Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“

Rasse – Erbe – Begriff

Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“

Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek

2024 steht, wenn die Covid-19-Pandemie beendet sein wird, was wir nicht wissen, am 22. April die Feier des 300. Geburtstags von Immanuel Kant an. Schon im Juni 2016 hatte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zu einer eintägigen Tagung „Weg zum Jubiläum“ mit Workshops zu „Kant und die Politik“ und „Kant und die Aufgabe der Kultur“ eingeladen.  Bereits seit 2011 wurde eine „Neuedition, Revision und Abschluss der Werke Immanuel Kants“ auf den Weg gebracht, da die Akademieausgabe seiner Werke von 1894 u.a. den wissenschaftlichen Maßstäben der Editionsforschung nicht mehr genügt. Am 9. November 2020 eröffnete Marcus Willaschek als Moderator die Livestreams zur „Interdisziplinären Diskussionsreihe“ der BBAW „Kant – Ein Rassist?“.

Für Februar 2021 sind weitere Livestreams zur drängenden Frage nach dem Rassismus in Kants Schriften, und ob Kant in den Fokus der Cancel Culture geraten könnte, angekündigt. Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fächern wie der Rassismusforscher Christian Geulen aus der Geschichtswissenschaft, die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt oder der Rechtswissenschaftler Cengiz Barskanmaz, die grundlegende Arbeiten in ihren Feldern publiziert haben, fragen danach, ob vor allem 2 kürzere Schriften von Immanuel Kant rassistisch formuliert sind.[1] Sie sind bereits zu widerstreitenden Urteilen gekommen. Am 5. Februar werden die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan, der Politikwissenschaftler Rainer Forst und der Mitarbeiter für das Kant-Editionsprojekt Michael Hackl über das Thema „Universalismus und Rassismus“ diskutieren.[2] Was hätte die Literaturforschung zur Diskussion beitragen können?

Der Philosoph, Kant-Experte und Mitherausgeber Marcus Willaschek der Akademieausgabe gebrauchte in seiner Anmoderation den neuartigen Begriff Cancel Culture, der in der Rassismusdebatte seit jüngster Zeit, nämlich seit Mitte 2020 in Umlauf ist. Müssen wir Kant canceln – sein Denken löschen? Der Begriff hängt eng mit Aktionen der Black Lives Matter-Bewegung in den USA und dem UK nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd bei dessen Festnahme durch weiße Polizisten in Minneapolis am 25. Mai 2020 zusammen. Während der folgenden Demonstrationen und Proteste wurde u.a. spektakulär die Statue von Edward Colston in Bristol von ihrem Sockel gerissen und im alten Hafenbecken versenkt. Dazu möchte ich ein persönliches Déjà Vu vorausschicken, weil Bristol und die Statue von Edward Colston nicht unbedingt zu den Reisezielen und zum Allgemeinwissen deutscher Reisender in Großbritannien gehören.

1999 reiste ich mit einer Gruppe Student*innen von Dublin nach Bristol, um an einem Studententheatertreffen teilzunehmen. Bristol klingt nach Luxus und Luxushotels wie das Hotel Bristol der Kempinski-Gruppe auf dem Kurfürstendamm oder das Hotel Bristol in Wien.  Bristol galt wie Dublin im 18. Jahrhundert als besonders reiche und schöne Stadt im British Empire. Beide machten sich beinahe den Rang der zweiten Stadt im Königreich streitig, obwohl Dublin mit dem Trinity College bereits seit 1592 eine Universität besaß. Bristol entwickelte sich indessen zu einer führenden Stadt des Handels. In der Stadtmitte, ganz in der Nähe des College Green und der University of Bristol stieß ich auf die Statue des elegant dargestellten Edward Colston (1636-1721), die ihm 1895 von Bürgern Bristols errichtet worden war, weil sie ihn als Philanthrop ehren wollten.[3] Doch Colston war wie die Stadt am Ende des 17. zum 18. Jahrhundert vor allem durch den Handel mit Sklaven für Westindien überaus reich geworden.

Als ich am 8. oder 9. Juni 2020 in den Tagesthemen sah, wie die Statue des menschenfreundlichen Kaufmanns und Sklavenhändlers in den Narrow Quai gestürzt wurde, wo die Schiffe für den Handel mit englischen Waren, afrikanischen Sklaven und Rohrzucker aus Westindien einst lagen, wunderte mich das gar nicht. Der Narrow Quai gehört mit der Waterfront seit Ende der 90er Jahre zu den malerischsten Wohn- und Geschäftsgegenden mit Sportbootliegeplätzen. 1999 fühlte ich bei meiner Reise den zerreißenden Widerspruch zwischen der Schönheit, dem einstigen Reichtum und dem rassistischen Menschheitsverbrechen des Handels mit Sklaven aus Afrika über Dreiecksgeschäfte und durch die in London gegründete Royal African Company.[4] Die Kaufleute von Bristol beherrschten den weltweiten Sklavenhandel über mehr als ein Jahrhundert. Bristol am Avon in Südwestengland ohne direkten Zugang zum Meer hatte im 18. Jahrhundert auf immer noch weithin unbekannte Weise vom Rassismus profitiert. Dafür war die Statue Edward Colstons an der Colston Avenue das Symbol.   

Die Statue von Edward Colston, die am Ende des 19. an einen Menschenfreund an der Schwelle zum 18. Jahrhundert erinnert – „Erected by citizens of Bristol as a memorial of one of the most virtuous and wise sons of their city” –, visualisiert eine nicht nur lokale Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung, die den Rassismus des Sklavenhandels leugnet.[5] Das viktorianische England bzw. Bristol machte aus Colston ein Vorbild für Philanthropie und einen der tugendhaftesten wie vernünftigsten Söhne der Stadt, gerade weil seine Vernunft in seiner Geschäftstüchtigkeit mit Westindien bzw. den sogenannten Trauminseln der Karibik bestand. Es ist mir wichtig, an diesen vor allem ökonomischen, weltwirtschaftlichen Kontext des Rassismus im 18. Jahrhundert zu erinnern, bevor Kants Texte in ihrer literarischen Rahmung und Abfassung analysiert werden sollen. Die Funktion Bristols an der Schnittstelle des Handels zwischen Europa, insbesondere London, Afrika und den westindischen Inseln in der Karibik für die damalige Weltwirtschaft rückt zunehmend in das Interesse der Forschung.

Kürzlich hat der Havard-Professor für Amerikanische Geschichte Sven Beckert in einem Gastbeitrag in der Wochenzeitung Die Zeit auf das „Barbados-Prinzip“ in der Mitte des 17. Jahrhunderts hingewiesen. Das ökonomische Prinzip der Zuckerrohrplantagen auf Barbados verwandelte die westindische Insel nicht nur in eine „Plantagenmaschine“, sie verbrauchte auch die Menschenleben zahlloser Sklaven. Bristol wurde zur entscheidenden Drehscheibe für den Handel mit englischen Produkten, westafrikanischen Sklaven und westindischem Zucker. Es gab zunächst keine andere, weil die Royal African Company zwischen 1672 und 1688 das Monopol im Handel mit Afrika bzw. Westafrika hielt.[6]
„Bridgetown, die Inselhauptstadt, stieg (…) zur wichtigsten Stadt in British America auf. Die Insel war zu einem Sklavenarbeitslager geworden, in dem sich Jahr für Jahr Tausende zu Tode schufteten, um den Appetit der Europäer auf Profit und Süßes zu stillen. Jeder dritte Sklave starb innerhalb von drei Jahren nach seiner Ankunft; jährlich mussten etwa 20.000 Sklaven in die Karibik importiert werden, um die Zahl der Arbeiter stabil zu halten.“[7]   

Der moderne Rassismus entstünde in Anknüpfung an Sven Beckert nicht zuletzt als Legitimation für ein europäisches Prinzip der Ausbeutung von Menschen aus Afrika. Beckert zeichnet in seinem Artikel scharf die Modellfunktion des „Barbados-Prinzip“ für den sich herausbildenden Kapitalismus. Denn: „Die Geschichte des Kapitalismus (…) ist ohne die Geschichte der Sklaverei nicht zu erzählen“.[8] Der Kapitalismus bildet nicht zuletzt moderne Lehranstalten und Institutionen des Wissens heraus. Die Harvard Universität wurde 1636 und Princeton 1746 gegründet, somit zu einer Zeit, in der der Sklavenhandel florierte. So kommt Beckert denn für diese Universitäten nicht zuletzt als Ort der Herausbildung von Wissen und wissenschaftlicher Diskurse vom Menschen und den Rassen zu dem Schluss:
„Wichtige europäische und nordamerikanische Institutionen, darunter einige der weltweit führenden Universitäten wie Glasgow, Harvard und Princeton, verdanken ihren frühen Wohlstand Profiten aus der Sklaverei.“[9]

Immanuel Kant beginnt seine Schriften zu den Racen mit der „Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbenjahre 1775“ unter dem Titel Von den verschiedenen Racen der Menschen[10]auf ebenso beiläufige wie unterhaltende Weise. Das überrascht. Das Frontispiz vor dem Text zeigt in spätbarocker Manier zwei weiße, wohlgenährte Kinder auf einer felsigen Insel unter einer Kokospalme. Ob Kant es ausgewählt hat oder sein „könig(licher) Hof- und Academ(ischer) Buchdrucker“ Hartung das Bild zum Text aus einem Vorrat an Kupferstichen assoziierte, wissen wir nicht. Es ist als interessierten Kant die „Racen“ zunächst kaum. Und es wird sich herausstellen, dass die Vorlesung nicht sehr viel weiterkommt, als in der „Ankündigung“ vorgedacht. Die Vorlesung werde „mehr eine nützliche Unterhaltung, als eine mühsame Beschäftigung seyn“ schickt er voraus.[11] Für eine „physische Geographie“ sind die „verschiedenen Racen der Menschen“ Kant entweder nicht so wichtig oder er misstraut dem Rassendiskurs überhaupt, zumal er ihn „etwas vor dem Verstand“ hält. Der Einstieg in die „Untersuchung“ über die „Racen“ wird in einer Weise gerahmt, mit der sich Kant zugleich von dieser absetzt.
„… daher die Untersuchung, womit ich diese Ankündigung begleite, zwar etwas vor den Verstand, aber mehr wie ein Spiel desselben, als eine tiefe Nachforschung enthalten wird.“[12]

Als Vorrede einer Ankündigung zu einer Vorlesung im größeren Rahmen der „physischen Geographie“ und damit einer Philosophie der Natur ist die doppelte, rhetorische Figur der Einschränkung und Entschuldigung bedenkenswert. Kant beginnt sein „Spiel“ mit der „Büffonsche(n) Regel“. Er knüpft insofern an den lebenden französischen und das heißt Pariser Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon und damit das zoologische Wissen seiner Zeit an, um zunächst einmal zwischen „Naturgattungen“ und „Schulgattungen“ zu unterscheiden. Damit konkretisiert sich der Ansatz, dass Immanuel Kant lediglich den Diskurs seiner Zeit rekapitulierte, den Christian Geulen in seinem Impulsreferat zu »„Rasse“ und „Rassismus“« in der Gesprächsreihe eingeführt hat. Die Vorrede, die in späteren Veröffentlichungen und Wiederabdrucken fehlt,[13] stützt die These. Wie sich beispielsweise im Abdruck des Textes schon 1799 in Immanuel Kant’s vermischte Schriften zeigt, entfaltet er ohne die Vorrede eine eigene Wirkmächtigkeit. Denn nun folgt diesem schon die Bestimmung des Begriffs der Menschenrace.

Die „Büffonsche Regel“ bietet die Ordnung, nach welcher Kant „glaub(t)“ – „Ich glaube mit vier Racen derselben auszulangen“ – die „Menschengattung“ in „Racen“ einteilen zu können.[14] Glauben heißt nicht denken oder verstehen. Das spielerische Verfahren des ersten Textes kann mit seiner Lexik wie dem Verb glauben durchaus gelesen werden. Denn für den Philosophen der Aufklärung ist der Modus des Glaubens nicht ernsthaft bzw. vernünftig. Doch auf die Vernunft und den Verstand kommt es Kant bekanntlich ganz entscheidend an. Der unterhaltende Charakter der Schrift ließe sich auch mit der widersprüchlichen Einteilung der „Racen“ lesen. Zwar teilt er „1. die Race der Weissen, 2. die Negerrace, 3. die Hunnsche (Mungalische oder Kalmukische) Race, 4. die Hindische oder Hindistanische Race“ ein, aber nur um im nächsten Satz die „Mohren (Mauren von Afrika)“ „zu der erstern“ zu „rechne(n)“.[15] Der Begriff der „Race“ selbst verweist in seiner Schreibweise auf das Französische.[16] Kant wird diese Schreibweise beibehalten. Eine Normalisierung zu Rasse setzt erst bei späteren Ausgaben ein.

Christina Brandt führte in ihrer Replik auf Christian Geulen an, dass Kant überhaupt erst in seinem zweiten Aufsatz, Bestimmung des Begriffs der Menschenrace, von 1785 ein eigenes, neues Wissenskonzept der Rasse entwickelt habe, das sich von dem späteren bei Darwin und des 19. Jahrhunderts unterscheide. Zwischen 1775 und 1785 gibt es einen wichtigen Einschnitt nicht nur im Denken Kants, vielmehr noch in seiner Popularität. 1781 veröffentlicht er seine Kritik der reinen Vernunft, die ihn schlagartig über Königsberg und seine Universität hinaus bekannt, wenn nicht berühmt macht. Sie wird mit Bestimmung des Begriffs der Menschenrace allerdings 1786 zum Gegenstand der Kritik z.B. durch den Reisenden Georg Forster, der 1772 mit Captain Cook in die Südsee gereist war. Die Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft mit der Herausbildung des Begriffs der Vernunft führt 1783 dazu, dass Johann Jakob Engel nun eine erweiterte Fassung der Vorlesungsankündigung ohne Vorrede(!) in seinem Sammelband Der Philosoph für die Welt druckt.[17] Bei späteren Veröffentlichungen wird diese wiederholt mit Hinweis auf Engel abgedruckt.[18] Der Text sei ihm „gütigst von Herrn Professor Kant in Königsberg (mitgetheilt)“ worden.[19] Engels Abdruck gleicht bis auf die eingehende Rahmung mit „mehr als ein Spiel“ im Wortlaut der Vorankündigung. Sie unterscheidet sich lediglich in einer Erweiterung und Schematisierung.[20]

Die Rahmung der Texte verändert sich vom „Spiel“ zum Kennen bzw. Wissen. 1785, nach zehn Jahren kommt Kant auf die Frage der „Menschenrace“ zurück, indem er nun eine Erweiterung der „Kenntnisse“ durch „neue() Reisen über die Mannigfaltigkeiten der Menschengattung“ feststellt. Obwohl 1778/1780 in Berlin Georg Forsters Reise um die Welt erschienen war, nennt Kant diesen nicht als Quelle für neue Kenntnisse. Wir wissen nicht, ob Kant das Furore machende Buch von Forster nicht kannte oder es aus argumentativen Gründen nicht zitierte. Es müsste gewiss an der Universität Königsberg vorhanden gewesen sein, weil der Austausch zwischen Berlin und Königsberg innerhalb Preußens funktionierte. Für die Novemberausgabe der Berlinischen Monatsschrift hat Kant 1785 einen neuen Ansatz gewählt.[21] In der Berlinischen Monatsschrift hatte er in der Dezemberausgabe von 1784 seinen epochalen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? platziert.[22] Insofern misst er seinem zweiten Text mit der Bestimmung des Begrifs einer Menschenrace eine abschließende Bedeutung bei. Denn die Berlinische Monatsschrift der Herausgeber Johan Erich Biester und Friedrich Gedike gehört zu den entscheidenden Medien in Fragen der Aufklärung.

Die Berlinische Monatsschrift wird in den 1780er Jahren neben der Literaturzeitschrift Der Teutsche Merkur von Christoph Martin Wieland aus Weimar zu einem weithin beachteten Organ der Debatten um die Aufklärung. So wird denn Kants Text an prominenter Stelle als zweiter nach dem Gedicht An den Quintus Dellius des Berliner Dichters Karl Wilhelm Ramler und vor der Übersetzung Nachrichten von den Jesuiten in Rußland aus der Warschauer Zeitung abgedruckt.[23] Als 4. Text erscheint ein Briefwechsel zwischen Johann Caspar Lavater in Zürich und dem Hofmedicus Marcard in Lausanne über Magnetische Desorganisation in Paris, Straßburg, und Zürich. Die Berlinische Monatsschrift vom November 1785 vereinigt eine ganze Bandbreite literarischer, wissenschaftlicher, journalistischer und philosophischer Texte zwischen Poesie des „deutschen Horaz“ Ramler und einer Art Leserbrief von einem „Struve“ aus Ruppin an Friedrich Gedike unter dem Titel Ein Vorschlag zur Verbreitung wahrer Aufklärung unter allen Ständen.[24]

Was weiß der Professor für Philosophie Immanuel Kant an der Albertus-Universität Königsberg, die nach der Universität Wittenberg und der Philipps-Universität Marburg 1544 von Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach als dritte protestantische Universität gegründet worden war, von der Welt, den Rassen und den „neuen Reisen“? Bekanntlich hat Kant sein Leben lang keine größeren Reisen unternommen und hielt sich nur zeitweise in der weiteren Umgebung von Königsberg auf. Forsters Bericht von seiner Weltreise findet keine Beachtung. Eine Art blinder Fleck, obwohl es Literatur von „neuen Reisen“ geht. Kant zitiert bzw. paraphrasiert in seinem zweiten Text den „Missionar Demaner“ und den Reisenden „Carrerer()“, um deren Kenntnis, Urteil bzw. Beschreibung mit einer Behauptung argumentativ in Zweifel zu ziehen. Für den „Begrif“ akzeptiert er die Kenntnisse durch Anschauung nicht.
„Ich hingegen behaupte, daß man in Frankreich von der Farbe der Neger, die sich dort lange aufgehalten haben, noch besser aber derer, die da geboren sind, in so fern darnach Klassenunterschied derselben von andern Menschen bestimmen will, weit richtiger urtheilen könne, als in dem Vaterlande der Schwarzen selbst.“[25]   

Die Eröffnung des zweiten Textes zur Frage der Menschenrassen erinnert mit dem Gestus der Bezugnahme auf aktuelle Ereignisse – „neue Reisen“ – mehr an eine rhetorische Figur oder gar das Medium „Monatsschrift“ bzw. Monatszeitung, als dass sie für den Begriff wichtig wäre. Kant führt wiederum in einer Art Unterhaltungston den Begriff als Mittel für die Konstruktion von Wissen ein. Ausdrücklich vermerkt er, dass es Rassen für ihn bzw. in naturphilosophischer Hinsicht gar keine „Menschengattung“ geben muss. Ihm geht es vielmehr um das „Princip“, nach welchem der Begriff der Rasse konstruiert sein müsste:
„Meine Absicht ist jetzt nur, diesen Begrif einer Race, wenn es deren in der Menschengattung giebt, genau zu bestimmen; die Erklärung des Ursprungs der wirklich vorhandenen, die man dieser Benennung fähig hält, ist nur Nebenwerk, womit man es halten kann, wie man will. Und doch sehe ich, daß übrigens scharfsinnige Männer in der Beurtheilung dessen, was vor einigen Jahren lediglich in jener Absicht gesagt wurde (), auf diese Nebensache, nämlich die hypothetische Anwendung des Princips, ihr Augenmerk allein richteten, das Princip selbst aber, worauf doch alles ankommt, nur mit leichter Hand berühreten.“[26]  

Das neuartige Prinzip für den Begriff der Rasse hatte Kant schon 1775 formuliert. Es ist das, die „Kette der Natursachen nicht (zu) verlassen“.[27] Doch das genügt noch nicht. Kant nimmt 1785 Bezug auf seine Veröffentlichung von 1783 in Engels Philosoph für die Welt, denn während die Ankündigung quasi mit der „Kette der Natursachen“ endet, bildet sie später den prinzipiellen oder methodischen Mittelteil.[28] Die Rasse muss sich aus der „Kette der Natursachen“ erklären lassen, weil dieses Prinzip den Philosophen vom „Dichter“ unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen „Dichter“ und „Philosoph“ wird somit zu einem Problem, das mit dem Prinzip als Art und Weise des Schreibens und Denkens gelöst werden muss. Daraus ergibt sich eine brennende Frage: Wie muss der Vorgang genannt werden, der die „Kette der Natursachen“ sicherstellt? Als Mittel und Modus der semiologischen Verkettung wird das Erben wichtig. Kant schreibt nun, dass der „Begrif einer Race (…) der Klassenunterschied der Thiere eines und desselben Stammes“ sei, „so fern er unausbleiblich erblich ist“.[29] Das Erben und Vererben wird zur Signatur der Rasse in der Moderne, weil nur dieses die „Kette der Natursachen“ garantieren kann.

Das Erben als Modalität der Übertragung und Verkettung tritt bei Kant an die Stelle der Schöpfung durch Gott und unterscheidet den „Dichter“ vom „Philosophen“. Wo Kant 1775 quasi abbricht und 1783 noch keine Lösung hat, beginnt die Suche nach einem Prinzip, das die „Kette der Natursachen“ garantiert und stabilisiert. Was sich zunächst wie eine elegante Replik auf Voltaire liest, wird zum Auftrag, eine Funktion für die Absicherung der „Kette“ zu formulieren, mit der es um die Absicherung der Aufklärung überhaupt geht. Die Rassen werden lediglich zu einem Exempel, an dem sich das Prinzip der Naturphilosophie durch (Ver)Erbung oder, wie es Kant nennt, „anerben“ vorführen lässt. Darauf insistiert Kant 1785. Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen haben darauf hingewiesen, dass die „Verschiebungen der Erbe-Konzepte um 1800 (…) ein Symptom weitreichender – aus der Rückschau wahrhaft epochaler – Umbrüche in Wissen und Praxis zugleich“ seien.[30] Das neue Erbe-Konzept schreibt ein philosophisches Problem um, das hier noch einmal scharf zitiert werden soll:
„Mit Voltären sagen: Gott der das Rennthier in Lapland schuf, um das Moos dieser kalten Gegenden zu verzehren, der schuf auch daselbst den Lapländer, um dieses Rennthier zu essen, ist kein übler Einfall für einen Dichter, aber ein schlechter Behelf für den Philosophen, der die Kette der Natursachen nicht verlassen darf, als da, wo er sie an das unmittelbare Verhängnis geknüpft sieht.“[31]

Marianna Lieder hat kürzlich in einem „Klassikerdossier“ von philomag die Rassismusfrage unter dem Titel Kant und der Rassismus diskutiert.[32] Auf Kants Konzept des Erbes geht sie nicht ein, weil es in der philosophischen Argumentation leicht überlesen wird. Es ist auch nicht entscheidend, ob Kant sich in seinen Texten zu den „Menschenrassen“ in ihrer Hierarchisierung widersprochen hat oder nicht. Das Frontispiz der thematisch allerersten Schrift visualisiert vielmehr den europäischen Kolonialismus und seinen Rassismus als ein niedliches Kinderspiel unter einer Palme. Es sind Kants literarische Verfahren, seine Zitierweisen, seine (Un)Kenntnis, seine Suche nach Unterscheidung zwischen „Dichter“ und „Philosoph“, die sein ebenso modernes wie imaginäres Selbst-Verständnis ganz erheblich berühren, die eine Rassenschrift hervorbringen. Ob Immanuel Kant damit als Rassist gelten muss, bleibt eine prekäre Frage.

Die umfangreiche, interdisziplinäre Diskussionsreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften kann in der Mediathek nachgeschaut werden. Die Themen »“Rasse“ und „Rassismus“«, »Kants Theorie der „Menschenrassen“«, »Rassismus ohne Rassen bei Kant?«, »Rassedenken und Rassismus im 18. Jahrhundert« wurden bereits besprochen. Nach europäischem Recht müsste Immanuel Kant laut Cengiz Barskanmaz, der Autor des Buches Recht und Rassismus – Das menschenrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse (2019) ist, mit juristischen Problemen in seiner Wortwahl und Schreibweise rechnen, weil sie nach der Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr unter das Recht der Meinungsfreiheit fielen. Auch das Bundesverfassungsgericht, für das der Kantische Begriff der Menschenwürde grundlegend sei, würde nach Artikel 3 Absatz 3 – „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, … benachteiligt werden.“ – Kants Schriften zur Rasse kritisieren. Am 27. November 2020 hat sich „eine klare Mehrheit“ im Bundestag dafür ausgesprochen „den Begriff „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes … ersetzen zu wollen“, um Rassismus zu bekämpfen.[33] Am 5. Februar stehen »Universalismus und Rassismus« als Thema der Diskussionsreihe auf dem Prüfstand. Für den 19. Februar wird die Frage „Wie umgehen mit Kants Schriften in Forschung und Lehre?“ angekündigt.

Torsten Flüh

Das Beitragsbild ist ein Screenshot des Frontispiz‘ eines Originals von Kants Vorlesungsankündigung Von den verschiedenen Racen der Menschen von G. L. Hartung in Königsberg 1775. Die Blogfotos wurden auf der Kantstraße in Berlin am 2. Februar 2021 zwischen ca. 18:30 Uhr und 20:00 Uhr während des „harten“ Lockdowns aufgenommen. Die Kantstraße wurde am 23. Februar 1887 nach Immanuel Kant benannt.

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Kant – Ein Rassist?
Veranstaltungen
Mediathek


[1] Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Mediathek: Kant – Ein Rassist? Interdisziplinäre Diskussionsreihe. Stand 4. Februar 2021.

[2] Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Veranstaltungen – Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Stand 4. Februar 2021.

[3] Wikipedia: Statue of Edward Colston.

[4] Historic England: Statue of Edward Colston. Stand 11. Juni 2020.

[5] Inschrift auf dem Sockel der Statue. Ebenda.

[6] Ebenda.

[7] Sven Beckert: Das Barbados-Prinzip. Der Weg in den modernen Kapitalismus begann auch in der Karibik: Europäische Plantagenbesitzer schufen hier im 17. Jahrhundert einen rein kommerziellen Modellstaat auf dem Rücken Abertausender versklavter Afrikaner. In: Die Zeit N° 3, 14. Januar 2021 S. 17 oder Digital als Zeit+.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen. Königsberg: Hartung, 1775. (Digitalisat der Originalausgabe Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz).

[11] Ebenda S. 2.

[12] Ebenda.

[13] Siehe beispielsweise: Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen. In: Immanuel Kant’s vermischte Schriften. Zweiter Band. Halle: Rengersche Buchhandlung, 1799, S. 605-635. (Digitalisat)

[14] Immanuel Kant: Von … [wie Anm. 10] S. 4.

[15] Ebenda.

[16] Siehe: Rasse, die, Herkunft im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, DWDS.

[17] Johann Jakob Engel (Hg.): Der Philosoph für die Welt. Carlsruhe: Christian Gottlieb Schmieder, 1783, S. 100-131. (Digitalisat der Originalausgabe Österreichische Nationalbibliothek)

[18] Siehe N.N. Herausgeber: Immanuel Kants frühere, noch nicht gesammelte kleine Schriften. Linz, auf Kosten des Herausgebers, 1795, S. 87. (Digitalisat)

[19] Johann Jakob Engel (Hg.): Der … [wie Anm. 17] Fußnote S. 100.

[20] Immanuel Kant: Von … [wie Anm. 9] S. 2.

[21] Immanuel Kant: Bestimmung des Begrifs einer Menschenrace. In: Berlinische Monatsschrift, 1785, Elftes Stück, S. 390–417. Berlin: Haude und Spener, 1785. (Google Digitalisat) und N.N. Herausgeber: Immanuel … [wie Anm. 18] S. 107.

[22] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift Bd. 4, 1784, Zwölftes Stück, S. 481–494. Berlin: Haude und Spener, 1784. (Wikipedia)

[23] Berlinische Monatsschrift … [wie Anm. 21] S. 418.

[24] Ebenda S. 472-477.

[25] Ebenda S. 392.

[26] Ebenda S. 390-391.

[27] Immanuel Kant: Von … [wie Anm. 10] S. 12.

[28] Johann Jakob Engel (Hg.): Der … [wie Anm. 17] S. 124.

[29] Immanuel Kant: Bestimmung … [wie Anm. 21] S. 407.

[30] Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 14.

[31] Johann Jakob Engel (Hg.): Der … [wie Anm. 17] S. 124-125.

[32] Marianna Lieder: Kant und der Rassismus. In: Philosophie Magazin 02. Januar 2021.

[33] Deutscher Bundestag: Dokumente: 1. Lesung: Mehrheit der Fraktionen gegen den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz. (sto/mwo/27.11.2020)

6 Kommentare

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert