Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Quilombismo – Welt – Pluriversum

Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Zur Wiedereröffnung des HKW in der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Ausstellung und Freiluftkonzert

Welt macht jetzt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im HKW. Bona, wie ihn viele im Berliner Bezirk Wedding nennen, wo er 2009 SAVVY CONTEMORARY gründete, bald ins aufstrebende Kulturquartier silent green zog und er bis zu seiner Berufung zum Intendanten des HKW in einem Brutalismus-Bau an der Reinickendorfer Straße kuratierte[1], ist jetzt, wie Claudia Roth in ihrer Eröffnungsrede betonte, „aus der Unabhängigkeit von Savvy herausgetreten und in die staatlich geförderte Kultur eingetreten“[2]. Die Welt ist eine andere geworden. Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hatte schon bei seiner Vorstellung des neuen HKW-Teams am 14. März mutig  und lässig dazu aufgerufen, das Substantiv world zum Verb zu machen: „to unworld, to world, to reworld“. Das Universum wurde von ihm zum Pluriversum erklärt.[3]

Fannie Lou Hamer Spiegelteich – Semra Ertan Garten – Pavillon raumlaborberlin

Am 2. Juni nachmittags um 16:30 Uhr hatte sich eine noch eher kleine Schar vor dem Eingang des HKW versammelt, um einer afrikanischen Zeremonie mit Wasser, elektrischen Teelichtern, einem weißen Granulat und geheimnisvollen Ornamenten beizuwohnen. Zugleich begann damit das neue Jahr nach dem nigerianischen Kalender der Yoruba. Fernsehteams und Fotograf*innen waren anwesend. Freund*innen, Künstler-Freund*innen wie Ulrike Ottinger und queere Afrika-Aktivist*innen wie Mahide Lein waren gekommen, bevor die offiziellen Reden der Kulturstaatsministerin, des neuen Intendanten und weiteren Redner*innen gehalten werden sollten. Mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde zugleich die Ausstellung O Quilombismo eröffnet. Auf der Dachterrasse spielte abends der kongolesische, in Frankreich lebende Sänger Awilo Longomba ein umjubeltes Konzert mit einem ironischen Berlin-Josefine-Baker-Zitat. Zwei Tänzer*innen von Longomba tanzten in Bananen-Röcken auf der Bühne.

Itō Noe Eingang

Die Koinzidenz der Bühnenshow mit den mondänen Auftritten von Josefine Baker auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor 1926 und ihrem Burlesque-Auftritt mit Bananen[4] war gewiss kaum jemandem im rhythmisch tanzenden, überwiegend jungen Publikum bewusst. Vielleicht spielte Awilo Longomba auf Baker in seinem Song an, was sich indessen nicht so genau verstehen ließ. Eine „Pluralität der Kulturen“ und die „Zukunft der Wissenschaft“ sollen nach der Eröffnungsrede Setzen wir unsere eigenen Akzente! von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Programm des HKW bestimmen.[5] Ndikung, der in Biotechnik über Leukämie an der Technischen Universität Berlin 2006 promoviert wurde und die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, kennt auch die Wissenschaften und ihre Wissensverfahren in den Naturwissenschaften. Kulturen und Wissenschaften generieren Wechselwirkungen, die politisch gerne noch separiert werden. Eine Kulturstaatsministerin des Bundes gibt es noch nicht lange in Deutschland. Und das Bundeswirtschaftsministerium heißt seit der aktuellen Bundesregierung Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz!

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Gegenüber seinem Vorgänger und einstigem Goethe Institut-Mitarbeiter Bernd Scherer als Intendant des HKW ist der Posten für Ndikung weitaus politischer geworden. Die Debatten um Kulturen und Wissenschaften, Geschichten und Künste, Politiken und Erbe haben sich zugespitzt. Wie Claudia Roth in ihrer sehr persönlich gehaltenen Rede mitteilte, schrieb Ndikung vor knapp zehn Jahren seiner Mutter, dass er die Wissenschaften („sciences“) aufgegeben habe. Doch als Intendant befindet er sich nun mitten in den Debatten um Wissenschaften und Kulturen:
„Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie und zahlreiche Umweltkatastrophen haben gezeigt, wie begrenzt die uns bekannten Wissenschaften sind. Die Zukunft der Wissenschaft lässt sich daher nur aus ihrer Geschichte heraus verstehen, und diese Geschichte ist eng mit der Erfindung der Moderne und ihrem nahen Verwandten, dem Kapitalismus, verbunden. Sie ging auch einher mit dem Kolonialismus, einem wissenschaftlich verbrämten Rassismus und der Diskriminierung von Frauen. Welche alternativen – für den Menschen wie die Natur gerechteren – Wissenschaften gibt es und wie kann man ihren Erkenntnissen Raum verschaffen?“[6]    

Miriam Makeba Auditorium, 14. März 2023

Bernd Scherer versuchte, die Debatten um die Welt und die Kulturen im Anthropozän-Projekt zu bündeln.[7] Das Zeitalter des Menschen und seine Industrialisierung hatte alarmierende Klimaspuren hinterlassen, was um 2014 keinesfalls dazu führte, Wirtschaft und Klimaschutz in einem Bundesministerium zu bearbeiten. Lexikalisch erwies sich das Anthropozän als ein neuer Begriff, der kaum verbreitet war. Der unablässige Verbrauch der Ressourcen der Erde kündigte das Ende der Welt, wie wir sie kannten, an. Die Fakten über den Verbrauch der Ressourcen änderten wenig. Kaum zehn Jahre später spricht Ndikung von der Welt im Plural – „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ –, womit ein entschiedener Perspektivwechsel vollzogen wird:
„Wir brauchen Kraft und Inspiration für die Suche nach Antworten auf die virulente Fragen, was mir der Welt zu tun ist, und wissen: Wir dürfen nicht müde werden, sie zu stellen. Sie laut zu stellen.
Denn diese Welten sind unsere, for better or worse.“[8]   

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Gegenüber dem Philosophen und Kulturmanager Scherer knüpft Ndikung an einen Diskurs der Praxeologie an, wenn er formuliert: „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ Das kulturelle und historische Erbe der Deutschen wurde denn auch wie Skylla und Charypdis von der Kulturstaatsministerin rhetorisch aufgebaut. Was sich leicht und flockig als Welten und Kulturen formulieren lässt, wird zu einer Gefahr, wenn gleichwertige Welten aufeinanderprallen. Roth wünschte sich ein „modernes Deutschland“ als „Einwanderungs- und Erinnerungsland()“. „Kurz: … eine() Kulturnation, die diesen Namen verdient.“[9] Als Intendant des Hauses der Kulturen der Welt muss Ndikung nun zwischen der Einwanderung aus vielen, heute islamisch geprägten Ländern Afrikas und der Erinnerung an die Shoa geradezu bundespolitisch navigieren. Ndikungs in häufigen Anzugswechseln zwischen Rosa, Blau und Schwarz performte, anerkennenswerte Lässigkeit im Unterschied zum Understatement eines Yamamoto-Schwarz ist erfrischend und gefahrvoll.

Prof Dr Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Staatsministerin Claudia Roth, Acts of Opening Again: Eine Choreografie der Konvivialität, Haus der Kulturen der Welt (HKW), Les Nana benz Terasse, © Marvin Systermans/HKW (Ausschnitt)

Das HKW wurde unter dem Namen „Kongresshalle“ als Geschenk der amerikanischen Regierung zur Interbau im Hansaviertel 1957 den Ideen und der Lebenspraxis Benjamin Franklins gewidmet. Die erst kürzlich restaurierten Widmungsinschriften auf Englisch und Deutsch werden nun durch Texte von Erna Brodber, Saša Stanišič, Ken Bugul, Hinemoana Baker und anderen auf farbigen Plexiglasplatten kontrastiert. Das Geschenk, englisch gift, war immer ambig. Die US-Regierung mit John Foster Dulles als Außenminister in der Regierung von Dwight D. Eisenhower und Richard Nixon als Vizepräsident war in eine ganze Reihe von Konflikten verstrickt. Allerdings stand für John Foster Dulles vor allem die Gefahr kommunistischer Regierungen in Nordafrika im Blickfeld. Die Institutionen der Moderne wie dem Museum gilt Hinemoana Bakers Kritik, die seit 2015 in Berlin lebt und väterlicherseits Maori-Angehörige ist.
„We’re carved into sky, born into museums. Marched into land, old money. We are layers and slayers and everywhere, all. Don’t ask me to speak for the nations, we shift the hate with the light from our fascinators.”
(Wir sind in den Himmel gemeißelt, in Museen hineingeboren. Ins Land marschiert, altes Geld. Wir sind Schichten und Jäger und überall, alle. Bitten Sie mich nicht, für die Nationen zu sprechen, wir vertreiben den Hass mit dem Licht unserer Faszinatoren.)

Alberto Pitta

Eine Reihe von Umbenennungen zur Wiedereröffnung des Hauses lässt einen Bruch mit seiner Geschichte erkennen: Itō Noe Eingang, Sylvia Wynter Foyer, Mrinalini Mukerjee Halle, Hedwig Dohm Eingang, Paulette Nardal Terrasse, Angie Stardust Foyer, Lili Elbe Garten, Anna Seghers Garten etc. und nicht zuletzt das Miriam Makeba Auditorium. Wohl allein die Magnus Hirschfeld Bar hieß schon vor dem Wechsel so. Das ist eine ziemlich plurale, feministische Raumverteilung zwischen der Frauenaktivistin Hedwig Dohm, der dänischen Transfrau Lili Elbe, der japanischen Feministin und Anarchistin Itō Noe, der jamaikanischen Schriftstellerin und Philosophin Sylvia Wynter, der indischen Bildhauerin Mrinalini Mukerjee, der südafrikanischen Sängerin, Komponistin, Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Miriam Makeba u.a.m. Die durch (weiße) Männer konstruierte Kongresshalle mit ihrer Benjamin Franklin-Widmung erhält mit den Namen ihrer Räume eine feministisch-diverse Widmung und Geschichte. Allein Magnus Hirschfeld als weißer, schwuler Mann, „jüdisch-deutscher Arzt, Sexualwissenschaftler, Empiriker und Sozialist“ bleibt in das Haus eingeschrieben:
„2015 nach Magnus Hirschfeld benannt, bewahrt die Magnus Hirschfeld Bar dessen zukunftsweisendes Erbe und wird künftig vom angrenzenden Lilie Elbe Garten ergänzt.“[10]      

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Die Ausstellung O Quilombismo führt wiederum einen nicht ganz neuen, aber in Deutschland zuvor kaum verwendeten Begriff von gesellschaftlichem Handeln ein, den Abdias do Nascimento 1980 als eine „Afro-Brazilian Political Alternative“ beschrieben hat. 2019 wurde in Sao Paulo postum eine größere Dokumentensammlung zum Quilombismo aufgelegt.[11] Ndikung hat seinem Vorwort eine längere Passage aus diesem Text vorausgeschickt. Das ist nicht ganz einfach zu lesen, weil die Leser*innen auf diese Weise direkt in die Begriffsbildung aus der Brasilianischen Sklaverei-Geschichte hineingestoßen werden. Nascimento formuliert den Begriff neu, um ein Gesellschaftsmodell zu konstruieren. „Quilombo“ bedeute keinesfalls „nicht entflohener Sklave“, vielmehr bedeute es „brüderliche und freie Wiedervereinigung oder Begegnung“.[12]
„Die quilombistische Gesellschaft verkörpert ein hochentwickeltes Stadium des soziopolitischen und menschlichen Fortschreitens im Sinne eines wirtschaftlichen Egalitarismus.“[13]

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Mit O Quilombismo vollzieht das HKW unter seinem neuen Intendanten eine Geste der Revolution. So zitiert Ndikung aus dem Manuskript Black Metamorphosis: New Natives in a New World von Sylvia Wynter als eine „Spirale … der Geschichte des Quilombismo“. Geschichte wird von ihm als Prozess von Häutungen formuliert. „Durch ihre Häutungen wird die Geschichte aufgefrischt, neu justiert, regeneriert und verjüngt, und gewinnt so stets einen weiteren Anfang, ein weiteres Ende hinzu.“[14] Das Häutungsparadigma steht jenem einer Erinnerungskultur an die Shoa vielleicht nicht entgegen, denn auch diese hat sich in Deutschland über einen längeren Zeitraum entwickeln müssen, aber es greift eine hegemoniale Geschichtsschreibung herrschender Klassen und Staaten an. Die 1928 in Holguin, Kuba, geborene jamaikanische Schriftstellerin Sylvia Wynter lebt als Professor Emerita an der Stanford University in Kalifornien. Sie war Vorsitzende für Afro-American Studies und kritisiert die „kulturelle Kolonisierung“.
„Jede Rückführung, ob symbolisch oder tatsächlich, war ein schwerer Schlag für die große kulturelle Mission der Revolution. […] Jedes Entkommen, jede Flucht war eine Form von Maroonage, diese Suche nach einem freien Ort, von dem aus die fortwährende Revolte gegen die kulturelle Kolonisierung seitens der unentwegt produktiven Bourgeoisie geführt werden konnte, die Amerika nach ihrem Abbild zu entwerfen suchte.“[15]

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Der von Sylvia Wynter verwendete Begriff der Maroonage kommt aus dem Spanischen von cimarron für entlaufenes Vieh, das in der Freiheit der Wildnis lebt und wird ebenso für Fluchtbemühungen von versklavten Afrikanern gebraucht. Insofern geht es Wynter um ein positives Verständnis von Flucht als ein ursprüngliches Recht auf Flucht. Wynter schreibt und argumentiert auf poetische Weise. Die Geschichte der Sklaverei in Brasilien, Jamaika wie Amerika schimmert deutlich als immer noch zu wenig bearbeitetes Thema programmatisch in der Ausstellung durch.[16] Freiheit artikuliert sich auch in den großformatigen, bunten, überschwänglich bedruckten Stofftüchern von Alberto Pitta, der 1961 in Salvador de Bahia geboren wurde und weiterhin dort lebt. Er leistet damit „einen wichtigen Beitrag zur afro-bahianischen Ästhetik, die mit Stickmotiven, spirituellen Symbolen der diasporischen Candomblé-Religion und Dokumentarfotografie dem Karneval ein ganz eigenes Gepräge  gibt. Nicht von Ungefähr würdigen Pittas Stoffe oft afro-bahianische Meister wie den Künstler und Candomblé-Priester Meister Didi.“[17]    

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Es ist ein Feuerwerk der visuellen Kulturen, das quasi überall im Haus mit der Ausstellung entfacht wird. Die Ausstellung erfordert allerdings auch das Handbuch, um die Skulpturen, Bilder, Videos, Stoffe näher erschließen zu können. Das günstige Handbuch in englischer und deutscher Version ist mit viel Sachverstand und Engagement zusammengestellt. Denn indigene Visualisierungen funktionieren häufig auf andere Weisen als die europäischen. In der Mrinalini Mukerjee Halle dominiert geradezu eine Art monumentaler Schlangenhahn Piwuchen (2023) von Bernardo Oyarzún den Raum.
„Im Kontext des Widerstandes der indigenen Mapuche-Kultur („Menschen der Erde“) in Chile und Argentinien thematisiert Bernardo Oyarzún in seiner Arbeit Erfahrungen mit Rassismus. Der Künstler, der selbst von den Mapuche abstammt, reaktiviert seit den 1990 Jahren ihre populären Praktiken und Ästhetiken, um das in ihnen geborgene Wissen zu bewahren – sei es in Handwerk, Erzählungen, kulinarischen Fertigkeiten, Ritualen oder Festivitäten. In Kilombo: Piwuchen nimmt er die mythologische  Gestaltwandler-Figur Piwuchen die allegorische Form eines Paradewagens an, wie er für die Welt des Karnevals typisch ist.“[18]

Bernardo Oyarzún: Kilombo: Piwuchen (2023)

Die Geschichten und Erzählungen zu den visuellen Installationen wie Transatlantic Stargate (2023) von Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic sind unerlässlich. In der Ausstellungshalle sind Arbeiten oft mehr oder weniger direkt für O Quilombismo angefertigt. Indigo-gefärbte Textilien mit unterschiedlichen Mustern lassen den aus Panama stammenden Guzman mit der in Jugoslawien geborenen Jankovic zu einem transatlantischen Projekt aufbrechen.
„Für O Quilombismo präsentieren sie ein neues Arrangement eigens hergestellter Textilien, die in der traditionellen Indigo-Blockdrucktechnik Ajtakh gefärbt wurden. Wie schon bei früheren Werken kooperieren Guzman und Jankovic mit dem Team von Sufiyan Ismail Khatri im indischen Ajrakhpur. Das 4.000 Jahre alte Ajrakh ist mehr als eine Drucktechnik; im Geiste des Quilombismo ist es eine Lebens- und Lernweise, die über Generationen hinweg mündlich weitergegeben wurde.“[19]

Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic: Transatlantic Stargate (2023)

Quilombismo zeigt sich in der Ausstellung als eine äußerst vielschichtige Strategie, die Queerness miteinbezieht. In der Magnus Hirschfeld Bar treffen wir auf den international agierenden philippinischen Tänzer, Performer und Aktivisten Joshua Serafin. Zwar wird die Performance VOID überwiegend nur als Film gezeigt, aber am 23. Juni soll sie live aufgeführt werden. Der spanische Kolonialismus des 17. Jahrhunderts hat mit der katholischen Mission und seinem Binarismus von Adam und Eva nach Serafin eine indigene Queerness zerstört.
„Serafins Beitrag zu O Quilombismo ist der Film VOID, Teil der Trilogie Cosmological Gangbang (2021-2024), der auf eine totale Nicht-Präsenz Bezug nimmt – und das damit verbundene Potenzial, etwas – was auch immer – zu werden: eine Situation, in der sich queere Subjektivitäten wiederfinden, wenn sie sich mit ihrer Tilgung aus Geschichte und Zukunft konfrontiert sehen. VOID ist eine Dualität: eine nicht-binäre, geisterhafte Gottheit mit Braunem Körper und alternativer Identität, sowie ihre eigene Repräsentation oder deren Fehlen. Sie bricht auf, findet Stärke in sich selbst und bietet Zuflucht in der indigenen Welt der Vorfahren und ihrer Queerness. Passender Modus hierfür ist der Mythos, der für die fluiden, vorkolonialen philippinischen Vorstellungen der Geschlechter charakteristisch ist, in einer mündlich über Generationen hinweg überlieferten Spiritualität.“[20]

Joshua Serafin: VOID (2023)

Das Handbuch in Englisch und Deutsch zur Ausstellung O Quilombismo ist nach dem Eröffnungswochenende vergriffen. Das ist erfreulich, weil es das große und intensive Interesse am – neuen – HKW zeigt. Aktuell wird das Handbuch bis zum Eintreffen der 2. Auflage als PDF zur Verfügung gestellt. Ein Ausstellungsbesuch hat immer mit Wissensformationen zu tun, die wir gemeinhin Interesse nennen. Allerdings werden meistens Kataloge wie zuletzt bei Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit publiziert, die das Vorwissen nicht leichter erweiterbar machen. Oft wird die visuelle Wahrnehmung schon als Wissen verkannt. Mit der Ausstellung und dem Handbuch ist es dem HKW-Team um Cosmin Costinaş und Paz Guevara gelungen, das Nichtwissen als eine Barriere durchlässig zu machen und Interesse zu wecken, indem sie das „Publikum“ dazu einladen, „sich ein Bild vom HKW als einem konvivalen, kollektiv organisierten und pluriversalen Haus zu machen. O Quilombismo folgt in seiner Komposition den Rhythmen der ästhetischen Welten, die das Projekt versammelt.“[21]

Olu Oguibe: DDR: Decarbonize, Decolonize, Rehabilitate (2023)

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat mit dem Eröffnungswochenende die Rede vom Pluriversum als eine Praxis von Vielfalt in der Welt eindrucksvoll vorstellen können. Vielleicht haben am Eröffnungstag einige Besucher*innen das Handbuch nur genommen, weil es kostenlos auslag. Entscheidend ist allerdings, ob sie sich von den Texten begeistern lassen. Die geradezu homerischen Gefahren – Skylla und Charybdis – der Intendanz sind nicht zuletzt deshalb von der Kulturstaatsministerin angesprochen worden, weil Kulturpolitik an politischer Brisanz in einer pluralen Welt gewonnen hat, wie der BDS-Skandal um die documenta fifteen im Sommer 2022 gezeigt hat. Die Hegemonie der „westlichen“ von amerikanischen Konzernen zwischen Warner Bros. Discovery, Netflix oder Amazon dominierten Kultur, ganz zu schweigen von einer kulturdeutschen Akademismus, steht exemplarisch mit O Quilombismo wenigstens zur Debatte.

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Auf der Paulette Nardal Terrasse waren nicht nur die Fahnen des Dichters und bildenden Künstlers Olu Oguibe mit Anspielung auf das deutsche Schwarz, Rot, Gold und Grün mit den Buchstaben D, D, R gehisst. In der Nähe zum Kanzleramt und dem Regierungsviertel konnte diese Buchstabenfolge für Irritationen sorgen. Doch „Oguibes Fahnen (…) mit den Buchstaben DDR bestickt, die hier für Dekarbonisieren, Dekolonisieren, Reparieren (Rückführen oder Rehabilitieren) stehen“[22], verweisen einmal mehr auf die Vieldeutigkeit und die Praxis der Benennung als Strategie. Unter den Fahnen von Olu Oguibe fand zur Musik von Awila Longomba am Freitagabend eine erfrischend wilde Party statt, in der sich die Debatten und Wissensformationen rauschhaft verflüchtigten.

Torsten Flüh

Haus der Kulturen der Welt
Ausstellung
O Quilombismo
Vom Widerstand
und Beharren.
Von Flucht als Angriff.
Von alternativen
demokratisch-
egalitären politischen
Philosophien
bis 17. September 2023
Mi.-Mo. 12:00-19:00 Uhr
Tickets: 8 €/6 € ermäßigt.

Beim Kauf einer Eintrittskarte
zur Ausstellung ist das Handbuch
im Preis inbegriffen.

Freier Eintritt immer montags
und jeden ersten Sonntag im Monat
(Museumsmontag Berlin)

Joshua Serafin
VOID
Live-Performance
23. Juni 2023


[1] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[2] Bundesregierung: Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Wiedereröffnung des Hauses der Kulturen der Welt unter dem neuen Intendanten Ndikung. Freitag, 2. Juni 2023.

[3] Anm. der Berichterstatter hatte die Pressekonferenz am 14. März 2023 im Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt besucht, kam aber nicht dazu, eine Besprechung zu schreiben.

[4] Zu Josephine Baker in Berlin siehe: Torsten Flüh: Macht Euch sichtbar! Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020 Begegnungen und Verbindungen – sichtbar werden – sichtbar bleiben in der P120. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2020.

[5] Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Setzen wir unsere eigenen Akzente! In: Eröffnungsprogramm 2.- 4. Juni 2023, S. 1. (Zeitungsformat).

[6] Ebenda.

[7] Zum Anthropozän-Projekt siehe: Torsten Flüh: Die Erde, die Fakten und der Mensch – Zum Anthropozän-Projekt im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Oktober 2014. (als PDF auf Publikationen)

[8] Bonaventure …: Setzen … (wie Anm. 5).

[9] Bundesregierung: Rede … [wie Anm. 2].

[10] HKW: Andere Geschichten schreiben: Zur Benennung der Räume am HKW. In: Eröffnungsprogramm … [wie Anm. 5] S. 7.

[11] Abdias do Nascimento: O Quilombismo. Documentos de uma Militância Pan-Africanista, 3a. ed. Com textos de Kabengele Munanga e Valdecir Nascimento. São Paulo: Editora Perspectiva / IPEAFRO, 2019.

[12] Zitiert nach Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: O Quilombismo. Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien. In: HKW: O Quilombismo. Berlin: HKW, 2023, S. 6.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 7.

[15] Zitiert nach ebenda.

[16] Zum Thema von Sklaverei und Rassismus siehe auch: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[17] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 45.

[18] Ebenda S. 104.

[19] Ebenda S. 108.

[20] Ebenda S. 138.

[21] Cosmin Costinaş, Paz Guevara: Ein Gang durch die Ausstellung O Quilombismo. In: Ebenda S. 20.

[22] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 240.

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