Von der Poesie des Circus‘

Circus – Dokumentarfilm – Artisten

Von der Poesie des Circus‘

Zur Aufführung von Anna Peins und Claudia Reiches offenen C.R.I.C.U.S.F.I.L.M. im Hamburger Metropolis

Am Metropolis bin ich zu meinen Hamburger Zeiten bestimmt hunderte Male vorbeigegangen, weil es von der Dammtorstraße neben der imposanten Fassade der Staatsoper nur einen schmalen Eingang zu einem Hinterhof hatte. Unweit des Gänsemarktes, wo Lessing einst seine Hamburgische Dramaturgie schrieb und heute noch das neorokokoartige Denkmal für den Aufklärer-Dichter von Nathan der Weise (1779) steht, lag und liegt das Kommunale Kino der Hansestadt zentral. Das Metropolis als Kinosaal, früher unter dem Namen Filmtheater Dammtor aus den 50er Jahren, ging 1979 aus der Initiative einiger Filmemacher und Filmenthusiasten um Heiner Roß als Kommunales Kino hervor. Der Kinosaal im Untergeschoss wurde von der Initiative detaillegetreu in die 50er Jahre renoviert und neue Filmvorführgeräte wurden angeschafft.

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Martin Aust, Geschäftsführer und Programmverantwortlicher des Metropolis, stellte am 9. November persönlich den C.R.I.C.U.S.F.I.L.M. von Anna Pein und Claudia Reiche als ein einzigartiges und poetisches Filmdokument von 1988 vor. Im Film kommen eine Vielzahl von Fragen zum Medium als Dokument wie z.B. das historische Filmmaterial von VHS-Kameras, Schwarzweiß-Film-Fotografie und Tonspur zusammen. Doch die jungen Hamburger Filmstudentinnen stürzten sich furchtlos in das Abenteuer, den Circus Royal mit seinem Direktor Ewald Sperlich in seinem Winterlager aufzusuchen. Circus im Winterlager war das Gegenteil von Zirkus im Fernsehen mit Prominenten. Fasziniert und mit der Kamera forschend passierte den Filmerinnen eine Verwandlung, fortan wurde „Circus“ für sie zu einer Chiffre, die sie freundschaftlich teilten, aber weder erzählen noch zeigen wollten, wie Claudia Reiche in Erinnerung an Anna Pein zur Einführung mitteilte.

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Circus mit C haben Anna Pein[1] und Claudia Reiche als Schreibweise gewählt, weil das C die Form einer Manege hat, wenn man auf sie von oben blickt. Das C statt Z erinnert an den Blick der Artist*innen in der Zeltkuppel auf die Manege. Auf ihre Weise werden die Filmemacherinnen zu Artist*innen mit dem Medium VHS-Film. Im Unterschied zu Smartphone-Clips möglichst noch im LIVE-Modus auf TicToc oder Instagram etc. waren die Kameras und Videofilmkassetten Ende der 80er Jahre eine praktische Herausforderung. Zirkusfilme, Zirkusfilmserien und Zirkusshows zur Weihnachtszeit gaben die Formate für Erzählungen und Bilder vom Zirkus vor. Prägend war in Deutschland das Versprechen Menschen-Tiere-Sensation, das sich seit dem gleichnamigen Spielfilm von und mit Harry Piel aus dem Jahr 1938 ableitete. Bis 1997 fand in der Berliner Deutschlandhalle alljährlich eine Zirkusshow mit dem gleichen Titel statt. Seit 1999 läuft die „Circusschau“ als „M-T-S“ im Dezember als „Weihnachtscircus“ im Circus Berolina.[2]      

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Im visuell-narrativen Gedächtnis vom Zirkus der Bundesrepublik Deutschland wirkte in den 80er Jahren die Fernsehserie Salto Mortale – Die Geschichte einer Artistenfamilie von 1969 bis 1972 in der ARD nach.[3] Die griffige Titelformel Menschen-Tiere-Sensationen zerschellt am C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. der jungen Filmemacherinnen schon deshalb, weil die Sensationen visuell anders vermittelt werden. Die Menschen und Tiere werden ganz abgesehen vom matschigen Zeltplatz anders ins Bild gerückt. Das Netz der Circus-Familie wird nicht als dramatische Geschichte einer durch die Großstädte Europas von Hamburg bis Wien reisenden Artistenfamilie erzählt, vielmehr wird die nomadische Existenz des Circus‘ thematisiert. Der kleine Circus Royal zieht umher, nicht um an einem Ort anzukommen, vielmehr wird das Winterlager nur eine längere Unterbrechung seiner Bewegung im Raum.

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Die Visualisierungen vom Zirkus in seiner Existenz sind obwohl typisierend ambivalent. Die Figur des Clowns als Visualisierung des Zirkus‘ auf Plakaten ist selbst bei Berolinas M-T-S als ein Versprechen auf Spaß unerlässlich. Zugleich beherrscht die Figur des Clowns und des Zirkus‘ aktuell die Karikaturen zur Wiederwahl Donald Trumps als Präsidenten der USA und seines designierten Kabinetts.[4] Als ob es darum ginge, das Bild des Zirkus‘ und des führenden Clowns zu bestätigen, besuchte der gewählte Präsident eine zirkushafte Kampfsportveranstaltung im Madison Square Garden, um danach Fastfood im Privatjet zu verschlingen.[5] Mehr Zirkus-Klischee, als eine Wrestling-Show-Unternehmerin zur Bildungsministerin zu machen, geht eigentlich gar nicht, selbst wenn es Verbrecher als Tarnung benutzen. Das gerade wiederkehrende Bild vom Zirkus in Form der Wrestling-Show in den Mainstream-Medien gibt einen Wink auf die Abgründe des Zirkus-Narrativs bis hin zur Figur des Jokers in den Batman-Comics und -Filmen oder gar in Horrorfilmen wie Es (1990), Clown (2014) oder Terrifier III (2024).

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Die Figur des Artisten in der Circus-Kuppel erhält bei Anna Pein und Claudia Reiche eine überraschende filmische Umsetzung. Der geheimnisvollen Verwandlung der Royal-Familie um Ewald Sperlich und Nicki Heilig von Menschen im Winterlager in Artisten in der Circus-Kuppel ließe sich als das Hauptthema des Films formulieren. Denn sie lässt sich in ihrer Faszination nur mit den visuellen Konventionen von Spiel-, Fernsehfilm oder Fernsehzirkus verraten. Im Film und in der medial-gesellschaftlichen Wahrnehmung wendet Reiche im Schnitt ein geradezu artistisches Verfahren an. Sie nimmt ein Foto vom Artisten in der Circus-Kuppel und dreht das Foto wie einen, sagen wir, Salto mortale. Mit diesem Verfahren wird die vorherrschende Sichtbarkeit in den Medien durchbrochen. Mit Jacques Rancières Aisthesis, in dem es ihm mit „14 Szenen“ oder „Scènes du régime esthétique de l’art“[6] um gesellschaftliche Umbrüche durch ästhetische Inventionen geht, gesagt, wird das artistische Foto zum gesellschaftlichen Augenblick: der Dreh respektiert das Faszinosum gegen dessen visuelle Ausbeutung. – Der Clown ist im C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. keine Hauptfigur. Sie erscheint eher an den Rändern.  

© Claudia Reiche

Die ambige Figur des Clowns hat heutzutage die der Artisten oder „Stuntman Clowns“ verdrängt.[7] Die visuelle Verschiebung des Zirkus generiert sich an Rancière andockend aus ästhetischen Praktiken. Ein poetischer Artist, der in der Zirkuskuppel unter Einsatz seines Lebens – Salto mortale – Gesetze der Schwerkraft neu praktiziert, um sie mit Geschick außer Kraft zu setzen, ist Donald Trump nie gewesen. In der Figur des Clowns mit den Täuschungs- und Betrugspraktiken der Wrestling-Show und -Scripts, wohl auch bestimmter Kampfsportveranstaltungen als populäres Narrativ, entscheiden heute Wrestling-Managerinnen, Machtkalkül und Manipulationen statt ein poetischer Aufschwung. In der französischen Netflix-Serie Der Käfig (La Cage) wird derzeit die Karriere des jungen Mixed Martial Arts-Kämpfers Taylor (Melvin Boomer) als Erfolgsgeschichte zum Profisportler erzählt. Er kämpft sich gegen Widerstände z.B. von bösen, clownartigen Figuren durch, während im Madison Square Garden für Trump und Musk das abgekartete Spiel von vornherein entschieden war. Die Figur des Clowns legitimiert Rechtsbrüche, die 1988 noch undenkbar waren.

© Claudia Reiche

Jeder mediale Wechsel beispielsweise zu VHS und deren Handhabung in einem Misslingen generiert eine „ästhetische Revolution“, die eine „gesellschaftliche Revolution“ nach sich zieht. Nach Rancière habe die gesellschaftliche Revolution die ästhetische „nur verleugnen können, indem sie den strategischen Willen, der seine Welt verloren hatte, in eine Polizei der Ausnahme verwandelte“.[8] Die Ästhetik des Tramp im Amerikanischen bzw. Charlot im Französischen ist der des Clowns verwandt und wird durch ihre Handlungen in The Circus (1928) wie an der Maschine in Modern Times (1936) zu einer gesellschaftlichen Revolution. In Charlie Chaplins Figur des „Charlot“, eines komischen Vogels, kommen Maschine und Misserfolg zusammen:
„Die Maschine bewirkt Kunst, sofern ihre Erfolge und die ihrer Benutzer ebenso auch Misserfolge sind und ihre Funktionalität sich ständig gegen sie selbst wendet. Auf den Zeichnungen, die Warwara Stepanowa für die Sonderausgabe der Zeitschrift Kino-fot anfertigt, verwandelt sich ein ungeschickter Charlot, der auf den Rücken fällt, in eine Flugzeugschraube und schließlich in einen Mechaniker. Der Text von Alexander Rodtschenko, dem Ehemann der Zeichnerin, erhebt den Clown mit den Automatengesten in den Rang der Helden der neuen mechanischen Welt, zwischen Lenin und Edison.“[9]

© Claudia Reiche

Die Maschine in Form der VHS-Kamera bewirkt im C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. eine poetische Kunst des sichtbar Unsichtbaren zwischen den Bildern. Anna Pein und Claudia Reiche forschten mit den Kameras der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg[10] nach den Rändern dessen, was im Zirkusnarrativ und den visuellen Medien nicht vorkam und -kommt. Sie führten Interviews mit der Royal-Familie, fragten, wie nomadisch lebende Zirkuskinder in die Schule gehen, wenn sie nur für ein oder zwei Wochen an einem Ort bleiben. Sie ließen die Mitglieder der Familie wie Nicki Heilig immer wieder einzeln vor dem Circus-Zelt agieren. Zu sehen sind die Artist*innen, wie sie in ihren Kostümen durch einen Schlitz im Zelt verschwinden. Der Circus in der Manege wird ausgespart, was einerseits mit den Kameras und der sich gegen ihre Funktionalität wendende Bild- und Ton-Qualität zu tun hatte, andererseits soziale Geflecht aus Körperdarstellung, erotischen Versprechen, Kunststücken, Tieren wie dem Elefanten und den Circus-Kindern etc. bedachte. Jenseits der Sensationen ist der nomadische Circus bis heute harte, schlecht bezahlte Arbeit an den Rändern der Gesellschaft.

© Claudia Reiche

Filme entstehen nicht aus der Bewegung der Bilder, vielmehr durch Schnitte. Der Schnitt wird von den meisten Betrachter*innen nicht gesehen. Er entscheidet alles. Claudia Reiche hat wiederholt und lange am Schnitt ihres Films gearbeitet. Wie den Film vom Circus schneiden? Aus dem Bildmaterial mit seinen Mängeln entsteht durch die aufeinanderfolgenden Schnitte eine Syntax. Jeder Schnitt eine Entscheidung, was folgen soll. Heute gibt es digitale Schnittprogramme. 1988 war der Schnitt im VHS-Format auch eine Frage des Verlusts. Jederzeit konnte sich die Funktionalität des Formats gegen den Wunsch nach dem Film wenden. Andererseits erlaubte das Format VHS allererst die kostengünstige Produktion von viel Bildmaterial, um es danach zu schneiden. Das Dilemma von Bildmaterial und Schnitt, auch der Rhythmus der Schnitte war eine Herausforderung die jungen Filmemacherinnen. Die Antwort eines Passanten, dass er Zirkus nur im Fernsehen sehe, wird auf das Winterlager geschnitten.

© Claudia Reiche

Es ließen sich die Schnitte des C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. in ihrer visuellen Vielfalt und Schnitt-Rhetorik genauer analysieren. Denn mit ihnen kommen all jene Fragen wie Tiere im Zirkus zum Zuge, die zwischenzeitlich in größeren Debatten verhandelt worden sind. Ist der Zirkus tiergerecht? Wie müssen Tiere im Zirkus gehalten werden? Im Winterlager 1988 sind die Menschen und Tiere keine Sensationen, sondern krank. Nicht zuletzt beschäftigte die Frage der Herkunft der Zirkusmenschen die Filmemacher*innen. Einerseits wurden sie sehr offen als Begleiterinnen aufgenommen, andererseits gehörten sie nicht zur Royal-Familie. Die deutschen Namen Sperlich und Heilig verraten wenig über die Herkunft. Doch der nomadische Circus war immer auch eine Existenzform für Roma in Deutschland. Wie viel sollte im Film von der Herkunft sichtbar werden? In der Diskussion mit dem Publikum nach der Vorführung kam punktgenau die Frage der Herkunft zur Sprache. Die nomadische Circus-Existenz wird selbst im Kommunalen Kino Metropolis 2024 noch in ethnischen Abgrenzungen zu fassen begehrt!  

© (Claudia Reiche)

Auf der Schwelle zur in den 80er Jahren diskutierten Digitalisierung der Bildmedien bot das analoge VHS-Format erste erweiterte Möglichkeiten. Das Video Home System (VHS) war ein analoges Aufzeichnungsverfahren auf Magnetbändern in Kassetten von unterschiedlicher Länge bis zu 10 Stunden. Einerseits waren VHS-Kameras bzw. der Camcorder seit 1976 eine erhebliche Popularisierung des Filmens, weil sie günstiger als Schmalfilmkameras mit kurzen Filmrollen waren und mit dem Namen Video ein neues Sehen für jeden versprach. Mit der Tonspur waren sie eine erhebliche Weiterentwicklung zum Schmalfilm. Andererseits war das Schneiden der Magnetbänder war aufwendig. Das große Versprechen von VHS vom Leben, vom Urlaub, von der Familienfeier, vom Zirkus endlich einen Tonfilm machen zu können, stieß bestimmt hunderte Millionenfach an seine Grenzen. Pein und Reiche machten daraus Poesie.

© Claudia Reiche

Zusätzlich zum VHS-Videomaterial fotografierte Claudia Reiche mit einer Spiegelreflexkamera in analogem Schwarz-Weiß-Film den Circus und die Circusmenschen. Einen New Circus gab es noch nicht einmal in Ansätzen.[11] Im Unterschied zu der filmischen Fotosequenzen mit Nicki Heilig, der nicht nur eine Pistole ausprobiert und schließlich der Elefantenrüssel ins Bild drängt, sind die VHS-Materialien unscharf und stark verblasst über die Jahre. VHS hatte eine mangelhaftes Farbspektrum, das sich durch Streifen und andere Bildstörungen zwischenzeitlich fast aufgelöst hat. Dennoch gibt es den einzigartigen C.I.R.C.U.S.F.I.L.M., der mit seiner Frage der Sichtbarkeit nicht nur den Film vom Zirkus revolutioniert hat, vielmehr eine gesellschaftliche Revolution in der Sichtbarkeit von Circus mit eingeleitet hat.

© Claudia Reiche

Torsten Flüh

C.I.R.C.U.S.F.I.L.M.
D 1988, 42 min
Regie, Kamera, Ton, Schnitt: Anna Pein, Claudia Reiche
mit: Circus Royal (Direktor: Ewald Sperlich), Verwandten, Gästen, Mitreisenden


[1] Zu Anna Pein siehe auch: Torsten Flüh: „Im Moment höre ich Hörfunk…“ Zu Anna Peins Hörspiel Liebesbriefe ans Personal (2013) bei der Hans Flesch Gesellschaft im La bohème. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juni 2024.

[2] Menschen-Tiere-Sensation: M-T-S.

[3] Wikipedia: Salto Mortale (Fernsehserie).

[4] Beispielsweise: Süddeutsche Zeitung: „Clown“: Robert De Niro kritisiert erneut Trump. 29. Mai 2024, 10:18 Uhr.
Claudia Reiche hat 2017 für CulturMag als Reaktion auf Trumps 1. Präsidentschaft einen Text zum Clown geschrieben: Claudia Reiche: FUNNYSORRYANGRYANONYMOUS. Clowns Variante eines Manifests. CulturMag 2. April 2017.

[5] Deutschlandfunk: Trump und Musk bei Kampfsport-Spektakel in New York. 18.11.2024.

[6] Jacques Rancière: Aisthesis. 14 Szenen. Wien: Passagen, 2013.

[7] Ebenda S. 113.

[8] Ebenda S. 21.

[9] Ebenda S. 257.

[10] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[11] Zum New Circus vor allem ohne Tiere siehe z.B.: Torsten Flüh: Verliebt ins Display. Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2023.

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