Vom vermessenen Augenblick

Messen – Moment – Leben

Vom vermessenen Augenblick

Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie

Er ist ständig in Berlin zu sehen und wird oft übersehen: Johann Gottfried Schadow. Schon am 19. Februar wird die in mancher Hinsicht überraschende Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie zu Ende gehen. Das mag vorausgeschickt sein, weil der Berichterstatter Ende Oktober die Eröffnung versäumte und Schadow mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor wie der sogenannten Prinzessinnengruppe ohnehin im Berliner Stadtbild kaum übersehen werden kann. An der Rekonstruktion der Quadriga wird noch in einer Schau-Werkstatt der Gipsformerei im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages direkt an der Spree gearbeitet. Das Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe wird nach seiner Restaurierung und dem Ende der Ausstellung am 22. April wieder in die Friedrichswerdersche Kirche zurückkehren.

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Quadriga und Prinzessinnengruppe sind Skulpturen, die als Bilder von Berlin zirkulieren. Ihre Entstehung wird kaum hinterfragt. Es sind aktuell zwei Gipsmodelle als Arbeitsstufen zur Marmorskulptur bzw. zum Kupferguss als Bild, die die Praktiken des Hofbildhauers des Königs und damit der drei Könige Friedrich Wilhelm II., Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. ins Forschungsinteresse rücken. Dem Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe „nagelte()“ Schadow 1795 nach der Präsentation in der Akademie der Künste und der vom König geäußerten Kritik an einem Blumenkorb in der rechten Hand der späteren Königin kurzentschlossen „ein in Gips getauchtes Tuch“ an[1], das seither mit seinem Faltenwurf entschieden zur Natürlichkeit der Darstellung von Luise und Frederike beiträgt. Auf das Gipsmodell folgte 1797 die lebensgroße Marmorskulptur, an die Schadow nur die letzte Hand anlegte, nachdem seine Ateliergehilfen die Übertragung vollzogen hatten.

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Die Maße der Skulpturen spielen für die Arbeitsweise Johann Gottfried Schadows eine entscheidende Rolle. Maße und Proportionen bringen Schadows Skulpturen hervor. Sein Grabmal des Grafen Alexander von der Mark, das er für Friedrich Wilhelm II. 1788-1790 ausführte, wurde beim Wiederaufbau der Alten Nationalgalerie 1949-1958 zum Museumsobjekt. Es war zuvor in der Dorotheenstädtischen Kirche an der Neustädtischen Kirchstraße aufgestellt worden, wo es bis zu seiner kriegsbedingten Auslagerung stand. Die Kirche wurde 1965 nach Kriegsschäden in der Hauptstadt der DDR abgetragen. Für den im Alter von 8 Jahren möglicherweise vergifteten Sohn des Königs mit seiner Geliebten Gräfin Wilhelmine von Lichtenau schuf Schadow als neuer Hofbildhauer ein antikisierendes Tableau mit einer Höhe von 623 cm aus Carraramarmor, Freiburger, Kauffunger und Prieborner Marmor mit Schicksalsgöttinnen, Tor zum Hades und einer liegenden, eher überlebensgroßen Knabenfigur mit antiken Sandalen, Toga, Schwert und Helm.

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Die patriarchale Macht Friedrich Wilhelms II. nicht zuletzt gegenüber seinem erstgeborenen Sohn und neun Jahre älteren Halbbruder Alexanders, Friedrich Wilhelm, wird durch die Ausmaße des Grabmals für ein Kind bildlich. So war es denn auch der König, der seinen Söhnen, Friedrich Wilhelm und Ludwig, Luise und Frederike von Mecklenburg-Strelitz vorstellte und die Prinzessinnengruppe wie in einem unschuldig, jungfräulichen Augenblick in Auftrag gab. Die Frage der Darstellung einer etwas freizügigen Brautschau, bei der der Vater die, wenn man so will, ebenso klassisch wie leicht bekleideten Körper der erwählten Schwiegertöchter von seinem Hofbildhauer formen und verewigen ließ, wird in der Ausstellung nicht diskutiert. Mit dem Originalgipsmodell und dem erstmals in einem Raum gegenüber gestellten Marmor treten vielmehr Arbeitsprozesse hervor, die selbst hierarchisch organisiert waren.

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Die Macht und ihre Proportionen werden ebenso an der Quadriga mit Siegesgöttin von Schadow visualisiert. Die Pferde wurden noch während der Ausführung in Holz 1790 von 3,15 m (10 Fuß) Höhe auf 3,77 m (12 Fuß) vergrößert. Die antike Siegesgöttin Viktoria kommt auf ca. 5 m Höhe.[2] Die monumentale Skulptur wurde nach der Eroberung Berlins durch Napoleon 1806 in zwölf Kisten zerlegt und über Elbe, Rhein und französische Kanäle als Trophäe nach Paris in den Louvre gebracht. Nach dem Sieg der Preußischen Armee in den Befreiungskriegen 1814 kehrte sie in 15 Kisten auf dem Landweg über Brüssel, Aachen, Düsseldorf, Hannover, Magdeburg und Potsdam zurück. Am 24. Oktober 1806 waren Französische Truppen im Schadow-Haus unweit der Dorotheenstädtischen Kirche mit Selim aus Dafour einquartiert worden. Vergeblich bemühte sich Schadow, den Abtransport der Quadriga nach Paris durch Baron Dominique-Vivant Denon zu verhindern.[3] Indessen erregte der Afrikaner Selim im Gefolge des Brigadegenerals Charles-Étienne-François de Ruty das physiognomische Interesse des Bildhauers, der ihn 1807 in Gips abformte.[4]

Selim da Dafour, 1807 und „Kaffernprinz„, 1823 von Johann Gottfried Schadow

Das Material Gips rückt nicht nur mit dem Originalgipsmodell ins Interesse von Kunst und plastischer Kunstproduktion, vielmehr noch wird es mit der Restaurierung der Prinzessinnengruppe und dem Gipsmodell der Quadriga, vor allem aber mit dem Kopf des Selim um 1800 zu einem Träger neuartigen Wissens und von Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht. Erlaubt das Material Gips einerseits den Austausch eines Blumenkörbchens gegen ein Tuch, das zu einem „Überspieltuch“ wird, so wird das Gipsmodell der Quadriga zu einem Speicher des Wissens vom Original. Und die genau vermessene Physiognomie Selims in Gips generiert im Kontext einer Erzählung von der Nation in den Befreiungskriegen mit Karl Friedrich Schinkel, der das Eiserne Kreuz als Symbol für die Partizipation jedes einfachen Soldaten an der Nation entworfen haben wird, als Gegenpart eine nationale Physiognomie. Am Körper und insbesondere an den Formen und Maßen des Gesichts wird die Nation lesbar gemacht. Gips wird zu einem Wissensspeicher:
„Darüber hinaus konnten weitere Überarbeitungen ausgemacht werden, die unter anderem maßgebliche Formveränderungen beinhalteten: Die anatomische Haltung von Luises rechtem Arm war verändert und verfälscht worden und auch an dem imposanten Faltenspiel des Überspieltuchs, welches Luise mit ihrer rechten Hand grazil aufrecht hält, waren zahlreiche Formveränderungen ablesbar […].“[5]

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Das „Faltenspiel des Überspieltuchs“ korrespondiert als Moment mit Schadows Konzept der Grazie. 1802 publizierte er den Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia, in dem er sein Konzept der Grazie formulierte, wobei er von „Reiz“ statt Grazie und dem Modus des Moments schreibt. Der Zeitschriftentext ist als autobiographischer Brief abgefasst: „Seit geraumer Zeit hatte ich es im Sinne, Ihnen, verehrter Freund, Nachricht zu geben, gewissermassen eine Rechenschaft abzulegen von meinem Künstlerleben.“[6] Der zeitliche Modus des Moments wird für die Grazie zum entscheidenden Modus der ästhetischen Form. Der Moment lässt sich nicht messen. Denn im nächsten Augenblick ist er bereits verloren. Es sind insbesondere die Falten eines Gewandes am lebenden Körper, die das Leben in einem Moment festhalten. Falten erhalten von Schadow im Unterschied zum Barock eine neuartige Funktion. Sie werden mit dem Leben und Lebendigem kurzgeschlossen.

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In der autobiographisch formulierten Schrift spielen die Falten eines Gewandes beim Renaissancemaler Raphael eine wichtige Rolle. Dieser „müsse bei seinen Gewänden nicht die Gliederpuppe, sondern ein lebendes Modell, mit Gewand bekleidet, gebraucht haben, indem das höchst ungezwungene und das von einem vorigen in den gegenwärtigen Moment Uebergegangene in den Falten mit einer Gliederpuppe nicht zu erreichen sei.“[7] Das „lebende() Modell“ verbürgt das Leben in der bildenden Kunst. Später verlangt der Moment, in dem sich die Grazie zeigt, einen „an List grenzenden Beobachtungsgeist“. Die momenthafte Erscheinung der Grazie, die bereits sieben Jahre zuvor für die Prinzessinnen nicht zuletzt mit dem „Überspieltuch“ hergestellt worden war, zu erfassen, erweist sich als schwierig.
„Die besondere Schwierigkeit liege darin, »Ähnlichkeit und Anmuth zu vereinigen, in einem Moment den Reiz zusammen zu fassen, der im Leben durch das beseelte Bewegte, Mannichfaltige unendlich vieler Momente liegt«. Dies erfordere, so der Bildhauer weiter, »ein zartes Kunstgefühl und einen, möchte ich fast sagen, an List grenzenden Beobachtungsgeist«.“[8]

Originalgips

Die Frage nach dem Moment oder „Augenblick“ bei der Darstellung der Grazie beschäftigt um 1800 nicht zuletzt seit Friedrich Schillers 1793 veröffentlichten Schrift Ueber Anmuth und Wuerde nicht nur den Bildhauer Schadow in Berlin, vielmehr wird Heinrich von Kleist mit der Veröffentlichung Über das Marionettentheater am 12., 14. und 15. Dezember 1810 in seinen Berliner Abendblättern sozusagen an einem lebenden Bild als zeitgenössischem Darstellungsgenre nach der antiken Plastik Der Dornauszieher die Grazie als einen Moment des Nicht-Wissens formulieren. Kleist greift in der Kunstdebatte um die Grazie mit einer an Schadows „Gliederpuppe“ erinnernden Konstellation von Marionette, Augenblick und Wissen ein:
„Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –“[9]

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Schadow formuliert als Bildhauer ein momentartiges Wissen von der Grazie, das sich dem Messen entzieht. Während bei ihm durch „ein zartes Kunstgefühl und einen (…) an List grenzenden Beobachtungsgeist“ die Grazie erfasst und dargestellt werden kann, parodiert Kleist den wissensförmigen Beobachtungsgeist mit dem die Grazie (zer)störenden Ausruf „er sähe wohl Geister!“. Kleist kannte die Prinzessinnengruppe von Schadow vermutlich nicht, obwohl sie als Zeichnung z.B. im Journal für Kunst und Kunstsachen, Künsteleien und Mode von 1810 kursierte.[10] Andererseits war sie der öffentlichen Ansicht und Wahrnehmung durch Luises Ehemann und König Friedrich Wilhelm III. entzogen worden. Doch Achim von Arnim hatte einen Monat zuvor am 12. November 1810 im „37te(n) Blatt“ der Berliner Abendblätter eine Übersicht der Kunstausstellung veröffentlicht, in der ein auf merkwürdige Weise entstandenes Bild der Königin eröffnend erwähnt wird:
„Allgemein war der Wunsch, das Bild der verehrten Königinn von geschickter Hand ähnlich bewahrt zu finden, unter verschiedenen, welche dieser Wunsch hervorgebracht, wurde das Bild von S c h a d o w vorgezogen, ungeachtet es blos nach anderen Bildern und nach dem Rathe verehrter Angehörigen der Verstorbenen gemahlt worden. Es übertrifft unleugbar alle Bilder, die wir von ihr zu sehen Gelegenheit hatten, die Anmuth ihrer Bewegungen, ihrer Freundlichkeit veranlassen die Maler sehr leicht, ganz fremdartige Ideale in ihr darzustellen; doch ist es unerklärlich, daß eine so allgemein bewunderte Königinn bei ihrem Leben nie von einem der besten Porträtmaler unserer Zeit gemalt worden.“[11]

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Könnte es von Luise ein Bild nach Hörensagen von Johann Gottfried Schadow gegeben haben? Obwohl der Name Schadow ohne Vorname und als allgemein bekannt von Achim von Arnim in der Zeitung gebraucht wird, müsste es sich um dessen Sohn, den Maler Wilhelm von Schadow (1788-1862), handeln. Denn es wird „Schadows Johannes“ als ein zweites Gemälde von ihm erwähnt. Der Name Schadow wird anscheinend schon 1810 in Berlin nicht mehr automatisch für den Bildhauer gebraucht, obwohl er mit der Prinzessinnengruppe, wie in der aktuellen Schadow-Ausstellung zu sehen, eine eigene Vervielfältigung der Darstellung in Biskuitporzellan, Terrakotta, Marmor und Karton in Gang setzte. Das Bild mit der Kinnbinde entwickelte als Büste und in Gemälden sozusagen ein Eigenleben. Das gibt auch einen Wink auf das Bild Luises, das heute wie selbstverständlich mit dem Namen Schadow verknüpft wird. In Achim von Arnims „Übersicht“ kommt die „Anmuth“ vor, die indessen mit „ganz fremdartige(n) Ideale(n)“ für ein Bild kombiniert wird.

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Im veröffentlichten Brief als Beschreibung der Kunstpraxis, der auf den 7. September 1802 mit der Unterschrift G. Schadow datiert wird, kündigt der Bildhauer bereits eine „Nationalphysiognomie“ als Projekt an. Insbesondere mit dem von Immanuel Kant seit 1775 kursierenden Begriff der „Menschenrace“ in Von den verschiedenen Racen der Menschen[12] knüpft Schadow in seinem Brief an den neuartigen Modus der Vermessung des Menschen an. Die Kombination der Nation mit dem seit Johann Caspar Lavater 1777 popularisierten Wissen vom Gesicht, der Physiognomie als ein Zeichenfeld, erhält mit dem Messen eine andere Qualität. Noch bevor Schadow 1806 auf Selim da Dafour trifft, entwickelt Schadow als Bildhauer, Vermesser und Zeichner bereits eine Matrix für die „Menschenrace(n)“. Grazie und physiognomische Vermessung des Menschen als „Nebenbeschäftigung“ der „mathematische(n) Beobachtungen“ korrespondieren bereits in der frühen Kunstpraxis miteinander.[13]  
„Und drittens die Nationalphysiognomie, nehmlich nur der einen Menschenrace, die wir unter den Namen der Caucasischen begreifen. Ich habe zu diesem Behufe Spanier, Russen, Türken, Juden u. m. a. gemessen, und nach Maassen gezeichnet, aber von allen diesen noch nicht genug beobachtet, um entscheidende Resultate aufstellen zu können.“[14]

Brustbild des Chinesen Ahok (gen. Haho), 1823

Das Fortleben der Skulptur wird am 5. Mai 1843 in der Akademie der Künste im Genre der sich in lebende Bilder verwandelnden Modelle von Johann Gottfried Schadow selbst befördert und berichtet. Die Gesellschaftskunst der lebenden Bilder war von Johann Wolfgang Goethe bereits 1809 in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften prominent verarbeitet worden als „Luciane“ im fünften Kapitel des zweiten Teils „in ihrem höchsten Glanze erschein(t). Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte.“[15] In seinem Bericht über Vorstellung lebender Bilder, welche im Saale der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin am 5ten Mai 1843 stattfand aus dem Nachlass, zeichnet Schadow neben einer Renaissancedarstellung die Prinzessinnengruppe. Als lebendes ebenso wie eingebildetes und nachgestelltes Bild wird die Skulptur wiederholt. In der Ausstellung wird Schadows Bericht in einer Tischvitrine gezeigt. Das Verstecken und Kursieren der Skulptur bis zur Vorstellung als lebendes Bildes wird selbst zum Modus der Prinzessinnengruppe.

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Die Bildlichkeit der Prinzessinnengruppe fasziniert in der Ausstellung. Sie hat nicht zuletzt mit dem Mythos der Königin Luise und dem schon von Achim von Arnim erwähnten Fehlen eines Portraits zu tun. Das fast zu übersehende „Überspieltuch“ mit seinem „Faltenspiel“, das nur durch das Originalgipsmodell augenscheinlich wird, gehört (nicht) zu Luise und wird zur Projektionsfläche für das Leben. Der postulierte Klassizismus und die Feier Johann Gottfried Schadows als Vater des Berliner Klassizismus bricht sich an dem in Gips getauchten Tuch, das keine andere natürliche Funktion hat, als eine Fehlstelle auszubessern. Dass diese Fehlstelle störte, wurde während der Restaurierung offenbar, weil die „anatomisch unstimmige() Armhaltung Luises und d(ie) Veränderungen des Überspieltuchs, die in der Vergangenheit am Originalgips vorgenommen“ worden waren, nun hervortraten.[16] Das „großangelegte Forschungs- und Restaurierungsprojekt zur Prinzessinnengruppe“[17], aus dem die Ausstellung hervorgegangen ist, legt insofern die Arbeitspraxis Johann Gottfried Schadows mit der Fehlstelle an einem zentralen Sammlungsstück der Alten Nationalgalerie offen.

Torsten Flüh

Alte Nationalgalerie
Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
bis 19. Februar 2023

Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
Hg. Yvette Deseyve  für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin unter Mitarbeit von Sintje Guericke
Beiträge von T. Bräunig, A. Czarnecki, D. de Chair, Y. Deseyve, F. Göttlich, S. Guericke, R. Hofereiter, S. Kiesant, F. Labahn, A. Seidel, V. Tocha, P. Winter
304 Seiten, 318 Abbildungen in Farbe
24 x 29 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4086-6
49,90 €

Und da war sie aus Gips
Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor
Mauer-Mahnmal im Deutschen Bundestag
Schiffbauerdamm, Eingang an der Spree
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
10117 Berlin
Dienstags bis Sonntags, 11 bis 17 Uhr


[1] Ausstellungsteil: Doppelt! Die Prinzessinnengruppe in Gips und in Marmor. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 176.

[2] Die Größenverhältnisse werden aktuell während der Restaurierung des Gipsmodells von 1942 im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages erfahrbar. Siehe: Und da war sie aus Gips – Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor. Bundestag

[3] Biografie und Werk. Johann Gottfried Schadow 1764-1850. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann … [wie Anm. 1] S. 271.

[4] Forschung für die Kunst. Schadows Polyclet und National-Physiognomien. In: Ebenda S. 212.

[5] Alexandra Czarnecki, Theresa Bräunig, Friederike Labahn: Neue Wege in der Gipsrestaurierung. Zur Konservierung und Restaurierung der Prinzessinnengruppe. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 112.

[6] Gottfried Schadow: Aufsätze und Briefe. Hrsg. v. Julius Friedländer. Stuttgart 1890, S. 56. (Digitalisat: Uni Mainz)

[7] Ebenda S. 62.

[8] Yvette Deseyve: Die »Göttinnen des Publicums«. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 42.

[9] H. v. K.: Über das Marionettentheater. (Fortsetzung). In: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter I. Brandenburger Ausgabe. Basel: Stroemfeld, 1997, S. 326.

[10] Siehe: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 52.

[11] aa.: Übersicht der Kunstausstellung. In: Ebenda S. 187-188.

[12] Siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[13] Gottfried Schadow: Aufsätze … [wie Anm. 6] S. 65.

[14] Zu Schadows Büsten für die Walhalla gehört als „Nationalphysiognomie“ ausgeführt zwischen 1807 und 1812 „Immanuel Kant“. Ebenda.

[15] Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. 1809. (Fünftes Kapitel, Zweiter Teil: Projekt Gutenberg.)

[16] Veronika Tocha: Originalgipse. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 63.

[17] Ralph Gleis: Vorwort. In: Ebenda S. 14.

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