Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Reich – Deutschland – Imagination

Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy

Am 28. März hielt John Connelly in der American Academy in Berlin am Wannsee seinen Vortrag The Power of the „Reich“ in the German Imagination. – Was war das „Reich“? Wie kehrte es als Deutsches Reich, Kaiserreich und Tausendjähriges Reich wieder? Was macht den Begriff „Reich“ so attraktiv, dass sich heute deutsche Staatsbürger hinter einem machtlosen Adligen, Heinrich XIII. Prinz Reuss, als „Reichsbürger“ zu einem terroristischen Staatsstreich versammeln und diesen in gewissen abstrusen Details planen, woraufhin der Generalbundesanwalt einschreiten muss und ihn Bundespolizisten in Tweed und Handschellen abführen müssen? Das imaginäre „Reich“ kursiert weiter in Texten, Gesprächen, Debatten und Medien. In seinem Vortrag forschte der Sidney Hellman Ehrman Professor of European History an der University of California, Berkeley, John Connelly der Wandlung dessen nach, was mit dem „Reich“ verknüpft wurde und wird.

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Eine Transformation des Reichs wurde am 4. April mit der Anbringung der Großen Kartusche am Eosanderportal des wiederaufgebauten Berliner Schlosses wieder sichtbar. Die nicht erst beim Wiederaufbau verspätete Anbringung der Großen Kartusche als Hoheitszeichen muss in der Geschichtserzählung der Gesellschaft Berliner Schloss e. V. nur ein wenig gegen den Strich gelesen werden, um die Konstruktion von neobarocker Schlosskuppel mit der zentralen Schlosskapelle und Kartusche zu hinterfragen.[1] Johann Friedrich Eosander hatte 1707 für das zentrale Schlosstor in barocker Weise den Konstantinbogen des antiken Roms nachempfunden. Einem antiken Torbogen eine neobarocke Kuppel aufzusetzen, wie es König Friedrich Wilhelm IV. selbst in drei Architekturzeichnungen tat, musste eine Umdeutung des Schlosses, der Herrschaft und des Verhältnisses zur Evangelischen Kirche zur Folge haben.

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Die zivilgesellschaftlich heute durch Spenden finanzierte Große Kartusche wurde erst 1902/1903 in der Blüte des Kaiserreichs am Eosanderportal angebracht. Das darf man eine gehörige Verspätung des Bauelementes aus zwei Adlern, die einen königlichen vergoldeten Adler mit Zepter und Reichsapfel umrahmen, unter einer vergoldeten Krone, mit Palmenwendeln, einer Halskette und Orden, nennen. Auf der Brust trägt der Adler die Initialen FR für Fredericus Rex, König Friedrich. Gemeint ist mit diesem historistisch, neobarocken Element Friedrich I., der durch den Schlossbau 1705 Preußen als Königreich legitimiert hatte, um sich in Königsberg aus dem Kurfürstenstand zum König krönen zu lassen.[2] Die aktuelle Vervollständigung der Schlossfassade sollte in ihrer Geschichtskonstruktion zukünftig erinnert werden. Für das Imaginäre des Kaiserreichs musste die Geschichte des Berliner Schlosses lückenlos sein. Die Große Kartusche kann insofern mit der Verspätung als ein Indiz für den deutschen „Sonderweg“ der Nationenbildung gesehen werden, den John Connelly in seinem Vortrag zur Transformation des Reichsbegriffs darlegte.

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John Connelly hatte für die Ankündigung seines Vortrags als Visualisierung des Kaiserreichs Anton von Werners zweieinhalb mal zweieinhalb Meter großes Gemälde Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles in der dritten Fassung gewählt. Man darf davon ausgehen, dass der Moment der Proklamation mit geschwenkten Hüten und Kappen so nie ausgesehen hat. Die dritte Version erhielt Otto von Bismarck zu seinem 70. Geburtstag 1880 vom Kaiserhaus, der Familie Hohenzollern, geschenkt. Anton von Werner fertigte für seine Gemälde mehrere Tausend Handzeichnungen an.[3] Besonders viele werden dem Werkkreis der Kaiserproklamation zugerechnet. Einerseits wäre 1871 medienhistorisch durchaus eine Fotografie für diesen geschichtsträchtigen Anlass möglich gewesen. Doch bedurften Fotografien jener Zeit eine lange Belichtungszeit, weshalb die Bilder bestimmt verwackelt gewesen wären. Fliegende Hüte undenkbar. Die Skizzen zur ersten Fassung von 1877 sind vielfältig und werden offenbar erst Jahre nach dem Ereignis angefertigt, um ein Bild nach einem Darstellungskanon der Königs- und Kaiserproklamation zu generieren.

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Der Vortrag von John Connelly ist weiterhin auf der Seite der American Academy verfügbar.[4] Nach einer Eröffnung des Abends durch den Präsidenten der American Academy Daniel Benjamin stellte Jan C. Behrends als Professor für Osteuropastudien an der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) den Vortragenden als herausragenden Experten für Osteuropa, Deutschland und die Nationenbildung vor. Beide erwähnten in ihren Vorstellungen John Connellys fast tausend Seiten starkes Buch From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe von 2020.[5] Die Nationenbildung hatte er bereits in jenem Großwerk erforscht. Seine Einleitung beginnt er mit dem Paradox, dass niemand von den „Yugoslaws“ vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges gehört hatte:
„War broke out in Europe in 1914 because of a deed carried out in the name of a people no one had previously heard of.
That June, after years of internecine turmoil and armed conflict in southeastern Europe, a Bosnian Serb named Gavrilo Princip shot and killed Franz Ferdinand, heir of the Habsburg throne, in Sarajevo. The assassin said he was acting to defend the interests of the Yugoslaws, or South Slavs, who were seeking independence from the Austro-Hungarian monarchy.“[6]

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Ein nie gehörter Name und der Begriff „Reich“ liegen bei John Connelly methodologisch nah beieinander. Er untersucht in seinem Vortrag mit „Reich“ die langfristigen Folgen des Aufstiegs Deutschlands zur Nation im Kaiserreich, die gleichzeitig imperial, ethnisch und konfessionell lutherisch sein sollte – ein Land, das einen riesigen Raum in Mitteleuropa einnahm und versuchte, Millionen unterschiedlicher Menschen zu ethnischen Mitbürgern zu machen. Die Vielfalt der Menschen in jenem Raum wird zu Deutschen im Deutschen Reich normalisiert. Den Begriff „Reich“ verfolgt er bis kurz nach dem Fall Roms zurück. Mit dem imaginären „Reich“ versucht Connelly, die zerstörerische Rolle zu erklären, die die jüngere „Deutsche Frage“ spielte. Der Bogen der visuellen Materialien zum „Reich“, die John Connelly vorstellt, reicht von der Briefmarke mit dem Portrait Friedrich Eberts und der Aufschrift „Deutsches Reich“ aus der Weimarer Republik über das Luther-Denkmal in Eisleben bis zu Darstellungen der Krönung Karl des Großen.

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Die Nationenbildung verläuft für John Connelly zentral über den Gebrauch des Begriffs „Reich“ als Name und den Narrativen wie Bildern, die mit ihm insbesondere in Preußen und damit Berlin verknüpft werden. Bis zum Ende des Deutschen Reiches und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – für einige allerdings darüber hinaus – kursierte die Imagination eines einheitlichen, geschlossenen Reichs. Deshalb machte Connelly auf Hitlers Rede vom „Heim ins Reich“ bei der ebenso manipulierten wie willkommenen Besetzung Österreichs durch die deutschen Nationalsozialisten mit dem gebürtigen Österreicher Adolf Hitler aus Berlin aufmerksam. Im Namen des Reichs wurden zwei Nationen vereinheitlicht, um im „3. Reich“ aufzugehen, die sich noch im 18. und 19. Jahrhundert zuletzt 1866 im Deutschen oder Preußisch-Österreichischen Krieg u.a. aus konfessionellen Gründen heftig bekämpft hatten. Der Begriff stellt eine Einheit und ethnische Zugehörigkeit her, die es so nie gegeben hatte. Dem Fragmentarischen der politischen und wirtschaftlichen Reichsrealität wird seit dem 19. Jahrhundert, forciert seit dem Kaiserreich eine Normalisierung entgegen gesetzt. Damit das „Reich“ nicht zuletzt im Zuge der Industrialisierung mit einem neuartigen Schienennetz real wird, müssen die Menschen beispielsweise ähnlich aussehen oder im Unterschied zu anderen ähnlich gemacht werden. – Ich komme darauf zurück.

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John Connelly zitiert nicht zuletzt des AfD-Politikers Alexander Gaulands Rede vom „Vogelschiss“ als geschichtslosem Zwischenfall in der Geschichte des Deutschen Reichs. Am 2. Juni 2018 hatte Gauland als Partei- und Fraktionschef der AfD im Bundestag vor der Nachwuchsorganisation seiner Partei, der Jungen Alternative gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.[7] Damit hatte der 77jährige, 1941 geborene Gauland allerdings genau das Narrativ der Nationalsozialisten vom „Tausendjährigen Reich“ übernommen und bestätigt. Gauland hatte weiter ausgeführt: „Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen. Gerade weil wir die Verantwortung für die 12 Jahre übernommen haben, haben wir jedes Recht den Stauferkaiser Friedrich II., der in Palermo ruht, zu bewundern. Der Bamberger Reiter gehört zu uns wie die Stifterfiguren des Naumburger Doms.“[8] Er benutzt zwar nicht den Begriff „Reich“, aber die „deutsche Geschichte“ und das vereinigende Personalpronomen 1. Person Plural „wir“, um das imaginäre „Deutsche Reich“ aufzurufen.

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Im weiteren Verlauf seines Vortrages kam John Connelly auf Martin Luther und seine Verteidigungsrede vor dem „Reichstag“ zu Worms am 18. April 1521 zu sprechen: „Ich stehe hier. Ich kann nicht anders. Amen“.[9] Martin Luther sei in der Mitte der deutschen Dialekte in Eisleben aufgewachsen, wo jetzt auf dem Marktplatz ein Luther-Denkmal stehe. Die Rolle Martin Luthers bei der Generierung der deutschen Sprache durch seine Bibelübersetzung ist gewiss entscheidend. Das hatte allerdings in Eisleben kaum nennenswerte Spuren hinterlassen bis 1883, als der Magistrat der durch die Industrialisierung zu einem gewissen Wohlstand gekommenen Stadt von dem Berliner Bildhauer Rudolf Siemering zum 400. Geburtstag des Reformators ein Bronze-Standbild des Reformators aufstellen ließ. Es gehört zu jenem visuellen Nationalisierungs- und Vereinigungsprozess durch Martin Luther, der bereits 1805 mit Johann Gottfried Schadows Entwurf eines Denkmals für den Marktplatz von Wittenberg eingesetzt hatte. Schließlich wurde Schadows Luther am 31. Oktober 1821 mit einem Sockel aus Granit und einem Baldachin aus Berliner Gusseisen von Karl Friedrich Schinkel eingeweiht. Damit war der Prototyp für alle weiteren Luther-Denkmäler geschaffen, die nur noch mehr oder weniger z.B. in der Körperfülle abgewandelt wurden.[10]

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Die Ausführungen zum „Reich“ im 2. Reich bzw. Kaiserreich unter der Führung Preußens bzw. dem Hause Hohenzollern als Kaiserhaus von John Connelly können in vielerlei Hinsicht bei der Bilderproduktion unterstützt werden. Erst kürzlich hat sich Johann Gottfried Schadow als zentrale Figur der sogenannten Berliner Klassik in der Bilderproduktion für die Nation, Preußen und Berlin erwiesen. Um 1805 noch vor der Besetzung Berlins durch die Truppen Napoleons treibt Schadow die Frage nach der Nation um. Einerseits entwirft er ein Luther-Standbild, andererseits hatte er schon 1802 in seinem Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia das Projekt einer „Nationalphysiognomie“ mit der Methode der Vermessung öffentlich gemacht.[11] Eunomia nach der griechischen Göttin für gesetzlich Ordnung nannte sich 1801 mit der ersten Ausgabe im Untertitel selbst „Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten“.[12] Sie wurde bis 1805 in Berlin herausgegeben. In der Zeitschrift wird u.a. in der Rubrik „Politische Zeitgeschichte“ über den Begriff der Nation debattiert.[13]

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Das Projekt der Nationalphysiognomie hat Schadow offenbar bis zu seinem Tod 1850 in Berlin weiter beschäftigt. Schadows Begriff „der einen Menschenrace“ bleibt für die „Nationalphysiognomie“ unscharf. Genauere Untersuchungen zur Genese und Produktion einer „Nationalphysiognomie“ stehen aus. Er macht Skizzen von Chinesen, Türken, Afrikanern und anderen Besuchern Berlins und vermisst sie. 1803/04 bedauerte er, dass er aufgrund des Turbans des türkischen Gesandten Mehmed Essad „den Durchmesser des Schädels nicht nehmen konnte“.[14] Aus Gips formt er „Selim da Dafour“ (1807) und den „Kaffernprinzen“ (1823). Der gesellschaftliche Rang hat insofern Einfluss darauf, ob Schadow die Person für sein Projekt vermessen und in Gips formen konnte oder nicht. Das wenigstens ambivalente Projekt der „Nationalphysiognomie“ war für die Ausstellung vor allem durch das Material Gips ins Interesse geraten. Die Erwähnung in dem autobiographischen Text für die Zeitschrift Eunomia findet allerdings in einem Kontext der Frage nach der Nation statt. Einerseits hatte sich Eunomia das revolutionäre Motto „Omnibus aequa.“ (Alle gleich) gesetzt, andererseits führen Schadows Vermessungsmethoden zu einer ethnologischen Ausdifferenzierung, um zu entscheiden, was zur Nation bzw. „Nationalphysiognomie“ gehören soll und was nicht.

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Ein wichtiges Scharnier in der Umdeutung der Rede vom Reich in Verbindung mit dem Gottesgnadentum bildet der Aachener Kongress oder Monarchenkongress vom 29. September bis 21. November 1818. „Vor allem Zar Alexander war bestrebt, die Monarchien Mittel- und Osteuropas vom aufgeklärten Absolutismus abzubringen und sie auf die Lehre vom Gottesgnadentum einzuschwören“, hat erst kürzlich Andreas Gängel hervorgehoben.[15] Die Berliner Eisengießkunst und Karl Friedrich Schinkels Entwürfe zum Denkmal für die „Preußischen Befreiungskriege“ auf dem nach einer Order des Königs genannten „Kreuzberg“ gegen das postrevolutionäre, napoleonische Frankreich stehen im engen Konnex mit der neuen Imagination des Reiches. Das Eiserne Kreuz als Orden für die Kriegsteilnahme und das christliche Kreuz sollen sich spätestens mit dem Denkmal in der Imagination überschneiden. Schinkels Entwurf für das Eiserne Kreuz löst sich im neuen Design vom christlichen Malteserkreuz und lässt es dennoch durchschimmern. Erst verschwommen im Verlauf des Kaiserreichs bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlicher. Bereits am 26. September 1815 hatte der russische Zar Alexander (orthodox) mit Kaiser Franz I. (römisch-katholisch) und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen (lutherisch-protestantisch) die Heilige Allianz gegründet[16], um die revolutionären Kräfte abzuwehren.[17]

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Wann kippt das Ringen um die deutsche Nation genau zum monarchistischen Kaiserreich? Die Märzrevolution von 1848 hat sich in diesen Tagen zum 175. Mal gejährt. Sie wird gar von Jochen Bittner im Leitartikel für DIE ZEIT erwähnt: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist.[18] In Berlin baute Friedrich August Stüler als Schüler von Karl Friedrich Schinkel seit 1845 die Kuppel des Berliner Schlosses nach den Skizzen Friedrich Wilhelm IV.. Albert Dietrich Schadow, der Sohn Friedrich Gottliebs, war Bauleiter an dem fast acht Jahre andauernden Großbauprojekt. Die Bildung eines Reiches nach einer demokratischen Ordnung wird vor dem Schloss durch Schüsse auf die Revolutionäre und Industriearbeiter von August Borsig auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor beendet. In seiner heute vieldiskutierten Inschrift auf der Kuppel gebraucht der König nicht den Begriff „Reich“, aber er proklamiert es, während 1848 in der Frankfurter Paulskirche über eine Reichsverfassung debattiert wurde und die Revolution vor seinem Schloss blutig niedergeschlagen worden war.

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Politik- und industriehistorisch ist der Bau der Kuppel eng mit der Revolution von 1848 und der Frage der Nation als einer des Reichs verzahnt. So gesehen wohnte der Anbringung der Großen Kartusche unter der Schlosskuppel im 175. Jahr der Märzrevolution eine gewisse Ironie bei. Durch die Rekonstruktion der Fassade und Kuppel durch einen zivilgesellschaftlichen Verein werden aktuell die Paradoxien der Geschichte am Berliner Schloss wieder sichtbar, aber nur wenig diskutiert. Schließlich wird 1853 unter dem vergoldeten Kreuz, den vergoldeten Palmwedeln und den schwarzen Englein aus Eisenguss eine goldene Inschrift auf hellblauem Hintergrund stehen, die auch 1853 fast unmöglich zu lesen gewesen sein wird. Gleich einer geheimen Agenda soll jeder sehen, dass da etwas geschrieben steht, aber nicht lesen können. Unter der Kuppel ziemlich entrückt, aber weithin deutlich zu sehen, feierte der König und das Haus Hohenzollern Gottesdienst. Die Dramaturgie und das Versprechen der Kuppelinschrift sollte erst 52 Jahre später 1905 mit der Weihung des Berliner Doms durch Kaiser Wilhelm II. als Materialisierung des Kaiserreichs von Julius Raschdorf in Erfüllung gehen:
„Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

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John Connelly verwies auf das lutherische Vaterunser mit der Formulierung „Dein Reich komme“. Als nicht mehr allgemein bekannt und seltener praktiziert, darf man anmerken, dass zur Bekundung der höchsten Autorität die Gemeinde das Vaterunser im Stehen betete und betet. Das Vaterunser war und ist Bestandteil jedes Gottesdienstes. Es wurde und wird in den Gottesdiensten insofern permanent wiederholt. So auch im Berliner Dom, wo der Kaiser mit seiner Familie zumindest oft in der Kaiserloge saß. Finanziert war der Dombau vom Evangelischen Kirchenbauverein worden, der 1890 als Folgeorganisation der Kirchenbaukommission von Kaiser Wilhelm I. 1888 gegründet worden war,. Der Evangelische Kirchenbauverein wurde vor allem durch die Großindustrie und Unterstützer wie dem Fürsten von Donnersmarck, d. i. Guido Henckel von Donnersmarck, der die Orgel stiftete, finanziert.[19] Mit der elektrisch betriebenen Orgel und einem elektrischen Aufzug für die Mutter des Kaisers etc. war der Berliner Dom 1905 bei seiner Weihung zugleich eine Leistungsschau vor allem der Berliner Industrie.

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Nicht nur visuell, sondern gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitisch wird der Berliner Dom zur Manifestation der Rede vom „Reich“ umgeben von einem städtebaulichen Ensemble, das die Kathedrale des Protestantismus mit der Lutherrose über dem Portal zum Dreh- und Angelpunkt des Machtanspruchs in der Welt macht. Kaiser Wilhelm II. konnte sich als Karl der Große der Moderne imaginieren. In die neuen Wohn- und Arbeiterviertel des industriellen Berlin um 1900 pflanzte der Evangelische Kirchenbauverein unter der Schirmherrschaft der Kaiserin Auguste Viktoria neogotische Backsteinkirchen. Auguste Viktoria, genannt im Berliner Volksmund „Kirchenjuste“, weihte die neuen Kirchen häufig ein und spendete eine Bibel für den Altar. In der Imagination des imperialen Geschenks wird noch mehr als 100 Jahre später von der Bibel gesprochen, die die Kaiserin schenkte, während vergessen worden ist, dass sie vom Evangelischen Kirchenbauverein und seinen Mitgliedern aus sozial- und wirtschaftspolitischen Interessen finanziert worden war.

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Die Anbringung der Großen Kartusche dauerte von morgens um zehn bis spät in den Abend hinein. Erst am nächsten Morgen fotografierte der Berichterstatter die Große Kartusche mit aufgesetzter Krone. Der Orden und Teile der goldenen Kette fehlen noch. Die Anbringung des Bauelementes dauerte trotz moderner Technik einen ganzen Tag und machte deutlich, dass die im Kaiserreich konstruierte und am Eosanderportal angebrachte Große Kartusche eine technologische Meisterleistung gewesen sein muss. Paradoxerweise wird der technologische Fortschritt zur Historisierung eingesetzt.       

Torsten Flüh

American Academy
John Connelly:
The Power of the “Reich” in the German Imagination.
Video vom 28. März 2023.


[1] Gesellschaft Berliner Schloss e.V.: Große Kartusche. (online)

[2] Siehe zur Schlossarchitektur als Machtpolitik: Torsten Flüh: Angenommen. Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums sowie Durchlüften – Open Air im Schlüterhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2021.

[3] Siehe: Dominik Bartmann: Anton von Werner – Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs (18. Januar 1871) (1877). (Online-Projekt)

[4] American Academy: John Connelly: The Power of the “Reich” in the German Imagination. Berlin 28. März 2023.

[5] John Connelly: From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe. Princeton: Princeton University Press, 2020.

[6] Ebenda S. 1.

[7] Siehe: DW: Gauland bezeichnet NS-Zeit als „Vogelschiss in der Geschichte“. 02.06.2018.

[8] Siehe AfD-Bundestagsfraktion: Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. (Pressemitteilung)

[9] Dieser Wortlaut wird allerdings in der Darstellung der Stadt Worms zum Reichstag als „später“ als zusätzlich gekennzeichnet. Siehe: Worms: Der Wormser Reichstag 1521. (online)

[10] Bereits 2014 hatte das Projekt Cranach Digital Archive die Bildpolitik Lucas Cranachs zur Verbreitung von Darstellung oder Porträts Martin Luthers umfangreich erforscht. Zum Druck der neuen Bibeln gehörte zugleich eine Bildproduktion. Siehe: Torsten Flüh: Lucas Cranach im digitalen Umbruch. Zwischen Werkkatalog und Datenbank: Cranach Digital Archive. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2014 18:48.

[11] Siehe Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[12] Feßler und Rhode (Hg.): Eunomia. Berlin 1801-1805. (Digitalisat)

[13] Ebenda. Politische Zeitgeschichte. Jahrgang 1 S. 379. (Digitalisat)

[14] Das Porträt en face und im Profil ist im Katalog zur Ausstellung aufgeführt. Allerdings wird der Text der Tafel zur Zeichnung aus der Ausstellung im Katalog nicht abgedruckt. Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 281.

[15] Andreas Gängel: Das Kriegsdenkmal – ein Kriegsdenkmal preußisch-russischer Verbundenheit. In: Verein für die Geschichte Berlins: Mitteilungen 119. Jahrgang, Heft 2, April 2023, S. 27.

[16] Torsten Flüh: Vom … [wie Anm. 13].

[17] Die Religionszugehörigkeit des Hauses Hohenzollern in Berlin-Brandenburg war seit der Reformation variabel, um es einmal so zu sagen. Es gab mehrere Wechsel. Kurfürst Johann Sigismund war 1613 zum Calvinismus übergetreten. Der Hof nutzte die reformierte Parochialkirche. Um 1815 findet insofern eine Normalisierung zur protestantisch-lutherischen Kirche statt.

[18] Jochen Bittner: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist. In: DIE ZEIT 5. April 2023, S. 1 (Print).

[19] Zur Baugeschichte des Berliner Doms siehe u.a.: Torsten Flüh: Gemeinsam Haltung zeigen. Zum Konzert „Künstler stehen zusammen“ im Berliner Dom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2019.

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