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 114/118.

[35] S. K.: Geburt Christi. Ebenda S. 220.

[36] Siehe die Wortverlaufskurven ab 1600 und ab 1946 im DWDS für Seligkeit.

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Universum – Nebel – Sichtbarkeit

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin

Auf spektakuläre Weise finden die Mosse-Lectures im Sommersemester 2023 im Tieranatomischen Theater von Carl Gotthart Langhans statt. Aus der architektonischen Kombination von Rundtempel und Amphitheater konstruierte der Erbauer des Brandenburger Tores, Langhans, einen Raum des Wissens vom Pferd. Pferdeschädel mit Girlanden versehen schmücken seit 1790 die Fassade über den Fenstern. Am Ort des Todes der in Folgezeiten Hunderten, wenn nicht Tausenden von Pferden und anderem Getier wurde ein enzyklopädisches Wissen der Zootomie generiert. Um 1800 waren Pferde, wie man sagt, mit „walzenförmige(m) Körper und langem Hals“[1] für den Transport, die Ökonomie und das Militär zentral. Sie waren Fortbewegungsmittel und Kriegsgerät. Zur Generierung des Wissens von diesem staatspolitisch entscheidenden Tier ließ Friedrich Wilhelm II. einen Rundtempel mit zentraler Aufsicht bei der Sektion erbauen.

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Lothar Müller erinnerte am 20. April in seiner Vorstellung des Semesterthemas wie des Veranstaltungsortes an dessen Funktion für die Wissensgeschichte. Das Wissen vom Pferd durch die aktuelle Verknüpfung der Ansicht seines Inneren mit der Sprache durch Benennung erzeugte beispielhaft eine umfangreiche Hippologie. Das Tieranatomische Theater wurde zum Schauen und Hören als Übertragungsraum des Wissens konzipiert. Mit einem medial großen Bogen, doch in gewisser Weise bereits vom Titel naheliegend, führte Lothar Müller in den Vortrag Der Himmel auf Erden. Zur Geschichte der Sichtbarmachung und Medialisierung des Universums von Charlotte Bigg ein. Schon am 27. April kündigte am gleichen Ort, wo einst die Pferdekörper auf einem aus dem Untergeschoss hydraulisch hinauf geschobenen Seziertisch dem Blick freigegeben wurden, Stefan Willer den poetologisch anders gelagerten Vortrag Im Staub der Sterne des Science-Fiction-Autors Dietmar Dath an.  

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Im 19. und 20. Jahrhundert machte das Tieranatomische Theater nicht zuletzt wegen neuartiger Apparaturen des Sehens wie dem Mikroskop, der musealen Präparate-Sammlung und der Fotografie erhebliche Transformationen durch. Es bildet sich die Tierärztliche Hochschule heraus, die nach 1933 als Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät der Berliner Universität, der Vorgängerin der Humboldt-Universität, angeschlossen wird. Die dynamischen Bau- und Nutzungsgeschichten von Institutionen der Wissensgenerierung und -vermittlung sind immer zugleich mit medialen Wechseln und sprachlichen Verschiebungen verknüpft. So wird das illustre Tieranatomische Theater in den 1920er Jahren umgangssprachlich zum eher obskuren Trichinentempel.[2] Die Tierbeschau diente nunmehr den Hygienemaßnahmen des Staates im mikroskopischen Bereich der ca. 1 Millimeter kleinen Fadenwürmer (Trichinen), die als parasitäre Erkrankung durch Verzehr von rohem Fleisch auf den Menschen übertragen werden können.   

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Nach langjährigen restauratorischen Baumaßnahmen ist das Tieranatomische Theater der Humboldt-Universität auf dem Gelände der Philippstraße 13 von einem Ort der Wissensgenerierung zu einem der Wissensbefragung geworden. „Wissenschaften und gestalterische Disziplinen“ werden in einen Austausch gebracht, um „die Vielfalt der Wissensformen (in Ausstellungen) sichtbar zu machen und dabei zugleich neue Formate und Perspektiven für das Ausstellungsmachen und für Museen zu entwickeln“.[3] Als TA T situiert es sich ähnlich wie die Mosse Lectures an der Schnittstelle von Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaften bzw. Literaturwissenschaft. Gleichwohl führt das Tieranatomische Theater auf dem Campus Nord der Universität angrenzend zum Charité Campus Mitte und dem Institute for Theoretical Biology ein verborgenes Dasein. Die Zugänge zum Campus von der Luisen-, Friedrich- und Philippstraße sind, obschon mittig gelegen, nur Anwohnern und Eingeweihten vertraut.[4]

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Von Innen spiegelt sich in den Fenstern der Kuppel des Tieranatomischen Theaters bei Dunkelheit dieses selbst. Doch die Dunkelheit des Nachthimmels, wenn die Sterne als Reflektoren oder ferne Sonnen sichtbar werden, bricht im Sommersemester in nördlichen Breiten erst spät an. Bei Tag blendet die Sonne, sodass ihr Untergang erst den Blick auf den Sternenhimmel und das Universum, in dem wir uns befinden, freigibt. Von den Planeten unseres Sonnensystems wird das Sonnenlicht hinter unserem Rücken reflektiert. Mit dem bloßen Auge des Menschen lassen sich Strahlungen und Reflektionen kaum unterscheiden. Der als „holder Abendstern“ – „Da scheinest du, o lieblichster der Sterne,/dein sanftes Licht entsendest du der Ferne;/die nächt’ge Dämmrung teilt dein lieber Strahl,/und freundlich zeigst du den Weg aus dem Tal.“ – besungene Planet Venus macht die sprachlich-poetologischen Wirren und Verfehlungen im 19. Jahrhundert exemplarisch deutlich. Aktuelle Astronomen und Astrophysiker bedienen sich neuartiger Medien und Rechenverfahren, um das Universum zu erforschen und sichtbar werden zu lassen, worauf Charlotte Bigg in ihrem Vortrag einging.  

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Das Universum wird unabhängig von seiner auf viele Millionen Lichtjahre berechneten Existenz etymologisch im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache hinein geboren.[5] Mit dem Begriff Universum als Ganzheit und Einheit, so groß sie zeitlich und räumlich auch sein mag, entsteht ein neuartiger Zugriff auf Welt und All. Noch die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts debattieren über das Universum als ein philosophisches Problem von Unendlichkeit und Räumlichkeit. Alles, was aus unendlich vielen Teilen besteht, könne unendlich sein, wird aus Chambers’s Encyclopaedia mit dem Motto „Universal Knowledge For The People“ anscheinend übernommen.[6] Universales Wissen und Universum korrespondieren seither als Wissensformen miteinander. Die Einheit und Ganzheit des Universum in seiner Unendlichkeit, wird im Chambers’s weniger als ein astrologisches Problem formuliert.
„Plusieurs philosophes ont prétendu que l’univers étoit infini. La raison qu’ils en donnoient, c’est qu’il implique contradiction de supposer l’univers fini ou limité, puisqu’il est impossible de ne pas concevoir un espace au-dela de quelques limites qu’on puisse lui assigner./
Mehrere Philosophen haben behauptet, dass das Universum unendlich sei. Sie begründen dies damit, dass es einen Widerspruch impliziert, das Universum als endlich oder begrenzt anzunehmen, da es unmöglich ist, sich einen Raum jenseits einiger Grenzen vorzustellen, die man ihm zuordnen kann.“[7]  

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Lothar Müller stellte das Programm der Mosse Lectures mit Fragen nach der Vermittlung des Wissens vom Weltall bzw. Universum vor. Die „Vermitteltheit und Popularisierung kosmologischen Wissens“ wollten die Mosse Lectures „in den Blick nehmen und nach den Medien und Technologien fragen, mit denen das Universum über die Astrophysik hinaus ästhetisch, kognitiv und affektiv »besiedelt« wird.“ Dafür haben die Organisator*innen der Veranstaltungsreise mehrere Fragen formuliert. „Inwiefern werden die der Lebenswelt entrückten, oft unvorstellbaren Dimensionen des Weltalls zu Einsatzpunkten fiktionaler Zugänge? Auf welchen medialen, sprachlichen und ästhetischen Vermittlungsstrategien basiert die astrophysikalische Forschung selbst (historisch und gegenwärtig)?“[8] Damit war nicht zuletzt eine Überleitung zu Charlotte Biggs Vortrag gegeben. Denn sie eröffnete ihn mit aktuellen Bildern vom Universum durch das James Webb Space Telescope vom 12. Juli 2022 wie dem „Carina Nebula“[9] ebenso wie einen historischen, mechanischen Automaten des Sonnensystems: „The Solar System, shewing the Revolution of all Planets whith their Satellites round the Sun.“  

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Charlotte Bigg wies nicht nur auf das Bild, vielmehr auf dessen bedenkenswerten Titel Carina Nebula und seine Beschreibung hin. Die beziehungsreiche Benennung und das Genre de Bildbeschreibung sind ein derart elementares, dass es eine frühe Rolle spielt im Sprachenlernen. Was zeigt also eines der ersten Bilder des technologisch neuen James Webb Space Telescopes? Die von der NASA, ESA (European Space Agency) und CSA (Canadian Space Agency) gemeinsam betriebene Mission in die Tiefen des Universums sendete während einer Fernsehübertragung um 10:30 a.m. Ostküstenzeit die ersten Bilder. Der mediale Aufwand für die ersten full-color images and spectroscopic data“ des Teleskopes war insofern erheblich. Beschrieben wird es, worauf Charlotte Bigg aufmerksam machte, wie folgt.
„This landscape of “mountains” and “valleys” speckled with glittering stars is actually the edge of a nearby, young, star-forming region called NGC 3324 in the Carina Nebula. Captured in infrared light by NASA’s new James Webb Space Telescope, this image reveals for the first time previously invisible areas of star birth.
Called the Cosmic Cliffs, Webb’s seemingly three-dimensional picture looks like craggy mountains on a moonlit evening. In reality, it is the edge of the giant, gaseous cavity within NGC 3324, and the tallest “peaks” in this image are about 7 light-years high. The cavernous area has been carved from the nebula by the intense ultraviolet radiation and stellar winds from extremely massive, hot, young stars located in the center of the bubble, above the area shown in this image.”[10]

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Sichtbar wird durch die Beschreibung eine Landschaft (landscape) aus Bergen (mountains) und Tälern (valleys) im Carina Nebel (Carina Nebula). Die höchsten Gipfel im Bild sind ungefähr 7 Lichtjahre hoch. Im Vergleich mit den höchsten Gipfeln der Erde, müssen die Gipfel (peaks) des Carina Nebels sehr viel höher sein, obwohl eine fast irdische, wenn nicht gar idyllische Landschaft beschrieben wird. Auf die Nebel und Landschaften im Universum wird zurück zu kommen sein. Das Format der Bildbeschreibung lässt allererst eine Landschaft entstehen, die nicht nur durch eine zuvor ungekannte Bildgenerierungstechnologie „previously invisible areas of star birth“ gewesen war. Das Faszinosum der Bilder von neuen Nebeln und dem Stephan’s Quintet wird auf der NASA-Seite als groß beschrieben und mit populären Medien und Narrativen verknüpft. Die Namen und Formulierungen sind elastisch und docken an populäre Wissensformen und Formate wie dem „holiday classic film, „It’s a Wonderfull Life““ an. Die besondere Fähigkeit der NASA und ihr verwandter Forschungsorganisation zur visuellen wie sprachlichen Verknüpfung unter beiläufigen Gebrauch des Konjunktivs („may have driven“) im Dienste der Astrophysik ist bedenkenswert.
„This enormous mosaic is Webb’s largest image to date, covering about one-fifth of the Moon’s diameter. It contains over 150 million pixels and is constructed from almost 1,000 separate image files. The information from Webb provides new insights into how galactic interactions may have driven galaxy evolution in the early universe.”[11] 

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Charlotte Bigg zitierte für das Verhältnis des Menschen zum Universum Blaise Pascals (1623-1662) Disproportion de l’homme aus seinen Pensées von (1669-1670). Im Unterschied zur Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot entfaltet Pascal ca. 100 Jahre zuvor mit dem Universum den Menschen auch kränkende Gedanken. Der Mensch wird von ihm durchaus aufklärerisch als ein winziger Teil des Universums formuliert.
„Er (Der Mensch) betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät; er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; und er möge darüber erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmament dahinrollen, umfassen. …
Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann es begreifen? Aber um ihm ein anderes ebenso erstaunliches Wunder zu zeigen, forsche er in den kleinsten Dingen, die er kennt. Ein Milbe z.B. biete ihm in der Winzigkeit ihres Körpers Theile unvergleichlich viel winziger, Beine mit Bändern, Adern in diesen Beinen, Blut in dien Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen dieser Feuchtigkeit, Dämpfe in diesen Tropfen…
Wer sich so betrachtet, wird ohne Zweifel erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben, gleichsam schweben zu sehen zwischen beiden Abgründen der Unendlichkeit und des Nichts, von welchen beiden er gleichweit entfernt ist. …
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts gegenüber der Unendlichkeit, ein All gegenüber dem Nichts, ein Mittelding zwischen Nichts und Allem.“[12]

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Abgesehen von den Zitaten durch Charlotte Bigg benutzt Blaise Pascal in seinem Fragment mit dem Titel Disproportion de l’homme den Begriff univers fünfmal, so dass die jüngsten Herausgeber zu dem Schluss kommen, dass das „Ziel des Transition 4-Fragments … darin bestehe, zu zeigen, dass der Mensch von dem Wunsch brennt, „eine feste Basis und eine letzte konstante Basis zu finden“, dass aber „unser Fundament Risse bekommt“: die Suche nach einem festen Punkt, obwohl sie in den Menschen eingeschrieben ist. Als tiefster Wunsch ist die Suche nach „einem unteilbaren Punkt, der der wahre Ort ist“, von dem aus der Mensch das ihn umgebende Universum verstehen könnte, aufgrund der Disproportion de l‘homme in Bezug auf dieses Universum zum Scheitern verurteilt“ sei.[13] Das ebenso natürliche wie kränkende Missverhältnis, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Pascal formuliert wird, stößt nicht zuletzt die Konstruktion und Produktion von Apparaten nach dem Vorbild der Uhr an, die das Universum in eine berechenbare Ordnung bringen.

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Die Versprechen des Universums, wie sie mit dem James Webb Space Telescope von der NASA u.a. als Blick in eine einst graue, heute vielfarbige und „seemingly three-dimensional“ Geburtsbildes wie Geburtsgeschichte eines Sterns beschrieben werden, beginnen bei Pascal mit einem Schrecken und einer narzisstischen Kränkung über die Disproportion des Menschen im Universum. Der Adelige, Physiker und Mathematiker ebenso wie Religionskritiker Blaise Pascal markiert eine Schnittstelle des Wechsels vom christlichen Gottesdiskurs, in dem der Mensch als Krone der Schöpfung figuriert, zu einem Naturdiskurs vom Universum, in dem der Mensch zu einem „Mittelding zwischen Nichts und Allem“ qua mathematischer Größenparameter wird. Pascal verstarb bereits mit 39 Jahren im Umfeld einer Religionsdebatte zwischen Jansenisten und Jesuiten, so dass seine jansenistischen Freunde die Fragmente als Pensées erst nach seinem Tode zusammenstellten und herausgaben. Die Funktion des Universums als Argument gegen die göttliche Herkunft des Menschen dürfte lange überlesen worden sein. Das univers erscheint in der Vormoderne im Moment einer Diskussion um die mathematisch-philosophische Unendlichkeit, in der der Mensch machtlos zu verschwinden droht.   

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Charlotte Bigg führte im weiteren Fortgang ihres Vortrages nicht nur das Universum als Apparat an, vielmehr stellte sie ebenso die Technologie des Zooms mit der Kritik von Bruno Latour in seinem Text L’Anti-Zoom (2014), die Big Science der Raumfahrtindustrie und die Berliner Sternwarte von 1874 in Moabit vor. Konnte beim Anblick des Nachthimmels Pascal das Universum in seiner Unendlichkeit erschrecken, zeichnet sich mit der Berliner Sternwarte bereits eine Verlagerung in städtische Außenbereiche wegen der zunehmenden Sichtbehinderung durch Licht- und Rauch-Emissionen der Stadt ab. Die zunehmende Lichtverschmutzung auf allen Kontinenten behindert heute den Blick in die Unendlichkeit des Nachthimmels. Je heller die Nächte werden, desto weniger Sterne lassen sich in den unendlichen Weiten sehen. In einem abschließenden Gespräch würdigte Hans-Christian von Herrmann als Experte für die Konstruktion des Planetariums die Ausführungen von Charlotte Bigg.

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An dieser Stelle soll die ebenso literarische wie wissenschaftliche Formierung der Universums im 19. Jahrhundert in der sogenannten Science Fiction-Literatur von Jules Verne angeschnitten werden. Das Universum stellt bei ihm die Frage nach einem anfänglichen Chaos, das geordnet, eingeteilt und vermessen werden muss. Die von Jules Verne 1865 formulierte „l’époque chaotique de l’univers“, das Zeitalter des Chaos des Universums, wird mit einigen begrifflichen Wiederholungen beschrieben. Das anfängliche Chaos erscheint heute technologisch und visuell bis in eine Dreidimensionalität z.B. als Carina Nebel in einer Landschaftsbeschreibung geordnet und geradezu idyllisch. 1868 veröffentlichte Jules Verne, der die wissenschaftliche Praxis der Fußnote für seinen Roman nutzte, seine Reise zum MondDe la Terre à la Lune. Im Kapitel V mit dem Titel Le Roman de la Lune kommt es zu einer Reihe lexikalischer Überschneidungen. Die Erzählung vom Mond wird nicht etwa als l’histoire angekündigt, sondern als Roman im Schwanken zwischen Imagination, Fiktion und Wissenschaft. Der biblische Schöpfungsdiskurs vom Chaos wird elastisch in die Wissenschaft übertragen.
„Un observateur doué d’une vue infiniment pénétrante, et placé à ce centre inconnu autour duquel gravite le monde, aurait vu des myriades d’atomes remplir l’espace à l’époque chaotique de l’univers. Mais peu à peu, avec les siècles, un changement se produisit ; une loi d’attraction se manifesta, à laquelle obéirent les atomes errants jusqu’alors ; ces atomes se combinèrent chimiquement suivant leurs affinités, se firent molécules et formèrent ces amas nébuleux dont sont parsemées les profondeurs du ciel.[14] / „Ein Beobachter, der mit einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet ist und sich in diesem unbekannten Zentrum befindet, um das sich die Welt dreht, hätte in der chaotischen Epoche des Universums Myriaden von Atomen gesehen, die den Raum füllen. Aber nach und nach, im Laufe der Jahrhunderte, fand eine Veränderung statt; es zeigte sich ein Gesetz der Anziehung, dem die wandernden Atome bis dahin gehorchten; diese Atome verbanden sich chemisch gemäß ihrer Verwandtschaft, wurden zu Molekülen und bildeten jene Nebelhaufen, mit denen die Tiefen des Himmels übersät sind.“

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Die Verneschen „amas nébuleux“ oder „Nebelhaufen“ werden zu einem Vorläufer der aktuell beschriebenen Nebel. Sie haben eine lange Tradition im Sprechen vom Universum. Denn Nebel sind seit alters her die Scheidestelle zwischen einem Unsichtbaren im Nebel verhüllten und der Sichtbarkeit des Nebels selbst, der aus einem Tal oder einer Tiefe aufsteigt. Insofern ist der als Wissen formulierte Nebel bzw. Nebelhaufen oder auch Nebelschleier jener Bereich, in dem das Begehren zu sehen geweckt wird. Der Beobachter muss mit „d’une vue infiniment pénétrante“, einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet sein, um die Herausbildung der Nebelhaufen aus Atomen durch „ein Gesetz der Anziehung“ zu sehen bzw. zu imaginieren. Das Voyeuristische des Beobachters spielt sich bereits bei Jules Verne im libidinös aufgeladenen Bereich der Penetration ab. Zugleich hat der Diskurs vom Universum gegenüber Pascal gelernt, dass es nur eines „unendlich durchdringenden“ Blicks des Menschen bedarf, um die Unendlichkeit zu erfassen.

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Jules Verne formuliert mit Fußnoten und einer Technik des Zoom all jene Versprechen, die sich die Astrophysik und der NASA für Popularisierung zu eigen gemacht hat. Der Zoom wird eben jenes Verfahren des Sichtbarmachens, das das Universum zu einem Ganzen zusammenbringt. Unter den Millionen Sternen wird die Sonne nur zu einem „Stern vierter Ordnung“. Auf diese Weise wird mit dem nicht zuletzt sprachlichen Zoom eine Ordnung bzw. ein ordnendes Wissen vom Universum hergestellt. Das geordnete, überschaubare Universum lädt zu reisen ein. Selbst dann, wenn es nur bis zum Mond gehen soll. Doch darin wird Jules Vernes literarisches Kombinations- wie Wissensverfahren lesbar.
„Si l’observateur eût alors spécialement examiné entre ces dix-huit millions d’astres l’un des plus modestes et des moins brillants[2], une étoile de quatrième ordre, celle qui s’appelle orgueilleusement le Soleil, tous les phénomènes auxquels est due la formation de l’univers se seraient successivement accomplis à ses yeux.
[2] Le diamètre de Sirius, suivant Wollaston, doit égaler douze fois celui du Soleil, soit 4,300,000 lieues./
Wenn der Beobachter dann unter diesen achtzehn Millionen Sternen einen der bescheidensten und am wenigsten glänzenden [2], einen Stern vierter Ordnung, den man stolz Sonne nennt, besonders untersucht hätte, alle Erscheinungen, denen die Entstehung der Sonne zu verdanken ist, wäre in seinen Augen das Universum sukzessive vollendet worden.
[2] Der Durchmesser des Sirius muss laut Wollaston dem Zwölffachen des Durchmessers der Sonne oder 4.300.000 Meilen entsprechen.“[15]

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Die Vermessung des Universum wird als eine weit fortgeschrittene mit den „achtzehn Millionen Sternen“ und dem „Durchmesser des Sirius“ formuliert. Dem herausragenden deutschen Science Fiction-Autor Dietmar Dath geht es weniger um eine Vermessung des Universums als vielmehr um vielschichtige Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen, wie Stefan Willer bereits 2013 analysierte und in seiner Einführung zum fast frei gehaltenen Vortrag Im Staub der Sterne am 27. April ansatzweise wiederholte.
„Dietmar Daths Romane, … , beschäftigen sich in großem Stil mit der fiktionalen Verwaltung von Wissen. Physikalische und mathematische Theoreme, Elemente und Versatzstücke aus Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, dazu eine Fülle von literarischen, alltäglichen, politischen und popkulturellen Diskursen werden in diesen Romanen personalisiert, ventiliert, diskutiert, kritisiert, angeordnet und umgewälzt. Dath verfügt über die, je nach Sichtweise, beeindruckende oder enervierende Fähigkeit, in kurzer Folge Bücher von teils erheblichem Umfang zu produzieren, in denen alles Mögliche vorzukommen scheint.“[16]

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Mit der Ankündigung seines Vortrages wird schnell deutlich, was Dath in seinem stark assoziativen Vortrag praktizierte, indem er in den rhetorischen und diskursiven Werkzeugkasten der Rede vom Universum griff. Anders als in der bemühten Wissenschaftlichkeit Jules Vernes geht es nun um „Zeug“ und „viel Nichts“. Das Geschichtenerzählen wird hier wie in seinem 2019 erschienenen 942 Seiten starken Buch Niegeschichte – Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine in Zweifel gezogen.
„Das Universum scheint ungefähr so groß zu sein wie alles, was es gibt, zusammengepackt. Wir gehen davon aus, dass dieses Universum in jeder Richtung sich selbst ähnelt und überall aus demselben Zeug besteht: aus viel Nichts mit ein paar Quantenfluktuationen drin, außerdem etwas Staub sowie einigen Rätseln. Darin finden wir Muster. Wie kommen wir aber dazu, über weit entfernte, lang vergangene und möglicherweise zukünftige Muster Behauptungen aufzustellen, Geschichten zu erzählen und Gleichungen zu bauen? Und hat das alles vielleicht sogar damit zu tun, dass eine Gesellschaft, in der über Leute entschieden wird, die dabei nicht mitreden dürfen, leerer als die Leere ist und schmutziger als der staubigste Dreck?“[17]

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In Niegeschichte schreibt Dietmar Dath über das Genre Science Fiction. Er wirft die Frage auf, wie dieses funktioniert. Der einfachste Grund liegt nach Dath auf der Hand: „Science Fiction erzählt Geschichten von Vorkommnissen, die nie geschehen sind und nie geschehen werden.“ Es sei „ungeheuer unwahrscheinlich, dass die Fantasie etwas in weltadäquater Detaildichte errät, das anschließend wirklich wird.“[18] Daths Vortrag wurde im Tieranatomischen Theater mit mehreren Kameras gestreamt und aufgezeichnet. Doch er wurde bislang nicht im Mosse-Lecture-Channel von YouTube veröffentlicht. Während des Vortrags versuchte der Berichterstatter sich Notizen zu machen und scheiterte an der Rede- und Erzählweise von Dath. Er hatte zur Demonstration eine Box Quantum Tarot Version 2.0 von Kay Stopforth und Chris Butler bereitgelegt. Die Nebel auf dem Bild der Box gleichen jenen neuesten Bilder des James Webb Space Telescopes. Tatsächlich knüpft das Spiel zu psychologischen Zwecken und als Wahrsagekartenspiel an den NASA-Diskurs an:
„The Quantum Tarot combines modern theories of physics and quantum mechanics with tarot, through vivid space images from NASA and the Hubble telescope. It’s now out in a reworked second edition from Lo Scarabeo, with two extra cards, some changed images, and new black borders.”[19]

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In jüngster Zeit wird die Rede vom Universum vom Pluriversum konterkariert und tendenziell abgelöst. Obwohl Dietmar Dath den Begriff nicht prominent benutzte macht das Pluriversum aktuell eine erstaunliche Karriere. 2018 nannte Alexander Kluge seine Ausstellung zum 85. Geburtstag als Werkschau Pluriversum.[20] Im Herbst 2022 stellte Jennifer Gabry im Haus der Kulturen der Welt zum Programm Where is the Planetary? „Zeitreisen und Raumfahrt, Cyborgs und Eskapismus“ die Frage: „Wie können wir tödliche Gewohnheiten in etwas verwandeln, das das lebende Pluriversum kultiviert?“[21]Und Dietmar Dath schrieb im gleichen Kontext: „SF ist eine Maschine, die Wissen vergessen hilft, um neues Wissen in Vorstellung und Darstellungen zu ermöglichen.“[22] Und der neue Intendant des Hauses der Kulturen der Welt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung kündigte am 14. März 2023 das Zeitalter des Pluriversums und das Sonic Pluriversum Festival für Juni und Juli an. Der Begriff geht auf William James‘ Buch Politics in the Plurivers von 1907 zurück und zirkuliert aktuell in hohem Maße, weil es ein deutlicher Gegenbegriff zum homogenisierend gebrauchten Universum denkbar macht. Durch den vielfältigen Gebrauch verändert er derzeit auch sein Bedeutungsspektrum, so dass er bald auch für die Science Fiction-Literatur und die Astrophysik gebraucht werden könnte.

Torsten Flüh

Nächste Mosse Lecture im Tieranatomischen Theater
Across the Univers.
Aktuelle Blicke ins All

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
»Mars, Musk und Metaverse.
Der Plattformkapitalismus und das All«
6. Juli 2023 19:15 Uhr
Hörsaal des Tieranatomischen Theaters
Philippstraße 13 (Campus Nord, Haus 3)
10115 Berlin

Begleitet werden die Mosse-Lectures in diesem Semester von einem Filmprogramm im Kino Arsenal, das am 23. Mai 2023 den Film Solaris zeigt.


[1] Wikipedia: Pferde.

[2] Zur Geschichte des Tieranatomischen Theater: TA T: Das Gebäude. Humboldt-Universität zu Berlin 2020.

[3] Ebenda: Über uns.

[4] Torsten Flüh bietet über Berlin-Feuerland Stadtführungen mit Geschichten rund um das Tieranatomische Theater auf Anfrage an. Siehe: https://berlin-feuerland.de/Medizin/

[5] Siehe DWDS: Universum.

[6] Wikipedia: Chambers’s Encyclopaedia.

[7] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : L’Encyclopédie/1re édition/UNIVERS

[8] Mosse Lectures: Programm: Across the Univers. Aktuelle Blicke ins All. Sommersemester 2023.

[9] NASA: First Images from the James Webb Space Telescope. Jul 12, 2022.

[10] Ebenda.

[11] NASA: Stephan’s Quintet. Ebenda.

[12] Zitiert nach Projektion im Vortrag: Blaise Pascal, Disproportion de l’homme. Pensées (1669-1670), übersetzt von Heinrich Hesse. Im Original mit dem Gebrauch des Begriffs „univers“ siehe: Le Pensées de Blaise Pascal: Fragment Transition n° 4 / 8. In : Dominique Descotes et Gilles Proust : Édition électronique des Pensées de Blaise Pascal 2011.

[13] Ebenda.

[14] Jules Verne : De la Terre à la Lune. J. Hetzel et Compagnie, 1868 (p. 24-30). (Wikisource)

[15] Ebenda.

[16] Stefan Willer: Dietmar Daths enzyklopädische Science Fiction“ Arcadia, vol. 48, no. 2, 2013, pp. 391-410. https://doi.org/10.1515/arcadia-2013-0026.

[17] Mosse Lectures: Programm … [wie Anm. 8]

[18] Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine. Berlin: Matthes und Seitz, 2019, S. 14.

[19] Aecletic: Quantum Tarot: Version 2.0 (Werbeseite)

[20] Kulturstiftung des Bundes: Alexander Kluge: Pluriversum. BILD UND RAUM.

[21] Jennifer Gabry: Planetar werden. In: HKW: Where is the Planetary? Berlin 2022, S. 5. (Online)

[22] Dietmar Dath: Was für eine Maschine ist die Science Fiction? In: ebenda. S. 14.

Generationenwechsel per Gong im LCB

Generation – Erbe – Literaturen

Generationenwechsel per Gong im LCB

Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin

Funktioniert Ihre Generationenhaftung? Mit oder ohne Haftcreme? Was könnte das sein: Generationenhaftung? – Im LCB am Wannsee begrüßten am 15. März Felix Schiller und Laura Ott das Publikum zum Abend Drei Generationen Erbe der Veranstaltungsreihe XYZ – Im Alphabet der Generationen. Das „Alphabet der Generationen“ kommt aus der Soziologie. Es teilt die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland chronologisch in Generationen zwischen Alpha und Omega oder A bis Z ein. Die Generation Z, englisch GenZ macht derzeit als „Letzte Generation“ oder im BILD-Jargon als „Klimakleber“ von sich Reden. Am 15. März wechselte das überschaubare Publikum per Gong zwischen den Schriftsteller*innen Ginka Steinwachs und Christina Esther Hansen, Valerie Fritsch und Barbara Frischmuth sowie Kerstin Hensel und Peter Neumann.

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Die generationellen Paarungen waren hinsichtlich der literarischen Genre Performance/Theatertext, Roman und Lyrik günstig kombiniert. Generationen generieren sich aus Geschichte und Erzählungen, mit denen das schreibende Individuum mehr oder weniger übereinstimmt. Meistens stellt sich das generationelle Wissen nachträglich her. Vielleicht ist die sich selbst als Generation Z titulierende Bewegung aus jungen Menschen, die einen apokalyptischen Klimadiskurs für sich in Anspruch nimmt, die erste prophetische Generation. Im LCB geht es mit dem Alphabet der Generationen um Literaturen, die sich gewiss nicht nur generationenverortet unterscheiden. Ginka Steinwachs hat früh eine ebenso poetische wie performative Schreib- und Vortragsweise im feministischen Kontext entwickelt. Christina Esther Hansen kann da auf ganz andere Weise im Treppenhaus des LCB mit neuen Theatertexten mithalten.

©gezett (Ausschnitt)

Die Veranstaltungsreihe XYZ – Alphabet der Generationen verblüfft mit ihrem generationellen Wissen, wenn es heißt, dass „(r)adikale Transformationen … in Gesellschaften eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Weisen, die Welt zu betrachten“, erzeugten. Der Generationendiskurs betone die „Differenzen zwischen Gruppen, die sich schnell auf Neues einstellen, und jenen, die an Bestehendem festhalten wollen“. Oder ist das ein eher altes Gespräch mit „Meinung(en)“ von Generationen: „Ob Klimakrise oder Gerechtigkeitsdebatten: In vielen gegenwärtig hochfrequent diskutierten Themen zeichnen sich generationelle Entfremdungs- und Verhärtungseffekte ab. Progressive oder bewahrende Konzepte für das künftige Zusammenleben hängen nach viel geäußerter Meinung auch mit dem Lebensalter zusammen: bei den ›Baby-Boomern‹ und den sogenannten drei Generationen ›X‹, ›Y‹ und ›Z‹ scheint es verschiedene unhinterfragte Gewissheiten zu geben.“[1] – In welche Narrative fallen und verfallen Schriftsteller*innen, wenn sie das Generationelle benennen? Oder wie umgehen sie es im Gespräch?

©gezett

Wie lässt sich unter Schriftsteller*innen in ein Gespräch kommen über das Thema Generationen? Das Ins-Gespräch-kommen ist gar nicht so einfach. Für das Publikum wird die Teilhabe am Gespräch dadurch schwierig, dass die drei Paare gleichzeitig in drei verschiedenen Räumen sprechen. Nach dreißig Minuten ertönt ein Gong und die Zuhörer*innen sollen den Raum wechseln. Der spielerische Gong zerfetzt auch die Gespräche. Der Gong funktioniert wie das Zappen oder durch Programme auf dem Screen scrollen. „XYZ alle Dinge, die ein Ende haben, haben auch einen Anfang ABC.“ – „Das Gärtnern verbindet uns.“ – „Der Garten ist ein umfassendes Bild.“ – „Lyrik funktioniert anders.“ – „Wer ist bitte Barthes. Ich kenne keinen Bart.“ (Gehört funktioniert das anders als geschrieben. Die Tücken des ABCs und des Geschriebenen.) – „Feminismus“ – „Sie ging mit sicherem Tritt, stieß unbeeindruckt gegen Mauerkanten und Regentonnen, Obstbäume und Zaunpfähle“ – „oft habe ich mich gefragt, wie wohl eine topographie der zeit aussehen würde.“ – „Aber der Garten ist das pure Leben.“ – „Schön ist der Tag. Die Sonne schickt einen Boten“

©gezett

Die Steiermärkerinnen Barbara Frischmuth und Valerie Fritsch sprechen über den Garten, das Gärtnern und Feminismus. Feminismus ist eine generationelle Schnittstelle für Frischmuth und Fritsch wie für Steinwachs und Hansen beim Schreiben, Dichten, Performen. Der Feminismus hat sich gewandelt. Die Zeit der Schwarzen Botin wird weiter bearbeitet.[2] Alma in Valerie Fritschs Herzklappen von Johnson & Johnson unterscheidet sich von den Klosterschülerinnen, von denen Barbara Frischmuth nur als ein formbares Wir in Die Klosterschule (1968) schreibt:
„Unseren Leib hätten wir von Gott, so wie alles, und wir dürften ihn nicht willkürlich schädigen, ihn nicht wissentlich vernachlässigen, noch ihm Nötiges entziehen, es wäre denn zum Zwecke der Läuterung, was wir in unserem Alter aber nicht recht beurteilen könnten, da müssten wir doch wohl Rat einholen, wenn wir das Bedürfnis hätten, und da sollten wir uns lieber gleich an jemanden wenden, der zuständig wäre für uns, sowie für die Läuterung, die ein Prozess sei zwischen uns und Gott, zu dem es eines Leiters bedürfe, wie auch die Wärme – denkt an den Physikunterricht – nur über einen solchen von einem zum anderen dringt.“[3]   

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Ginka Steinwachs und Christina Esther Hansen haben für ihre Performance im Treppenhaus neue Texte, Gesten und „Abtreter“ produziert. „Abtreter“ sind Bild- und Text-Schnipsel in transparenten Taschen, die sich betreten lassen. Wir werden darauf zurückkommen. Der spielerische Umgang mit Textmaterial interessiert beide. Das führt zu performativen Überschreitungen auf Texten und Bildern. Sie und Hansen lesen nicht aus publizierten Büchern. Ginka Steinwachs wollte sich nie auf das Format der Lesung aus ihren Büchern festlegen lassen. Das ist anders. Sie buchstabiert das ABC als Lebensmittel im Lebenslauf durch und schneidet auch das Gespräch an:
„J   K   L
das klingt hell
FEHLANZEIGE DUNKEL ?
als ich christina esther zum ersten mal sehe,
sage ich zu ihr: ich möchte so gerne jung sein
wie DU und alles offen.
sie sagt bei anderer gelegenheit: ich möchte
von DIR auch einmal etwas dunkles hören.
J   K   L
das klingt hell.
wie soll das dunkel sein? ich zäume das pferd
am schwanze auf und fange lateinisch an:
o ginka, tute tati tanta tibi tulisti
was für ein zungenbrecher und tonguetwister!
ach, meine liebe ginka, was hast DU DIR mit
DEINEM nein da nicht wieder alles zugezogen.“[4]

©gezett

Die Jugend als generationelle Offenheit wird von Ginka Steinwachs redewendend als „gerne jung sein“ angeführt, während dies von der Generation Z angesichts der Klimakrise entschieden angezweifelt wird. Für die GenZ und ihren Diskurs erscheint gar nichts offen, sondern apokalyptisch be- und geschlossen. Die Klebeaktionen, um den automobilen Verkehr zu stoppen, die immense Aggressionen bei den Gestoppten freisetzen, durchkreuzen nicht etwa symbolisch oder metaphorisch das Konzept der Offenheit in der Jugend, sondern real. Die Jugend ist für sie nicht leicht, beschwingt und offen, sondern unfair, deprimierend, bedrohlich. Psychologisch wird der Z-Jugend Hypersensibilität diagnostiziert. Psychologie Heute bietet ein internetgestütztes Tool zur Selbstdiagnose, die zum Wunsch (!) nach einem stationären Aufenthalt führen kann.[5] Der Diskurs der Generation Z dreht radikal die Wissenskonzepte von der Generation um. Der Wunsch nach dem Dunkel, in dem der nach Tiefe und Grund mitschwingt, kommt von der Jüngeren.

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Die Verneinung der Jugend als Zukunftsversprechen durch die Generation Z markiert einen Wendepunkt im modernen Konzept der Generation. Die Generation Z spricht in einer Verantwortungsrhetorik, wie sie üblicherweise der Jugend in ihrem Bedeutungsspektrum von Alter oder jungen Lebensjahren, jungen Leuten und Wesenhaftigkeit abgesprochen wird, wie mit der Formulierung „er hat uns seine unbekümmerte Jugend voraus“.[6] Für die Generation Z ist die Jugend gerade nicht „unbekümmert“. Sie wird mit viel Kummer und Kümmern erlebt. Ob die Jugend trotzdem unbekümmert sein könnte oder mehr oder weniger Kümmernisse mit sich bringt „als früher“, ist unerheblich. Früher, in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert war mehr Jugend. Die Gebrauchsfrequenz des Wortes Jugend erreichte Mitte der 50er ihren Höhepunkt![7] Nach einer leichten Zunahme des Gebrauchs zu Beginn der sogenannten Nullerjahre, als Florian Illies von der Generation Golf schrieb, sinkt die Verwendung der Jugend in Zeitungen und Literatur wieder.

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Sigrid Weigel hat in ihrem Buch Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften den Generationenbegriff um 2000 genauer erforscht. „Als Erzählung über die Abfolge von Geschlechtern oder Generationen in der Dimension der Zeit beerbt die Genealogie Literatur und Mythos, die zu den älteren Formen genealogischer Darstellungen und genealogischen Wissens zählen.“[8] Das Konzept der Generation als eines des Geschlechts, das mit der Generation Z aktuell auf dem Spiel steht, wird in einer Vielzahl von Wissenschaften als Wissensformation eingesetzt, wirkt auf das Selbst und seine Wahrnehmung ein und wird in den Medien oft in Kurzformen der Benennung und des Wissens gebraucht. Insofern korrespondiert es mit der geschlechtlichen Diversität und erweist sich doch als hartnäckiger. Als Erzählformat und Zählmethode legt es sich wie eine Matrix über die Welt und das Selbst.
„Generationen werden nicht nur erzählt, sondern auch gezählt, womit das Konzept der Generation sich an der Schwelle zwischen empirisch/ positivistischen und hermeneutischen/ historischen Betrachtungsweisen bewegt: dort Zahl und Messung, hier Rhetorik und Ikonographie. Es ist Voraussetzung und Fluchtpunkt, Schnittpunt und Verdichtung des genealogischen Diskurses.“[9]

©gezett

Das Wissen der Generation ist hoch produktiv, generiert durch Benennung ständig neue Generationencluster und wird nach der Logik des begrenzten Alphabets und seiner Kombinatorik mit dem Buchstaben Z an ein Ende geführt. Das ist bedenkenswert. Wie werden danach die Generationen eingeteilt werden? Die „Boomer“ haben sich quasi aus der GenZ generiert. „Das moderne Konzept der Generation hat mythische Qualitäten. Nimmt man Roland Barthes‘ Definition ernst, der zufolge das fundamentale Prinzip des Mythos in der Verwandlung von Geschichte in Natur liegt, so erschließt sich ein für die Erfolgsgeschichte der Generation seit dem späten 18. Jahrhundert zentraler Mechanismus der Sinnstiftung und Evidenzproduktion“, schreiben Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer.[10] Das Wissen von sich selbst wird über die Generation mit der Geschichte und heterogenen Zusammensetzung der Gesellschaft kombiniert und kurzgeschlossen. In der Literatur zeichnete sich um 2000 nach der „Verabschiedung“ von „Generation, Genealogie und Generativität“ in „zahlreichen Generationenromanen … das Fehlen oder Verweigern der Nachkommenschaft ausdrücklich“ ab.[11]

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Gegenüber der Verabschiedung vom generationellen Wissen in der deutschen Belletristik um 2000 könnte nach dem Ende der Generationen eine gespenstische Wiederkehr der Generation um 2020 im Gesellschaftsdiskurs formuliert werden. Verfolgt man die Spur der apokalyptischen Rhetorik der Generation Z, die so mächtig ist, dass sie unablässig die Nachrichtenmeldungen und Talkshows mit allen Formen der Gegenrede, Polemik, Strafandrohungen, Festnahmen, Arreste und Gesetzesdiskussionen beschäftigt, könnte es zu einem Umkippen des generationellen Wissens kommen, insofern es terroristische Formen entwickelt. Nach allen Regeln der Angst werden politische Entscheidungen getroffen. In diesem Kontext wirkten die „Gespräche“ im „XYZ-Casino“ seltsam verfehlend. Die generationelle Verhaftung wurde durch die Lesungen aus einst geschriebener Prosa oder Lyrik eher bestätigt, als hinterfragt. Das galt für die Paarung Frischmuth und Fritsch ebenso wie für die von Hensel und Neumann. Die Frage des Alters webt sich auch durch jüngere Gedichte von Kerstin Hensel. Das Generationelle wird in Räumarbeit nicht zuletzt mit „Revolution“ angespielt.
„RÄUMARBEIT
In meinem Schreibtisch finde ich
Mehrere alte Brillen. Seit einundsechzig
Mache ich Fortschritte
In Kurzsichtigkeit. In einem anderen Fach
Gilbe Programme nach denen
Die Revolution stattfand
Auf dem Theater.

Drei Brillen setz ich
Übereinander damit ich erkenne: mein Name
Steht unter den Spielern.“[12]

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Es gibt womöglich in der Sprache und selbst der Lyrik kaum ein Entkommen aus dem Konzept der Generation. Nicht nur spielt Kerstin Hensels Gedicht auf ein paradoxes Fortschrittsdenken der „einundsechzig“-Geborenen an, das sich in einer zunehmenden „Kurzsichtigkeit“ durch „alte Brillen“ erinnerbar macht, vielmehr noch bleibt offen, ob „(d)ie Revolution … Auf dem Theater“ ein Fortschritt war oder nicht. Angeschrieben wird damit ein Erfahrungswissen des Selbst zur „Revolution“, das nur ihre Generation und sie zwischen Proletarischer Revolution und Friedlicher Revolution gemacht haben kann. Die Ambiguität der Lyrik kann einer generationellen Signifikanz nicht entkommen, sie ist womöglich bei der Mehrdeutigkeit der Räumarbeit zwischen weg-, um-, ab- und aufräumen gar nicht gewünscht. Bedenkenswerter Weise wird von Peter Neumann das Generationelle anders angeschrieben:
„blue screen
großmutter trug eine kittelschürze, die legte sie
morgens um und abends ab, da waren
taschentücher, bonbons, wäscheklammern. die tasche
der kittelschürze war der intimste ort, vielleicht
der einzige, der sie im ganzen umschloss.
was ist das gegenteil von stadt: nicht land, nicht dorf,
provinz schon gar nicht, was es heißt, so zu leben.
programmierer müsste man sein, wie wäre
dieses tal sonst entstanden, hier tragen die berge
sehr viele tannen, wie eine fehlermeldung
multipliziert sich auf den breiten wegen das licht.“[13]

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In der Performance und lexikalischen Kombinatorik blitzt bei Steinwachs ein Transgenerationelles gar mit TikTok als Videoportal für Lippensynchronisation(!) von Musikvideos und zugleich soziales Medium vor allem zur Selbstdarstellung auf.[14] Das TikTok-Programm und -Konzept hat mit der Lippensynchronisation nicht zuletzt Folgen für die Generationen. Jede und jeder kann sich jenseits generationeller Grenzen Musikvideos mit Lippensynchronisierung aneignen. Durch die Lippensynchronisation könnten z.B. alle plötzlich lateinisch sprechen bzw. singen. Die visuelle Programmierung ersetzt Lateinkenntnisse und macht das Lateinsprechen jenseits des Wissens möglich.
„ich warte nun auf TIK TOKER für mich. vielleicht
ist ja auch schon der eine oder die andere hier im
raum. uns verbindet die lust auf fin de siecle-eleganz
und die lust am alten rom und dessen bewohner, die
seinerzeit fliessend lateinisch gesprochen haben.
colamus latinitatis in omnibus finibus orbis.
wir tragen das lateinische bis an die grenzen des
weltalls heran oder versuchen uns doch wenigstens daran.“[15]

©gezett

Es bleibt die Frage des Erbes. Das Erbe siedelt sich seit der Zeit um 1800 als Übertragungskonzept zwischen Natur und Kultur an. Während das sprachliche Erbe der Altsprachen wie Latein und Altgriechisch in der Literatur wie der Kultur und Bildung schwindet, wird das Erbekonzept von der Generation Z eher gecancelt als gewahrt, weil das Erbe als erdrückende Last und Gefahr wahrgenommen wird. „Neben jener gelehrten und rechtlichen Engführung von >Erbe< und >Familie<, die (…) als Naturalisierung, Kodifizierung, Futurisierung und Familialisierung gekennzeichnet wurde, ist um 1800 eine Engführung von >Erbe< und >Nation< zu beobachten, die man als Politisierung bezeichnen kann“, schreiben Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen. „Diese neue, politisierte Bedeutung des Wortes >Erbe< begründet die Denkfigur des kulturellen Erbes, die zum Medium für die ideologische Etablierung der Nationalstaaten wurde.“[16] Eine Auslotung des Erbes erfolgte von Steinwachs und Hansen, Frischmuth und Fritsch kaum, während bei der Paarung Hensel und Neumann in einer nicht nur regionalen Verortung zwischen Neubrandenburg und Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt ein Erbe aufschimmerte.

Torsten Flüh

Die mit ©gezett gekennzeichneten Fotos unterliegen dem Copyright von Gerald Zörner.

LCB
Programm
XYZ – Im Alphabet der Generationen
Nächste Veranstaltung: Buchpremiere: Felwine Sarr
Die Orte, an denen meine Träume wohnen
22. Mai 2023, 19:30 Uhr
Am Sandwerder 5
14109 Berlin
S-Wannsee


[1] Zitiert nach: LCB: Programm: XYZ.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Feminismus und die Radikalität der Gefühle. Zur Performance Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980 im Literaturhaus Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. August 2022.

[3] Barbara Frischmuth: Die Klosterschule. Zuerst: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.

[4] Ginka Steinwachs: A B C für  X Y Z im L  C  B. Berlin (Manuskript) 17.03.2023.

[5] Corinna Hartmann: Hochsensibilität. Helles Licht, Lärm, große Menschenmengen – hochsensible Menschen reagieren empfindlicher auf Reize. Aber was ist Hochsensibilität überhaupt? In: Psychologie Heute 10. Oktober 2022.

[6] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Jugend.

[7] Siehe Gebrauchsfrequenz ebenda.

[8] Sigrid Weigel: Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Wilhelm Fink, 2006, S. 9.

[9] Ebenda S. 10.

[10] Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer: Das Konzept der Generation: eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 10.

[11] Ebenda S. 324.

[12] Kerstin Hensel: RÄUMARBEIT. In: Lyrik-line angespielt.

[13] Peter Neumann: Areale & Tage. Dresden: Azur, 2018, S. 10. (Leseprobe)

[14] Zur Frage der Lippensynchronisation und der Stimme siehe: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[15] Ginka Steinwachs: A B C … [wie Anm. 4]

[16] Stefan Willer, Sigrid Weigel, Bernhard Jussen (Hg.): Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 25.

Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Reich – Deutschland – Imagination

Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy

Am 28. März hielt John Connelly in der American Academy in Berlin am Wannsee seinen Vortrag The Power of the „Reich“ in the German Imagination. – Was war das „Reich“? Wie kehrte es als Deutsches Reich, Kaiserreich und Tausendjähriges Reich wieder? Was macht den Begriff „Reich“ so attraktiv, dass sich heute deutsche Staatsbürger hinter einem machtlosen Adligen, Heinrich XIII. Prinz Reuss, als „Reichsbürger“ zu einem terroristischen Staatsstreich versammeln und diesen in gewissen abstrusen Details planen, woraufhin der Generalbundesanwalt einschreiten muss und ihn Bundespolizisten in Tweed und Handschellen abführen müssen? Das imaginäre „Reich“ kursiert weiter in Texten, Gesprächen, Debatten und Medien. In seinem Vortrag forschte der Sidney Hellman Ehrman Professor of European History an der University of California, Berkeley, John Connelly der Wandlung dessen nach, was mit dem „Reich“ verknüpft wurde und wird.

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Eine Transformation des Reichs wurde am 4. April mit der Anbringung der Großen Kartusche am Eosanderportal des wiederaufgebauten Berliner Schlosses wieder sichtbar. Die nicht erst beim Wiederaufbau verspätete Anbringung der Großen Kartusche als Hoheitszeichen muss in der Geschichtserzählung der Gesellschaft Berliner Schloss e. V. nur ein wenig gegen den Strich gelesen werden, um die Konstruktion von neobarocker Schlosskuppel mit der zentralen Schlosskapelle und Kartusche zu hinterfragen.[1] Johann Friedrich Eosander hatte 1707 für das zentrale Schlosstor in barocker Weise den Konstantinbogen des antiken Roms nachempfunden. Einem antiken Torbogen eine neobarocke Kuppel aufzusetzen, wie es König Friedrich Wilhelm IV. selbst in drei Architekturzeichnungen tat, musste eine Umdeutung des Schlosses, der Herrschaft und des Verhältnisses zur Evangelischen Kirche zur Folge haben.

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Die zivilgesellschaftlich heute durch Spenden finanzierte Große Kartusche wurde erst 1902/1903 in der Blüte des Kaiserreichs am Eosanderportal angebracht. Das darf man eine gehörige Verspätung des Bauelementes aus zwei Adlern, die einen königlichen vergoldeten Adler mit Zepter und Reichsapfel umrahmen, unter einer vergoldeten Krone, mit Palmenwendeln, einer Halskette und Orden, nennen. Auf der Brust trägt der Adler die Initialen FR für Fredericus Rex, König Friedrich. Gemeint ist mit diesem historistisch, neobarocken Element Friedrich I., der durch den Schlossbau 1705 Preußen als Königreich legitimiert hatte, um sich in Königsberg aus dem Kurfürstenstand zum König krönen zu lassen.[2] Die aktuelle Vervollständigung der Schlossfassade sollte in ihrer Geschichtskonstruktion zukünftig erinnert werden. Für das Imaginäre des Kaiserreichs musste die Geschichte des Berliner Schlosses lückenlos sein. Die Große Kartusche kann insofern mit der Verspätung als ein Indiz für den deutschen „Sonderweg“ der Nationenbildung gesehen werden, den John Connelly in seinem Vortrag zur Transformation des Reichsbegriffs darlegte.

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John Connelly hatte für die Ankündigung seines Vortrags als Visualisierung des Kaiserreichs Anton von Werners zweieinhalb mal zweieinhalb Meter großes Gemälde Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles in der dritten Fassung gewählt. Man darf davon ausgehen, dass der Moment der Proklamation mit geschwenkten Hüten und Kappen so nie ausgesehen hat. Die dritte Version erhielt Otto von Bismarck zu seinem 70. Geburtstag 1880 vom Kaiserhaus, der Familie Hohenzollern, geschenkt. Anton von Werner fertigte für seine Gemälde mehrere Tausend Handzeichnungen an.[3] Besonders viele werden dem Werkkreis der Kaiserproklamation zugerechnet. Einerseits wäre 1871 medienhistorisch durchaus eine Fotografie für diesen geschichtsträchtigen Anlass möglich gewesen. Doch bedurften Fotografien jener Zeit eine lange Belichtungszeit, weshalb die Bilder bestimmt verwackelt gewesen wären. Fliegende Hüte undenkbar. Die Skizzen zur ersten Fassung von 1877 sind vielfältig und werden offenbar erst Jahre nach dem Ereignis angefertigt, um ein Bild nach einem Darstellungskanon der Königs- und Kaiserproklamation zu generieren.

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Der Vortrag von John Connelly ist weiterhin auf der Seite der American Academy verfügbar.[4] Nach einer Eröffnung des Abends durch den Präsidenten der American Academy Daniel Benjamin stellte Jan C. Behrends als Professor für Osteuropastudien an der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) den Vortragenden als herausragenden Experten für Osteuropa, Deutschland und die Nationenbildung vor. Beide erwähnten in ihren Vorstellungen John Connellys fast tausend Seiten starkes Buch From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe von 2020.[5] Die Nationenbildung hatte er bereits in jenem Großwerk erforscht. Seine Einleitung beginnt er mit dem Paradox, dass niemand von den „Yugoslaws“ vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges gehört hatte:
„War broke out in Europe in 1914 because of a deed carried out in the name of a people no one had previously heard of.
That June, after years of internecine turmoil and armed conflict in southeastern Europe, a Bosnian Serb named Gavrilo Princip shot and killed Franz Ferdinand, heir of the Habsburg throne, in Sarajevo. The assassin said he was acting to defend the interests of the Yugoslaws, or South Slavs, who were seeking independence from the Austro-Hungarian monarchy.“[6]

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Ein nie gehörter Name und der Begriff „Reich“ liegen bei John Connelly methodologisch nah beieinander. Er untersucht in seinem Vortrag mit „Reich“ die langfristigen Folgen des Aufstiegs Deutschlands zur Nation im Kaiserreich, die gleichzeitig imperial, ethnisch und konfessionell lutherisch sein sollte – ein Land, das einen riesigen Raum in Mitteleuropa einnahm und versuchte, Millionen unterschiedlicher Menschen zu ethnischen Mitbürgern zu machen. Die Vielfalt der Menschen in jenem Raum wird zu Deutschen im Deutschen Reich normalisiert. Den Begriff „Reich“ verfolgt er bis kurz nach dem Fall Roms zurück. Mit dem imaginären „Reich“ versucht Connelly, die zerstörerische Rolle zu erklären, die die jüngere „Deutsche Frage“ spielte. Der Bogen der visuellen Materialien zum „Reich“, die John Connelly vorstellt, reicht von der Briefmarke mit dem Portrait Friedrich Eberts und der Aufschrift „Deutsches Reich“ aus der Weimarer Republik über das Luther-Denkmal in Eisleben bis zu Darstellungen der Krönung Karl des Großen.

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Die Nationenbildung verläuft für John Connelly zentral über den Gebrauch des Begriffs „Reich“ als Name und den Narrativen wie Bildern, die mit ihm insbesondere in Preußen und damit Berlin verknüpft werden. Bis zum Ende des Deutschen Reiches und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – für einige allerdings darüber hinaus – kursierte die Imagination eines einheitlichen, geschlossenen Reichs. Deshalb machte Connelly auf Hitlers Rede vom „Heim ins Reich“ bei der ebenso manipulierten wie willkommenen Besetzung Österreichs durch die deutschen Nationalsozialisten mit dem gebürtigen Österreicher Adolf Hitler aus Berlin aufmerksam. Im Namen des Reichs wurden zwei Nationen vereinheitlicht, um im „3. Reich“ aufzugehen, die sich noch im 18. und 19. Jahrhundert zuletzt 1866 im Deutschen oder Preußisch-Österreichischen Krieg u.a. aus konfessionellen Gründen heftig bekämpft hatten. Der Begriff stellt eine Einheit und ethnische Zugehörigkeit her, die es so nie gegeben hatte. Dem Fragmentarischen der politischen und wirtschaftlichen Reichsrealität wird seit dem 19. Jahrhundert, forciert seit dem Kaiserreich eine Normalisierung entgegen gesetzt. Damit das „Reich“ nicht zuletzt im Zuge der Industrialisierung mit einem neuartigen Schienennetz real wird, müssen die Menschen beispielsweise ähnlich aussehen oder im Unterschied zu anderen ähnlich gemacht werden. – Ich komme darauf zurück.

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John Connelly zitiert nicht zuletzt des AfD-Politikers Alexander Gaulands Rede vom „Vogelschiss“ als geschichtslosem Zwischenfall in der Geschichte des Deutschen Reichs. Am 2. Juni 2018 hatte Gauland als Partei- und Fraktionschef der AfD im Bundestag vor der Nachwuchsorganisation seiner Partei, der Jungen Alternative gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.[7] Damit hatte der 77jährige, 1941 geborene Gauland allerdings genau das Narrativ der Nationalsozialisten vom „Tausendjährigen Reich“ übernommen und bestätigt. Gauland hatte weiter ausgeführt: „Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen. Gerade weil wir die Verantwortung für die 12 Jahre übernommen haben, haben wir jedes Recht den Stauferkaiser Friedrich II., der in Palermo ruht, zu bewundern. Der Bamberger Reiter gehört zu uns wie die Stifterfiguren des Naumburger Doms.“[8] Er benutzt zwar nicht den Begriff „Reich“, aber die „deutsche Geschichte“ und das vereinigende Personalpronomen 1. Person Plural „wir“, um das imaginäre „Deutsche Reich“ aufzurufen.

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Im weiteren Verlauf seines Vortrages kam John Connelly auf Martin Luther und seine Verteidigungsrede vor dem „Reichstag“ zu Worms am 18. April 1521 zu sprechen: „Ich stehe hier. Ich kann nicht anders. Amen“.[9] Martin Luther sei in der Mitte der deutschen Dialekte in Eisleben aufgewachsen, wo jetzt auf dem Marktplatz ein Luther-Denkmal stehe. Die Rolle Martin Luthers bei der Generierung der deutschen Sprache durch seine Bibelübersetzung ist gewiss entscheidend. Das hatte allerdings in Eisleben kaum nennenswerte Spuren hinterlassen bis 1883, als der Magistrat der durch die Industrialisierung zu einem gewissen Wohlstand gekommenen Stadt von dem Berliner Bildhauer Rudolf Siemering zum 400. Geburtstag des Reformators ein Bronze-Standbild des Reformators aufstellen ließ. Es gehört zu jenem visuellen Nationalisierungs- und Vereinigungsprozess durch Martin Luther, der bereits 1805 mit Johann Gottfried Schadows Entwurf eines Denkmals für den Marktplatz von Wittenberg eingesetzt hatte. Schließlich wurde Schadows Luther am 31. Oktober 1821 mit einem Sockel aus Granit und einem Baldachin aus Berliner Gusseisen von Karl Friedrich Schinkel eingeweiht. Damit war der Prototyp für alle weiteren Luther-Denkmäler geschaffen, die nur noch mehr oder weniger z.B. in der Körperfülle abgewandelt wurden.[10]

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Die Ausführungen zum „Reich“ im 2. Reich bzw. Kaiserreich unter der Führung Preußens bzw. dem Hause Hohenzollern als Kaiserhaus von John Connelly können in vielerlei Hinsicht bei der Bilderproduktion unterstützt werden. Erst kürzlich hat sich Johann Gottfried Schadow als zentrale Figur der sogenannten Berliner Klassik in der Bilderproduktion für die Nation, Preußen und Berlin erwiesen. Um 1805 noch vor der Besetzung Berlins durch die Truppen Napoleons treibt Schadow die Frage nach der Nation um. Einerseits entwirft er ein Luther-Standbild, andererseits hatte er schon 1802 in seinem Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia das Projekt einer „Nationalphysiognomie“ mit der Methode der Vermessung öffentlich gemacht.[11] Eunomia nach der griechischen Göttin für gesetzlich Ordnung nannte sich 1801 mit der ersten Ausgabe im Untertitel selbst „Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten“.[12] Sie wurde bis 1805 in Berlin herausgegeben. In der Zeitschrift wird u.a. in der Rubrik „Politische Zeitgeschichte“ über den Begriff der Nation debattiert.[13]

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Das Projekt der Nationalphysiognomie hat Schadow offenbar bis zu seinem Tod 1850 in Berlin weiter beschäftigt. Schadows Begriff „der einen Menschenrace“ bleibt für die „Nationalphysiognomie“ unscharf. Genauere Untersuchungen zur Genese und Produktion einer „Nationalphysiognomie“ stehen aus. Er macht Skizzen von Chinesen, Türken, Afrikanern und anderen Besuchern Berlins und vermisst sie. 1803/04 bedauerte er, dass er aufgrund des Turbans des türkischen Gesandten Mehmed Essad „den Durchmesser des Schädels nicht nehmen konnte“.[14] Aus Gips formt er „Selim da Dafour“ (1807) und den „Kaffernprinzen“ (1823). Der gesellschaftliche Rang hat insofern Einfluss darauf, ob Schadow die Person für sein Projekt vermessen und in Gips formen konnte oder nicht. Das wenigstens ambivalente Projekt der „Nationalphysiognomie“ war für die Ausstellung vor allem durch das Material Gips ins Interesse geraten. Die Erwähnung in dem autobiographischen Text für die Zeitschrift Eunomia findet allerdings in einem Kontext der Frage nach der Nation statt. Einerseits hatte sich Eunomia das revolutionäre Motto „Omnibus aequa.“ (Alle gleich) gesetzt, andererseits führen Schadows Vermessungsmethoden zu einer ethnologischen Ausdifferenzierung, um zu entscheiden, was zur Nation bzw. „Nationalphysiognomie“ gehören soll und was nicht.

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Ein wichtiges Scharnier in der Umdeutung der Rede vom Reich in Verbindung mit dem Gottesgnadentum bildet der Aachener Kongress oder Monarchenkongress vom 29. September bis 21. November 1818. „Vor allem Zar Alexander war bestrebt, die Monarchien Mittel- und Osteuropas vom aufgeklärten Absolutismus abzubringen und sie auf die Lehre vom Gottesgnadentum einzuschwören“, hat erst kürzlich Andreas Gängel hervorgehoben.[15] Die Berliner Eisengießkunst und Karl Friedrich Schinkels Entwürfe zum Denkmal für die „Preußischen Befreiungskriege“ auf dem nach einer Order des Königs genannten „Kreuzberg“ gegen das postrevolutionäre, napoleonische Frankreich stehen im engen Konnex mit der neuen Imagination des Reiches. Das Eiserne Kreuz als Orden für die Kriegsteilnahme und das christliche Kreuz sollen sich spätestens mit dem Denkmal in der Imagination überschneiden. Schinkels Entwurf für das Eiserne Kreuz löst sich im neuen Design vom christlichen Malteserkreuz und lässt es dennoch durchschimmern. Erst verschwommen im Verlauf des Kaiserreichs bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlicher. Bereits am 26. September 1815 hatte der russische Zar Alexander (orthodox) mit Kaiser Franz I. (römisch-katholisch) und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen (lutherisch-protestantisch) die Heilige Allianz gegründet[16], um die revolutionären Kräfte abzuwehren.[17]

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Wann kippt das Ringen um die deutsche Nation genau zum monarchistischen Kaiserreich? Die Märzrevolution von 1848 hat sich in diesen Tagen zum 175. Mal gejährt. Sie wird gar von Jochen Bittner im Leitartikel für DIE ZEIT erwähnt: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist.[18] In Berlin baute Friedrich August Stüler als Schüler von Karl Friedrich Schinkel seit 1845 die Kuppel des Berliner Schlosses nach den Skizzen Friedrich Wilhelm IV.. Albert Dietrich Schadow, der Sohn Friedrich Gottliebs, war Bauleiter an dem fast acht Jahre andauernden Großbauprojekt. Die Bildung eines Reiches nach einer demokratischen Ordnung wird vor dem Schloss durch Schüsse auf die Revolutionäre und Industriearbeiter von August Borsig auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor beendet. In seiner heute vieldiskutierten Inschrift auf der Kuppel gebraucht der König nicht den Begriff „Reich“, aber er proklamiert es, während 1848 in der Frankfurter Paulskirche über eine Reichsverfassung debattiert wurde und die Revolution vor seinem Schloss blutig niedergeschlagen worden war.

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Politik- und industriehistorisch ist der Bau der Kuppel eng mit der Revolution von 1848 und der Frage der Nation als einer des Reichs verzahnt. So gesehen wohnte der Anbringung der Großen Kartusche unter der Schlosskuppel im 175. Jahr der Märzrevolution eine gewisse Ironie bei. Durch die Rekonstruktion der Fassade und Kuppel durch einen zivilgesellschaftlichen Verein werden aktuell die Paradoxien der Geschichte am Berliner Schloss wieder sichtbar, aber nur wenig diskutiert. Schließlich wird 1853 unter dem vergoldeten Kreuz, den vergoldeten Palmwedeln und den schwarzen Englein aus Eisenguss eine goldene Inschrift auf hellblauem Hintergrund stehen, die auch 1853 fast unmöglich zu lesen gewesen sein wird. Gleich einer geheimen Agenda soll jeder sehen, dass da etwas geschrieben steht, aber nicht lesen können. Unter der Kuppel ziemlich entrückt, aber weithin deutlich zu sehen, feierte der König und das Haus Hohenzollern Gottesdienst. Die Dramaturgie und das Versprechen der Kuppelinschrift sollte erst 52 Jahre später 1905 mit der Weihung des Berliner Doms durch Kaiser Wilhelm II. als Materialisierung des Kaiserreichs von Julius Raschdorf in Erfüllung gehen:
„Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

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John Connelly verwies auf das lutherische Vaterunser mit der Formulierung „Dein Reich komme“. Als nicht mehr allgemein bekannt und seltener praktiziert, darf man anmerken, dass zur Bekundung der höchsten Autorität die Gemeinde das Vaterunser im Stehen betete und betet. Das Vaterunser war und ist Bestandteil jedes Gottesdienstes. Es wurde und wird in den Gottesdiensten insofern permanent wiederholt. So auch im Berliner Dom, wo der Kaiser mit seiner Familie zumindest oft in der Kaiserloge saß. Finanziert war der Dombau vom Evangelischen Kirchenbauverein worden, der 1890 als Folgeorganisation der Kirchenbaukommission von Kaiser Wilhelm I. 1888 gegründet worden war,. Der Evangelische Kirchenbauverein wurde vor allem durch die Großindustrie und Unterstützer wie dem Fürsten von Donnersmarck, d. i. Guido Henckel von Donnersmarck, der die Orgel stiftete, finanziert.[19] Mit der elektrisch betriebenen Orgel und einem elektrischen Aufzug für die Mutter des Kaisers etc. war der Berliner Dom 1905 bei seiner Weihung zugleich eine Leistungsschau vor allem der Berliner Industrie.

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Nicht nur visuell, sondern gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitisch wird der Berliner Dom zur Manifestation der Rede vom „Reich“ umgeben von einem städtebaulichen Ensemble, das die Kathedrale des Protestantismus mit der Lutherrose über dem Portal zum Dreh- und Angelpunkt des Machtanspruchs in der Welt macht. Kaiser Wilhelm II. konnte sich als Karl der Große der Moderne imaginieren. In die neuen Wohn- und Arbeiterviertel des industriellen Berlin um 1900 pflanzte der Evangelische Kirchenbauverein unter der Schirmherrschaft der Kaiserin Auguste Viktoria neogotische Backsteinkirchen. Auguste Viktoria, genannt im Berliner Volksmund „Kirchenjuste“, weihte die neuen Kirchen häufig ein und spendete eine Bibel für den Altar. In der Imagination des imperialen Geschenks wird noch mehr als 100 Jahre später von der Bibel gesprochen, die die Kaiserin schenkte, während vergessen worden ist, dass sie vom Evangelischen Kirchenbauverein und seinen Mitgliedern aus sozial- und wirtschaftspolitischen Interessen finanziert worden war.

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Die Anbringung der Großen Kartusche dauerte von morgens um zehn bis spät in den Abend hinein. Erst am nächsten Morgen fotografierte der Berichterstatter die Große Kartusche mit aufgesetzter Krone. Der Orden und Teile der goldenen Kette fehlen noch. Die Anbringung des Bauelementes dauerte trotz moderner Technik einen ganzen Tag und machte deutlich, dass die im Kaiserreich konstruierte und am Eosanderportal angebrachte Große Kartusche eine technologische Meisterleistung gewesen sein muss. Paradoxerweise wird der technologische Fortschritt zur Historisierung eingesetzt.       

Torsten Flüh

American Academy
John Connelly:
The Power of the “Reich” in the German Imagination.
Video vom 28. März 2023.


[1] Gesellschaft Berliner Schloss e.V.: Große Kartusche. (online)

[2] Siehe zur Schlossarchitektur als Machtpolitik: Torsten Flüh: Angenommen. Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums sowie Durchlüften – Open Air im Schlüterhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2021.

[3] Siehe: Dominik Bartmann: Anton von Werner – Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs (18. Januar 1871) (1877). (Online-Projekt)

[4] American Academy: John Connelly: The Power of the “Reich” in the German Imagination. Berlin 28. März 2023.

[5] John Connelly: From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe. Princeton: Princeton University Press, 2020.

[6] Ebenda S. 1.

[7] Siehe: DW: Gauland bezeichnet NS-Zeit als „Vogelschiss in der Geschichte“. 02.06.2018.

[8] Siehe AfD-Bundestagsfraktion: Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. (Pressemitteilung)

[9] Dieser Wortlaut wird allerdings in der Darstellung der Stadt Worms zum Reichstag als „später“ als zusätzlich gekennzeichnet. Siehe: Worms: Der Wormser Reichstag 1521. (online)

[10] Bereits 2014 hatte das Projekt Cranach Digital Archive die Bildpolitik Lucas Cranachs zur Verbreitung von Darstellung oder Porträts Martin Luthers umfangreich erforscht. Zum Druck der neuen Bibeln gehörte zugleich eine Bildproduktion. Siehe: Torsten Flüh: Lucas Cranach im digitalen Umbruch. Zwischen Werkkatalog und Datenbank: Cranach Digital Archive. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2014 18:48.

[11] Siehe Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[12] Feßler und Rhode (Hg.): Eunomia. Berlin 1801-1805. (Digitalisat)

[13] Ebenda. Politische Zeitgeschichte. Jahrgang 1 S. 379. (Digitalisat)

[14] Das Porträt en face und im Profil ist im Katalog zur Ausstellung aufgeführt. Allerdings wird der Text der Tafel zur Zeichnung aus der Ausstellung im Katalog nicht abgedruckt. Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 281.

[15] Andreas Gängel: Das Kriegsdenkmal – ein Kriegsdenkmal preußisch-russischer Verbundenheit. In: Verein für die Geschichte Berlins: Mitteilungen 119. Jahrgang, Heft 2, April 2023, S. 27.

[16] Torsten Flüh: Vom … [wie Anm. 13].

[17] Die Religionszugehörigkeit des Hauses Hohenzollern in Berlin-Brandenburg war seit der Reformation variabel, um es einmal so zu sagen. Es gab mehrere Wechsel. Kurfürst Johann Sigismund war 1613 zum Calvinismus übergetreten. Der Hof nutzte die reformierte Parochialkirche. Um 1815 findet insofern eine Normalisierung zur protestantisch-lutherischen Kirche statt.

[18] Jochen Bittner: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist. In: DIE ZEIT 5. April 2023, S. 1 (Print).

[19] Zur Baugeschichte des Berliner Doms siehe u.a.: Torsten Flüh: Gemeinsam Haltung zeigen. Zum Konzert „Künstler stehen zusammen“ im Berliner Dom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2019.

Zwischen Ton und Stille im Festivalstrudel

Hören – Geschlecht – Text

Zwischen Ton und Stille im Festivalstrudel

Zu den Performances von Claire Chase, Liping Ting, Rafał Ryterski, Noa Frenkel mit Werken von Liza Lim, Luigi Nono, Chaya Czernovin, Pauline Oliveros bei MaerzMusik 2023

Am 19. März fanden im Kulturquartier Silent Green gleich 7 audiovisuelle Performances statt. Der Begriff der Musik wird in den zeitgenössischen Kompositionen durch erweiterte Spiel- und Gesangspraktiken, Elektronik und Instrumentenforschung beim Festival MaerzMusik unablässig befragt und ausgeweitet. Was ist ein Ton? Welche Rolle spielt die Lautstärke? Welche das Geschlecht und geschlechtliche Zuschreibungen? Welche Gesangspraktiken lassen sich neu entdecken? Timo Kreuser legt mit seinem Ensemble PHØNIX16 gleich eine ganze Spur im Festivalprogramm mit Grenzräumen des Hörens. Dafür nutzte er mit seinem Ensemble im Silent Green auch den Hof vor der Kuppelhalle. – Gong – Klack – Ein Gong, Klangsteine und sehr langsame Bewegungen der ganz alltäglich gekleideten Ensemblemitglieder. Meditation.

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Zwischen den Performances der amerikanischen Starflötistin Claire Chase, Gong und Sonic Meditations von Pauline Oliveros durch PHØNIX16 ereigneten sich breitangelegte Exerzitien des Hörens für das Publikum. Wie hören Sie? – Wie hörst Du Musik? – Hörst Du, wie Du hörst? – Headset- oder Headphoneträger*in immer und überall? – Joggst Du mit Musik auf den Ohren durch die Stadtnatur? – Die akustische und soziale Praxis des Hörens hat sich in letzter Zeit durch die Kopplung von Smartphone und Kopfhörern verschoben. Es wird gestreamt und gehört, was das Zeug hält. Oder hören wird dann gerade nicht oder weg oder unbewusst? Die Praktiken des Hörens haben sich verschoben. Gibt es überhaupt noch jüngere Menschen, die sich nicht permanent beschallen lassen? Musik und das Hören von Musik verändern sich.

© Fabian Schellhorn

Claire Chase kündigte in ihrem kurzen Konzert am Nachmittag in der Kuppelhalle eine weitere Weltpremiere innerhalb ihres langfristig angelegten Kompositionsprogramms Density 2036 an. Sie hat bereits mehr als 100 Kompositionsaufträge für die unterschiedlichen Flöteninstrumente von der Piccolo- über die Pan- bis zur Kontrabassflöte vergeben. Einerseits ist für sie die Flöte das älteste in der Instrumentengeschichte, andererseits ermutigt sie in Kooperation mit Komponist*innen, die Spielpraktiken zu erweitern. Mit Liza Lim hat sie Sex Magic für Kontrabassflöte, „electronics and an installation of percussion instruments“ entwickelt. Am Nachmittag spielte sie auf einer Bassflöte das erste Stück aus Sex Magic. Am Abend fand die Europäische Erstaufführung des mehrteiligen, feministischen Musikstücks über weibliche Sexualität in der Betonhalle statt.

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Die Flöte in ihren unterschiedlichen Ausfertigungen ist für Chase nicht nur ein Blas-, vielmehr ein Ateminstrument. Das Atmen und nicht nur das Blasen mit den Lippen des Labialinstruments Flöte wird mit erweiterten Spielpraktiken zu einem musikalischen Experiment. Claire Chase ist 2017 Professorin für „Practice“ am Institut für Musik der Harvard Universität geworden und nimmt derzeit den namhaften Barbara Debs Composer’s Chair an der Carnegie Hall in New York für die Saison 2022-23 wahr.[1] Mit ihrem Programm Density 2036 dockt sie in der Musikgeschichte an Edgar Vareses Density 21.5 von 1936 an. Welche Implikationen bringt Density 2036 zum einhundertjährigen Jubiläum von Vareses Komposition mit?

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Varese hatte sich mit dem Titel auf die Dichte und das entsprechende Gewicht von 21,5 Gramm der Platinflöte von Georges Barrère bezogen.[2] Insofern wird die Mehrdeutigkeit von physikalischer wie musikalisch-kompositorischer Dichte von Chase für ihr Projekt aufgenommen. Im Deutschen lässt sich mit der Dichte ebenso an die Dichtung als Poesie denken. Barrère war 1936 bereits selbst zur Legende geworden, insofern als er 1894 in der Uraufführung von Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune die Flöte gespielt hatte. Statt einer Erzählung vom Faun komponierte Debussy nach seiner Formulierung „différentes atmosphères“.[3]

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Die Figur des Pans knüpft bei Claire Chase ebenfalls für die gleichnamige Komposition von Marcos Blatter als eine dem Faun verwandte an. Pan ist nicht nur als männliches Mischwesen aus Mensch und Ziegenbock der Erfinder der Panflöte und Hirtengott aus der griechischen Mythologie, vielmehr schwingen in Pan bei Claire Chase und ihrer Performance auch Erotik und die knabenhafte Figur des Peter Pan von J. M. Barrie mit.[4] In Pan geht es Chase zugleich um das gemeinsame Musikmachen. Am 24. Februar 2023 hat sie mit Casa Circulo Cultural-Mitgliedern in der Soundbox der San Francisco Symphony zusammen mit Marco Balter Pan aufgeführt.[5] In der Kuppelhalle lud sie die Zuhörer*innen ebenfalls ein, einen Ton zu machen, der sich dann in der Halle veränderte. Chase hat im Musikinstitut der Havard Universität das Curriculum ganz grundlegend verändert.
“In the concert hall and in the classroom, she is equally attuned to “the art of doing, and also the play of doing and the rigor of doing,” she explains. “I think about those three things—the art, the play, and the rigor—as inseparable.””[6]

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Das Publikum wird an jenem Nachmittag nach dem Chase-Konzert nicht zuletzt durch Marisol Jiménez mit dem Gong im Hof der ehemaligen Feierhalle in die Klangpraxis anders einbezogen. Claire Chase beobachtete die Szene aufmerksam. Denn das Berliner Publikum aus Musiker*innen, Künstler*innen und Besucher*innen ließ ich augenblicklich von der Stille zwischen Gong und Klack faszinieren. Als sei für einen Moment die Zeit stehen geblieben, hielt das Publikum inne, um nur ja nicht Stille und Meditation zu stören. Die Konzentration der Meditation übertrug sich mit dem Schlag des Gongs. Das Publikum machte mit. Was als artifizielle Aktion mit gewöhnlichen Steinen stattfand, korrespondiert mit der fernöstlichen Tradition der „Klangsteine“, wie sie im September mit dem Gastspiel des National Gugak Centers aus Seoul beim Musikfest in der Philharmonie aufgeführt wurde.[7]

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Die unterschiedlichen Räume des Silent Green verwandelten sich wie die Rampe hinunter zur Betonhalle in temporäre Bühnen. Die taiwanische Performance-Künstlerin Liping Ting führte auf dem Weg zur Klangperformance von Rafał Ryterski Echoing Contemporary auf. Sound, Licht, Körperbewegungen wiederholen ablaufende Handlungen. Mit Silberfolien, die wie kleine Umschläge gefaltet sind, hüllt sich Liping Ting ein oder lässt sie im Raum rascheln. Diese Folien werden als Notfalldecken, Hitzefolien oder Wärmedecken verwendet. Sie sollen den Menschenkörper schützen und sind aus strapazierfähigem, isolierendem Mylar-Material, das von der NASA für die Weltraumforschung entwickelt wurde. Zugleich erzeugen sie mit der Licht- und narrativen Klanginstallation visuelle und akustische Effekte. Echoing Contemporary konzipiert Ting als „poésie d’action“, was sich als Poesie durch die Aktion ebenso wie poetische Aktion denken lässt.

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Die Poesie der Aktion entfaltet im wahrsten Sinne des Wortes zu unterschiedlichen Zwecken einsetzbare Silberfolien, die zwischen extraterrestrischer Raumfahrt und Lebensrettung auf Erden eingesetzt werden. Sie werden zweckentfremdet und zugleich verdichtet. Der Modus der Wiederholung korrespondiert mit dem der Kontrolle, wenn Liping Ting mit ihrem Körper arbeitet. Zugleich wird so von ihr die Performance als Meditation praktiziert. Denn sie kontrolliert ihre Bewegungen wie eine Extremsportlerin. Sie sagt, dass sie sieben Stunden meditiere, bevor sie ein Stunde performe, wie es im Programmheft heißt. Die Praxis der Meditation durch Wiederholung und Kontrolle in Kombination mit akustischen Ereignissen findet insofern auch hier statt. Einzelne Personen aus dem Publikum sind fasziniert, lassen sich in die Meditation hineinziehen. Andere gehen vorüber oder fotografieren die Lichteffekte.

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Rafał Ryterski reagierte 2021 mit Haphephobia zusammen mit Aleksander Wnuk programmatisch auf die Covid19-Pandemie. Die Haphephobie von dem griechischen Verb ἅπτειν (haptein) wie berühren, tasten oder kontaktieren wird von Ryterski mit politischem Statement aufgeführt. Die Angst vor der Berührung war 2020 nicht neu, woran Ryterski mit der Erinnerung an die AIDS-Pandemie aufmerksam machen will.[8] Als polnischer „LGBTQ+“-Aktivist und Komponist erinnert er nicht nur an die Pandemie, sondern ebenso an die Angst vor der Berührung von mit HIV infizierten Menschen in den 80er und 90er Jahren. Bekanntermaßen führte die Covid19-Pandemie zu Kontaktbeschränkungen in Deutschland und anderen Staaten. Ryterski hat für seine Performance eine Art Plexiglaskäfig bauen lassen, dessen Flächen mit Sensoren präpariert sind. Das Reiben, Schlagen oder Trommeln auf den Flächen wird elektronisch verstärkt und verarbeitet.

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Geschlecht und geschlechtliche Praktiken waren entscheidend für die Entstehung und den Titel der Komposition. Das Stück ist, wie Ryterski auf seiner Website schreibt, auf Anregung Jerzy Kornowicz für das WE’RE HERE-Konzert in Warschau 2021 komponiert worden. Es beginnt mit leisen, kaum wahrnehmbaren Tönen, durch das einzelne, zögerliche Berühren der linken Plexiglaswand mit einzelnen Fingern der linken Hand. Die zaghafte körperliche Berührung unter Menschen wird nicht zuletzt als erotische Praxis wahrgenommen. Es lässt sich ebenso daran denken, dass die erste Berührung von Angst vor einer Abweisung begleitet wird. Zwischen Angst vor Abweisung und Infektion durch einen Krankheitserreger lässt sich somit eine vieldeutige Haphephobie denken. Ryterskis Percussion Performance steigert sich in einen lauten, schnellen gesteigerten Tanz, nach dem er eine Wand öffnet und aus dem Plexiglaskäfig entflieht. Haphephobia wurde von der Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert.

© Fabian Schellhorn

Es irritiert, dass im Programmheft von MaerzMusik der durch die sexualautoritäre Politik der polnischen Regierung relevante „LGBTQ+“-Hintergrund nicht erwähnt wird. Das Programmheft belässt es bei der Formulierung, dass Haphephobia, die „Angst berührt zu werden und andere zu berühren“ erkunde.[9] Natürlich ist Haphephobie nicht auf die „LGBTQ+“-Community in Polen beschränkt, aber Rytersky hat das Stück aus einem besonders sensibilisierten, queeren Wissen heraus komponiert. Rytersky spricht mutig und explizit die politische Situation in Polen an und rahmt damit seine Komposition deutlich. Wobei die Offenheit für weitere Interpretationen in der Musik immer gegeben sein mag. Dennoch es ist eben nicht „weniger“ wichtig, wenn der konkrete Entstehungskontext von Ryterski selbst herausgestellt wird. Vielmehr gehört es zum Diskurs der Musikgeschichte z.B. auch bei Karol Szymanowski, woran Yannick Nézet-Séguin erst im September mit den Philadelphians beim Musikfest erinnert hat, dass das Geschlecht in seiner Mehrdeutigkeit zur Marginalisierung von Komponist*innen beigetragen hat und im Konzertbetrieb weiterhin beiträgt.[10]
„On the other hand, year 2020 was a very difficult one in Poland and poles, regarding presidential elections, LGBTQ+ protests, Woman protests and many more. Ryterski wanted to create a piece, that would somehow embrace all these elements, while also remaining much more open for the interpretations.”

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Noa Frenkel präsentierte in ihrem neuen Liedkonzert Longing, Belonging wieder in der Kuppelhalle einerseits eine Reihe von Liedern und Texten, die von Sebastian Schottke mit Elektronik live bearbeitet wurden. Andererseits nennt sie die Lieder „Lost and Found Texts“. Die Kompositionen von Luigi Nono, Dániél Péter Biró, Yannis Kyriatkides, Alvin Lucier, Chaya Czernowin und Caroline Shaw setzen weniger auf eine Textverständlichkeit als vielmehr auf eine Befragung der Texte und ihrer Textlichkeit. Dániel Péter Bró, Yannis Kyrakides und Chaya Czernowin waren anwesend und traten zum Schlussapplaus mit auf, was insofern erwähnt werden soll, als es deutlich macht, dass das Festival MaerzMusik immer auch ein großes Treffen der Komponist*innen Szene für zeitgenössische Musik ist. Die Performer*innen und Komponist*innen hören sich oft gegenseitig ihre Stücke an. Das Festival ist immer zugleich eines für das Publikum und ein großes, zwangloses Treffen der Szene.

© Fabian Schellhorn

Noa Frenkel knüpft mit ihrem Programmtitel an einen Text aus John O’Donoghues Textsammlung Eternal Echoes an. Als irischer, theologischer Philosoph schrieb der mit 53 früh verstorbene O’Donoghue über die Zugehörigkeit und die Sehnsucht, dass sie zusammen gehörten. Die Zugehörigkeit biete der unstillbaren menschlichen Sehnsucht Schutz. „As memory gathers and anchors time, so does belonging shelter longing. Belonging without longing would be empty and dead, a cold frame around emptiness.”[11] Die Mezzosopranistin verfügt über ein breites Repertoire zwischen barockem Gesang und zeitgenössischer Musik. Das Wort in der Liedkomposition wird etwa in Dániel Péter Birós Hadavar (2011) mit einer einzigartigen Praxis der jüdischen Liturgie für heilige Texte befragt. Denn es geht hier weniger um das Textverständnis als um die Artikulationspraxis in der jüdischen Liturgie.

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Das Verhältnis von Text und Artikulationspraxis spielt für Noa Frenkel nicht zuletzt durch die Elektronik mit echoartigen Effekten eine wesentliche Rolle für ihr Liedprogramm. Seit der Romantik, wenn man so will, kommt es im deutschen Lied auf eine Textverständlichkeit an. Doch es gab und gibt in der Liedpraxis immer zugleich andere Praktiken. Das wird ebenso deutlich in Yannis Kyreakides Fire of Myself (2003) wie in Chaya Czernowins Shu Hai Miamen Behatalat Kidom (Shu Hai Practices Javdin) von 1997. Sie hat dazu formuliert, dass in der musikalischen Komposition der Gedichte alles weggeschnitten sei und „used to illuminate each other in an imaginery inner space (inner theater)“.[12] Es gibt Töne, aber keine verständlichen Worte. Durch die Vermeidung einer Verständlichkeit, was sie immer sein könnte, entsteht im Konzert von Noa Frenkel eher eine imaginäre oder meditative Atmosphäre.  

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Die Europäische Erstaufführung von Liza Lims Sex Magic als Reflektion weiblicher Sexualität durch Claire Chase mit großer Installation auf der Bühne war gewiss der Höhepunkt des zweiten Festivaltages. Liza Lim gehört aktuell zu den international wichtigsten Komponist*innen, die gesellschaftliche Themen und Diskurse in ihren Kompositionen verarbeiten. Sie ist seit 2022 gewähltes Mitglieder der Berliner Akademie der Künste. Lim positioniert ihre Kompositionen zwischen Transkulturalität, Anthropozän, Kapitalismuskritik und mit Sex Magic weiblicher Sexualität und ihrer transkulturellen Geschichtlichkeit. Das ist vor allem kein einfaches Themen, wenn es um eine Darstellung von Sexualität in der Musik und einer leicht misszuverstehenden Bühneninstallation geht. Auf andere Weise, um nur daran zu erinnern, geht es mit Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune ebenfalls um die Darstellung von Sexualität in der Musik. Zur Aufführung waren mit Rebekka Saunders, Chaya Czernowin, Gastkurator und Komponist Enno Poppe und vielen anderen bestimmt die wichtigsten Performer*innen und Komponist*innen in der Betonhalle zugegen.

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Weiblichkeit wird von Liza Lim mit der Bühne als machtvolles Arrangement aus Blumen, Früchten, Kontrabassflöte, Elektronik, Lichterketten, einer riesigen Trommel und Perlenschnüren visualisiert. Claire Chase wird auf einem erhöhtem Podium mit der Kontrabassflöte, die sie „Bertha“ nennt, zur Priesterin eines weiblichen Rituals. Das namentlich weibliche Geschlecht der Kontrabassflöte wird von Lim in der Partitur erwähnt. Die sonoren Töne der riesigen Kontrabassflöte werden durch Praktiken des Schlagens erweitert. Im zweiten Teil nach Pythoness für Kontrabassflöte mit dem Titel Oracles verwendet Lisa Lim zusätzlich Kaurimuscheln, eine „womb-bell“, eine Pedalbasstrommel, eine aztekische „death whistle“, ebenso wie eine Okarina und die Stimme.[13] Mit Pythoness knüpft Lim an die Figur der Pythia als Wahrsagerin in Delphi aus der griechischen Mythologie an. Wegen der Pandemie bedingten Beschränkungen, kann die Inszenierung und Aufführung vom 18. März auch als eine eigentliche szenische Uraufführung gedacht werden.

© Fabian Schellhorn

Die Elektronik wurde von Senem Pirler, die als Klangkünstlerin und Komponist*in in Brooklyn lebt und arbeitet gesteuert. Die Darstellung einer alternativen weiblichen Kultur ist der Komponistin ebenfalls so wichtig, dass sie sie als Konzept der Partitur vorausschickt und ausführlich erläutert. Insofern wird Liza Lim zu einer transkulturellen Forscherin, die sich in erweiterten Spielpraktiken und Klangräumen hören lässt. Der hohe Grad der Konzeptualisierung wird ebenso durch das Glossar der Partitur vermittelt.
“Cowrie shells have been widely circulated as a form of currency, particularly in the Arabic and African worlds taking on a raft of symbolic meanings including associations with fertility and pregnancy. Amongst their many uses, cowries have been employed in rituals for increase, for divination and healing, as amulets to ward off the evil eye, to pay for the passage of the dead, in dowries and love magic.”[14]

© Fabian Schellhorn

Liza Lim möchte mir ihrer Komposition nicht weniger als die Welt durch mehr Weiblichkeit verändern. Das ist ein hoher und nicht leicht einzulösender Anspruch. Sex Magic endet mit einem Zitat aus dem Gedicht Ulysses von Alfred Tennyson als sechstem Teil der Komposition unter dem Titel Telepathy. Die Emphase des 1842 veröffentlichten Gedichts formuliert als dramatischen Monolog die Hoffnung auf eine neue Welt. Lin nimmt damit eine fast schon befremdliche Form der Utopie im 19. Jahrhundert für das 21. Jahrhundert auf.
„The long day wanes
the slow moon climbs
Come, my friends
Tis not too late to seek a newer world.”

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Die Aufführung von Sex Magic und ihre Performer*innen wurden ausgiebig gefeiert, obwohl die Direktheit der rituellen Darstellung von Weiblichkeit manch einer Komponisten-Kollegin vielleicht auch zu direkt oder gar komisch vorkam. Dennoch erweitert Liza Lim mit dem breiten Klangspektrum und dem vielschichtigen Spiel der Narrative und Versprechen die Debatte um Weiblichkeit in den Künsten. Liza Lim ist als internationale Komponist*in äußerst produktiv und will sich in aktuelle Debatten einmischen. Damit werden ihre Kompositionen zu musikalischen Statements, die vor allem bei jüngeren Menschen ankommen könnten. Als Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg 2021-22 hat Liza Lim an ihrem Projekt Post-Human Songs for the Anthropocene gearbeitet.  

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Als eine Art Late-Night-Performance führte PHØNIX16 im Rahmen von Grenzraum HÖREN 8 eine etwas schwierige Form der Meditation durch Pauline Oliveros Sonic Meditations von 1971 auf. Das Schwierige daran war vor allem die körperbedrohende Lautstärke der Aufführung. Pauline Oliveros mag eine Pionierin der Elektronik sein, doch Ohrstöpsel halte ich immer noch für ein musikfeindliches Requisit. Wahrscheinlich waren die Dezibel genau kalkuliert und das Experiment lockte auch viele Hörer*innen an. Aber der Berichterstatter musste die Betonhalle wegen der Lautstärke nach kurzer Zeit verlassen.

Torsten Flüh

MaerzMusik im Radio

31. März, 20:03 Uhr
asamisimasa-zyklus“ von Mathias Spahlinger
(22. März, Kammermusiksaal der Philharmonie)
Deutschlandfunk Kultur

6. April 2023, 00:05 Uhr
ensemble mosaik
(21. März, Haus der Berliner Festspiele)
Deutschlandfunk Kultur


[1] Siehe: Claire Chase: Professor of the Practice, Harvard University Department of Music: DACA Seminar.

[2] Siehe: Wikipedia (englisch): Density 21.5.

[3] Debussy zitiert nach: Wikipedia: Prélude à l’après-midi d’un faune.

[4] Zur Figur Peter Pan siehe auch: Torsten Flüh: Kindsein bittersüß. Robert Wilsons gefeierter Peter Pan mit Musik von CocoRosie. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 19, 2013 18:29.

[5] Siehe: Claire Chase: Pan.

[6] Lucy Caplan: “The Art, the Play, and the Rigor” Flutist Claire Chase marks a key change for Harvard music. In: HAVARD MAGAZIN May-June 2018.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas. Zur begeistert aufgenommenen Vorführung von Jongmyo Jeryeak des National Gugak Centers in Seoul beim Musikfest Berlin 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2022.

[8] Siehe: Rafał Ryterski: Haphephobia.

[9] Berliner Festspiele (Hg.): Paul Rabe (Redaktion): MAERZMUSIK 18.3.2023. Berlin 2023, S. 7.

[10] Siehe Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[11] Zitiert nach: Noa Frenkel: Longing, Belonging. Lost and Found Texts. Berlin 2023.

[12] Ebenda S. 3.

[13] Partitur: Liza Lim: Sex Magic. Berlin: Ricordi, 2020. (Online)

[14] Ebenda.

Die Jalousie, die Box und die Porreestange

Synapsen – Internet – Musiktheater

Die Jalousie, die Box und die Porreestange

Synapsenreizende Eröffnung des Festivals MaerzMusik 2023 mit Michael Beils Hide to Show

Die Jalousien rauschen hinunter. Projektoren werfen soeben aufgenommene Szenen auf die Jalousien. Die Musiker*innen des Nadar Ensembles drehen an den Jalousiestangen. Die Lamellen schließen oder öffnen sich. Außen? Innen? Oberflächeneffekt! Jede Musiker*in spielt in einer Box von Jalousiebreite für sich – und mit allen anderen. Die Ebenen der Live-Visuals von Warped Type überschneiden sich mit den unsichtbar sichtbaren Live-Musiker*innen. Die Jalousie und das Drehen an der Stange oder das Ziehen am Jalousieband funktionieren wie das Wischen auf dem Smartphone. Michael Beil fragt nach der „Unsichtbarkeit in aller Öffentlichkeit“, nach dem Alleinsein in einem Raum. Die Premiere war für Mai 2020 geplant. – Doch dann beamten uns die Kontakteinschränkungen im März 2020 wirklich allein in einen Raum. Wenig später wurde die Kontaktperson neu formatiert.[1]

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Das Festival MaerzMusik musste 2020 wegen der Einschränkungen durch die Maßnahmen zur COVID-19-Pandemie plötzlich abgesagt werden. Die für 2021 und 2022 unter der Leitung von Berno Odo Polzer entwickelten digitalen Formate konnten das Festival nur notdürftig ersetzen. Festival hat immer etwas mit Come together, Meet & Greet, CU again oder schlicht „Familie“ zu tun. Es ist ein Austausch im geteilten Raum, in geteilter Luft. Seit März 2023 haben die Berliner Festspiele mit MaerzMusik ein neues visuelles Erscheinungsbild, weil nicht zuletzt Matthias Pees neuer Intendant geworden ist. Die Pandemie hat tatsächlich für einen Bruch gesorgt. Kamila Metwaly ist neue Künstlerische Leiterin von MaerzMusik geworden und der seit langem dem Festival verbundene Komponist und Dirigent Enno Poppe hat das Gastkuratorium übernommen. Plötzlich nach drei Jahren Corona ist die Eröffnung ausverkauft.

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Matthias Pees begrüßte als neuer Intendant der Berliner Festspiele in der Library of MaerzMusik als eine Art Leselounge die Gäste des Eröffnungskonzertes Hide to Show. Die Installation und die Leselounge, die täglich zwischen 14:00 und 18:00 Uhr bis zum 26. März bei freiem Eintritt im Haus in der Schaperstraße geöffnet ist, geben einen Wink auf das neue Zusammenkommen. Die Eröffnungsrede von Matthias Pees fiel kurz und wenig programmatisch aus. Die Library of MaerzMusik selbst ist wohl gar schon ein Wink auf das Programm. Der Diskurs und das Lesen sind offener geworden als zu Zeiten des „Festivals für Zeitfragen“. Online-Festivals haben sich vor allem durch Zuhörer- und Zuschauerschwund ausgezeichnet. Als Experiment hat es sich als nützlich erwiesen, aber nicht die Form des Live-Streams bestätigen können.[2] Matthias Pees lädt ein ins Festival als „Pluriversum“. Damit knüpft er an den neuen Intendanten und Chefkurator des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) Bonaventure Soh Bejeng Ndikung an, der am 14. März sein Programm und Team vorgestellt hatte.

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Das neue Zusammensein im Pluriversum, das das hegemoniale Konzept eines Universums ablöst, verlangt Liebe und Respekt. „HKW shall be a space in which love, respect, and generosity are realized through daily practice”, hatte Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, den viele nur kurz Bona nennen, auf der Pressekonferenz mit Live-Musik gesagt. Vielleicht ist das genau die Formulierung und Formel, der die Kulturen aktuell bedürfen. Denn Liebe, Respekt und Großzügigkeit werden aktuell an vielen Orten der Welt bedroht, bekämpft und in Frage gestellt. Die tägliche Praxis von Liebe, Respekt und Großzügigkeit kann nicht zuletzt in der Library of MaerzMusik stattfinden. In der Bibliothek finden sich neben Partituren von Rebekka Saunders, Enno Poppe und Chaja Czernowin ebenso Publikationen von Savvy Contemporary wie We have dilivered ourselves from the tonal – of, towards, on, for Julius Eastman (2020) mit Beiträgen u. a. von Elaine Mitchener, Kamila Metwaly, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und Berno Odo Polzer.

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Kamila Metwaly hat zuvor seit 2017 mit Savvy Contemporary im Wedding an der Reinickendorfer Straße gearbeitet.[3] Sie ist Musikjournalistin, elektronische Musikerin und Kuratorin. Seit 2018 ist sie wesentlich an der Wiederentdeckung von Julius Eastman und Halim El-Dabh beteiligt. Die steile Karriere von Kamila Metwaly von Kairo über Berlin und Donaueschingen (2021) zurück nach Berlin gibt zugleich einen Wink auf eine Diskursverschiebung, die mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im Kulturquartier Silent Green eingesetzt hat.[4] Das pluriverse Zusammenkommen und Afrika werden für die nächsten Jahre eine prominentere Rolle spielen. Die mit der Installation fast schon institutionalisierte Bibliothek eröffnet die Teilnahme und Teilhabe am Diskurs. Räume zum Lesen und zum Zusammenkommen lassen sich einerseits als Anachronismus wahrnehmen, andererseits bieten sie damit eine Gegenbewegung zu Praktiken im Internet. Der während der Pandemie durchaus als vorteilhaft empfundene Rückzug auf digitale Plattformen und Arbeitstreffen lässt sich kaum verstetigen. Das Menschliche entsteht durch körperliche Praktiken.

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Hide to Show wurde von Michael Beil mit der Frage nach dem Alleinsein und der Vereinsamung an der Schnittstelle von Musiktheater, Elektronik und Internetpräsenz entwickelt. Damit nahm Beil mit den Liedtexten von Charlotte Triebus eine Fragestellung vorweg, die in den digital begleiteten Lockdowns als eine entscheidende aufbrach. Denn die Frage schneidet das Feld von Internet und Ich, Digitalität und Politik, Welt und Autorität an. Franz Kafka hat in seinem ebenso um Aufmerksamkeit wie um Bewältigung seiner „Furcht“ vor dem Vater ringenden Brief 1917 formuliert: „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal.“[5] Der Brief erreichte den Vater nie. Mit dem Smartphone in der linken Hand auf dem Sitzsack werden wir heute alle zu kleinen Kafka-Vätern. Avital Ronell hatte im Juni 2010 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung mit Kafkas Brief an den Vater die Frage nach der Autorität im Kontext der amerikanischen Politik und der Bush Administration gestellt.[6] Politik hat seither weiterhin massiv an Autorität eingebüßt und zugleich im Zeitalter des Smartphones zu einer direkten Einflussnahme bei zeitgleicher Vereinsamung geführt. Ubiquitärer Hass ist zu einem Mittel der Politik geworden.

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Das Smartphone erlaubt die Handhabung von Internet und Welt durch einen Wisch als Vote. „Algorithms, ones and zeros. I will always be a network, you are all alone“, dichtet Charlotte Triebus und singen die Musiker*innen auf der Bühne. Über das Smartphone, das in seiner senkecht-quadratischen Form, den Boxen auf der Bühne mit den Jalousien ähnelt, wird das Ich immer vernetzt und dabei allein sein. Das Alleinsein durch die Handhabbarkeit des World Wide Web formuliert ein wesentliches Paradox der Digitalität. In diesem Jahr gibt es keine Live-Streams vom Festival, obwohl überall jüngere Menschen mit sicherlich verlinkten Kameras umherlaufen und speichern. Zugleich wird das SP von den Festivalbesucher*innen ständig gezückt wie ein Abwehrwaffe gegen zu viel Algorithmus oder Nähe. Mein persönlicher Algorithmus hat mich mit einer ganzen Kette von Entweder-oder-Entscheidungen mit einem Zeitpuffer ins Haus der Berliner Festspiele gebracht. Das mit dem Algorithmus ist ja so eine Fiktion des Ichs. Die ganze Realität ist gescriptet, sonst wäre ich gar nicht angekommen, wo ich war. Anziehen, losgehen, gehen, links in die Müllerstraße zur U-Leopoldplatz einbiegen, runtergehen, in die U6 einsteigen …

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Die Synapsen werden von Warped Type, Andreas Huck und Roland Nebe, ordentlich gereizt. Michael Beil setzt auf Tempo und Volumen. Vor der Einlasstür wird vor Stroboskopeffekten gewarnt. Ohrstöpsel können vor Eintritt angenommen werden. Mein Algorithmus sagt: „wenn ich ins konzert gehe, dann will ich hören bis an die grenzen“. Deshalb nehme ich heute keine Ohrstöpsel. Das Hören und das Sehen sollen direkt von den Synapsen an die Gehirnzellen weitergeleitet werden. Dafür habe ich ja schließlich Ohren und Augen, die durch die Synapsen auf mein Ich wirken. Das Ereignis und Ich im Raum mit ca. 600 anderen, teilweise geladenen Gästen und Mitwirkenden. Nora Eckert habe ich schon vor der Tür getroffen und und und Die Synapsen sind meine Stecker zur Welt. Sie sind so ein analoges Kommunikationsmodell. Ohne Synapsen kommt nichts an bei mir. Okay, das Ich ist allein, wenn es keine Kontakte hat. „Sketch me, mask me, crop me, get my parodies‘ avatar. (Online is the new alone.)”, hat Charlotte Triebus schon vor Corona-Kontaktbeschränkungen getextet.[7]

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Hide to Show ist tolles Musiktheater über das paradoxe Leben im Internet. Algorithmen und Visual Effects sind technisch avanciert. ABER, wie funktioniert denn das nun mit der Unsichtbarkeit der Musiker*innen in den Boxen? Jalousiestange und -band werden von ihnen per Hand betätigt. Das ist noch nicht einmal digitales Schnickschnack. Eher witzig: Null und Eins, Auf und Zu, Hoch und Runter und Hoch … Aber nicht im Lehnstuhl oder Sitzsack. Das macht dann schon einen Unterschied. „It’s an imitation. There’s remedy for reality“, heißt es in einem Lied. Das kann sowohl heißen, dass das Drehen und Ziehen in den Boxen mit den Jalousien eine Imitation des Internetverhaltens mit dem SP sind, als auch, dass das Smartphone die Welt imitiert. Oder wir nutzen das handliche Ding wie einen Weltzugang. TicToc inbegriffen. In einer kurzen Szene auf der Jalousieoberfläche tanzt eine Person mit zwei Lauchstangen in den Händen. Sie trägt Gummistiefel und einen Sonnenhut. Das ist ja sowas von real: Tanzen mit zwei Porreestangen in den Händen. Fast bäuerlich. Real and rural.

Michael Beil arbeitet mit einer guten Praxis von Humor: Am Schluss tanzen alle Ensemblemitglieder in Gummistiefeln mit Sonnenmützen und Lauchstangen in der Hand vor den Jalousien. Das TicToc- oder sonstwo geteilte Video ist, wie man sagt, viral geworden. Es ist in die Körper eingedrungen und mutiert. Auf den weißen Sweatshirts steht über der Brust Hide to Show. Die paradoxe Titelformulierung. Wird nicht nur durch Jalousien verborgen, damit auf ihnen Videos projiziert werden, als ob die Musiker*innen spielten? Was gezeigt wird, verbirgt vielmehr das Alleinsein. Wie allein muss eine Person sein, um TicToc-Star zu werden? Musikalisch verarbeitet Michael Beil z.B. In My Room von den Beach Boys. Parodieren ist eine recht fröhliche Praxis des Humors. – Und dann treffen sich zwei Menschen im Lockdown mit der Frage: Bist Du einsam? – Ich bin einsam. – Zwei Einsame machen zusammen oft noch kein Zusammensein oder gar eine Gemeinschaft. Auch das muss einmal angemerkt werden. Aber mit einem Festivalbesuch könnte das anders werden.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2023
Programm
bis 26. März 2023   


[1] Siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Geströmtes Festival am Bildschirm. Zur Eröffnungsveranstaltung von MaerzMusik 2021 – Festival für Zeitfragen im Livestream. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. März 2021.

[3] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. IN NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[4] Siehe dazu: Torsten Flüh: Das Maximale an der Minimalmusik. MaerzMusik 2017 eröffnet mit Julius Eastman, Catherine Christer Hennix und Uriel Barthélémi. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 19, 2017 16:10.

[5] Franz Kafka: Brief an den Vater (Projekt Gutenberg)

[6] Siehe Avital Ronells Lektüre des Briefes in: Torsten Flüh: „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.“ Avital Ronells Vortrag „What Was Authority?” im Trajekte-Tagungsraum des Mosse-Hauses. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 1, 2010 21:07.

[7] Zitiert nach Rebecca Diependaele: Hidden in Plain Sight. In: Programmheft: MaerzMusik: Hide to Show 17.3.2023. Berlin, 2023, S. 11.

In der Hand kaum auszuhalten

Krieg – Fibel – Bild

In der Hand kaum auszuhalten

Zum Konzert Die Kriegsfibel in der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich des Jahrestages von Putins Angriffskrieg auf die Republik Ukraine

In der Friedrich-Ebert-Stiftung fand am 2. März in der Hiroshimastraße 17 in Berlin das musiktheatralische Konzert Die Kriegsfibel mit Marie-Luise Kunst, Felix Meyer, Johannes Feige und Jörg Mischke statt. Die FES als sogenannte parteinahe Stiftung der SPD engagierte sich damit im Programmbereich Kultur & Politik mit ihrer Referentin Franziska Richter für das Gedenken an den Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Republik Ukraine. Anknüpfend an Bertolt Brechts Kriegsfibel mit Zeitungsausschnitten und 69 vierzeiligen Versen zu diesen inszenierten die Musiker*innen eine bild- und textreiche Revision der über 365 vergangenen Tage des Krieges in den Medien.

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Das Ausschneiden von Fotos und Kriegsberichten aus der Zeitung, das Bertolt Brecht im Exil seit 1939 unregelmäßig praktizierte, führte 1955 zur Herausgabe des Buches Kriegsfibel durch Ruth Berlau im Eulenspiegel Verlag.[1] Brechts Dramaturg und Mitarbeiter am Berliner Ensemble Peter Palitzsch hatte das Buch mit den „Fotoepigrammen“ gestaltet. Beim Eintreten in den Konferenzsaal der FES liest und schneidet Felix Meyer an einem alten Küchentisch Kriegsartikel aus Zeitungen unter einer Kamera aus. Im Bühnenraum sind 4 Leuchtgloben mit hellen Flecken, die Krisen- oder Kriegsherde markieren könnten, verteilt. Über der Bühne erscheinen im Wechsel das Ausschneiden und News der letzten Monate wie ein Bild Gerhard Schröders.

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Das Medium Zeitung führt 2022/2023 in der Medienflut zum Krieg von Social Media und Fernsehen, Dokus und News fast schon eine marginale Rolle. Felix Meyer hat den Kopf am Küchentisch über der Zeitung auf den Arm gestützt. Die Geste des Denkers, bevor das Konzert mit seiner Bilderwucht beginnt. Die meisten Menschen und vor allem die jüngeren halten heute allerdings das Smartphone in der rechten Hand und wischen. Gelesen wird im Tempo des Wischens durch die Alerts, latest & breaking News aller Kanäle. Mehr als jemals zuvor hat sich der Angriffskrieg Wladimir Wladimirowitsch Putins auf die Republik Ukraine in einen globalen Alert-Tsunami der Bilder und der Narrative verwandelt.[2]

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Walter Benjamin konnte im März 1934 im Umfeld zu seinem Buch EINBAHNSTRASSE noch in seinem Text Die Zeitung von einer „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ schreiben.[3] Rainald Goetz habe am 22. Februar 2023 im Berliner Wissenschaftskolleg eine flammende Rede auf die „Zeitung“ gehalten, wie es im Untertitel des Abdrucks in der ZEIT heißt. Da hat der Titelredakteur lexikalisch etwas geschummelt. Denn die gedruckte Rede geht mehr über eine „Zeitschrift“ im Format „Heft“. Hefte sind auch handlich. Nämlich die „Zeitschrift für Ideengeschichte“. Auf die „reale() Zeitung“, soweit ist es gekommen, geht Goetz nur anlässlich der „Ankündigung von Springerchef Döpfner, daß es bei Springer bald keine gedruckten Zeitungen mehr gibt,“ ein.[4] Die Zeitung wird exemplarisch nur mit der „Tageszeitung WELT“ im Druck besprochen:
„Die Tageszeitung WELT druckt schon seit einiger Zeit ihre Artikel, die oft viel interessanter sind, als es das snobistische Vorurteil gegen die Welt wissen will, vor allem im Feuilleton so irr über die Doppelseite hin gelayoutet, daß man die Zeitung mehrfach mühsam umfalten muß, um einen Artikel ganz lesen zu können, so als sollte auch noch den letzten Anhängern der realen Zeitung, die die sogenannten Inhalte immer noch auf Papier gedruckt aufnehmen wollen, der Spaß an der Sache endgültig verleidet werden.“[5]

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Das goetzsche Umfalten ist jenseits einer an Literaturen interessierten Szene dem Wischen gewichen. Während das von Goetz gefeierte Format „einer großen Zeitungsseite von etwa 40 auf 57 Zentimeter, die er eine extrem angenehme Standardgröße” nennt, vor allem unhandlich ist z.B. in der 2. Klasse des ICE, wird die Welt auf dem denglischen Handy handlich. Auf den iPhones, Handys, Mobiles oder Smartphones werden die Alerts von oben nach unten, links nach rechts, unten nach oben und rechts nach links mit dem Zeigefinger einfach ins Off gewischt. Wir müssen angesichts des Krieges in der Ukraine mehr über das Wischen sprechen und singen wie in der FES. Das kritisierte Umfaltenmüssen war nicht nur schlecht oder gut. Es erforderte von den Leser*innen eine zeitungsspezifische Handhabung, Praxis, die das Umblättern für das Buch oder die Zeitschrift erweiterte. Literaturen stellen gewisse lebens- wie lesenspraktische Anforderungen. Doch diese kommen im Alert-Tsunami gar nicht erst zum Zuge. Das Konzert Die Kriegsfibel reagierte auf diese praktische Verschiebung.

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Die Fibel spielt weiterhin an auf das Format Buch, obwohl es nach dem „Zeitungskorpus“ des DWDS seit den 1980er Jahren stark aus dem Gebrauch gekommen ist.[6] Sie wird als „bebildertes Lesebuch“ genutzt, wobei sich bei Brechts Kriegsfibel das Verhältnis von Bild und Text mit den Zeitungsausschnitten bereits umdreht. Sie wird zu einem bedichteten Fotobuch. Die Verse werden nachträglich zu den Fotos formuliert. Diese Nachträglichkeit der Verse kommt beispielsweise bei dem anfangs eingeblendeten Zeitungsfoto mit der Bildunterschrift „The face of the German Army in Russia now appears frozen, dazed, ehausted of will or pride. These were once crack troops, the terror of the world of 1940 and 1941 but the farther they got into Russia, the less they liked cold and ample room to die in. However, as the Russians advance westward, the warmer it feels and the more delightful the prospect.”[7] Marie-Luise Kunst hält es auf der Bühne am Mikro als Cover im Arm. Brecht schnitt die Bildunterschrift mit aus. Doch sein Vers schlägt einen anderen, mitfühlenden Ton an, wenn es heißt.
„Seht unsre Söhne, taub und blutbefleckt
Vom eingefrornen Tank hier losgeschnallt:
Ach selbst der Wolf braucht, der die Zähne bleckt
Ein Schlupfloch! Wärmt sie, es ist ihnen kalt.“[8]

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Im Unterschied zur wenigstens polemischen Bildunterschrift in der englischsprachigen Zeitung formuliert Brecht mit der Zeigegeste auf das Foto, „Seht unsre Söhne“, Empathie für die deutschen Soldaten, indem er sie als „Söhne“ benennt. Für die englischsprachige Zeitung waren die acht Gesichter auf dem Foto „The face of the German Army“ und „once crack troops“. Die Empathie gegenüber den gefangengenommenen deutschen Soldaten – Stalingrad wird nicht genannt – mit dem Aufruf, sie zu wärmen, steht im Widerspruch zur Rhetorik des Krieges und Sieges über „the German Army“. Dass unter den Fotografierten ebenso Beteiligte an Kriegsverbrechen sein könnten, die die „Wehrmacht“ und entsandte Polizeieinheiten beim Vormarsch in russischen Dörfern und Städten begangen hatten, bleibt ebenfalls unerwähnt. Brechts Vers ist empathisch und mehrdeutig. Denn „der Wolf“ kann ab 1941 ebenso als Adolf Hitler im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ gelesen werden. Dann hätte Hitler die Söhne geraubt.

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Der Raub und Verrat der Söhne als Soldaten in einem Angriffskrieg schimmert als Narrativ in Brechts „Fotoepigramm“ durch. Narrative sind hartnäckig, resistent und übertragbar. Das gilt insbesondere für vermeintlich und tatsächlich hierarchische Befehlsketten, die die Armee strukturieren. Die Kriegsführung des Kriegsverbrechers Putin hat allerdings in den vergangenen Monaten auch immer wieder gezeigt, dass die Hierarchie eine Fiktion und brüchig ist. In der Praxis werden Kriegsverbrechen wie in Butscha begangen, für die niemand und am allerwenigsten der Präsident im Kreml verantwortlich sein will. Dennoch gehören sie zur strukturellen Praxis des Angriffskrieges. Der ukrainische Präsident Selenskyj und sein Umfeld haben frühzeitig erkannt, dass (russische) „Söhne“ zu Kriegsverbrechern werden können. Das dokumentarische Theaterstück Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ) in der Schaubühne hat dies mit Smartphone-Telefonaten zwischen russischen Soldaten an der Front und ihren Frauen bzw. Freundinnen eindrücklich vorgeführt.[9] Befehlsketten werden mit aktuellen Medien auch umgangen.

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Im Musiktheaterstück Die Kriegsfibel forschen die Musiker*innen den medialen Strukturen des Krieges nach. Bereits Hanns Eisler hatte begonnen, die Kriegsfibel mit den Versen als Lieder zu komponieren. Sie entwickelt als Fotobuch eine eigene Dramaturgie, wenn sie mit einem Foto von Adolf Hitler am Rednerpult gestikulierend – rechter Arm ausgestreckt und Blick nach oben gewendet, als solle aus dem Himmel eine Botschaft kommen –, und einem Foto aus dem Krieg in Spanien 1928 einsetzt. Sie endet mit einer Frau, die mit Säcken und Taschen als Flüchtende in den Trümmern einer deutschen Stadt ausruht und in die Kamera blickt. Ruth Berlau setzte der Kriegsfibel ein kurzes Vorwort vorweg:
„… Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.“[10]

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Berlaus Programm, Bilder lesen zu lehren, wird nicht anders als in der Bild-und-Textpraxis der Kriegsfibel vermittelt. Wie erfolgreich dieses breit angelegte Medienprogramm war oder wurde, wissen wir nicht. In Berlaus Formulierung wird der Begriff Krieg nicht einmal gebraucht. Stattdessen wird eine mediendidaktisches Leseprogramm formuliert, das sich vor allem gegen den „Kapitalismus“ wendet. Die Bildunterschrift zu den frierenden Soldaten und Brechts Vers geben auch einen Wink auf den „Kapitalismus“ als Erzähl- und Lesepraxis. In der Bildunterschrift wird eine erzählende Kausalität zwischen den „crack troops“ und dem „Face of the German Army“ hergestellt. Kapitalistisch wäre hier nicht zuletzt die Siegeslogik der Bildunterschrift. Die Frage, wie „Fotos in den Illustrierten“ zu lesen sind, bleibt weiterhin ungeklärt, wenn nicht Brechts Strategie berücksichtigt würde. Mehr noch die kapitalistische Erzähl- und Lesepraxis hat sich mit den Bildmedien, den Pics des Kriegs in der Ukraine zugespitzt. Mit den Pics wird sowohl Wissen verbreitet als auch zerstreut. Wir tun mit einem Blick auf das Smartphone in der Hand, als wüssten wir, nun alles über den Krieg.

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Die Kriegsfibel wurde schnell als Aufruf zu einer Friedensbewegung gelesen. „Die Kriegsfibel ist Bertolt Brechts letztes lyrisches Werk und Kultbuch der frühen Friedensbewegung“, schrieb Daniel Seiffert in einer Hausarbeit 2000.[11] Wie konnte die Kriegsfibel zum „Kultbuch der frühen Friedensbewegung“ werden? Ein Aufruf zum Frieden oder zu Friedensverhandlungen wird nirgends formuliert. Ruth Berlau schreibt nicht von Frieden, sondern von „Unwissenheit“ in der Medienpraxis. Vielleicht gibt die bibliothekarische Einordnung des Buches einen Wink. In der Zentralbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum befinden sich zwei Exemplare im 5. Stock mit der Signatur „Gesch.“ wie Geschichte neben Büchern zur Geschichte Mexikos etc. Die Originalausgabe von 1955 und die Wiederauflage von 1968 anlässlich des 70. Geburtstages von Bertolt Brecht. Der medienpraktische Ansatz des Buches wurde nicht zuletzt im akademischen Apparat mit Geschichte überschrieben. Krieg sollte der Geschichte angehören, während sich die Aufrüstung nicht stoppen ließ und der Kalte Krieg tobte.

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Die auch verfehlte Rezeption der brechtschen Kriegsfibel durch die Friedensbewegung und die Geisteswissenschaften erinnert nicht zuletzt mit dem dünnformulierten Manifest für den Frieden[12] – „Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt!“ – an „die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge“. Eine Analyse der Redeweisen und Bilderfluten wird im „Manifest“ von lateinisch manifestus wie „handgreiflich“ gar nicht erst angesprochen, weil sie zutiefst das eigene Handlungsbedürfnis bestimmen. Allein Putins Rhetorik der Drohung[13] – „Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg?“ – wird von Wagenknecht und Schwarzer kassandrahaft fragend übernommen, weil sie miserable Rhetoriker*innen sind. Friedensbestrebungen müssen nicht ängstlich bittend formuliert werden. Da macht vielmehr der sozialdemokratische, einst als Scholzomat diskreditierte Bundeskanzler einiges richtig. Das öffentliche Rede- und Geltungsbedürfnis von Olaf Scholz ist begrenzt, was ein Vorteil ist, wenn alle meinen, nach den erstbesten Bildern und Narrativen greifen zu müssen.

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Der Begriff des Narrativs hat in den Talkshows eine enorme Karriere gemacht. Auch das ist ein Effekt des in einer Rede legitimierten Angriffskrieges. Allerdings wird der Begriff besonders häufig so gebraucht, als ob nur Putin in einem falschen, lügenhaften Narrativ rede und denke. Bertolt Brecht hat in seiner Kriegsfibel ein feines Gespür für visuelle und textliche Narrative, wie beispielsweise die „Söhne“ zu bedenken geben. Ein anderes verbreitetes Narrativ kommt schon in der Kriegsfibel mit „SEXY CARROT“ zum Zuge, das Wladimir Putin mit Stewardessen am Tisch gleich zu Anfang des Krieges in Szene gesetzt hat.[14] Ein John Bretherick aus Philadelphia schickte das Foto einer Karotte aus seinem Garten an die Redaktion einer Zeitung. Die Natur habe „a pin-up vegetable“ produziert. Eine zweibeinige Karotte, die an ein reizvolles Revuegirl erinnere. Sex und Krieg gehören als patriarchales Narrativ zusammen. Das hatte selbst Brecht verstanden, der zwar nicht auf Revuegirls, sondern eher auf intelligente Frauen wie Ruth Berlau stand.
„Damit ihr auch bekommt, was euch gefällt
Sei euch dies Rübenbildnis angeboten.
Das halt‘ euch überm Meer im Dschungelzelt!
Ein solches Bild weckt, hör ich, einen Toten!“[15]   

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Der russische Angriffskrieg mit knatternden und bald treibstofflosen Panzern ist zu einem der Digitalität in Abwehrschildern, Drohnen, Fotos, Posts, Likes, Emoticons und Hashtags geworden. 2022/23 passt der Krieg in die „Hosentasche“, wie es im Programm zum Konzert im Konferenzsaal heißt. Die Digitalität materialisiert sich im multifunktionalen Smartphone, das wir einfach meistens links in der Hand halten und rechts den Coffee-to-go im nachhaltigen Mehrwegbecher, „mit nur wenigen Klicks ist man mitten im Geschehen, kann nahezu „live“ und in Farbe dabei sein. News im Sekundentakt, Kommentarschlachten auf Social Media, Doomscrolling, Fake News; aber auch: einende Hashtags globaler Solidarität und neue Dimensionen internationaler Spendenbereitschaft“.[16] – „emilio_morenati Kyiv, Ukraine“ postet auf Instagram das Foto aus einem Krankenhausflur direkt in die Hand auf das Smartphone. Im Gegenlicht zeichnet sich der Körper eines Mannes an Krücken ab, dessen linkes Bein oberhalb des Knies amputiert worden ist. „mental_health_esther und 12.531 weiteren Personen“ gefällt das. – Bitte? Wie kann das gefallen?!

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Die Handlichkeit des Krieges durch die Digitalität ist für Millionen User Wirklichkeit geworden. Mit Posts und Shares, Likes und Hates nehme „ich“ möglichst lässig oder engagiert am Krieg und seinen Medienschlachten teil. Selbst die Schlachten auf den Kriegsfeldern werden digital durchdrungen. Heute erhielt ich von einer Freundin auf WhatsApp einen Twitter-Link: „Visegrád on Twitter „23-year-old Vitaly Sukhotsk has …“. Dazu meine Freundin: „Er sieht aus wie ein Bub“ Emoticon: Traurig. Das Foto: Vitaly vielleicht 18jährig in besticktem ukrainischen Trachtenhemd. Schräger, schwarzer Balken. 879 Kommentare, 1.157 Geteilt, 17.881 Herzen. „23-year-old Vitaly Sukhotsky has been killed in battle against Russian Army near Bakhmut. His task during the war was to make the mathematical calculations needed for his artillery unit. He was from a village in the Lviv region.” Dass die Ukraine und viele Kriegsberichterstatter*innen zwischenzeitlich die digitalen Medien z.B. mit dem hübschen Bubenbild von Vitaly nutzen, ist ihr gutes Recht, weil Vitali sicherlich nicht vor 13 Monaten von der Verteidigung seines Landes im Krieg geträumt hat. Aber die Fotos und Videos sind immer auch verfänglich.

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Natürlich ist ein junger Mann von 23 Jahren viel zu jung, um in einem Angriffskrieg getötet zu werden. Sich der Drohungen aus Moskau zu unterwerfen, wie durch Friedensaktivist*innen angedacht, war natürlich keine Alternative. Aber das emotionale Potential des Fotos vermutlich aus einem heimischen Fotostudio in einem Hemd, das nicht seines gewesen sein muss, hat schon seine eigene Qualität. Das wäre heute wie damals ein Fall für ein Fotoepigramm von Bertold Brecht. In der Musiktheateraufführung wurde vielfältiges Bildmaterial projiziert und besungen. Vierzeiler sind kurz. Man hätte gern die neuen als Text gedruckt oder digital vorliegen. Vierzeiler verdichten. Sie sind aber auch schnell vorbei. Gehört hat man die Kurzlieder zum Wischen und zum Foto von den jungen Leuten, die im Frühjahr 2022 Molotowcocktails, kurz Mollis gegen russische Panzer basteln und damit nicht erfolglos geblieben sind. Was fast wie ein Spiel aussieht, gehört zum Widerstand gegen ein Regime des Terrors. Ironischerweise wurden die einfachen Brandflaschen nach Stalins „Außenminister“ Wjatscheslaw Molotow benannt.

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Es gibt Narrative der Macht wie dem des Patriarchats und solche die weniger mächtig und subversiv sind. Bertolt Brecht und die Künstler*innen der FES können die der Macht in Vierzeilern aufbrechen. Aber es ist auch eine Frage des gedruckten Wortes, das in der Kriegsfibel die subversive Mehrdeutigkeit aufblitzen lässt. Aus der Kriegsfibel lässt sich viel zur Inszenierung von Bildern lernen. Brecht war ein Spezialist darin. Schließlich hatte er 1941 das Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Aturo Ui, das in zeitlicher Nähe zur Kriegsfibel erst postum 1958 uraufgeführt wurde, im Exil geschrieben. Doch schon das „Lustspiel“ Mann ist Mann mit dem narrativen Untertitel „Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kilkoa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig“ von 1926 ließe sich als ein Antikriegsstück lesen. In Militärbaracken wurde bislang jeder „Bub“ in eine Kampfmaschine oder/und Kanonenfutter verwandelt.

Torsten Flüh

Für Veranstaltungen des FES sollten Sie sich anmelden:
Veranstaltungen


[1] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 1955, (letzte Seite, unnummeriert)

[2] Siehe: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168. Und als Vorstufe: Torsten Flüh: Zeitung und Blog als „Literarisierung der Lebensverhältnisse“. Zu Walter Benjamins Buch EINBAHNSTRASSE und dem Nachtrag Die Zeitung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 7, 2015 19:22.

[4] Rainald Goetz: Soziale Energie. Er ist wieder da: RAINALD GOETZ hielt im Wissenschaftskolleg in Berlin eine Rede. Es war eine Feier der Zeitung und des gedruckten Wortes und die lang erwartete Rückkehr des Schriftstellers in der Öffentlichkeit. In: DIE ZEIT N° 10, 2. März 2023, S. 48. (Print)

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Wortverlaufskurve für Fibel im DWDS.

[7] Fett im Original. Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 62. (unnummeriert)

[8] Ebenda.

[9] Siehe Torsten Flüh: Kriegswinter in Europa. Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Dezember 2022.

[10] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. ohne Seitenzahl.

[11] Daniel Seiffert: „Bert Brechts Kriegsfibel“ oder „Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten“. München: GRIN Publishin, 2000. (GRIN)

[12] Sarah Wagenknecht, Alice Schwarzer: Manifest für den Frieden. (ohne Datum, ohne Ort)

[13] Zu Putins Rhetorik der Drohung siehe: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[14] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 42.

[15] Ebenda.

[16] Zitiert nach: Friedrich-Ebert-Stiftung: Vertonte Fotoepigramme zum Krieg – Eine performative Annährung aus Musik, Bildern und Social-Media-Kommentaren. Berlin 2023.

Von Bären und Schlangen

Festival – Kinokultur – Digitalität

Von Bären und Schlangen

Zu Limbo im Wettbewerb und An Atypical Orbit im Forum Extended der 73. Berlinale

Werden die ausschließlich online zu buchenden Tickets für die Berlinale die unabänderliche Zukunft des Festivals sein? – 9:55 Uhr drei Tage vor der Aufführung. Der gebannte Blick auf den Bildschirm. Welche Tickets werden freigegeben werden? Im Wettbewerb geht es heute um Limbo. Die Kreditkarte liegt bereit. Die Zeitanzeige springt auf 10:00 Uhr. Taste. Klick. Und – Für die Vorstellung nicht verfügbar. Änderung. Neuer Versuch. Und – Ticket. Immerhin Zoo Palast 1. Wenn es gar keine Schlangen am Ticketschalter gibt, wie sie natürlich noch am 27. Februar 2020 existierten, als der Berichterstatter im Friedrichstadtpalast an der Tageskasse eine Karte für die 2. Vorstellung von Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz fast mühelos bekam,[1] oder mit Akkreditierung 2012 das Schlangestehen[2] morgens vor dem Aufstehen um 8:55 Uhr in der Eichhornstraße, dann fehlt mir ein Berlinale-Gefühl.

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Noch bis zum 5. März zeigt das 18. Forum Extended der Berlinale täglich die Ausstellung An Atypical Orbit in der Betonhalle des Kulturquartiers silent green. In der Betonhalle gibt es Schlangen. In ihrer Medieninstallation On this shore, here. setzt sich Jasmina Metwaly ein Schlangenhaupt auf den Kopf. Eine Pillenkamera schlängelt sich in Eduardo Williams‘ Speiseröhre in seiner Installation Un gif larguísimo. Internationale Premieren und eine Weltpremiere mit Tamer El Saids Borrowing a Family Album erwarten die Besucher*innen, ohne länger in der Schlange stehen zu müssen. Denn das Verschwinden der Schlangen hat nicht nur mit der radikalen Digitalisierung des Kartenverkaufs zu tun. Es ist ebenso der Schließung der Kinos im Sony Center und der Dezentralisierung des Festivals bis in die Berliner Kieze hinein geschuldet.

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Die Berlinale hatte sich bis zur Covid-19-Pandemie zum weltweit größten, internationalen Publikumsfestival des Kinos entwickelt. Dann kamen Netflix und Amazon als Frontalangriff auf die Kinokultur. Sie war eine breite, tendenziell schichtenübergreifende Publikumskultur. Die Kinokultur verkörperte sich in der Schlange. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kündigte sich mit breiten, teilweise verstellbaren Kinosesseln eine Loungeification des Kinosaals an. Es wurde, mit einem dänischen Wort, alles so hyggelig. Riesenleinwand mit dem Kinosessel als my home is my castle. Das Kino mit einem großen Publikum und Dolby Atoms wurde zugleich zum spießigen Rückzugsort im Sessel mit Softdrink oder Bierflasche. Jetzt wird entweder alles auf das Smartphone-Format geschrumpft und gestreamt oder der Bildschirm wird mit 65“ (165,1 cm) als AV Monitoring für fast Fünfzehneinhalbtausend Euro im Wohnzimmer bestreamt. Das Publikum wird zum gestreamten Ich. The Streaming is my orbit except news!

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Im Zoo Palast 1 bieten am 24. Februar 2023 um kurz vor 12:30 Uhr die gerafften Wellen des Kinovorhangs einen Augenfang. Wettbewerb: „Limbo. Ivan Sen – Simon Baker, Rob Collins, Natasha Wanganeen – Australien – 95‘ – Englisch.“ Der Kinosaal mit dem schon aufgesesselten Ambiente der 50er Jahre ist ausverkauft. Einige junge Leute. Rechts ein junger Mann mit Notebook und Apps. Links eine rothaarige, dünne Frau mit ihren Freundinnen so Ü70. Ach, doch noch ein Hauch Berlinale und Publikum. Der Berichterstatter atmet es ein. Das digital Ticketing hatte die Wahl bestimmt. Und sonst nichts. Limbo assoziierte der Berichterstatter irgendwie mit Tanz, was ganz falsch war. Danach noch einmal nachgelesen wurde aus einem Tanzfilm: „Travis Hurley nimmt den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aboriginal-Frau wieder auf. Die Outback-Kleinstadt schweigt, auch die Familie des Opfers, denn der Cop ist weiß und die Wahrheit komplex. Ein First-Nation-Film als nostalgisch-depressiver Wüsten-Noir.“[3] Filmbeschreibungen sind eine eigene Kunst, ein eigenes Literaturgenre des Kinos.  

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Die Publikumskultur der Berlinale wird leicht übersehen und selten besprochen. Also: Aus dem Graupelgestöber in das Kinofoyer gestürmt, QR-Code auf dem Smartphone scannen gelassen, hinein, gleich rechts die Treppe hoch und links in den großen Kinosaal. Freien Sitzplatz mittig anvisiert, per Handzeichen und Mimik nachgefragt, ob noch frei, möglichst freundlich durch die Reihe gedrängelt. Publikum teilweise stehend in Gesprächen verwickelt. Punkt Zwölfuhrdreißig: Gong! Stille. Licht dimmt herunter. Rüschenvorhang hebt sich. Trailer. Dann: Die australische Wüste in Schwarzweiß. Eine Straße schlängelt(!) sich durch die Wüste mit vielen Erdhügeln. Ein PKW wirbelt auf der Straße Staub auf und fährt auf die Kamera zu. Kino. Große Exposition. Kameraeinstellung: Panorama. Großes Erzählkino. – Niemand verlässt den Kinosaal. Applaus am Schluss. – Geht alles auf Smartphone und selbst auf AV Monitoring im Wohnzimmer nicht.

Im Wettbewerb um den Goldenen Bären wird Limbo untergehen. Australien war, soweit mir bekannt, nie besonders erfolgreich im Wettbewerb. Dabei macht Ivan Sen als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann fast alles richtig. Limbo ist nicht zuletzt ein Ritt durch die Film- bzw. Kinogeschichte und Erzählformate. Limbo kommt von einem ganz anderen Ende der Welt, das sonst in farbig funkelnden Opalen wahrgenommen wird. Queensland in Australien hat den Film mitproduziert. Auch ist die bildende Kunst der Aborigines meist bunt. Doch Ivan Sen verbannt die Farbe aus seinem Film. 2002 hatte Sen mit Beneath Clouds den Premiere First Movie Award auf der Berlinale gewonnen.[4] Die labyrinthischen Erdhöhlen der weißen Opalsucher und die Opalsuche der Aborigines werden von dem indigenen Autor, Regisseur und Kameramann Ivan Sen zu einer Meditation über die First Nation im Bundesstaat Südaustralien. Der ermittelnde Cop Travis Hurley (Simon Baker) spritzt sich in seinem Motelzimmer in einem ehemaligen Opal-Stollen Heroin. Der Trip in die Opal-Hauptstadt Coober Pedy wird zu einem vielschichtigen. Ein Kammerspiel der Extreme, das nahegeht.

Über den First Nation-Spielfilm Limbo ließe sich noch viel schreiben. Er erinnert an die Western der 50er aus den USA. Aber da war eher alles clean. Alkohol und Drogen, Sex und Rassismus spielen in Limbo eine strukturierende Rolle. Weiße Männer und braune Mädchen. Im Hintergrund die Opale, die nicht sichtbar werden, weil es ein Film in Schwarzweiß ist. Die Hitze in Coober Pedy kann im Sommer über 40° C betragen. In der Sprache der Pitjandjari-Aborigine heißt der Ort kupa piti, was so viel heißt wie „Loch des weißen Mannes“. In dem ziemlich heißen Ort gibt es mehrere Höhlenmotels. Doch das Filmmotel Limbo verweist ebenso auf das lateinische limbus als Ort des Vergessens und der Vorhölle. Dazu passt dann auch der Herointrip. Ivan Sem hat diese literarischen Verweise im Blick. Europäische und Pitiandjari-Mythen werden miteinander verwoben. Überhaupt spielen dann nicht zuletzt Mythen und Migration während der Berlinale für An Atypical Orbit in der Betonhalle eine wichtige Rolle.

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Das Kulturquartier Silent Green hat sich mit der Betonhalle in den letzten Jahren als ein Spielort der Berlinale etabliert. Das hat viel mit der unterirdischen Betonarchitektur und der Film Feld Forschung von Jörg Heitmann und Bettina Ellerkamp zu tun. Die gemeinnützige Gesellschaft macht ein anderes Kino. Keine Versesselung. Eher Bänke und Liegekissen. Für 2025 ist der Umzug des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. in Silent Green geplant. Am Rande des Festivals gelegen, lockt das Forum Extended ein besonderes Filmpublikum an. Ala Younis und Ulrich Ziemons (Co-Leitung) sowie Karina Griffith und Shai Heredia haben An Atypical Orbit kuratiert. Bereits 2022 hatten Ziemons und Younis eine faszinierende Ausstellung mit Closer To The Ground im Untergrund gestaltet. Während sich die Ausstellung 2022 auch als eine Intervention zur Covid-19-Pandemie sehen ließ, geht es in diesem Jahr stärker um Mythen und visuelle Vernetzungen. Die Kurator*innen formulieren ein Programm, bei dem es „in wechselnden Distanzen – um politische und persönliche Vermächtnisse, die oftmals in Scherben liegen“, geht.[5] In den Scherben lassen sich auch die des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mitlesen.

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Der tibetisch-amerikanische Filmemacher und bildende Künstler Tenzin Phutsong thematisiert in seinen vier Videoinstallationen das Exil seiner tibetischen Eltern. Dreams (2022) wird als Internationale Premiere gleich auf der Betonfläche zum Eingang in die unterirdische Halle projiziert. Eine ältere Frau liegt träumend auf einer Mattratze unter einer Decke in einem grenzenlosen Raum. Ein gleichaltriger Mann legt sich zu der Frau seinen Arm um sie legend. Es sind die Eltern des Künstlers, die sich auf die Schlafmatte legen. Sie ähnelt jener, „auf der sie zu Beginn ihrer Immigration in den Westen schliefen“.[6] Die sich nach 2 Minuten wiederholende, intime Szene des Sich-zu-einander-legens und des Träumens findet an der Schnittstelle von Immigration und Zukunft des Exils statt. Träume von der vergangenen Zukunft im Exil in den USA und der Zeit in Tibet vermischen sich. In der Installation wird ebenso eine Decke aus Indien gezeigt, die in vielen tibetischen Haushalten der Diaspora zu finden ist.

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Die Decke aus Indien visualisiert einen Teil der persönlichen Erinnerungskultur an den Beginn der Immigration des Filmemachers, wenn Tenzin Phutsong dazu sagt: „Diese Decke war einer der Gegenstände, die meine Mutter mitnahm, als wir aus Tibet in die USA immigrierten. In dieser Arbeit wollte ich zu meinen frühsten und schönsten Erinnerungen zurückkehren. Ich wollte mich an diese Zeit der Unschuld erinnern.“[7] Und möglicherweise sind derartige Decken für Kinder während der Immigration weiterhin ein Gegenstand des Schutzes. Die billigen Synthetik-Decken sind weich und erlauben, darunter zu träumen. Vielleicht muss man sich ähnliches für Kinder in den Kellern und Bunkern der Ukraine vorstellen.

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Doch die Exilerfahrung ist dank der audio-visuellen Apps auf dem Smartphone heute vielschichtiger geworden. Mit den drei kleinformatigen Videoinstallationen Achala, Dancing Boy und Summer Grass in mit Jade und Kupfer besetzten Kästchen feiert Tenzin Phutsong die Möglichkeiten der Apps wie WhatsApp und WeChat. Die kleinen Kästchen mit den Bildschirmen sind Schatztruhen des Alltags für die seit 40 Jahren getrennte Familie des Künstlers. In Echtzeit kommunizierte und kommuniziert die Familie in den USA wieder über die chinesische Social-Media-App WeChat mit den Verwandten im tibetischen Hochland. „Die in Tibet gedrehten Szenen wurden auf der Social-Media-App WeChat zwischen Verwandten des Künstlers in Tibet und den USA geteilt und ermöglichen so medialen Zugang zu der autonomen Region.“[8] Doch was sind audio-visuelle Apps, die keine Kosten verursachen?

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Die audio-visuelle Smartphonekultur der Apps schrumpft nicht nur das Kino, sie ist zugleich hoch politisch, worauf Tenzin Phutsong aufmerksam macht: „Anlass für die Serie war das Verbot von WeChat, das 2020 in den USA in Kraft trat und die Kommunikation des Künstlers und seiner Familie mit ihren Verwandten praktisch unterband; ein Zustand, der bis zur Wiederfreigabe der App im August 2021 andauerte.“[9] Millionen, wenn nicht schon Milliarden Menschen nutzen derartige Apps nicht nur zur nationalen, so doch zur internationalen Vernetzung aus dem Exil in abgelegenste Winkel der Welt wie dem tibetischen Hochland. Der staatspolitische Versuch, derartige Apps wie durch die USA zu regulieren und zu verbieten, wird zum Politikum. Summer Grass aus dem Alltag eines Yakhirten in Tibet dokumentiert nicht nur den bäuerlichen Alltag. Vielmehr ermöglicht die App trotz der Gefahr, dass der chinesische Geheimdienst, umgangssprachlich KeGeBo, mithört und sieht, eine durchaus kulturbeeinflussende Kommunikation.

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In Dancing Boy von Tenzin Phutsong tanzt ein vielleicht sechsjähriger Junge in einem traditionell eingerichteten Raum mit Herd wild vor der Kamera nach einem zeitgenössischen, tibetischen Lied. Es könnte gut eine Smartphone-Kamera sein. Tanzt der Junge in seiner traditionell tibetischen Kleidung für die Kamera? Die Kamera ist mehr auf eine Totale als auf eine Naheinstellung ausgerichtet. Tanzt er für die Verwandten in den USA, mit denen er kurz zuvor tibetisch gesprochen hat? – Wir wissen es nicht. Doch fast überall auf der Welt wachsen heute Kinder mit einem Smartphone auf. Dort am Display lernen sie schon im frühesten Kindesalter Verwandte z.B. in den USA kennen. Oder sie sehen ihren Onkel aus Babylon, bevor sie sprechen können. Durch die Apps sind die Smartphone-Displays und -Kameras erst wirklich mächtig geworden.

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In Achala spricht die Mutter von Tenzin mit ihrer Schwester in Tibet, die traditionell gekleidet ist. Aktuell sind Tibet und die Diskussion um Chinas Einfluss im Hochland aus den aktuellen Medien gerutscht. Doch Tibet und chinesische Smartphones ebenso wie WeChat bleiben ein Politikum. Insbesondere dann, wenn die Regierungen in Peking oder/und Washington Kommunikation und Informationsströme kontrollieren wollen. Achala und Tenzins Mutter wollen vor allem ihre familiäre Kommunikation aufrecht erhalten. „Sie diskutieren darüber, wie man mithilfe von Bildern in Kontakt bleibt – die sicherste Art des Austauschs, wenn die Kommunikation staatlich überwacht wird.“[10] Sie wollen sich weiterhin Bilder und Videos schicken.

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Die Gefahren der Digitalität wie staatliche Überwachung generieren zugleich neuartige kulturelle Praktiken. Ob sie sicherer sind, bleibt offen. Das Verschicken von Bildern funktioniert anders als die Sprache, die nach kriminalisierten Worten und Begriffen von Überwachungssoftware gefiltert wird. Tenzin Phutsongs Videoinstallationen erinnern zumindest daran, dass staatliche Willkür und autokratische Regulierungen durch die Digitalität umgangen werden können. Es können immer wieder neue Praktiken entstehen, die Freiräume schaffen und Austausch ermöglichen. Und dann flimmern Animationen von Buddha mit einem Lotusblütenregen über den Bildschirm. Auf einmal wird der durchaus düstere tibetische Buddhismus bunt und fröhlich.

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Die monumentalen Wasserfälle von Walid Raad in Schwarz-Weiß sind digital und Geschichte. Sie füllen die ganze Höhe der Betonhalle aus und donnern zu Boden. Doch die Videoinstallation ist „stumm“. Wenn man vor diesen brausenden hohen Wasserfällen steht, übt das visuelle Erlebnis eine derart suggestive Kraft aus, dass sich ein Brausen und Donnern einstellt. Es lässt sich selbst auf den Fotos hören und es wird auf dem spiegelnden Boden der Halle fortgesetzt. Geradezu winzig lassen sich dann auf den zweiten, dritten oder erst vierten Blick prominente Staatspersonen bzw. Fotopuppen am Fuße der Wasserfälle erkennen: Breschnew, Gorbatschow, Reagan, Thatcher, Mitterand.

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Im Hintergrund der Wasserfälle unter dem Titel Comerade leader, comerade leader, how nice to see you (2022) des New Yorker Künstlers und Kunstprofessors Walid Raad liegt das Rauschen der Sprache, der Namen und Geschichte des Libanons. Raad erklärt zu seiner Videoinstallation: „In den libanesischen Kriegen formierten sich viele Milizen – fast wie aus dem Nichts. Sie wurden von unterschiedlichen Gönner*innen unterstützt, sei es finanziell oder mit Waffen. Um ihre Förderer*innen zu ehren, entschlossen sich viele Milizen, die wunderschönen Wasserfälle des Libanons nach den Regierungsoberhäuptern der Länder zu benennen, die sie unterstützten. Und wenn sich diese Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle ganz einfach umbenannt, wieder und wieder und wieder.“[11] Damit erinnert Walid Raad im Kriegsjahr 2022 nicht zuletzt an wechselnde Mythen oder Narrative, wie sie nicht nur in „den libanesischen Kriegen“ eingesetzt wurden.

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Das Visuelle ist politisch, wird machtpolitisch genutzt und wird durch Benennung territorial in Kriegen eingesetzt. Mao, Neru, Marcos etc. waren auch dabei. An dem lokalen, libanesischen Beispiel der mehrdeutig sogenannten „Flatterhaften Fälle“ wird eine territoriale Strategie sichtbar. Die Wasserfälle und ihre Benennung ist nicht flatterhafter als die Namens- und Sprachpolitik im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Paradoxerweise wird in der Verteidigungs- ebenso wie einer vermeintlichen Friedenspolitik leidenschaftlich mit historischen und emotionalen Argumenten darüber gestritten, welche Gebiete und welche Orte einen russischen oder einen ukrainischen Namen haben sollen. Es geht immer um die Benennung als eine territoriale Besetzung. Was als eine marginale Installation zu den libanesischen Kriegen eingeführt wird, trifft eine entscheidende Praxis im Krieg. – Über An Atypical Orbit und die darin versammelten Installationen wäre nicht zuletzt mit schönen Fotos noch viel zu schreiben. Doch letztlich soll die Besprechung vor allem zum Besuch anregen.

Torsten Flüh

Berlinale
Forum Extended
An Atypical Orbit
Silent Green – Betonhalle
27.2.–3.3.: 14–19 Uhr
4.+5.3.: 11–21 Uhr
Tickets an der Tageskasse(!) oder über den Arsenal-Webshop    


[1] Siehe Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[2] Siehe Torsten Flüh: Ankreuzen, anstellen und dann beten. Berlinale 2012 und Directors Lounge. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 11, 2012 00:01.

[3] LIMBO. In: 73. Berlinale Internationale Filmfestspiele Berlin (Hg.): Berlinale Programm. Berlin 2023, S 20. (Redaktionsschluss 01.02.2023)

[4] Siehe: Berlinale: Programm: Limbo.

[5] Silent Green: Programm: An Atypical Orbit – 18. Forum Expanded.

[6] Berlinale: Tenzin Phutsong: Dreams.

[7] Ebenda.

[8] Berlinale: Tenzin Phutsong: Summer Grass.

[9] Ebenda.

[10] Berlinale: Tenzin Phutsong: Achala.

[11] Berlinale: Walid Raad: Comerade leader, comerade leader, how nice to see you.

Vom vermessenen Augenblick

Messen – Moment – Leben

Vom vermessenen Augenblick

Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie

Er ist ständig in Berlin zu sehen und wird oft übersehen: Johann Gottfried Schadow. Schon am 19. Februar wird die in mancher Hinsicht überraschende Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie zu Ende gehen. Das mag vorausgeschickt sein, weil der Berichterstatter Ende Oktober die Eröffnung versäumte und Schadow mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor wie der sogenannten Prinzessinnengruppe ohnehin im Berliner Stadtbild kaum übersehen werden kann. An der Rekonstruktion der Quadriga wird noch in einer Schau-Werkstatt der Gipsformerei im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages direkt an der Spree gearbeitet. Das Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe wird nach seiner Restaurierung und dem Ende der Ausstellung am 22. April wieder in die Friedrichswerdersche Kirche zurückkehren.

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Quadriga und Prinzessinnengruppe sind Skulpturen, die als Bilder von Berlin zirkulieren. Ihre Entstehung wird kaum hinterfragt. Es sind aktuell zwei Gipsmodelle als Arbeitsstufen zur Marmorskulptur bzw. zum Kupferguss als Bild, die die Praktiken des Hofbildhauers des Königs und damit der drei Könige Friedrich Wilhelm II., Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. ins Forschungsinteresse rücken. Dem Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe „nagelte()“ Schadow 1795 nach der Präsentation in der Akademie der Künste und der vom König geäußerten Kritik an einem Blumenkorb in der rechten Hand der späteren Königin kurzentschlossen „ein in Gips getauchtes Tuch“ an[1], das seither mit seinem Faltenwurf entschieden zur Natürlichkeit der Darstellung von Luise und Frederike beiträgt. Auf das Gipsmodell folgte 1797 die lebensgroße Marmorskulptur, an die Schadow nur die letzte Hand anlegte, nachdem seine Ateliergehilfen die Übertragung vollzogen hatten.

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Die Maße der Skulpturen spielen für die Arbeitsweise Johann Gottfried Schadows eine entscheidende Rolle. Maße und Proportionen bringen Schadows Skulpturen hervor. Sein Grabmal des Grafen Alexander von der Mark, das er für Friedrich Wilhelm II. 1788-1790 ausführte, wurde beim Wiederaufbau der Alten Nationalgalerie 1949-1958 zum Museumsobjekt. Es war zuvor in der Dorotheenstädtischen Kirche an der Neustädtischen Kirchstraße aufgestellt worden, wo es bis zu seiner kriegsbedingten Auslagerung stand. Die Kirche wurde 1965 nach Kriegsschäden in der Hauptstadt der DDR abgetragen. Für den im Alter von 8 Jahren möglicherweise vergifteten Sohn des Königs mit seiner Geliebten Gräfin Wilhelmine von Lichtenau schuf Schadow als neuer Hofbildhauer ein antikisierendes Tableau mit einer Höhe von 623 cm aus Carraramarmor, Freiburger, Kauffunger und Prieborner Marmor mit Schicksalsgöttinnen, Tor zum Hades und einer liegenden, eher überlebensgroßen Knabenfigur mit antiken Sandalen, Toga, Schwert und Helm.

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Die patriarchale Macht Friedrich Wilhelms II. nicht zuletzt gegenüber seinem erstgeborenen Sohn und neun Jahre älteren Halbbruder Alexanders, Friedrich Wilhelm, wird durch die Ausmaße des Grabmals für ein Kind bildlich. So war es denn auch der König, der seinen Söhnen, Friedrich Wilhelm und Ludwig, Luise und Frederike von Mecklenburg-Strelitz vorstellte und die Prinzessinnengruppe wie in einem unschuldig, jungfräulichen Augenblick in Auftrag gab. Die Frage der Darstellung einer etwas freizügigen Brautschau, bei der der Vater die, wenn man so will, ebenso klassisch wie leicht bekleideten Körper der erwählten Schwiegertöchter von seinem Hofbildhauer formen und verewigen ließ, wird in der Ausstellung nicht diskutiert. Mit dem Originalgipsmodell und dem erstmals in einem Raum gegenüber gestellten Marmor treten vielmehr Arbeitsprozesse hervor, die selbst hierarchisch organisiert waren.

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Die Macht und ihre Proportionen werden ebenso an der Quadriga mit Siegesgöttin von Schadow visualisiert. Die Pferde wurden noch während der Ausführung in Holz 1790 von 3,15 m (10 Fuß) Höhe auf 3,77 m (12 Fuß) vergrößert. Die antike Siegesgöttin Viktoria kommt auf ca. 5 m Höhe.[2] Die monumentale Skulptur wurde nach der Eroberung Berlins durch Napoleon 1806 in zwölf Kisten zerlegt und über Elbe, Rhein und französische Kanäle als Trophäe nach Paris in den Louvre gebracht. Nach dem Sieg der Preußischen Armee in den Befreiungskriegen 1814 kehrte sie in 15 Kisten auf dem Landweg über Brüssel, Aachen, Düsseldorf, Hannover, Magdeburg und Potsdam zurück. Am 24. Oktober 1806 waren Französische Truppen im Schadow-Haus unweit der Dorotheenstädtischen Kirche mit Selim aus Dafour einquartiert worden. Vergeblich bemühte sich Schadow, den Abtransport der Quadriga nach Paris durch Baron Dominique-Vivant Denon zu verhindern.[3] Indessen erregte der Afrikaner Selim im Gefolge des Brigadegenerals Charles-Étienne-François de Ruty das physiognomische Interesse des Bildhauers, der ihn 1807 in Gips abformte.[4]

Selim da Dafour, 1807 und „Kaffernprinz„, 1823 von Johann Gottfried Schadow

Das Material Gips rückt nicht nur mit dem Originalgipsmodell ins Interesse von Kunst und plastischer Kunstproduktion, vielmehr noch wird es mit der Restaurierung der Prinzessinnengruppe und dem Gipsmodell der Quadriga, vor allem aber mit dem Kopf des Selim um 1800 zu einem Träger neuartigen Wissens und von Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht. Erlaubt das Material Gips einerseits den Austausch eines Blumenkörbchens gegen ein Tuch, das zu einem „Überspieltuch“ wird, so wird das Gipsmodell der Quadriga zu einem Speicher des Wissens vom Original. Und die genau vermessene Physiognomie Selims in Gips generiert im Kontext einer Erzählung von der Nation in den Befreiungskriegen mit Karl Friedrich Schinkel, der das Eiserne Kreuz als Symbol für die Partizipation jedes einfachen Soldaten an der Nation entworfen haben wird, als Gegenpart eine nationale Physiognomie. Am Körper und insbesondere an den Formen und Maßen des Gesichts wird die Nation lesbar gemacht. Gips wird zu einem Wissensspeicher:
„Darüber hinaus konnten weitere Überarbeitungen ausgemacht werden, die unter anderem maßgebliche Formveränderungen beinhalteten: Die anatomische Haltung von Luises rechtem Arm war verändert und verfälscht worden und auch an dem imposanten Faltenspiel des Überspieltuchs, welches Luise mit ihrer rechten Hand grazil aufrecht hält, waren zahlreiche Formveränderungen ablesbar […].“[5]

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Das „Faltenspiel des Überspieltuchs“ korrespondiert als Moment mit Schadows Konzept der Grazie. 1802 publizierte er den Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia, in dem er sein Konzept der Grazie formulierte, wobei er von „Reiz“ statt Grazie und dem Modus des Moments schreibt. Der Zeitschriftentext ist als autobiographischer Brief abgefasst: „Seit geraumer Zeit hatte ich es im Sinne, Ihnen, verehrter Freund, Nachricht zu geben, gewissermassen eine Rechenschaft abzulegen von meinem Künstlerleben.“[6] Der zeitliche Modus des Moments wird für die Grazie zum entscheidenden Modus der ästhetischen Form. Der Moment lässt sich nicht messen. Denn im nächsten Augenblick ist er bereits verloren. Es sind insbesondere die Falten eines Gewandes am lebenden Körper, die das Leben in einem Moment festhalten. Falten erhalten von Schadow im Unterschied zum Barock eine neuartige Funktion. Sie werden mit dem Leben und Lebendigem kurzgeschlossen.

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In der autobiographisch formulierten Schrift spielen die Falten eines Gewandes beim Renaissancemaler Raphael eine wichtige Rolle. Dieser „müsse bei seinen Gewänden nicht die Gliederpuppe, sondern ein lebendes Modell, mit Gewand bekleidet, gebraucht haben, indem das höchst ungezwungene und das von einem vorigen in den gegenwärtigen Moment Uebergegangene in den Falten mit einer Gliederpuppe nicht zu erreichen sei.“[7] Das „lebende() Modell“ verbürgt das Leben in der bildenden Kunst. Später verlangt der Moment, in dem sich die Grazie zeigt, einen „an List grenzenden Beobachtungsgeist“. Die momenthafte Erscheinung der Grazie, die bereits sieben Jahre zuvor für die Prinzessinnen nicht zuletzt mit dem „Überspieltuch“ hergestellt worden war, zu erfassen, erweist sich als schwierig.
„Die besondere Schwierigkeit liege darin, »Ähnlichkeit und Anmuth zu vereinigen, in einem Moment den Reiz zusammen zu fassen, der im Leben durch das beseelte Bewegte, Mannichfaltige unendlich vieler Momente liegt«. Dies erfordere, so der Bildhauer weiter, »ein zartes Kunstgefühl und einen, möchte ich fast sagen, an List grenzenden Beobachtungsgeist«.“[8]

Originalgips

Die Frage nach dem Moment oder „Augenblick“ bei der Darstellung der Grazie beschäftigt um 1800 nicht zuletzt seit Friedrich Schillers 1793 veröffentlichten Schrift Ueber Anmuth und Wuerde nicht nur den Bildhauer Schadow in Berlin, vielmehr wird Heinrich von Kleist mit der Veröffentlichung Über das Marionettentheater am 12., 14. und 15. Dezember 1810 in seinen Berliner Abendblättern sozusagen an einem lebenden Bild als zeitgenössischem Darstellungsgenre nach der antiken Plastik Der Dornauszieher die Grazie als einen Moment des Nicht-Wissens formulieren. Kleist greift in der Kunstdebatte um die Grazie mit einer an Schadows „Gliederpuppe“ erinnernden Konstellation von Marionette, Augenblick und Wissen ein:
„Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –“[9]

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Schadow formuliert als Bildhauer ein momentartiges Wissen von der Grazie, das sich dem Messen entzieht. Während bei ihm durch „ein zartes Kunstgefühl und einen (…) an List grenzenden Beobachtungsgeist“ die Grazie erfasst und dargestellt werden kann, parodiert Kleist den wissensförmigen Beobachtungsgeist mit dem die Grazie (zer)störenden Ausruf „er sähe wohl Geister!“. Kleist kannte die Prinzessinnengruppe von Schadow vermutlich nicht, obwohl sie als Zeichnung z.B. im Journal für Kunst und Kunstsachen, Künsteleien und Mode von 1810 kursierte.[10] Andererseits war sie der öffentlichen Ansicht und Wahrnehmung durch Luises Ehemann und König Friedrich Wilhelm III. entzogen worden. Doch Achim von Arnim hatte einen Monat zuvor am 12. November 1810 im „37te(n) Blatt“ der Berliner Abendblätter eine Übersicht der Kunstausstellung veröffentlicht, in der ein auf merkwürdige Weise entstandenes Bild der Königin eröffnend erwähnt wird:
„Allgemein war der Wunsch, das Bild der verehrten Königinn von geschickter Hand ähnlich bewahrt zu finden, unter verschiedenen, welche dieser Wunsch hervorgebracht, wurde das Bild von S c h a d o w vorgezogen, ungeachtet es blos nach anderen Bildern und nach dem Rathe verehrter Angehörigen der Verstorbenen gemahlt worden. Es übertrifft unleugbar alle Bilder, die wir von ihr zu sehen Gelegenheit hatten, die Anmuth ihrer Bewegungen, ihrer Freundlichkeit veranlassen die Maler sehr leicht, ganz fremdartige Ideale in ihr darzustellen; doch ist es unerklärlich, daß eine so allgemein bewunderte Königinn bei ihrem Leben nie von einem der besten Porträtmaler unserer Zeit gemalt worden.“[11]

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Könnte es von Luise ein Bild nach Hörensagen von Johann Gottfried Schadow gegeben haben? Obwohl der Name Schadow ohne Vorname und als allgemein bekannt von Achim von Arnim in der Zeitung gebraucht wird, müsste es sich um dessen Sohn, den Maler Wilhelm von Schadow (1788-1862), handeln. Denn es wird „Schadows Johannes“ als ein zweites Gemälde von ihm erwähnt. Der Name Schadow wird anscheinend schon 1810 in Berlin nicht mehr automatisch für den Bildhauer gebraucht, obwohl er mit der Prinzessinnengruppe, wie in der aktuellen Schadow-Ausstellung zu sehen, eine eigene Vervielfältigung der Darstellung in Biskuitporzellan, Terrakotta, Marmor und Karton in Gang setzte. Das Bild mit der Kinnbinde entwickelte als Büste und in Gemälden sozusagen ein Eigenleben. Das gibt auch einen Wink auf das Bild Luises, das heute wie selbstverständlich mit dem Namen Schadow verknüpft wird. In Achim von Arnims „Übersicht“ kommt die „Anmuth“ vor, die indessen mit „ganz fremdartige(n) Ideale(n)“ für ein Bild kombiniert wird.

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Im veröffentlichten Brief als Beschreibung der Kunstpraxis, der auf den 7. September 1802 mit der Unterschrift G. Schadow datiert wird, kündigt der Bildhauer bereits eine „Nationalphysiognomie“ als Projekt an. Insbesondere mit dem von Immanuel Kant seit 1775 kursierenden Begriff der „Menschenrace“ in Von den verschiedenen Racen der Menschen[12] knüpft Schadow in seinem Brief an den neuartigen Modus der Vermessung des Menschen an. Die Kombination der Nation mit dem seit Johann Caspar Lavater 1777 popularisierten Wissen vom Gesicht, der Physiognomie als ein Zeichenfeld, erhält mit dem Messen eine andere Qualität. Noch bevor Schadow 1806 auf Selim da Dafour trifft, entwickelt Schadow als Bildhauer, Vermesser und Zeichner bereits eine Matrix für die „Menschenrace(n)“. Grazie und physiognomische Vermessung des Menschen als „Nebenbeschäftigung“ der „mathematische(n) Beobachtungen“ korrespondieren bereits in der frühen Kunstpraxis miteinander.[13]  
„Und drittens die Nationalphysiognomie, nehmlich nur der einen Menschenrace, die wir unter den Namen der Caucasischen begreifen. Ich habe zu diesem Behufe Spanier, Russen, Türken, Juden u. m. a. gemessen, und nach Maassen gezeichnet, aber von allen diesen noch nicht genug beobachtet, um entscheidende Resultate aufstellen zu können.“[14]

Brustbild des Chinesen Ahok (gen. Haho), 1823

Das Fortleben der Skulptur wird am 5. Mai 1843 in der Akademie der Künste im Genre der sich in lebende Bilder verwandelnden Modelle von Johann Gottfried Schadow selbst befördert und berichtet. Die Gesellschaftskunst der lebenden Bilder war von Johann Wolfgang Goethe bereits 1809 in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften prominent verarbeitet worden als „Luciane“ im fünften Kapitel des zweiten Teils „in ihrem höchsten Glanze erschein(t). Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte.“[15] In seinem Bericht über Vorstellung lebender Bilder, welche im Saale der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin am 5ten Mai 1843 stattfand aus dem Nachlass, zeichnet Schadow neben einer Renaissancedarstellung die Prinzessinnengruppe. Als lebendes ebenso wie eingebildetes und nachgestelltes Bild wird die Skulptur wiederholt. In der Ausstellung wird Schadows Bericht in einer Tischvitrine gezeigt. Das Verstecken und Kursieren der Skulptur bis zur Vorstellung als lebendes Bildes wird selbst zum Modus der Prinzessinnengruppe.

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Die Bildlichkeit der Prinzessinnengruppe fasziniert in der Ausstellung. Sie hat nicht zuletzt mit dem Mythos der Königin Luise und dem schon von Achim von Arnim erwähnten Fehlen eines Portraits zu tun. Das fast zu übersehende „Überspieltuch“ mit seinem „Faltenspiel“, das nur durch das Originalgipsmodell augenscheinlich wird, gehört (nicht) zu Luise und wird zur Projektionsfläche für das Leben. Der postulierte Klassizismus und die Feier Johann Gottfried Schadows als Vater des Berliner Klassizismus bricht sich an dem in Gips getauchten Tuch, das keine andere natürliche Funktion hat, als eine Fehlstelle auszubessern. Dass diese Fehlstelle störte, wurde während der Restaurierung offenbar, weil die „anatomisch unstimmige() Armhaltung Luises und d(ie) Veränderungen des Überspieltuchs, die in der Vergangenheit am Originalgips vorgenommen“ worden waren, nun hervortraten.[16] Das „großangelegte Forschungs- und Restaurierungsprojekt zur Prinzessinnengruppe“[17], aus dem die Ausstellung hervorgegangen ist, legt insofern die Arbeitspraxis Johann Gottfried Schadows mit der Fehlstelle an einem zentralen Sammlungsstück der Alten Nationalgalerie offen.

Torsten Flüh

Alte Nationalgalerie
Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
bis 19. Februar 2023

Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
Hg. Yvette Deseyve  für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin unter Mitarbeit von Sintje Guericke
Beiträge von T. Bräunig, A. Czarnecki, D. de Chair, Y. Deseyve, F. Göttlich, S. Guericke, R. Hofereiter, S. Kiesant, F. Labahn, A. Seidel, V. Tocha, P. Winter
304 Seiten, 318 Abbildungen in Farbe
24 x 29 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4086-6
49,90 €

Und da war sie aus Gips
Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor
Mauer-Mahnmal im Deutschen Bundestag
Schiffbauerdamm, Eingang an der Spree
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
10117 Berlin
Dienstags bis Sonntags, 11 bis 17 Uhr


[1] Ausstellungsteil: Doppelt! Die Prinzessinnengruppe in Gips und in Marmor. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 176.

[2] Die Größenverhältnisse werden aktuell während der Restaurierung des Gipsmodells von 1942 im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages erfahrbar. Siehe: Und da war sie aus Gips – Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor. Bundestag

[3] Biografie und Werk. Johann Gottfried Schadow 1764-1850. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann … [wie Anm. 1] S. 271.

[4] Forschung für die Kunst. Schadows Polyclet und National-Physiognomien. In: Ebenda S. 212.

[5] Alexandra Czarnecki, Theresa Bräunig, Friederike Labahn: Neue Wege in der Gipsrestaurierung. Zur Konservierung und Restaurierung der Prinzessinnengruppe. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 112.

[6] Gottfried Schadow: Aufsätze und Briefe. Hrsg. v. Julius Friedländer. Stuttgart 1890, S. 56. (Digitalisat: Uni Mainz)

[7] Ebenda S. 62.

[8] Yvette Deseyve: Die »Göttinnen des Publicums«. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 42.

[9] H. v. K.: Über das Marionettentheater. (Fortsetzung). In: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter I. Brandenburger Ausgabe. Basel: Stroemfeld, 1997, S. 326.

[10] Siehe: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 52.

[11] aa.: Übersicht der Kunstausstellung. In: Ebenda S. 187-188.

[12] Siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[13] Gottfried Schadow: Aufsätze … [wie Anm. 6] S. 65.

[14] Zu Schadows Büsten für die Walhalla gehört als „Nationalphysiognomie“ ausgeführt zwischen 1807 und 1812 „Immanuel Kant“. Ebenda.

[15] Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. 1809. (Fünftes Kapitel, Zweiter Teil: Projekt Gutenberg.)

[16] Veronika Tocha: Originalgipse. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 63.

[17] Ralph Gleis: Vorwort. In: Ebenda S. 14.