Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Erzählen – Klanggemälde – Musikpreis

Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin

Darf der Berichterstatter drei ebenso unterschiedliche wie herausragende Orchester beim Musikfest Berlin in einer Besprechung nacheinander würdigen? Ihm ist nicht ganz wohl dabei. Doch die Komprimierung führt zugleich dazu, dieses von Winrich Hopp mit den Berliner Philharmonikern und den Berliner Festspielen zusammengestellte Festival mit seiner Abfolge großer und größter Orchester und Dirigent*innen ins rechte Licht zu rücken. Beim Musikfest Berlin stellen sich Jahr für Jahr die weltbesten Orchester zu Beginn ihrer Tournee durch Europa und Großbritannien ein. Das Berliner Musikpublikum bekommt das seit Jahren eher etwas träge mit. Kurt es noch spätsommerlich auf Mallorca oder in Heringsdorf und Świnoujście an der Ostsee? Glücklicherweise wird das Festival medial von Deutschlandfunk Kultur begleitet und fast lückenlos aufgezeichnet.

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Große Dirigent*innen sind weiterhin fast immer männlich. Das Programm des Konzerthausorchesters Berlin mit seiner neuen Chefdirigentin Joana Mallwitz hat der Berichterstatter am 12. September versäumt, pardon. Ansonsten wurden bereits Ivan Fischers Dirigat mit dem Concertgebouw Orchestra, Sir Simon Rattles mit dem London Symphony Orchestra[1] und das aufsehenerregende, fast zufällige Debut von Dinis Sousa mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique[2] besprochen. Am 3. September dirigierte nun Sir George Benjamin das einzigartige Ensemble Modern Orchestra beim Start seiner Tournee anlässlich der 30jährigen Zusammenarbeit. Benjamin hatte erst kürzlich als Komponist und Dirigent den hochdotierten Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten. Am 5. September folgte Andris Nelsons als Stardirigent und am 11. September leitete Vladimir Jurowski das Bayrische Staatsorchester anlässlich seines 500jährigen Jubiläums – in Berlin.

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Die Ernst von Siemens Musikstiftung feiert 2023 ihr 50jähriges Jubiläum.[3] Die 1972 durch den kinderlosen Industriellen und Mäzen Ernst von Siemens gegründete Musikstiftung gehört neben der Kunststiftung zu den wichtigsten deutschen Musikförderungsinstitutionen. Der Ernst von Siemens-Musikpreis wurde am 7. Juni 1974 von seinem Stifter an Benjamin Britten überreicht. In der Stiftungsurkunde vom 20. Dezember 1972 ist als Zweck unter 2c formuliert: „die Verleihung von Preisen an produzierende oder reproduzierende Musikkünstler oder Musikwissenschaftler, die auf ihrem Gebiet besondere Leistungen vollbringen, insoweit dadurch ihr künstlerisches Schaffen gefördert und wertvolle Kunstwerke der Allgemeinheit zugeführt werden.“[4] Nach Benjamin Britten, Herbert von Karajan, 1979 Pierre Boulez[5], Karlheinz Stockhausen[6], Hans Werner Henze[7], die Bratschistin Tabea Zimmermann[8] oder Rebecca Saunders 2019[9] und Olga Neuwirth 2021[10] hat nun George Benjamin[11] den Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten.

© Fabian Schellhorn

Sir George Benjamin hatte mit dem Ensemble Modern Orchestra ein besonderes Konzertprogramm ausgewählt, in dem die Uraufführung von Francesco Filideis Cantico delle Creature und seine Liedkomposition A Mind of Winter (1981) mit Anna Prohaska als Solistin zwei Höhepunkte setzten. Das sehr jung besetzte Ensemble Modern Orchestra brillierte indessen ebenso mit Spira (2019) von Unsuk Chin, Cloudline (2021) von Elisabeth Ogonek, die ihre Komposition „ein Klanggemälde für Orchester“ nennt, und glut (2014-18) von Dieter Ammann. Damit war eine erstaunliche Bandbreite an zeitgenössischen Kompositionspraktiken zwischen „Konzert“, erzählendem Gestus und „Klanggemälde“ angelegt. Benjamin lässt sich vielleicht als ein Klangforscher der Stimmungen beschreiben. Die Stimmung wird auditiv durch eine große Besetzung zwischen Flöten, Oboen bis zur Tuba, einem umfangreichen Schlagwerk und nicht weniger groß besetzten Streichern zwischen Violine und Kontrabass produziert. Unsuk Chin erzeugt mit einer derartig großen Besetzung aus leisen, zarten Tönen bis in eine breite Polyphonie eine kreisende Bewegung, die sich visuell als aufsteigende Spirale denken lässt. Nach einer größtmöglichen Klangausdehnung bewegt sich die Spirale wieder zurück und verklingt in den Violinen.

© Fabian Schellhorn

Die Spielweisen in der zeitgenössischen Musik erforschen oft das Klangspektrum jenseits der klassischen Stimmungen. Das praktische Regelwerk der Stimmung wird überschritten. Instrumente werden auf immer wieder andere Klangspektren durch Praktiken erforscht. Darin haben sich das Ensemble Modern und das Ensemble Modern Orchestra ein einzigartiges Feld der Klangerzeugung erarbeitet. Von den Orchestermitgliedern wird eine hohe Präzision und Flexibilität ebenso wie eine außergewöhnliche Ensemblesensibilität verlangt. Kein Themen- oder Melodiengerüst trägt das Orchester. George Benjamin hat nicht nur 30 Jahre mit dem Ensemble Modern diese Orchesterklangbereiche erforscht, vielmehr hat er sie mit den Musiker*innen und Komponist*innen praktisch entwickelt. Diese Musikpraxis wurde im Konzert nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass Unsuk Chin, Francesco Filidei und Dieter Ammann bei der Aufführung anwesend waren und sich beim Dirigenten wie dem Ensemble bedankten.

© Fabian Schellhorn

Francesco Filidei entfaltet mit seiner Komposition des Cantico delle Creature, der in der Übersetzung als Sonnengesang des Franz von Assisi bekannt ist, aus einem leisen Pfeifen des Windes ein Welthörspiel zur Ehre Gottes. Der tiefreligiöse Gesang auf alle Lebewesen bzw. die Schöpfung lässt diese wiederholt zu Ton kommen, wenn Filidei in seiner Besetzung prominent 2 Schwirrbögen für ein ansteigendes Pfeifen des Windes oder einer Art Lebensströmen einsetzt. „Cowbells, Ocean Drum, Lockpfeifen (Nachtigall, Wachtel, Drossel)“[12] etc. geben nicht nur vom Namen her, vielmehr noch durch ihre Klangbreite einen Wink auf die Vielfalt der Klangereignisse, die in dem lyrischen Sopran von Anna Prohaska sehr hoch als Lob intoniert werden.
„Laudato si, mi signore, per sor‘ aqua,
la quale è multo utile et humile et pretiosa et casta.
Laudatio si, mi signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la notte,
et ello è bello et iocundo et robustoso et forte.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.“[13]     

© Fabian Schellhorn

Anna Prohaska zelebriert mit ihrer lyrischen Sopranstimme Filideis Cantico ebenso wie George Benjamins A Mind of Winter mit dem Gedicht von Wallace Stevens. Ihre Projekte für die zeitgenössische Musik machen Anna Prohaska zu einer Ausnahmesängerin. Sie erweitert ständig ihr Repertoire in neue Bereiche, ob mit den Bachkantaten unter der Leitung von Sir Simon Rattle 2022[14] oder dem Projekt Endor 2021[15] immer wird das Lied mit ihrer Stimme neu ausgelotet. Bedenkenlos könnte man Anna Prohaska für den Ernst von Siemens-Musikpreis vorschlagen. Nach einer Art Vorspiel mit gregorianischen Anklängen in Filideis Cantico delle Creature stimmt Prohaska den Gesang an. Stimme und Polyphonie des Gesangs bilden ein vielschichtiges und voluminöses Klangereignis. Der religiöse Gesang wird durch die Polyphonie eher in eine zeitgenössische Wahrnehmung von Natur und Umwelt transformiert. Anthropozän und Klimawandel geben heute einen Wink darauf, dass wir mit den Ressourcen respektvoller umgehen sollten.
„Laudatio si, mi signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flora et herba.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.)“[16]

© Fabian Schellhorn

George Benjamin hat für A Mind of Winter das Gedicht The Snow Man von Wallace Stevens umbenannt und 1981 mit der Widmung „For my mother, on her birthday“ versehen. Die Umbenennung erlaubt nicht zuletzt die geschlechtliche Befreiung des Gedichtes. Welches Geschlecht das lyrische „one“ im ersten Vers des Gedichtes hat, bleibt offen, wenn es nicht durch den Titel The Snow Man bestimmt wird. Benjamins Gespür für Stimmungen wird nicht zuletzt im Titelwechsel deutlich. Das Gespür für die frostige Winterstimmung beginnt „aus einer mit „Silence“ überschriebenen Generalpause, um dann „icy and misterious“ fortzufahren.[17] Anna Prohaska versteht es, die Stimmung fast gänzlich ohne Vibrato mit ihrer Stimme entstehen zu lassen.
„One must have a mind of winter
To regard the frost and the boughs
Of the pine-trees crusted with snow;
(Man muss Winter im Sinn haben,
um auf den Frost und die mit Schnee
verkrusteten Äste der Kiefern zu achten,)”[18]    

© Fabian Schellhorn

Das Ensemble Modern Orchester und die Solistin wurden vom Publikum begeistert gefeiert. Es bedarf weniger eines ausgedehnten Musikwissens als ein Gespür für das Engagement und die Sensibilität des Orchesters. Das wurde einmal mehr dadurch bestätigt, dass neben dem Berichterstatter zwei jüngere Menschen aus Italien saßen, mit denen er ins Gespräch kam. Sie verstünden nicht viel von klassischer oder zeitgenössischer Musik, aber sie hätten bemerkt, wie begeistert und konzentriert diese jungen Musiker*innen gespielt hätten. Dass sie mit Anna Prohaska einen Weltstar ihres Faches auf den internationalen Opernbühnen gehört hätten, könnten sie nicht beurteilen. Aber das sei sehr intensiv gewesen. Das kennten sie gar nicht. Und der junge Mann fragte, wo er denn noch in Deutschland in ein Konzert gehen solle. Herkunft und Hintergrund des Paares blieben im Dunkel. Aber sie hatten etwas entscheidendes mitbekommen, das das Konzert so einzigartig machte. Das Zusammenspiel von Dirigent, Solistin und Orchester war von gegenseitigem Respekt und Freude an der Musik geprägt.

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Andris Nelsons tourte mit dem Boston Symphony Orchestra, kurz BSO, vom 25. August bis 8. September zwischen Royal Albert Hall in London und der Philharmonie de Paris durch Europa. Am 5. September gastierte er beim Musikfest Berlin mit dem Orchester. Das Programm wechselte mehrfach während der Tournee, wiederholt bildete George Gershwins Piano Concerto in F mit Jean-Yves Thibaudet den Mittelteil. In London und Berlin eröffnete Andris Nelsons mit Julia Adolphes Makeshift Castle (2022) den Abend. Die Komposition ist ein Auftragswerk des BSO und des Gewandhausorchesters Leipzig, denen Andris Nelsons als Chefdirigent und Gewandhauskapellmeister vorsteht. In Berlin beendete mit dem zweiten Teil Igor Strawinskys Ballettmusik Petruschka von 1911 den Abend. Petruschka erforderte einen Kommentar der Berliner Festspiele, der äußerst berechtigt erscheint:
„Wir weisen darauf hin, dass in Strawinskys Partitur Petruschka mit den Figuren des M* und des Z*** im Originaltext rassistische Stereotype und Figurennamen enthalten sind. Diese historischen Bezeichnungen waren bereits im Zeitkontext mit abwertenden Konnotationen verbunden und sind Teil einer rassistisch-romantisierenden Erinnerungskultur, die bis heute zur Abgrenzung und Abwertung von Schwarzen Menschen und europäischen Sinti*zze und Rom*nja beiträgt.
Die Berliner Festspiele haben sich den Grundsätzen der Antidiskriminierung und Diversität verpflichtet. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die historischen Begriffe nur noch in der abgekürzten Version (M*, Z***) zu verwenden.“[19]

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Einerseits gehören die Ballettmusiken wie Petrouchka – Scènes burlesques en quatre tableaux (1911) und Sacre du printempsTableaux de la Russie païenne en deux parties (1913)[20] von Igor Strawinsky zum Repertoire der Klassischen Moderne, andererseits bricht mit ihnen die Geschlechterfrage der Moderne in der Musik auf. Auf der Suche nach dem Geschlecht in der im Deutschen angelegten Mehrdeutigkeit von Ursprung, Herkunft, Rasse, Nation und Identität wie nicht zuletzt dem Russischen in der Moderne zertrümmert Strawinsky in der Musik tradierte Muster und schafft zugleich neue ein- wie ausschließende Abgrenzungen. Musikalisch spielt dafür eine Aufwertung wenn nicht Neudefinition der Perkussionsinstrumente im Orchester die entscheidende Rolle. In Petruschka beginnt das erste Bild mit Strawinskys Russischem Tanz. Doch was ist an dem Tanz aus einer Jahrmarktsmusik heraus russisch? Petruschka ist nicht nur ein „ewig unglückliche(r) Held() aller Jahrmärkte in allen Ländern“[21], wie Strawinsky es formulierte, oder ein russischer Melancholiker, vielmehr wird er selbst mit dem Russischen Tanz als Russe eingeführt – und häufig mit den Matroschka-Puppen, die sich gleich einer Zwiebel bis zu einer kleinsten Puppe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entpacken lassen, verwechselt.

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Das Russische in den Ballettmusiken Igor Strawinskys war nicht zuletzt dem Branding der Ballets russes Serge Diaghilevs in Paris geschuldet. Gleichzeitig vollzog der Komponist einen radikalen Bruch mit dem Russischen und trieb das Orchester mit Sacre du printemps an das Ende der Melodie und des Melodischen als Folklore. Diese Bewegung kündigt sich in Petruschka bereits an, in der es zwar dreizehn Szenen gibt, die sich unterdessen in der Musik schwer abtrennen lassen. In der Visualisierung als Ballett lassen sich die Szenen genau unterscheiden, in der Aufführung von Andris Nelsons mit dem BSO verliert sich schnell der Faden in der Abfolge der Szenen bis „Petruschkas Geist erscheint“. Insofern sind die Szenen „Der M*“ und „Z*** und ein genusssüchtiger Kaufmann“, womit eine Prostitutionsszene umschrieben wird, durchaus rassistisch angelegt. Allerdings fällt es schwer, dies in der Musik zu hören, weil Strawinsky eben keine folkloristischen Modell benutzt. In der Hinsicht könnte die Frage nach dem Russischen bei Strawinsky durchaus intensiver bearbeitet werden.

© Fabian Schellhorn

Julia Adolphes Makeshift Castle mit den beiden Sätzen Sandstone und Wooden Embers verfolgt einen Gestus der Erzählung in der Musik. Dahingehend korrespondiert sie mit der erzählenden Geste des Concerto in F von George Gershwin, das 1925 in den drei Sätzen „Allegro“, „Adagio – Andante con moto“ und „Allegro con brio“ die Lebenspraktiken der Stadt New York als Inbegriff der modernen Großstadt des 20. Jahrhunderts in Musik verwandelt. Die Hektik, Schnelligkeit und Wechselhaftigkeit des Großstadtlebens, wie es mit dem „Allegro furios“ zwischen Klavier mit Jean-Yves Thibaudet und Orchester zum Klingen gebracht wird, reißt derart mit, dass das Publikum am 5. September zum Beifallssturm ermuntert wurde. In der Großstadt des 20. Jahrhundert wird das Individuum mitgerissen. Im Unterschied dazu wecken die „gegensätzliche(n) Zustände von Beständigkeit und Vergänglichkeit, von Beharrlichkeit und Auflösung, von Entschlossenheit und Hingabe“, wie es Julia Adolphe formuliert, mit Sandstone (Sandstein) und Wooden Embers (Hölzerne Glut) nicht zuletzt im Schlagwerk von Tomtoms, Großer Trommel, Glockenspiel, Klangstäben und Holzblock ein fast meditatives Hinhören.

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Dass das Bayrische Staatsorchester unter der Leitung von Vladimir Jurowski sein 500jähriges Jubiläum am 11. September mit einer Laudatio von Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, gebürtig aus Ulm, in der Berliner Philharmonie hochoffiziell feierte, hat fast einen Zug von Ironie. Gleichzeitig gibt es einen Wink auf die Verflochtenheit der Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Denn Claudia Roth setzt als Ministerin das Förderprogramm „Exzellente Orchesterlandschaft“ fort.[22] In ihrer Rede wandte sie sich mehrfach vom Rednerpult den Orchestermitgliedern direkt zu, um zu betonen, wie wichtig die Orchesterarbeit sei. Im Jahr 1523 stellte Herzog Wilhelm IV. von Bayern aus dem Haus Wittelsbach den Sänger-Komponisten Ludwig Senfl in München an seinem Renaissance-Hof im Neuen Hof, dem Ursprung der Münchner Residenz an. Darauf führt das Bayrische Staatsorchester seinen Ursprung zurück.

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Das Berliner Jubiläumskonzert wurde symbolträchtig von dem in Moskau geborenen Dirigenten Vladimir Jurowski, der sein Studium in Berlin und Dresden fortsetzte, mit der Symphonie Nr. 3 „White Interment“ (2003) der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevà eröffnet, was seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges 22. Februar 2022 eine starke Geste ist. Polevà komponiert mit dem großen Orchester von 144 Mitgliedern satte Klangcluster, die melodisch angelegt sind. Aus einem Klangteppich steigen rhythmische Schläge empor, die an Herzschläge erinnern können und zumindest teilweise durch Zupfen der Harfe erzeugt werden. Polevà komponierte mit White Interment (Weißes Begräbnis) eine Trauermusik, die 2003 einen Wink auf postsowjetische Verwerfungen in der Ukraine geben kann. Die breitangelegte, getragene Symphonie mit den Tempi „Andante assai – Meno mosso – Più mosso – Andante assai bildet fast eine geschlossene Kreisform. Vladimir Jurowski dirigierte das Bayrische Staatsorchester detailreich und ernst. Das Publikum applaudierte intensiv und der Dirigent bat die Komponistin ans Pult.

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Mit der Trauermusik von Victoria Vita Polèva war auch für das zweite Stück des Abends, Alban Bergs Konzert für Violine und Orchester, „Dem Andenken eines Engels“, eine Stimmung vorgegeben. Den Anlass für Bergs Konzert gab der Tod der 18jährigen Manon Gropius an Kinderlähmung am 22. April 1935 in Wien. Sie war die Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Die Epidemie der Kinderlähmung oder Poliomyelitis war insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft tödlich.[23] Vilde Frang spielte die Solovioline, wofür sie stürmisch gefeiert wurde. Auf diese Weise war das Konzert von einer Trauermusik und einer das Requiem mit dem Zitat des Bachchorals Es ist genug paraphrasierenden Komposition geprägt. Doch im Konzertsaal spielt dann gerade durch den Anlass des Jubiläums und der Exzellenz des Orchesters eine Art freudige Begeisterung in den traurigen Hintergrund hinein.

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Eine freudige Begeisterung strukturiert nicht zuletzt Richard Strauss‘ Eine Alpensinfonie genanntes Großwerk. Zwischen 1899 und 1915 komponiert, fällt die Komposition in eine Zeit des Reisens und der Entdeckungen malerischer Landschaften unter zunehmend schnellerer Eisenbahnverbindungen. Von den Kaiserbädern auf Usedom wie Heringsdorf an der Ostsee bis in die Chiemgauer Alpen z.B., wo Ernst von Siemens‘ Vater 1911 in Ruhpolding ein großzügiges Jagdhaus als Urlaubsziel errichten ließ [24], nahm der frühe Tourismus des Bürgertums einen kräftigen Aufschwung. Hatte im 18. Jahrhundert die Grand Tour des Bürgertums und des Adels in Italien noch ein Bildungsprogramm mit dem Reisen verknüpft, so entdeckt das Bürgertum des Kaiserreichs um 1900 den Reiz der schnellen Ortswechsel im Rhythmus des Jahreszeiten bei gleichzeitig größtmöglichem Komfort. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz so überraschend, dass Eine Alpensinfonie schließlich unweit des Siemens-Stammsitzes in der Schönberger Straße am Anhalter Bahnhof in der alten Berliner Philharmonie an der Bernburger Straße am 28. Oktober 1915 mit der Dresdner Königlichen Kapelle uraufgeführt wurde. Man darf annehmen, dass das Orchester aus Dresden mit dem Zug über den Anhalter oder den Dresdner Bahnhof angereist war. (Der Siemens-Stammsitz lag insofern fernverkehrsmäßig günstig an zwei Kopfbahnhöfen.)

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Doch zurück zur freudigen Begeisterung, die in einem Auf-und-Abstiegs-Motiv von Richard Strauss als eine individuelle Erkundung eines Alpengipfels strukturierend bis in einzelne Wassertropfen in der Klarinette beim Abstieg nach einem Gewitter intoniert wird. Geradewegs zyklisch wird ein Tag in den Alpen von der „Nacht“ und dem „Sonnenaufgang“ bis zum „Sonnenuntergang – Ausklang“ und „Nacht“ auskomponiert. Die alpine Landschaft mit einer psychovisuellen „Erscheinung“ sowie „Gefahrvolle(n) Augenblicke(n)“, einer „Vision“ und einer „Elegie“ wird zu einer Erlebnislandschaft mit allem drum und dran. Mehr konnten sich selbst die Angehörigen der Berliner Industriellenfamilie von Siemens in den Alpen nicht wünschen. In mehreren Klangebenen überschneiden sich in der mehr oder weniger individuellen und einmaligen Alpensinfonie Ausflugserlebnis und Naturereignis. Nicht ohne Ironie wird das alpine Programm mit „Auf dem Gipfel“ und einer trotz heftigem Gewitter nicht wirklich gefährlichen Alpenwanderung vielschichtig und ereignisreich mit dem größtmöglichen Klangkörper bis zur Orgel auskomponiert. Die Pastorale schimmert nur noch hervor, längst ist alles zum imperialen Effekt zwischen alter Philharmonie und riesigem Anwesen der Familie Siemens in Potsdam geworden.  

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Vladimir Jurowski dirigiert Eine Alpensinfonie genau zwischen dem Bogen der kaiserlichen Reichshauptstadt Berlin und dem Jagdhaus, sagen wir, bei Ruhpolding in den Chiemgauer Alpen mit dem Schnellzug im Hintergrund. Den Schnellzug hat Richard Strauss nicht in den Tagesablauf einkomponiert. – Ankunft per Schnellzug. – Nacht – Sonnenaufgang … – Doch Eine Alpensinfonie mit ihrem Erlebnispotential funktioniert genauso wie die durchaus kostspieligen Schnellzüge von und nach Berlin. Eine Alpensinfonie endet so leise, dass man ein ansetzendes Schnarchen des erlebnisgestättigten Wanderers erwarten könnte. Doch Richard Strauss hat mit dem leisen Schluss bestimmt schon den ansetzenden, brausenden Applaus mit einkalkuliert. Ein wenig fühlt man sich als Hörer bei Richard Strauss immer an der Nase geführt. Ein triumphaler Konzertschluss! Mit dem Vorspiel zum 3. Aufzug der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner als Zugabe unterstrich der Dirigent die Exzellenz des Orchesters, aber verschwendete sie auch.

Torsten Flüh 

Musikfest Berlin 2023
bis 18. 9. 2023

Konzerte zum Nachhören:
Deutschlandfunk Kultur
Ensemble Modern Orchestra
Aufzeichnung vom 3. September 2023

Bayrisches Staatsorchester
Aufzeichnung vom 11. September 2023


[1] Torsten Flüh: Furiose Gedankenmusik. Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. September 2023.

[2] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[3] Zeitreise: 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung. (Website)

[4] Ebenda year 1973.

[5] Zu Pierre Boulez und Daniel Barenboim als seinen Schüler siehe: Torsten Flüh: Verspätete Ankunft der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[6] Zu Karlheinz Stockhausen siehe: Torsten Flüh: Spiritualität und elektronische Geisterkunst. Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[7] Zu Hans Werner Henze siehe: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. November 2019.

[8] Zu Tabea Zimmermann siehe: Torsten Flüh: Von dem Gesang der Bratsche. Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. September 2020.

[9] Zu Rebecca Saunders siehe: Exakte Explosionen. Zur Deutschen Erstaufführung von Rebecca Saunders to an utterance beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Oktober 2021.

[10] Zu Olga Neuwirth siehe: Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.

[11] Zu George Benjamin siehe: Torsten Flüh:  Aufgespürte Stimmungen. Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[12] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 Ensemble Modern Orchestra/Sir George Benjamin II. Chin/Ogonek/Filidei/Benjamin/Ammann. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[13] Ebenda S. 18-19.

[14] Torsten Flüh: Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis. Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle (und Anna Prohaska). In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Mai 2022.

[15] Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.

[16] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 … [wie Anm. 12] S. 20-21.

[17] Dirk Wieschollek: Feier der Elemente. In: ebenda S. 13.

[18] Ebenda S. 16-17.

[19] Musikfest Berlin: Programm 5.9.2023 Boston Symphony Orchestra/Andris Nelsons. Adolphe/Gershwin/Strawinsky. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 3.

[20] Siehe zu Le Sacre du Printemps: Das Enden der Melodie. Sir Simon Rattle treibt die Berliner Philharmoniker zu einem schonungslosen Le Sacre du Printemps. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Juni 2017. (als PDF unter Publikationen)

[21] Ebenda S. 12.

[22] Bundesregierung: Bund stärkt vielfältige Orchesterkultur. Pressemitteilung 5. September 2023.

[23] Siehe zur Kinderlähmung: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[24] Erik Lindner: Ernst von Siemens. In: Siemens Historical Institute (Hg.): Lebenswege. München: Siemens, 2015, S. 10.

Die Geschichte mit dem Dreh

Geschichte – Chronologie – Maschine

Die Geschichte mit dem Dreh

Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin

Im Kulturwerk des Hauses Unter den Linden 8 der Staatsbibliothek zu Berlin werden neuerdings deren Schätze aus ihrem sonst schwer zugänglichen Bestand gezeigt. Astrit Schmidt-Burkhardt stellt mit Die Chronologiemaschine einen ebenso aufsehenerregenden wie wirkmächtigen Schatz und sein Umfeld vor. Im 18. Jahrhundert wurde er zwischen Wissenschaft und Zeitvertreib so prominent, dass Denis Diderot der „Chronologique (machine.)“ im 3. Band der Erstausgabe der Encyclopédie 1753 eine ausführliche Beschreibung widmete. Der Originaleintrag im Band ist in der Ausstellung aus dem Bestand der Staatsbibliothek aufgeschlagen. In dessen letzten Absatz wird der Name ihres „auteur“ mit „M. Barbeu du Bourg, docteur en Medecine, & professeur de Pharmacie dans l’université de Paris“ verraten.

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Jacques Barbeu-Dubourg hat seine Maschine für den praktischen Gebrauch konstruiert. Sie lässt sich bequem transportieren, gar unter den Arm nehmen, aufklappen und dann mit zwei Kurbeln nach links oder rechts drehen. Durch das Aufklappen entsteht eine Art Rahmen, in dem sich die Weltgeschichte nach dem europäischen Wissensstand des 18. Jahrhunderts vor- oder zurückspulen lässt. Durch die praktische Verwendung, die an das Wischen mit dem Finger auf dem Smartphone erinnert, litten die aus Papier angefertigten Maschinen allerdings so sehr, das aktuell nur noch ein restaurierungsbedürftiges Originalexemplar in der Bibliothek der Princeton University bekannt ist. Die Ausstellungsbesucher*innen müssen dennoch nicht auf die Chronologiemaschine verzichten. Die Kuratorin hat eine nach dem Original anfertigen lassen, die man sofort ausprobieren wollte, wäre sie nicht in einer Vitrine eingeschlossen.

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Mit der Chronologiemaschine  von Barbeu-Dubourg lassen sich eine ganze Reihe von Verwendungen bedenken. Sie lädt ein zu Zeitreisen durch die Geschichte. Sie gibt den Anwender*innen das Gefühl, mit den Kurbeln gleich Gott die Geschichte in der Hand zu haben. Und sie unterscheidet sich als Carte chronographique, wie Barbeu-Dubourg sie selbst nannte, grundsätzlich von einem Buch, in dem sich nur blättern und lesen lässt. Schmidt-Burkhardt sieht in der Maschine gar das Medium Film angelegt. Sie spricht von „Visual History“ angesichts ihres Schatzes, den sie zufällig fand und der in einem eher begrenzten Kreis internationaler Fachleute diskutiert wird. „Visualisierte Vergangenheit, (…), überführt Geschichtsschreibung in Geschichtsbilder.“[1] Die Handlichkeit der Maschine, die den Blick auf die Geschichte dreht, verändert alles. Zugleich verspricht sie nach dem amtlichen Titel für die Pariser Zensurbehörde vom 28. Mai 1753 einen chronographischen und universellen Zugriff auf die Geschichte: Chronographie universelle & details qui en dépendent pour la Chronologie & les Génealogies.[2] (Universelle Chronographie & abhängige Details für die Chronologie & die Genealogien.)

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Gleich einem medienhistorischen Scharnier treffen in der Chronologiemaschine unterschiedliche Geschichtsformate des 18. Jahrhunderts aufeinander. Für die Zensurbehörde des Königs von Frankreich sind die Genealogien eine Legitimation seiner bereits durch die Aufklärung schwankenden Herrschaft. Die in der Encyclopédie umfangreich diskutierte Wissensform der Chronologie, der uhrwerkgleichen, aber linearen Abfolge von Zeitpunkten, setzt unterdessen bereits an dem Narrativ der dynastischen Genealogie als Abfolge von Geburten in einer Herrscherfamilie an. Die Genealogien (les Génealogies) sind im Titel für den königlichen Zensor wichtig. Tatsächlich hat das Denken der Genealogie insbesondere im europäischen Adel bis heute überlebt. Im Deutschen bilden sie Geschlechter, ohne dass sie in der Gender Debatte größere Aufmerksamkeit genössen.

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Wie wird die Chronologie in der Encyclopédie formuliert? Das Uhrwerk als Maschinenmodell der Aufklärung par excellence wird zunächst nicht erwähnt. Vielmehr wird eröffnend Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) von d’Alambert und Diderot zitiert: „In tempore, (…), quoad ordinem successionis, in spatio quoad ordinem situs locantur universa.“[3] In der Zeit sind in Bezug auf die Reihenfolge der Abfolge, im Raum in Bezug auf die Reihenfolge der Orte, alle Dinge lokalisiert. Das physikalische Zeitmodell, das sich von der uhrwerkgleichen Astronomie in ihrem Modus der Wiederholung unterscheidet, bahnt im 18. Jahrhundert mit der Chronologie ein neuartiges Denken der Zeit. Ließe sich die Reihenfolge der Zeitpunkte genau aneinanderreihen, dann hätte man sie mit einem Blick erfasst. Gegenüber den genealogisch angelegten Zeiten der Bibel seit Adam und Eva, in denen sich immer wieder durch unterschiedliche Autoren Verwandtschaftsverhältnisse überschneiden oder unklar bleiben, entsteht mit der Chronologie im 18. Jahrhundert ein neuartiges Zeitmodell.

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Graphisch wird die Chronologie bei Jacques Barbeu-Dubourg zu einem Zeitstrahl, auf dem jeder Zeitpunkt wie auf einem Metermaß verzeichnet werden kann. Er klebte die „fünfunddreißig einzelnen Kupferdrucke im Folioformat“ mit Leim aneinander, so dass er „ein rund 16,5 Meter langes Papierband“[4] erhielt, das sich auf- und abrollen lässt. Ob und welche Rolle dabei die Kenntnis von chinesischen Bildrollen oder die Thora spielten, ist nicht bekannt. Doch seit dem 17. Jahrhundert waren chinesische Bildrollen nach Europa gelangt, um viel Aufsehen an Höfen, unter Forschern und Sammlern zu erregen. Barbeu-Dubourgs Carte chronographique ist als Bildrolle vor allem anders strukturiert. Der Zeitstrahl verläuft von links nach rechts gleich der griechisch-lateinischen Lesepraxis. Während zum Beispiel im Arabischen und Chinesischen von rechts nach links gelesen wird.

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Am oberen Rand der Kupferstiche verläuft gleich einem Lineal z.B. auf der Tafel 25[5] der Zeitstrahl, der in einen Rhythmus von zehn Jahren und wiederum wechselnd in Jahre eingeteilt ist. Ein Jahr wird mit sechs Strichen in zwölf Monate visuell rhythmisiert. Auf diese Weise vermisst Jacques Barbeu-Dubourg die Zeit kurztaktig, um Namen und Ereignisse einzutragen. Gegenüber der Bindung der Tafeln als Buch, Mappenwerk oder Leporello wie es durch die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt als Leihgabe in der Ausstellung überliefert ist[6], wird durch das unterbrechungslose Abrollen der vermessenen Zeit aller erst ein Kontinuum der Zeit visualisiert bzw. wahrnehmbar. Beim Leporello als Format der Karte bedarf es einer Art von in die Seiten geklebter Merkzettel, um Namen, Zeitpunkt und Ereignis aufzufinden.[7]

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Die maschinelle Rollmechanik als Chronologie der Maschine erspart Merkzettel und das Blättern. Auf dem Plakat für die Ausstellung im Kulturwerk hat Schmidt-Burkhardt denn auch genau diesen rhythmisierten Zeitstrahl als „(e)ine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts“ abbilden lassen.[8] Zugleich wird die durchaus paradoxe Geschichtlichkeit der Karte zwischen neuzeitlicher Chronologie und biblischer Genealogie augenfällig. Vor dem Beginn des Zeitstrahls steht „DIEU“ und am Anfang unter „Adam“ „Eve“. Nach der Genesis, Schöpfungsgeschichte des Alten Testament schnitt Gott im Garten Eden Eva aus einer Rippe Adams.[9] Im Erzählmodus des Genesis braucht es keiner zeitlichen Festlegung dieses ursprünglichen Ereignisses, vielmehr wurde im Judentum, Christentum und Islam seither der genealogische Vorsprung des Mannes tradiert und transformiert.

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Das Paradox von Chronologie nach Newton und Genealogie nach der Genesis im Buch Moses lässt sich mit den epochalen Entwürfen eines Kenotaphs für Isaac Newton des Revolutionsarchitekten Étienne-Louis Boullée von 1784 bedenken.[10] Boullée visualisiert in seinem Entwurf ein Weltgebäude ohne Gott. Statt des christlichen Gottes im Himmel wird Newton im Mittelpunkt der nicht zuletzt chronologischen Zeitläufe aufgebahrt. Boullée hatte mit seinem Entwurf die sprengende Kraft Newtons, die sich in der Enzyklopädie ankündigte, verstanden. Jacques Barbeu-Dubourg und die Enzyklopädisten versuchen unter dem Auge der Zensur mit der Chronologie etwas zu vereinen, dessen Unvereinbarkeit bereits aufgebrochen war. Insofern weist der kartografische Zeitstrahl in eine Zukunft über die vermessene Zeit hinaus.

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Das Revolutionäre der Chronologiemaschine wird letztlich mit einem Begleitbuch abgefedert, das die Kuratorin nur in der finnischen Nationalbibliothek aufspüren konnte: Introduction abrégee al l’Histoire des différents peuples anciens et modernes; Contenant les principaux événements de chaque siécles, & quelques traits de la vie des Personnages illustres, depuis la création du monde jusqu’à présent. Pour servir principalement d’explication à la Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg (Paris 1757).[11] Um die Chronologiemaschine Barbeau-Dubourg werden unterschiedliche Medien zur Wissensgenerierung eingesetzt. Das gibt auch einen Wink auf die Fiktion der Chronologie, wie sie als Zeitmodell in der Mitte des 18. Jahrhunderts debattiert wird. Die Bildgeschichte der Maschine mit verschiedenen bildhaften Elementen, verlangt möglicherweise nur aus Gewohnheit nach einer Erzählung.  

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Die nachträgliche, gekürzte Einführung in die Geschichte als Ergänzung zur visuellen Maschine gibt einen Wink auf ein Wissensproblem der Visual History. Das visuelle Wissen durch Bilder bleibt zumindest elastisch und erfordert eine Einführung (Introduction) gleich einer Gebrauchsanweisung, um nicht zuletzt im Gespräch ausgetauscht zu werden. Bis zur Hebung des Schatzes durch Schmidt-Burkhardt konnte die finnische Nationalbibliothek die Introduction nicht zuordnen. Nach der Hebung konnte das Buch nicht mehr für die Ausstellung im Kulturwerk ausgeliehen werden, weil die Sicherheitsmaßnahmen nicht zu finanzieren waren. Ein Foto des Titels muss nun in der Ausstellung ausreichen. Wissen und Wertschätzung sind mit bestimmten Praktiken verknüpft.

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Zahlreiche Exponate der Ausstellung kommen aus Privatsammlungen. Deshalb sind sie als Schätze dem Blick der Öffentlichkeit i.d.R. entzogen. Astrit Schmidt-Burkhardt hat mit der Ausstellung und dem Buch Die Chronologiemaschine nicht nur ein medienhistorisches Novum ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, sie hat mit ihrer langjährigen und hartnäckigen Forschungsarbeit von Bildtheorie, Medien-, Kunst- und Wissensgeschichte ebenso verborgene Schätze von einigem Wert gehoben. Im Kulturwerk sind nun viele Schätze in einem Kontext zu sehen, der aller erst ihre Wertschätzung für Forschung und Publikum einsetzen lässt. Mit der Ausstellung wird nicht zuletzt das 270. Jubiläum der Pariser Chronologiemaschine in Berlin gefeiert.

Torsten Flüh

Stabi Kulturwerk
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts
bis 8. Oktober 2023
Unter den Linden 8
10117 Berlin

Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne.
Berlin: Lukas Verlag, 2022
256 Seiten, 280 Abb., 240 x 310 mm,
Festeinband. durchgängig vierfarbig.
48,- €   


[1] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne. Berlin: Lukas Verlag, 2022, S. 11.

[2] Ebenda S. 22.

[3] D’Alembert, Diderot: Chronologie. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Tome 3. Paris, 1753. (Wikisource)

[4] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 20.

[5] Ebenda S. 29 und in der Totalen gut auf Abbildung 77, S. 71 zu erkennen, ebenso S. 88 bis 91.

[6] Das Leporello ebenda S. 157 bis 230.

[7] Ebenda z.B. 162.

[8] Staatsbibliothek zu Berlin: Ausstellung: Die Chronologiemaschine – Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts. (Termin)

[9] „21 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 1. Moses 2, Vers 21-22. In: Lutherbibel 2017.

[10] Siehe: Archiinform: Newton Kenotaph. Letzte Aktualisierung: 9.8.2023.

[11] Gekürzte Einführung in die Geschichte verschiedener alter und moderner Völker; Enthält die wichtigsten Ereignisse jedes Jahrhunderts und einige Merkmale des Lebens berühmter Persönlichkeiten, von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart. Dient hauptsächlich der Erläuterung der Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg. Zitiert nach Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 9.

Grandioses Großwerk durchglüht

Industrielle Revolution – Antike – Grand Opéra

Grandioses Großwerk durchglüht

Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin

Sir John Eliot Gardiner (80), dem die Einstudierung und Aufführung der ungekürzten Fassung der Grand Opéra Les Troyens von Hector Berlioz durch den Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique sowie mehreren hochkarätigen Solist*innen zu verdanken ist, fiel gleichsam der Revolte eines Sängers auf den Altären von Troja und Karthago zum Opfer. Nach der Aufführung beim Festival Berlioz in La Côte-Saint-André, Auvergne-Rhône-Alpes, dem Geburtsort des Komponisten, sei der Sänger des Priam und Narbal, William Thomas (Bass), zur falschen Seite von der Bühne abgegangen, woraufhin es hinter der Bühne zu einem Disput gekommen sei, an dessen Ende Gardiner den Sänger des Königs von Troja und des Ministers der Königin von Karthago geohrfeigt habe. Fortan übernahm Gardiners Assistent Dinis Sousa bei den Salzburger Festspielen und beim Musikfest Berlin sowie bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall das Dirigat.

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Hector Berlioz schrieb das Libretto zu seiner Oper Les Troyens nach dem Epos Aeneis des römischen Dichters Vergil selbst. Es geht um den Gründungmythos Roms und des römischen Reiches durch den Trojaner Aeneas (Michael Spyres). Insofern Vergil mit Aeneis Motive und Mythen der früheren Illias und Odyssee wiederholt und transformiert, handelt es sich um eine Wiederholung, die von Berlioz ins Format der Grand Opéra im Paris der Industrialisierung transformiert wird. Gefühle und Wissen, Gesetze und Verrat, Erfüllung von Konventionen und Eigensinn, Zukunftswissen und Zufall, Volk und Prosperität spielen bei Berlioz eine strukturierende Rolle. Im aufblühenden Karthago schimmern die Versprechen der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Dido (Paula Murrihy) und Aeneas geben sich als Höhepunkt der unendlichen Ekstase hin: „Nuit d’ivresse/et d’exstase infinie!“, der „Nacht der Glut und des sel’gen Verlangens!“

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Die Grand Opéra Les Troyens in Gänze halbszenisch aufzuführen, war seit Jahren der große Wunsch von Sir John Eliot Gardiner. Die doppelte Tragödie des Untergangs von Troja mit dem Suizid der Cassandra (Alice Coote) wie den Trojanerinnen und des Suizids der Königin von Karthago, Dido bzw. französisch Didon (Paula Murrihy), setzt das antike Format von den Gesetzen der Götter, der Prophezeiung und den Gefühlen der Menschen gleich zweimal ebenso aufwendig wie eindrücklich in Szene. Gardiners, sagen wir, Leitungspraxis ist seit Jahren umstritten. Die Gesetze eines globalen Gleichheitsdiskurses und nicht allein die nun herbeizitierten Ärzte, Medikamente und hohen Temperaturen in La Côte-Saint-André haben Gardiner zumindest tragisch mitgespielt. Die Hochkultur der europäischen Klassik bebt mit Les Troyens und einem Gesetzeswandel.

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Die Aufführung von Les Troyens beim Musikfest Berlin war mit erheblichem Aufwand und einem Comic von Mikael Ross als Plakat und Programm angekündigt und beworben worden. Les Troyens sprengt Dimensionen mit „über sechseinhalbtausend Takte(n) Partitur“[1]. Der Comic bietet nicht nur Bilder von der antiken Sage der Trojaner, nach der Cassandra, Tochter des Königs von Troja, Priamus, franz. Priam, die die Zerstörung Trojas vorhersagt und nicht gehört wird, vielmehr ziehen die Trojaner witzig in Hans Sharouns Philharmonie ein. Dort wird Cassandra ausgebuht. Doch dann wird die Aufführung zu einem Triumph. Der zeitgenössische Comic verknüpft Literatur- und Opernwissen mit den aktuellen Themen einer so großen, weil vielzähligen konzertanten, halbszenischen Opernaufführung.

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Die Erwartungen an eine ungekürzte Aufführung von Les Troyens waren groß. Dennoch war das Haus nicht ausverkauft, was als Verhalten des Klassik- und Opernpublikums kaum nachzuvollziehen ist. Es sei allerdings die Indiskretion erlaubt, dass Sir Simon Rattle und seine Frau Magdalena Kožená der Aufführung beiwohnten. Das war mehr als eine Überraschung, weil die Aufführung um 17:00 Uhr begann und nach 22:00 Uhr endete. Einerseits ist bekannt, dass Sir Simon Rattle selbst ein Interesse für Hector Berlioz hegt und die Grande Symphonie funèbre et triomphale mit den Berliner Philharmonikern zum 50. Jubiläum der Philharmonie 2013 prominent aufgeführt hat.[2] Andererseits wird Dinis Sousa seine Neugier geweckt haben. Dinis Sousa wurde vom Publikum, den Solist*innen, dem Chor und Orchester gefeiert, soviel kann vorweggenommen werden.

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2019 stand die Opéra comique Benvenuto Cellini von Hector Berlioz mit Sir John Eliot Gardiner dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique im Programm des Musikfestes Berlin und gab mit einem Streikchor einen Wink auf die Industrialisierung sowie politische Debatten der 1830er Jahre in Frankreich und Paris.[3] Berlioz begann nach längerem Zögern im April 1856 die Komposition von Les Troyens, nachdem von Mai bis Oktober 1855 in Paris die Exposition Universelle des produits de l’Agriculture, de l’Industrie et des Beaux-Arts stattgefunden hatte und das bekannte Dimensionen sprengende Palais de l’Industrie am Champs-Élysee gebaut worden war. Berlioz hatte zur Weltausstellung im Oktober und November zwei Konzerte beigesteuert. Benvenuto Cellini war schon 1838 in der Pariser Oper mit dem proletarischen Streikchor uraufgeführt worden. In die Spannung von Industrialisierung, Investitionen, Kapitalismus, neuen Großbauten und wirtschaftlicher Blüte, die zugleich ganz Paris und seine Bevölkerung davonrissen, ziehen die Trojaner ins Exil nach Karthago.

© Fabian Schellhorn

Die Zukunft lässt sich in Paris um 1855 schwer vorhersagen. Seit 1838 hat die Geschwindigkeit der Veränderungen zugenommen, als Hector Berlioz mit Cassandra eine Frau, die hellsichtig geworden ist und deren Warnungen nicht gehört werden, zur Hauptfigur des ersten Teils seiner Oper macht. Gegenüber dem Epos wird die Funktion Cassandras viel stärker herausgearbeitet. Das Zukunftswissen spielt in der Oper als Gesetz der Götter eine brutale und strukturierende Rolle, während im zeitgenössischen Paris niemand weiß, ob er/sie morgen unermesslich reich oder bankrott sein wird. Industrialisierung und Finanzkapitalismus machen vor allem Paris zum neuen Dreh- und Angelpunkt der Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Anders gesagt: Das „Vergilische() Herzweh“[4], dass Hector Berlioz in seiner Autobiographie zum Auslöser für die Komposition der Grande Opéra macht und mit der Michael Stegemann in Hectors Schatten argumentiert, kann zugleich in der Industrialisierung liegen, in der alles Versprechen, aber nichts mehr sicher ist.

© Fabian Schellhorn

Im Unterschied zu den prägenden Vergil-Lektüren der Kindheit im ländlichen La Côte-Saint-André kann Berlioz, der mit Rufnamen so heißt wie der älteste Sohn des trojanischen Königs Priamos, Hector, welcher von Achilleus getötet und dreimal um die Stadt Troja geschleift wird, in Paris nicht mehr davon laufen. Er muss seine Erzählung verarbeiten oder die Figur Hector verschieben. Der schreckliche Tod Hectors wird vom Librettisten und Komponisten nicht erwähnt, vielmehr erscheint er Cassandra als um die Zukunft wissender Geist. Die Opernhandlung beginnt mit dem Tod Achills. Opfer will Hector nicht sein.
„SOLDAT
Wisst ihr wohl, wessen Kriegszelt an diesem Ort stolz sich erhob?
TROJANISCHES VOLK
Nein, sag es uns. Hier stand …
SOLDAT
Das des Achills.
TROJANISCHES VOLK weicht entsetzt zurück
Zeus!
SOLDAT
Verweilt, tapfere Männer,
Achill ist tot,
und dort könnt ihr sein Grab erblicken.
Schaut es an.“[5] 

© Fabian Schellhorn

Diese initiale, gleichsam mikrologische Beobachtung des Beginns der fünfaktigen Oper gibt einen Wink auf Berlioz‘ Übertragungsverfahren. Er überträgt nicht nur Vergils Aeneis vom Lateinischen ins Französische, vielmehr noch vom Epischen ins Dramatische, das mit einer neuartigen Subjektposition des Dichtererzählers bei Vergil bereits angelegt war. „Während sich in den Proömien von Ilias und Odyssee kein Verb in der ersten Person Singular findet und der Erzähler der Argonautika erst am Anfang  des zweiten Verses „ich will erinnern“ sagt, folgt bei Vergil schon in Vers 1 unmittelbar auf die knappe Themenangabe Arma uirumque („Waffen und Mann) das selbstbewußte cano („singe ich“).“[6] Das neuzeitliche Auftauchen des Subjekts im Libretto der Oper verändert alles. Kassandra sieht in der Eröffnungssequenz Hector als Wissenden. Im Französischen wird diese entscheidende Übertragung durch Cassandre mit einer Wiederholung noch stärker betont:
„J’ai vu l’ombre d’Hector
parcourier nos remparts
comme un veilleur de nuit.
J’ai vu ses noirs regards
interroger au loin
le détroit de Sigée …
Malheur !“[7] 

© Fabian Schellhorn

Das Sehen als Form des subjetbezogenen Zukunftswissens wird für Cassandre bzw. Kassandra zur Tragödie. Denn sie sieht etwas Anderes, das weder ihr Geliebter Choröbus (Lionel Lhote) noch die Trojaner sehen können oder sehen wollen. Das Trojanische Pferd wird vom Volk in die Stadt gezogen. Der warnende Priester Laokoon wird von Schlangen aus dem Meer verschlungen. Durch die Subjektivierung des Sehens und Wissens von Kassandra und Choröbus schafft Hector Berlioz einen neuartigen dramatischen Konflikt, der ebenso neuzeitlich ist, wie er den Konventionen der Oper entspricht. Die Übertragungen funktionieren auf eine Art und Weise, die aus dem lateinischen Text neuartige Erzählungen entstehen lässt. Der Berichterstatter muss zugeben, dass er nicht vergilfest ist und die Aeneis nicht vollständig kennt. Choröbus kommt im Buch II des Epos in der Schreibweise Coroebus als Geliebter vor, indessen lassen sich die unterschiedlichen Formen des Wissens wie sie im Duett artikuliert werden, nicht finden.[8] Vielmehr meldet sich der Epiker, Vergil in Vers 402 prominent mit einem Ausruf zu Wort, der beide Wissensformen in Frage stellt, bevor sich Coroebus, dem Tode nah, in den Zug der Kämpfenden wirft:
„Heu nihil inuitis fas quemquam fidere diuis!“
(Leider kann man lange Zeit niemandem vertrauen!)

Es ist die Gesangsform des widerstreitenden Duetts, mit der exemplarisch das unterschiedliche Wissen der Subjekte Cassandra und Choröbus inszeniert und verhandelt wird. Die verfehlende oder tragische Liebe des Subjekts, die im Duett von Kassandra und Choröbus besungen wird, trägt Züge der Romantik und ihres Liebesdiskurses. Für den ersten und zweiten Akt der Oper mit dem Schauplatz Troja wird dieser Liebesdiskurs als Problem des subjektiven Wissens strukturierend. Kassandra drängt Choröbus aus ihrem Vorwissen zur Flucht. Doch der „Liebeswahn“ als Form seines Wissens lässt ihn bei ihr bleiben.
„KASSANDRA
Willst du so blind wie sie
darauf bestehen,
zu opfern dich für deinen Liebeswahn?
CHORÖBUS
Ich weiche nicht von dir!“[9]

© Fabian Schellhorn

Hector Berlioz schrieb sein Libretto für das Publikum seiner Epoche in Paris. Dadurch verschiebt sich nicht zuletzt die antike Erzählung. Obwohl er sich an Vergils Handlung orientiert, werden die Sehnsüchte, Diskurse und Ängste der Mitte des 19. Jahrhunderts verhandelt. Es geht weniger um ein Bildungswissen der Antike, als darum im Format der Bildung narrativ und musikalisch den Nerv der Zeit zu treffen. In Karthago stärker als in Troja bis zum Schluss des 2. Aktes kommen die Sehnsüchte nicht zuletzt nach einem gerechten und prosperierenden Staat zum Zuge. Didon bzw. Dido als Königin von Karthago gibt den geflüchteten Trojanern nicht nur Asyl, vielmehr noch ehrt sie ganz nach dem Programm der Weltausstellungen Landwirtschaft, Industrie und die Schönen Künste, die in „constructeurs, matelots, laboureurs“ (Konstrukteure, Matrosen, Arbeiter) übersetzt werden.
„DIDO
Es ward euch zu gefallen
dieser herrliche Tag,
den im Herzen stets bergt,
auf dass er kröne euer Friedenswerk,
auserkoren vor allen.
Naht euch, Männer des Baus,
ihr des Meers, ihr des Felds!
Diese Hand reicht euch dar
die würdige Belohnung
für jenes Wirken, welches Kraft
und Wohlergehn den Staaten verleiht.“[10]

© Fabian Schellhorn

Mit mehreren Pantomimen und Balletten entfaltet Berlioz einen musikalischen Horizont des Staates bzw. eine universelle Staatspraxis, in der das Trojanische wie das Karthagische Volk nicht nur als Chor zu Wort kommt. Märsche und Hymnen ordnen ganz im Sinne eines prosperierenden Staates nicht zuletzt die Arbeiter der Industrie. Gegenüber Benvenuto Cellini gibt es keinen Streikchor. Vielmehr werden die Arbeiter in militärischen Märschen diszipliniert. Vor dem Hintergrund der Barrikadenkämpfe vom 22. bis zum 26. Juli 1848 in Paris, der wechselnden Putschversuche in den folgenden Jahren, liefert Berlioz mit Dido als Königin ein befriedendes Staatsmodell, während im Hintergrund das Gesetz der Götter unerbittlich für Aeneas an der Bestimmung, nach Italien zu reisen, festhält. Das unausweichliche Gesetz der Götter, so sehr es die Liebe zwischen Dido und Aeneas ermöglicht und zerreißt, verspricht eine Stabilität, die es in Paris schwerlich gibt.

© Fabian Schellhorn

Die Ordnung der Natur wird vom Dichter Iopas (Laurence Kilsby) auf Befehl der Königin nicht zuletzt als eine des Staates besungen. In das antike Gewand gekleidet soll Iopas „in der schlichten Hirtenart“ singen. Im Refrain des Liedes wird die römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, Ceres, besungen. Das Hirtenlied, das man auch eine Pastorale nennen könnte, erfüllt nicht nur eine Forderung der Grand Opéra, vielmehr führt es die Ordnung als Natürliches auf. Es naturalisiert gewissermaßen die Ordnung. Das Lied ist von Berlioz besonders schön und eindrücklich komponiert und wurde von dem jungen Tenor Laurence Kilsby bravourös gesungen. Während eine antike Erzählung aufgeführt wird, schimmert doch überall ein Ringen um Ordnung und Gesetze durch, an denen es mangelt:
„O Ceres voll Huld,
wenn begrünt die Flur
zur Feier des Lenzes
du lässest erglänzen,
schallt dir Lob und Preis.“[11]  

© Fabian Schellhorn

Der Suizid der Frauen, also Cassandras, der Trojanerinnen und der Dido ist einerseits im Epos angelegt, andererseits stellt er im Kontext des 19. Jahrhunderts in Paris und der Industrialisierung die Frage nach dem Frauenbild. Cassandra und Dido sind weibliche Herrschaftsfiguren. Während Cassandra durch ihr Zukunftswissen herrscht und machtlos bleibt, quasi nur als Medium von den Göttern missbraucht wird, um die Härte des Gesetzes vorzuführen, ist Dido vielschichtiger zwischen treuer Witwe, Mutterfigur, Schwester und Liebender angelegt. Klaus Heinrich Kohrs hat auf die „Spiegelungen der beiden „personnages dominateurs““ hingewiesen.[12] Seit 1830 kursiert durch Eugène Delacroix in Paris und Frankreich das Bild der Marianne als Nationalfigur mit dem Gemälde La Liberté guidant le peuple. Marianne führt das Volk mit der Trikolore in die Freiheit. Sie trägt eine in der Antike den Männern vorbehaltene Bonnet phrygien oder phrygische Mütze und löst die dynastische Nationalfigur der Francia oder Gallia ab. Es gibt insofern ein gewisses Spannungsfeld des Frauenbildes, in dem Frauen in einem Suizid über sich selbst und ihr Leben bestimmen. Kohrs hört und liest bei Didon gar eine „äußerste() Willenskraft“:
„„Von einer konvulsivischen Energie ergriffen, besteigt Didon mit schnellem Schritt den Scheiterhaufen“, notiert Berlioz in der Partitur.“[13]

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Das Frauenbild der Grand Opéra, das von Berlioz über die Musik auch mit einem psychologischen Wissen von sich selbst ausgestattet wird, spitzt zumindest jenes des Epos zu. Auffällig sind die männlichen Attribute, mit denen die vorbildlichen Frauenfiguren versehen werden. Es geht ihnen um Ehre und Kontrolle über ihr Leben. Anders formuliert: mit dem Suizid, nehmen sie sich das Leben und beenden es nicht nur.[14] Die letztlich auf der Opernbühne pantomimische Geste der Selbsttötung behauptet unter der Herrschaft der Weissagung eine Autonomie des Subjekt, die gerade für Frauen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert fragwürdig oder utopisch ist. Aeneas als prototypischer Mann wird von den Gesetzen der Götter getrieben und unterwirft sich seiner Bestimmung, nach Italien ins Exil zu gehen und Rom zu gründen, während die beiden Frauenfiguren Cassandre und Didon ihre Autonomie behaupten. Wie lässt sich dieses verschlungene Geschlechterverhältnis lösen?

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Das Geschlechterverhältnis als eines neuartiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse für Männer und Frauen spielt eine Rolle für Hector Berlioz. Als Mann und als Namensvetter des antiken Hector muss er Übertragungsprobleme bearbeiten. Insofern die phrygische Mütze der Marianne antikengeschichtlich ursprünglich ein Stierhoden gewesen sein soll und La Liberté damit einen Machtverlust der Männer verspricht, wird von Berlioz mit Cassandre, Didon und Hectors Gattin Andromaque das Geschlechterverhältnis verhandelt. Der Librettist und Komponist findet sich immer wieder verstrickt in den Epos. Kohrs sieht in der Pantomime eine erfolgreiche Übertragung.
„… des toten Hector Gattin Andromaque mit ihrem Sohn Astyanax, deren Pantomime zu einer ergreifenden langen Klarinettenmelodie zum Musterfall einer Seelenbewegung wird. Die Musik im Verein mit der Pantomime repräsentiert hier den inneren Vorgang eines schmerzlichen Ausbruchs der Selbstdisziplin und deren schließliche Wiedergewinnung, die Voraussetzung für das Auferstehen aus dem Schmerz ist.“[15]

© Fabian Schellhorn

Die Pantomime indessen wird seit Ende des 18. Jahrhunderts als Gefühlsmedium entwickelt. Sie ist heutzutage fast völlig als Medium verschwunden. Pantomimen und Lebende Bilder entwickeln seit der Zeit um 1800 eine neuartige Sichtbarkeit von Gefühlen insbesondere mit Antikenbildern z.B. der Lady Hamilton. Doch die Lebenden Bilder werden nicht von Musik begleitet oder gar durch sie zum Sprechen gebracht. Das Weinen der Andromaque, das in der Pantomime auf das Volk übertragen wird, gehört geradewegs zum Repertoire der Pantomimen und Lebenden Bilder. Weit wichtiger als die Sichtbar- und Hörbarmachung der „Seelenbewegung“ wird, dass Berlioz die Kunst der Pantomime so weiterentwickelt, dass ein psychologisches Schauspiel aller erst wahrgenommen werden kann. Die nicht zuletzt mit den Frauenfiguren aufgeworfene Geschlechterproblematik wird quasi durch Berlioz‘ Musik aufgenommen und in eine „Seelenbewegung“ transformiert. Der Gefühlsprozess oder auch die musikalische Gefühlsgeschichte befriedet gleichsam die Geschlechterfrage, indem Hector(!) Andromaque vorspielt, wie sie sich verhalten soll.

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Durch eine erweiterte Lektüre gewinnt Hector Berlioz Grand Opéra Les Troyens eine Vielschichtigkeit, die sich beim Hören und Zuschauen in der Philharmonie an mancher Stelle wie ein Blitz einstellte. Dafür braucht es eine Genauigkeit und Klarheit in der Aufführungspraxis durch exzellente Musiker*innen, Chorist*innen und Solist*innen, die von einem brillanten Dirigat geführt werden. Deshalb wurde der Abend durch Dinis Sousa zu einem Triumph. Ob sich der Dirigent Gedanken um die vielfältige Verflochtenheit der Komposition wie des Librettisten und Komponisten gemacht hat, wissen wir nicht. Sie ließen sich auf ihn übertragen, aber das muss nicht sein. Vielmehr wurde die Verflochtenheit der Grand Opera durch die komplette Aufführung gerade in jenen Passagen, von denen Opernkenner häufig sagen, dass sie als Längen und Wiederholungen verzichtbar seien, man die Partitur also kürzen könne, zu aller erst hörbar. Und das ist ein unschätzbares Verdienst des Projektes, das auf tragische Weise mit Sir John Eliot Gardiner verbunden sein wird. Wie ein Epos für alle Zeit.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023


[1] Michael Stegemann: Hectors Schatten. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2023. Berlioz: Les Troyens, Berlin 2023, S. 15.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013. (PDF unter Publikationen)

[3]  Siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[4] Michael Stegemann: Hectors … [wie Anm. 1] S. 13.

[5] Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Libretto. Berlioz: Les Troyens, (Deutsche Übertragung : Simon Werle) Berlin 2023, S. 4-5.

[6] Niklas Holzberg: Die Stimme der Einfühlung. Vergil als empathischer Epiker. In: Berliner Festspiele: Musikfest … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 6.

[8] Siehe: Publius Vergilius Maro: Aeneis. (Wikisource)

[9] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 10.

[10] Ebenda S. 31.

[11] Ebenda S. 45.

[12] Klaus Heinrich Kohrs: Eine Oper der Frauen: Cassandre und Didon. In. Berliner Festspiele: … Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 25.

[14] Siehe dazu auch: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2017. (PDF unter Publikationen)

[15] Klaus Heinrich Kohrs: Eine … [wie Anm. 12] S. 24-25.

Furiose Gedankenmusik

Lied – Leben – Nichts

Furiose Gedankenmusik

Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin

Das Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin fast schon traditionell mit dem Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam unter der Leitung von Iván Fischer – 2022 hatte Klaus Mäkelä das Orchester durch die 6. Symphonie von Gustav Mahler geleitet – fiel in diesem Jahr mit dessen 7. Sinfonie weniger spektakulär aus. Stattdessen überraschte das ziemlich junge London Symphony Orchestra am Montag unter der Leitung von Sir Simon Rattle mit der 9. Sinfonie von Mahler in einer selten, vielleicht sogar noch nie gehörten Intensität und Zerrissenheit. Das Musikfest Berlin ermöglicht genau diese Hörvergleiche auf höchstem musikalischem Niveau. Die äußerste Konzentration wird nicht nur vom Orchester, sondern ebenso vom Publikum gefordert und mit Glück zum geteilten, unvergesslichen Ereignis.

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Ganz zu Anfang hatten Iván Fischer und das Concertgebouw die Reihe der Musikfest-Konzerte mit Jörg Widmanns Orchesterliedmontage Das heiße Herz eröffnet. Die Komposition nimmt unterschiedliche Lied- und Kompositionsschemata auf, um mit Gedichten von Klabund[1] bis Clemens von Brentano eine Art Welttheater des Liebens für Orchester und Bariton (Michael Nagy) zu entfalten. Das heiße Herz lässt sich in seiner eigensinnigen Form in mancherlei Beziehung zu den Kompositionsweisen von Gustav Mahler setzen. Die Texte aus der Zeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert kombinieren verschiedene Sprechweisen über die Liebe – Sprachen der Liebe. In der Orchesterversion des Concertgebouw wird die Montage waghalsig gegenüber dem Liedzyklus auf 5 statt 8 Lieder ausgedünnt.[2] Text und Ton treten in eine andere Konstellation.

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Die Form Liedzyklus wird von Jörg Widmann mit der Auswahl der Texte in Gedichtform neuartig montiert und komponiert. Die Fallhöhe des ersten Liedes Der arme Kaspar von Klabund mit der Tempobeschreibung „Zögernd, instabil“ gibt einen Wink auf das Kompositionsverfahren wie den Kaspar. Alfred Henschke, der sich den Künstlernamen Klabund zugelegt hatte, veröffentlichte 1922 den Gedichtband Das heiße Herz mit Balladen, Mythen und Gedichten bei Erich Reiss in Berlin. Die „Ballade“ Der arme Kaspar eröffnet in knapper Form den Gedichtband. Während die Ballade als tänzerische Gedicht- wie Liedform i.d.R. eine längere Erzählung umfasst, fällt Klabunds Ballade in diesem Band äußerst knapp aus. Auf Seite 7 passt unter Der arme Kaspar gar noch die erste Strophe der Ballade Laotse.[3] Wobei die Abfolge von Kaspar und großer Namen wie Laotse, Hiob, Mohammed, Montezuma etc. als weitere Balladentitel zumindest eine eigenwillige Auswahl ankündigt. 

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Die Ballade von lateinisch ballare für tanzen wird von Klabund insbesondere durch die kurze Reimform mit den wiederholten Fragen nach woher, wohin, wo, wann zu einer tänzerischen Bewegung. Auf äußerst knappem Raum wird das sich bewegende Ich in einen Strudel der Fragen hineingezogen, die mit der Wiederholung der Fragen nach dem Wohin und Woher endet: „Ich geh – wohin? Ich kam – woher?“ Die Fragen des ebenso instabilen wie armen Kaspar reichen in ihrer Knappheit bis ins „All“, indem Klabund die Begriffe anders verwendet und mit „Viel schwer.“ auf „Viel leicht.“ durch die Schreibweise das Sein des Ich in einen Taumel versetzt. Was durch die Schreib-Lese-Operationen zugleich ins Komische und Satirische kippt, erweist sich in seiner typographischen Mikrologie der Getrenntschreibung als großes Welttheater.

© Fabian Schellhorn

Jörg Widmann zeigt sich mit seiner Titelwahl wie Montage von Gedichten als ein ebenso genauer wie kluger Leser und Komponist. Wird doch die Figur des Kaspar in der Literaturgeschichte als eher komische und lachhafte verortet. Alfred Henschke bzw. Klabund als Künstlername aus Klabautermann und Vagabund verriet ebenfalls eher scherzhafte Züge. Und inwieweit das lyrische Ich der Ballade Der arme Kaspar mit einer Selbstwahrnehmung des Dichters korrespondiert, der sich nicht zuletzt durch seine Liebe lächerlich macht – „Ich steh und fall,/Ich werde sein.“ –, lässt sich nicht festlegen. Schließlich gehört Klabund zu jener Generation deutschsprachiger Dichter, deren Tuberkuloseinfektion nicht nur ihr Leben und Lieben – Das heiße Herz – vorzeitig beendete, sondern im Denken früh beeinflusste.[4]

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Was heißt Romantik für den Liedzyklus von Jörg Widmann, wenn er damit zitiert wird, dass seine „Liebe zur Romantik, die in zahlreichen Anspielungen auf Robert Schumann und Gustav Mahler greifbar“ werde?[5] Romantik wird leicht mit einem Sonnenuntergang am Meeresstrand, roten, lockenden Lippen und roten Rosen verknüpft. Damit räumt Jörg Widmann durch die Montage von Heinrich Heines Das Fräulein stand am Meer pointiert auf. Denn Heine kontert dem Programm der Romantik in ihrer Gefühls- und Liebesprogrammatik mit der naturwissenschaftlichen Vorhersehbarkeit von Sonnenunter- und Sonnenaufgang. – „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt von hinten zurück.“ – In der orchestralen Komposition wechselt ein (romantischer) Walzer als Versprechen von Zweisamkeit in eine Art chaotische Jahrmarktsmusik. Musikalisch wird gerade nicht die Regelhaftigkeit komponiert, vielmehr der Effekt einer Zertrümmerung des Romantischen.

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Jörg Widmann verschiebt mit seiner Komposition das landläufige Wissen um die Romantik und Liebe. Das vermeintliche Epochenwissen von der Romantik mit ihrer Liebesthematik wird von Anfang an mit Klabund auf die Probe gestellt. Es geht vielmehr in die Richtung eines systemischen Selbstzweifels. Denn das (romantische) Ich ringt darum, sich durch die Liebe bestätigt zu finden. Diese Bestätigung wird ihm oft verwehrt. Ob in Des Knaben Wunderhorn oder Clemens Brentanos Litanei Einsam will ich untergehn steht das Ich radikal in Frage zwischen Gottverlassenheit und Untergang als „Herz in deinem Herzen“. Dass das Bariton-Ich in der Orchesterversion oft vom Orchester übertönt wird und in ihm untergeht, lässt sich auch als ein weiterer Wink auf die Brüchigkeit des Subjekt in der Romantik hören und bedenken. Widmann schichtet in seiner Komposition mehr die Ebenen von Text, Stimme und Orchester, als dass er sie instrumentiert.

© Fabian Schellhorn

Der Liedzyklus, der auf eine, wie es im Programm heißt, Auswahl gekürzt worden war, bleibt offen. Jörg Widmann war jedenfalls anwesend und wurde wie der Solist und der Dirigent vom Publikum gefeiert. Die Textverständlichkeit und ihre Schwächung durch das Orchester schienen zu Widmanns Kalkül zu gehören. Das Genre des Orchesterliedes wurde insofern Gegenstand der Befragung durch die Komposition und Instrumentation. Das hört sich bei Widmann und der Interpretation durch Iván Fischer und dem Concertgebouw Orchestra facettenreich und transparent an. Die Nähe und die Differenz zu Gustav Mahler wurde indessen mit der 7. Sinfonie spürbar. Diente die Kürzung nur, um die Überlänge von ca. 80 Minuter der Siebenten nicht auf den ganzen Orchesterabend auszudehnen? Von Romantik wird man selbst beim Andante amoroso als Tempo des 4. Satzes schwerlich sprechen können. Was könnte an diesen Brüchen amourös und landläufig romantisch  sein? Oder soll die „Nachtmusik“ des 2. und 4. Satzes eher an „Nachtstücke“ eines E.T.A. Hoffmann oder eines Robert Schumann erinnern?

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Der 1. Satz Langsam (Adagio) – Allegro risoluto, ma non troppo lässt an eine wilde Filmmusik mit Reitern denken. Es bäumt sich in der 7. Sinfonie von Mahler wiederholt eine Art Ritt oder ein Getriebenwerden auf. Dadaa Dadadadaa. Geht es um angriffslustige Männlichkeit mit den fanfarenartigen Motivfetzen? Sind die verfolgungsartigen Nachtmusiken mit den für den Liedgesang verwendeten Instrumenten Gitarre und Mandoline ebenso wie als solistisch behandelte Erinnerungen an Liebeslieder? Die 7. Sinfonie führt eine Art Schattendasein im Repertoire wie das „Schattenhaft“ des 3. Satzes. Und dann gibt es da die Herdenglocken im Scherzo, die anders als Apotheose im 5. Satz wiederkehren. Wie lässt sich die 7. Sinfonie dirigieren, interpretieren und hören?

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Der Berichterstatter rang mit den Motivfetzen als Gedankenfetzen des 1. Satzes. Sir Georg Solti soll geschrieben haben, dass ihm die Siebente „wie das Werk eines Verrückten“ vorgekommen sei.[6] Die Fanfarenmotive stehen zumindest im äußersten Wiederspruch zum wiederholten Abbruch der Ankündigung eines Aufbruchs. Die anklingenden Fanfaren zeitigen den Filmmusikeffekt, der nicht ein- oder aufgelöst wird. Vielleicht gibt es keinen Aufbruch eines Mannes mehr als einer Frau einzulösen. Es ist lediglich und womöglich gar eine kasparhafte Geste des Aufbruchs, die zu nichts führt. Die Siebente führt zu nichts – und das ließe sich pointiert herausarbeiten. Das Rondo-Finale des 5. Satzes erreicht mit den scheppernden Herdenglocken keine Apotheose, vielmehr bleibt das Glockengeläut hohl und leer. – Übrigens erklingt in der 9. Sinfonie noch einmal ein Glockengeläut, aber nicht mit Herden- oder Kuhlocken, sondern mit Glockenspiel und 3 tiefen Glocken an, eher schatten- oder schemenhaft.

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Was passiert also, wenn der Berichterstatter während der Aufführung der Frage nachgeht, was er hört? Er schreibt sich mit dem Musikfest-Bleistift Worte mit Fragezeichen ins Programmheft. „Schlaflosigkeit“ „Glockengeläut am Schluss Chaos?“ „Frage der Männlichkeit“ Wie deutlich sollen die Liedbegleitungsinstrumente Mandoline und Gitarre zu hören sein? Gesungen wird nicht. Ließe sich das stärker hörbar machen? Ist die Serenade nur noch eine Erinnerung an erotische Abenteuer eines Mannes? „Alles wieder gut?“ Oder gerade nicht. „Gedankenmusik“ – Iván Fischer dirigiert das Concertgebouw Orchestra vom Blatt. Die Frage von Chaos, vielleicht Verzweiflung, oder abschließender Konklusion durch ein „Es ist alles wieder gut, nach all der Verwirrung und Hektik“ wird von Fischer mit seinem Dirigat nicht entschieden. Laut ist keine Lösung, aber das Publikum applaudiert. So gab es beim Eröffnungskonzert zwei Schwachpunkte: die mutwillige Kürzung von Jörg Widmanns Das heiße Herz und eine gute, aber uninspirierte 7. Sinfonie.

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Möglicherweise lassen sich die Interpretationen der Sinfonien von Gustav Mahler, vor allem die 5., 6., 7., 8., Das Lied von der Erde [7], 9. darin einteilen, wie stark der dumpfe Hammerschlag in der Sechsten beachtet wird oder nicht. Claudio Abbados Aufführung von Das Lied von der Erde als Requiem für einen Atheisten zum 100. Todestag des Komponisten 2011 bleibt ein Referenzerlebnis. Dann wird es entweder weiter seicht oder radikal. Hört, ja, liest man Gustav Mahler von der 9. Sinfonie, also vom Ende her, lässt sich die Radikalität in seiner Gedankenmusik nicht überhören. Denken die Gedanken mich oder denke ich mich? Bin ich Subjekt oder Objekt? Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden lässt sich ein instabiler Text von Heinrich von Kleist mit ungewisser Herkunft und fragwürdigem Adressaten nennen. Mit einer Anekdote aus der Französischen Revolution konterkariert Kleist in dem Text den Verstand des Subjekts und macht es abhängig vom „Zucken einer Oberlippe“:
„Vielleicht, daß es – auf diese Art – zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“[8]

© Fabian Schellhorn

Mahler befragt mit seiner 9. Sinfonie nicht zuletzt im 2. Satz mit Etwas täppisch und sehr derb die Geschäftigkeit des Lebens im Angesicht des Todes voller Ironie. Im Adagio gibt es nur noch Gedankenfetzen, die sich unvermittelt und in gewisser Weise belanglos vor dem Nichts oder auch aus dem Nichts einstellen. Weder Motive noch Gedanken werden kontextualisiert oder ausgeführt. Um die Sinfonie, die keine mehr ist, nicht zerfasern zu lassen, braucht es Intensität, äußerste Konzentration. An diesem Punkt setzt Sir Simon Rattle mit dem, man kann es gar nicht oft genug sagen, sehr jungen London Symphony Orchestra einen neuen Standard. Die Orchestermusiker*innen sind dem Dirigenten für die Erfahrung dieser Intensität offenbar dankbar. Vielleicht bleibt nichts als diese Intensität, die im Gegensatz zur Geschäftigkeit sich hetzender Gedanken steht.

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Sir Simon Rattle dirigiert nicht vom Blatt, sondern aus seinem Körper. Die großen Symphonieorchester wie die Berliner Philharmoniker[9] oder das Concertgebouw haben ein eigenes, gewissermaßen instutionalisiertes Musik- und Praxiswissen generiert, das in ihnen zirkuliert und auch einschränken kann. In Klangkörpern, wie man sagt, bildet sich Wissen heraus und kursiert in ihnen. Beim London Symphony Orchestra ließ sich mit der 9. Sinfonie von Gustav Mahler hören und beobachten, wie ein solches Klangkörperwissen insbesondere durch die Praxis entsteht, indem der Dirigent sein Mahler-Wissen an es heranträgt. Intensität und Konzentration sind alles und können zu einer Entdeckungsreise werden. Umso mehr störte den Berichterstatter sein gewiss freundlicher, aber mit seinem linken Bein zuckender Sitznachbar, dessen Gegenrhythmus auf die Rücklehne übertragen wurde. – Dennoch konnte das LSO unter Sir Simon Rattle so sehr überzeugen, dass das Publikum nach einem längeren Moment der Stille in Ovationen ausbrach.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023 


[1] Zu Klabund siehe: Torsten Flüh: Vom literarischen Kosmopoliten. Zu Alfred Henschke genannt Klabund – Ick baumle mit de Beene im Theater im Palais und seinem Roman Pjotr – Roman eines Zaren. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Januar 2023.

[2] Siehe: Jörg Widmann: Das heiße Herz. Mainz: Schott Music, 2018. (Website)

[3] Klabund: Das heiße Herz. Berlin: Erich Reiss, 1922, S. 7. (Internet Archive)

[4] Siehe: Torsten Flüh: Von … [wie Anm. 1].

[5] Olaf Wilhelmer: Liebesfreud, Liebesleid, Liebeslied. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin Eröffnungskonzert: Royal Concertgebouw Orchestra/Iván Fischer 26.08.2023.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Zum Lied von der Erde siehe: Torsten Flüh: Requiem für einen Atheisten. Claudio Abbado dirigiert Das Lied von der Erde und spricht über Politik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Mai 2011. (PDF unter Publikationen)

[8] Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. (zuerst veröffentlicht postum 1878 Wikisource)

[9] Zur 8. Symphonie von Gustav Mahler siehe auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Klangwolke.
Berliner Philharmoniker spielen unter Sir Simon Rattle die 8. Symphonie von Gustav Mahler. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2011. (PDF unter Publikationen

Queere Geschichte nach Fotos

Queer – Geschichte – Deutschland

Queere Geschichte nach Fotos

Zu Benno Gammerls empfehlenswerten Buch Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Die Form von Queer ist anders. Benno Gammerl stellt in seinem neuen Buch jedem historischen Abschnitt ein Foto voran. Kaiserreich – Weimarer Republik – Nationalsozialismus – Nachkriegsdekaden in Ost und West – Bewegungen seit den 1970er Jahren – Neue Normalitäten seit den 1980er Jahre – Diversifizierung seit den 1990er Jahren bilden historische Ab- und Einschnitte, in denen queeres Leben nicht zuletzt durch deutsche Straf-, Ehe-, Personenstands- und Familiengesetze kriminalisiert, terrorisiert, gelockert und schließlich in Vielfalt normalisiert wurde, um sogleich durch religiöse und rassistische Randgruppen angegriffen zu werden. Queer heißt weiter ein Leben in Unruhe. Queer stört weiterhin.

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Benno Gammerl kann derzeit im Horizont der akademischen Lehre als führender Historiker für die queere deutsche Geschichte angesehen werden. Mit Queer legt er nun ein gut lesbares, ebenso unterhaltsames wie fundiertes Buch vor, das nicht nur von queeren Menschen zur Selbstvergewisserung ihrer Geschichte, sondern von einer breiten Öffentlichkeit gelesen werden sollte. Wenn wir uns in diesen Monaten und Wochen das enthemmte patriarchale Gestammel inklusive Flugzeugabsturz aus dem Kreml anhören müssen, das sich mit alten Begriffen und Stereotypen gegen ein nicht zuletzt queeres Europa aufbäumt, dann wird klar, dass Queer als „ein(e) deutsche Geschichte“ zum Herz eines Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses von Deutschland und Europa gehört. – Was erzählen Fotos vom queeren Leben?

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In dieser Buchbesprechung im Format Blog erscheinen Fotos aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Der Berichterstatter hat die Fotos in mehreren kleinformatigen Alben nach dem Tod seiner Großtante Alice vor 30 Jahren geerbt. Die Personen auf den Fotos, so lebendig sie wirken, sind – wie es gerade auf einer Einladung zu einer Vernissage in Hamburg heißt – hinüber. Auf den Fotos sind Alice, Walter und Erich, soviel lässt sich sagen, oft in den Dünen von Westerland oder Timmendorfer Strand, Grömitz oder Travemünde zu sehen. Genaue Ortsangaben gibt es nicht. Strandidyllen. Irgendwo ist „Das Kleeblatt“ auf die Rückseite eines Fotos mit Bleistift geschrieben. Junge Menschen. Drei junge Menschen, sagen wir, in den 30er Jahren. – Was sollte an diesen Fotos mit Strandsand, Dünen, Himmel queer sein? 

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Mit diesen Fotos wird an Benno Gammerls Geschichtsverfahren angeknüpft. Die Fotos sind Zeugnis. Aber wir müssen erst einmal beginnen zu sehen, was bzw. wer uns aus einem Foto entgegenspringt. Sie faszinieren ohne ganz und gar sichtbar zu sein. Es hat in der Praxis des Fotografierens und des Fotografiertwerdens immer Formen der Selbst-Inszenierung gegeben. Oft haben diese wie auch andere Fotos Eingang in Archive gefunden. Gammerl würdigt in seiner Einleitung „die entscheidende und herausragende Arbeit, die queere, schwule, lesbische und trans* Archive leisten“.[1]

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Die adjektivischen Benennungen queer, schwul, lesbisch, trans und inter für geschlechtliche Praktiken verschafften und verschaffen weiterhin die Möglichkeit zur Fremdbezeichnung wie zur Selbst-Bestimmung von Menschen. Der Begriff schwul erreichte vor allem in den 80er Jahren bis zu Beginn der 90er seine höchste Gebrauchsfrequenz in Zeitungen. Seither hat sich der Gebrauch auf einem hohen Niveau von 3345 Nennungen 2022 eingependelt.[2] Im Vergleich dazu beginnt mit 1991 ein steiler Anstieg des Begriffes queer mit 1461 Nennungen im Jahr 2022.[3]

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Der Gebrauch eines Begriffs, um eine Lebensform zu benennen, schafft ein sprachliches Feld für Debatten um diese und deren Ausgestaltung.[4] Gegenüber queer wird in deutschsprachigen Zeitungen schwul immer noch mehr als doppelt so häufig verwendet. Die Benennung verspricht, dass ein breites und vielfältiges Wissen zu schwul kursiert, während queer „als Sammelbezeichnung für nicht heteronormative sexuelle und geschlechtliche Praktiken und Subjektivitäten“ sich noch nicht „durchsetzen“ konnte.[5] Praktiken der Benennung und ihres Gebrauchs geben einen Wink auf historische Verschiebungen. Gammerl macht deshalb auf „Kritiken an allzu eindeutigen Vorstellungen von geschlechtlicher und sexueller Identität“ aufmerksam.[6]
„Denn zwischen gleich- und andersgeschlechtlichem Begehren kann man nur dann klar unterscheiden, wenn zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht eine klare Grenze verläuft. Bisexuelle verwirren diese Ordnung ebenso wie intergeschlechtliche Menschen, die sich seit 2018 nach dem deutschen Personenstandsrecht als divers bezeichnen können.“[7]   

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Der Begriff queer eröffnet nicht zuletzt durch die Ausdifferenzierung im deutschen Rechtssystem wie aktuell mit der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, in der Alice Schwarzer in EMMA mit „biologische(n) Fakten“ argumentiert[8], eine inklusive Geschichte der Sexualitäten und des Empfindens. Der am 23. August vorgestellte Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes „soll das Leben für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen erleichtern“.[9] Bei Drucklegung von Queer konnte Benno Gammerl diese neueste Wendung im Feld der Lebensformen noch nicht absehen. Während Bundesfamilienministerin Lisa Paus den „Schutz lang diskriminierter Minderheiten“ als einen „gesellschaftspolitische(n) Fortschritt“ hervorhebt, betont Bundesjustizminister Marco Buschmann den „Geist des Grundgesetzes“.[10] Die Debatte gibt mit den „biologische(n) Fakten“ einmal mehr einen Wink darauf, wie lebendig biologistische Argumentationsmuster im Feld der Geschlechter weiterhin sind.

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Das Foto mit den 5 Frauen, eine mit Hut, eine mit schwarzer Haube und jeweils einem Bleistift in ihrer rechten Hand, dessen eines Ende sie an ihr Unterkinn legen, als erwüchsen daraus Bärte der Gelehrsamkeit, dabei den Blick leicht angewinkelt in die Kamera gewendet, wird von Benno Gammerl dem Kapitel Unterdrückung, Aufklärung und Skandalisierung. Das Kaiserreich vorangestellt. Er beschreibt das Foto ein wenig anders und nennt sie „Frauenaktivistinnen“.[11] Die Handhabung des Stiftes durch die Frauen dürfte um 1900 eine provokative Geste gewesen sein. Nicht nur, dass sie als Frauen schrieben und sich in Debatten schriftlich zu Wort meldeten, vielmehr finden sie mit den sich selbst ermächtigenden Stiften in einer Zeit zusammen, in der ein Bleistift wie in Thomas Manns Roman Der Zauberberg als phallisches Symbol kursieren konnte.[12] Gammerl erzählt vom Kaiserreich anders, als es bislang vor allem wegen der Homosexuellengesetzgebung, dem § 175 Strafgesetzbuch, historisch betrachtet wurde.
„So verschieden diese Strategien waren – und man sollte sich davor hüten, sie alle vorschnell als progressiv zu beklatschen –, so teilten sie doch einen sexualreformerischen Kern. (…) Unser Bild dieser Periode ist eher von ihrem Anfang geprägt, den wir bestens zu kennen meinen: Preußen, militärischer Triumph, der Spiegelsaal in Versailles, viele Männer in Uniformen mit Ordensglitter und hohen Lederstiefeln – Kaiserkrönung.“[13]

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Spätestens mit dieser Formulierung zum Geschichtswissen über das Kaiserreich wird deutlich, dass Benno Gammerl mit Queer die landläufige Geschichtsschreibung in Frage stellt, wenn nicht angreift. Man könnte das Geschichtsschreibungsverfahren mit den Fotos ein mikrologisches nennen. Plötzlich bricht mit einem mutig inszenierten Foto von 5 Frauen das Verständnis einer ganzen Epoche auf. Wie kommen die Frauen in einem Münchner Fotoatelier überhaupt dazu? Minna Cauer, Lily von Gizycki verheiratete Braun, Anita Augspurg, Marie Stritt und Sophia Goudstikker sprengen das Geschichtsbild nicht zuletzt durch ihre Lebensweisen. Anita und Sophia nutzen das noch junge Medium Fotografie für eine kalkulierte Inszenierung eines Frauenbildes.
„Anita Augsprug und Sophia Goudstikker waren ein Paar. Sie trennten ich 1899 und lebten danach mit anderen Partnerinnen zusammen.“[14]

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Benno Gammerl arbeitet mit Queer die Widersprüche und Brüche in der deutschen Geschichte heraus. Denn seine Geschichten orientieren sich an dem Alltäglichen und der Herausbildung von Wissenschaften, an Einzelschicksalen und politischen Parteien. Es gibt keine bruchlose Geschichte vom queeren Leben. Die Verfolgung durch den § 175 StGB gehörte ebenso zum Kaiserreich wie die Entstehung einer Vokabulars und diverser Rollenmodelle. Auf diese Weise zeigt sich, dass Queer als Geschichtsschreibung breiter angelegt ist, als es Herrschaftsgeschichten bislang getan haben. Geschichte ist keinesfalls eine Abfolge von gekrönten Häuptern – Elisabeth II., Charles III. –, wie es immer noch gern erzählt wird.
„Queeres Leben war damals immer auch, aber nie nur von Verfolgung und Stigmatisierung geprägt. Die Sorge war sozusagen eine ständige Begleiterin, aber zugleich kämpften Aktivist*innen couragiert für eine Verbesserung der Lebenssituation von Homosexuellen, Transvestiten und anderen Menschen, die wir heute als queer bezeichnen würden. Neben den Emanzipationsbewegungen spielten die Wissenschaft und der aufklärerische Impetus eine wichtige Rolle sowie der subkulturelle Alltag mit seiner Lust und Unübersichtlichkeit.“[15]

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Zum Kaiserreich gehörten auch die Burschenschaften. Wie sich kürzlich mit einem MeToo-Schlaglicht gezeigt hatte, gehört zu den studentischen Verbindungen eine spezifische Geschlechtspraxis, die weder in der Homosexuellen-, noch Schwulen- oder Queerforschung berücksichtigt worden ist. Das liegt an ihrer klandestinen Organisationsform. Dennoch wäre hier einer wichtigen Spur nachzuforschen, die gesellschaftliche Relevanz hat. Die Geschlechtspraxis der Burschenschaften reicht hinüber in den Nationalsozialismus[16], den Benno Gammerl von Anfang an mit der Plünderung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933 und der prominenten Verbrennung einer Büste Magnus Hirschfelds als „entgrenzte Verfolgung“ benennt.[17] Die Verstrickungen des mannmännlichen Begehrens im Nationalsozialismus bis hinauf zu dessen Elite, wenn man es so nennen will, werden auch von Gammerl noch zu wenig berücksichtigt.
„Trotzdem ist es wichtig, den homosexuellen Alltag im Blick zu behalten, wenn man von der queeren Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland spricht. Man sollte sich nicht allzu ausschließlich auf die Verfolgung männerbegehrender Männer konzentrieren und deren Leiden nicht allzu sehr ins Schreckliche übersteigern. So entscheidend dieser Teil der Geschichte ist, bei Weitem nicht alle queeren Menschen gerieten in die Fänge von SS und Gestapo, kamen ins KZ und wurden dort ermordet. Gleichgeschlechtlich begehrende und gender-non-konforme Menschen wurden zu Opfern, konnten aber auch Täter*innen sein. Manche wurden vermutlich beides zugleich.“[18]

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Queer eröffnet eine andere und weitreichende Geschichtsschreibung auf mehreren Ebenen. Indem Begehrensverhältnisse und Lebensformen in großer Vielfalt bis in die jüngste Zeit berücksichtigt werden, erhält die Frage des Geschlechts für die Geschichte eine neue Dimension. Denn es ist keinesfalls so, dass das Geschlecht für die Geschichtswissenschaft keine Rolle gespielt hätte. Vielmehr dreht sich bei ihr alles um das Geschlecht ob im Sinne von Genealogien oder eine vermeintlich biologische Normalität. Benno Gammerls Queer ist mit 233 Seiten plus Hinweisen zum Nach- und Weiterlesen ein überschaubarer Geschichtsband geblieben. Monographien zu einzelnen Herrschaftspersönlichkeiten bringen es in dieser Wissenschaft locker auf das Doppelte bis Vierfache. Insofern wird Queer nicht wegen seines schieren Umfangs, sondern wegen seiner Methodik zum Standardwerk. Es setzt einen neuen Standard in der Geschichtswissenschaft bezüglich der Geschlechterfrage.

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Und das Kleeblatt – Walter, Erich und Alice? Sie könnten vermutlich auch andere Namen haben. Es wird wohl ein vierblättriges Kleeblatt gewesen sein. Denn eines musste die anderen drei fotografieren. Während eine weibliche Person auf Westerland neben Walter im Strandsand sitzt, hat dieser sich seitlich Erich und der Kamera zugewandt. Walter und Erich waren heimlich ein Paar in Hamburg. Walter bewahrte den Taschenkalender 1938 von Erich bis zu seinem Tod auf. Schwer entzifferbare Einträge deuten gemeinsame Unternehmungen an. Erich fiel an der Westfront 1939, wie man sagt. Walter überlebte unter dem Schutz seines Vorgesetzten in der Wehrmacht den Krieg. In den 50er und 60er Jahren gab es wilde Feste. Vielmehr ist nicht überliefert. – Die Alben befinden sich im Archiv des Schwulen Museum.

Torsten Flüh

Benno Gammerl
QUEER – Lesung
Prinz Eisenherz
Datum: Samstag, 16. September 2023
Uhrzeit: 20:30 Uhr
Adresse: Motzstr. 23
Eintritt: 7,-

QUEER – Lesung
Stadtbibliothek Erlangen – Innenhof
Datum: Freitag, 22. September 2023
Uhrzeit: 19:00 Uhr
Marktplatz 1
91054 Erlangen

Benno Gammerl
Queer
Eine deutsche Geschichte
vom Kaiserreich bis heute
24,- €


[1] Benno Gammerl: Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München: Hanser, 2023, S. 21.

[2] Siehe: DWDS: schwul – Verlaufskurve. (Verlaufskurve)

[3] Ebenda: queer – Verlaufskurve (Verlaufskurve)

[4] Zum Begriff schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (siehe PDF unter Publikationen)

[5] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 19.

[6] Ebenda S. 20.

[7] Ebenda S. 20 – 21.

[8] Emma: Trans-Debatte. (Website)

[9] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bundeskabinett beschließ den Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz 23.08.2023.

[10] Ebenda.

[11] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 27.

[12] Siehe auch Thermometer in Der Zauberberg in: Torsten Flüh: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[13] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 31.

[14] Ebenda S. 28.

[15] Ebenda S. 58.

[16] Siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[17] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 97.

[18] Ebenda S. 124.

Puppe wird Mensch

Frau – Maschine – Mensch

Puppe wird Mensch

Zum ebenso witzigen wie verstörenden Anti-Patriarchat-Film Barbie

Um es gleich vorwegzuschreiben: Barbie wird aus dem Reich der Babypuppen, begleitet von der Eröffnungssequenz von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra als Über-Mensch und dessen Karikatur geboren.[1] Der Film beginnt, um es einmal sozusagen, wenig zartbesaitet und mädchenhaft mit einem Massaker im Mädchenzimmer. Puppenköpfe werden zertrümmert. Schluss mit den lebensreformerischen, pausbäckigen Käthe-Kruse-Puppen zur Einübung des Mütterlichen als Schauspiel. Her mit den überzeichnet langen Beinen und Füßen in High Heels, Wespentaille und Blond. Pumps oder Birkenstock (Productplacement) ist nicht die Frage. Seit dem 9. März 1959 müssen sich kleine Mädchen und solche, die eine Frau werden wollen, strecken und blondieren. Barbie war schon 1959 die perfekte Drag Queen.  

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Greta Gerwig als Drehbuchautorin wie Regisseurin und Margot Robbie als Barbie-Hauptdarstellerin wie Mitproduzentin dürften die Filmgeschichte soweit kennen, dass mit genau der Über-Mensch-Musiksequenz Stanley Kubricks Science Fiction-Film 2001: A Space Odyssey (1968, in UHDTV 2018) eröffnet. Das Mädchenzimmer – Set design: Sarah Greenwood und Katie Spencer – wird als schroffe Wüste eines leeren Planeten vorgeführt. Barbie-Puppe: Über-Mensch: Künstliche Intelligenz: Maschine – und dann geht es so um und bei 110 Minuten für Barbie darum, nicht nur Mensch, sondern geschlechteter Mensch zu werden, wenn sie sich, all ihren Mut zusammenraffend, an der – O-Ton – „Gynecologist“-Rezeption anmeldet. Tatsächlich lässt sich der Film Barbie mit 2001 lesen bzw. sehen. Denn in beiden Filmen wird der Schrecken von mechanischer Puppe – Barbie – oder KI – HAL 9000 – und dem Menschlichen verhandelt.

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Barbie ist nicht mehr und nicht weniger als ein Musicalfilm mit einer Fülle von Anspielungen auf die Pop- und Filmgeschichte ebenso wie die Schrecken und Ängste einer aktuellen globalen Welterfahrung. Im Takt der schnellen Schnitte – Schnitt: Nick Houy – blitzen Aha- und Kenn-ich-Effekte auf, um sogleich wieder vergessen zu werden. Nick Houy hat bereits mehrfach mit Greta Gerwig zusammengearbeitet. Erstaunlicherweise werden keine Kreativen für Special Effects in den Castlisten für den Film genannt. Die Barbieland-Szenen dürften indessen nicht nur Atelierbauten sein. Wenn Barbie aus dem ersten Stock ihres Fünfziger-Jahre-Traumhauses in ihr Cabrio schwebt und der Stoff ihres mehrlagigen Faltenrocks wie ein Fallschirm für Sekunden aufbläht, dann wird die Szene heute gewiss nicht mehr mit Seilen im Studio gefilmt, sondern digital bzw. durch eine KI perfekt aufbereitet worden sein.

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Aktuelle Musicalfilme oder früher Revuefilme wie bei Erich von Sternbergs Blonde Venus (1932) mit Marlene Dietrich sind Maschinen.[2] Auf das Blond der Blonde Venus wird zurückzukommen sein. In Barbieland werden fast ununterbrochen Maschinen vorgeführt. KIs sind für die Perfektion der Barbies geschrieben worden. Doch das Spielzeug-Barbieland leugnet in seiner pinken Perfektion jeglichen digitalen Eingriff. Denn die Puppe als Model der Maschine soll vergessen werden. Seit E.T.A. Hoffmanns Olympia werden Maschinen bzw. Automaten geschaffen und konstruiert, um verkannt und geliebt zu werden. Denn Nathanael verliebt sich in der Erzählung Der Sandmann (1815) in Olympia.[3] Um in die „Real World“ zu gelangen, müssen Barbie und Ken mit Auto, Boot und Flugzeug durch Maschinenlandschaften fahren. Die Bühnenmaschinerie bewegt weder Auto, Boot noch Flugzeug von der Stelle weg. Stattdessen ziehen Wolken, Möwen und Wellen aus Plastik vorbei. Es lebe die alte Illusionsbühne mit Maschinerie.[4]

  

In einer Reihe von islamischen Staaten wie Ägypten, Algerien, Libanon, Irak, Kuwait etc. wurde der Film entweder bereits aus dem Kinoprogramm verbannt oder wird ein Verbot wegen dargestellter Homosexualität diskutiert.[5] – Wie schwul ist Barbieland? Und was macht das mit dem Patriarchat? – Viel expliziter als gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern wird der Wechsel vom matriarchalen „Barbieland“ in ein patriarchales „Kenland“ vorgeführt. Das patriarchale Kenland muss allerdings in seiner ebenso mädchenhaften wie albernen Ken-Genealogie als Nachkommen der Pferde scheitern. In der „Real World“ begehrt die Spielzeug-Barbie gegen das patriarchale Management des Konzerns Mattel auf. Das patriarchale Gesellschaftssystem wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Insofern legt der von Frauen inszenierte und produzierte Barbie-Film seine Spur in die Krise des Patriarchats zwischen Hollywood und Hilla am Ufer des von der Türkei ausgetrockneten Euphrat, dem alten Babylon.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Das temporäre Patriarchat in Barbieland dockt ebenso an stereotype Vorlieben von Mädchen für Pferde an wie der Werbewirklichkeit männlichen Alkoholkonsums und Zigarrenrauchens. Denn – so könnte die These lauten – das Patriarchat ist kapitalistischer als das Matriarchat. Ken wird zum Boss des Patriachats, weil er sich selbst als defizitär wahrnimmt, was in I’m Just Ken von Ryan Gosling gesungen wird. Die Selbsteinschätzung trifft offenbar einen Nerv der Zeit und der Männer. Denn Ryan Gosling kommt damit in die 100 der Billboard Hot 100. Wie die insgesamt 16 Songs von Ava Max über Dua Lipa und Billie Eilish bis zu Sam Smith – Man I Am – bieten die Songs eine Storyline. In den Songs mehr noch als in den Dialogen werden die Mythen der Männlichkeit und patriarchaler Herrschaft erzählt. Kens narzisstische Kränkung neben Barbie immer nur die Nummer Zwei zu sein, führt zu einer Entdeckung seiner „Kenergy“ als Männlichkeit und Verbrüderung mit anderen Männern:
„I’m just Ken (and I’m enough)
And I’m great at doing stuff
So, hey! Check me out, yeah, I’m just Ken
My name’s Ken (and so am I)
Put that manly hand in mine
So, hey! World, check me out, yeah, I’m just Ken
Baby, I’m just Ken (nobody else, nobody else, nobody)”[6]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Männlichkeit von Ken (Ryan Gosling) und seinen Doubles existiert nur nach den Regeln des Patriarchats und denen der Puppe. Was es heißt Mann zu sein, wird vom britischen Singersongwriter Sam Smith mit Man I Am nach I’m Just Ken, Nummer 8, im Soundtrack an Position 11 beantwortet. Das heißt zweierlei: erstens haben die Produktionsfirmen zwischen Mattel Films und Margot Robbies LuckyChap Entertainment die Superstars der Singersongwriter mit Billie Eilish und Sam Smith als geschlechtliche Identifikationsfiguren für den Soundtrack eingebunden. Billie Eilish ist immer die weibliche Identifikationsfigur der Generation Z bis zum Trip, durch die What Was I Made for? absolut credible rüberkommt. Sam Smith wendet sich explizit an die männliche Hörerschaft: „This is for the boys“. Dazu gehört auch die Verleugnung, schwul zu sein: „No, I’m not gay, bro“. Sam Smiths Ken ist nicht schwul, was nur deshalb bemerkenswert ist, weil Barbie nicht sagen muss: „No, I’m not lesbian, sis“. Dramaturgisch kommt Man I Am zum Zuge, wenn es um die Einsetzung des Patriarchats geht:
„It’s time you realize
That in this world we’ve all been taught a lie
You think that women rule the world
But, baby, where I’ve been
All the things I’ve seen
This Ken has crossed the borderline”[7]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie lässt sich nicht leicht in ein Filmgenre einordnen. Obwohl ab 6 Jahre freigegeben, handelt es sich allein schon wegen seiner Überlänge von fast 2 Stunden und Dialoge um keinen Kinderfilm (59 Minuten). Ebenso die verbale Verhandlung von Matriarchat, Patriarchat, Kommerz, Kapitalismus und Geschlecht adressiert sich schwerlich an Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahre. Barbie könnte dem Genre der Screwball Comedy entsprechen, die ihre Ursprünge in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat. Zu deren Praxis gehören: „respektloser Humor, schneller Rhythmus, Dialogorientiertheit, exzentrische Charaktere und d(ie) battle of sexes“.[8] Die Schlacht der Geschlechter im Film zwischen Barbie und Ken etc. entgeht einem Publikum aus Kindern. Stattdessen ließen sich am Kino in der Kulturbrauerei Jugendliche sehen, die sich anscheinend wie Figuren des Films gekleidet hatten. Insofern könnte Barbie eine Rezeptionspraxis anstoßen, wie sie in den 70er Jahren für die Rocky Horror Picture Show (1975) entwickelt wurde. Das Publikum imitiert die Filmfiguren und nimmt ihre Identität für die Dauer der Filmvorführung an. Der Berichterstatter sah den Film in der Kulturbrauerei auf Einladung zu einem 65. Geburtstag in Begleitung eines emeritierten evangelischen Pfarrers und einer emeritierten Professorin für Islamwissenschaften. Anders gesagt: Greta Gerwig schafft es mit Barbie, nicht nur einen „fantasy comedy film“, was nicht das Gleiche wie ein Spielfilm im Genre der Komödie ist, gedreht zu haben. Eher schon ließe sich mit seinem außerordentlich breiten Erfolg von einem spaßigen, hoch präzisen Debattenfilm sprechen.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie trägt durchaus Züge eines Historienfilms, wenn „Based on Barbie by Mattel“ als Quelle angegeben wird. In mehrfacher Hinsicht verhandelt der Film das 20.Jahrhundert und die Utopien der 50er Jahre. Barbieland orientiert sich in der Architektur, den Einrichtungsstücken des Traumhauses, dem Auto, den Frisuren und der Mode an der amerikanischen Moderne zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In den 50er Jahren gab es mehr Zukunft als heute mit der Generation Z bzw. der Letzten Generation.[9] Zur amerikanischen Moderne der 50er Jahre gesellt sich die Abfolge der Barbie-Editionen, die im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr Berufsfelder für Barbie als Frauenmodel erschließen. Doch Barbies Berufskleidung wird im Spielzeugland nicht zur Arbeit angezogen. Sie arbeitet nicht, aber konsumiert endlos. Zwischen Kapitalismuskritik und einem utopischen Kapitalismus bleibt die Barbie-Geschichte in der Schwebe. Dazu gehört auch, dass Barbie in einer pinken Bonbonwirklichkeit schlank bleibt. Die Abwesenheit der Arbeit und arbeitender Menschenpuppen legt nicht zuletzt nah, dass die Befreiung von der Arbeit durch Computer, Roboter und Künstliche Intelligenz geschieht.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die visuelle Absenz von Arbeit in Barbieland lässt sich nicht nur als kindliche Utopie auffächern, denn Barbie muss vielmehr eine geradezu mythologische Arbeit aufnehmen, wenn sie in der „Real World“ nach dem spielenden Mädchen suchen muss, das auf sie Todesgedanken und Plattfüße übertragen hat. Die Billie Eilish-Frage „What Am I Made For?“ verpasst insofern das Problem der Übertragung von Gedanken auf eine Puppe im mehr oder weniger therapeutischen Spiel. Identität und Übertragung rücken erstaunlich nah zusammen. Gleich einem märchenhaften oder mittelalterlichen Ritter muss Barbie aufbrechen, um durch Arbeit ein Identitätsproblem zu lösen bzw. eine Identität zu finden. Die blonde Barbie wird allerdings von einer schwarzhaarigen, älteren Latina gespielt und gedacht. Sie hegt Todesgedanken, weil ihre Tochter (America Ferrera) erwachsen wird. Die Arbeit mit der Latina lässt sich schwer auflösen, generiert allerdings eine Latina-Familie für Barbie. Paradoxerweise wird Barbie durch das familiale Übertragungsproblem von der geschlechtslosen Puppe zum weiblichen Menschen in der Gynäkologie-Praxis transformiert.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Barbie-Geschichte des Spielzeug-Konzerns Mattel wird in einer Art Traumszene mit der Erfinderin Ruth Handler (Rhea Perlman) im Headquarter des Konzerns verklärt. Denn in der neuartigen Puppe für Mädchen überschneiden sich unterschiedliche Puppenmodelle. Einerseits entspricht Barbie einer Anziehpuppe für Modeentwürfe en minature, andererseits wird Barbie zu einem mehr oder weniger pädagogischen Model für die Einübung der Rolle der Frau. Puppen sind sozusagen role models insbesondere für Mädchen – gelegentlich auch für Jungs. Historisch stand ebenso der Bild-Karikaturist Reinhard Beuthien mit seiner Figur Lilli für Barbie von Ruth Handler Pate. Von Anfang an überschneiden sich in der Barbie-Puppe mit blondem Pferdeschwanz als Produkt überzeichnete Körpermaße und eine Lust am Kleiderwechsel. Aus Ruth Handlers Prototyp-Barbie generieren sich bis auf den heutigen Tag alle Barbie-Modelle, um ein ebenso buntes, pinkes wie diverses Barbieversum zu generieren.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie setzt nun insbesondere den Prototyp mit Margot Robbie als einer Schauspielerin in Szene, die dem Prototyp zumindest in der Maske (Oscar-Kategorie Best Makeup) des Films zum Verwechseln ähnlich wird. Wer für das Makeup verantwortlich zeichnet, wird bislang nicht angeführt. Ob das Makeup weitgehend digital in Barbie und Barbieland eingesetzt worden ist, wird noch nicht verraten. Doch Margot Robbie wie Ryan Gosling agieren mit makellosen, prototypischen Körpern, die ständig zwischen Puppen- und Menschenkörpern oszillieren. Als Barbie/Margot Robbie und Ken/Ryan Gosling in der „Real World“ von Venice Beach Skatepark in Los Angeles ankommen, verwechselt ein Passant auf der Promenade sofort den Puppenkörper von Barbie mit einem Frauenkörper, indem er ihr auf den Hintern schlägt. Barbie lädt zu übergriffigem Verhalten ein, um es in ihrer Unschuld mit einer Backpfeife zu quittieren. Eine Backpfeife, die Filmgeschichte werden könnte. Wenig später wird Barbie zu – stereotyperweise – Bauarbeitern sagen, dass sie keine Genitalien habe.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Konzerngeschichte als eine Quelle für das Drehbuch von Greta Gerwig und Noah Baumbach spart genau dort mit Humor und Ironie pophistorische Spuren aus, wo es mehrdeutig und schwierig wird.[10] Ken wird zwar zu einer mehr als komischen Figur, aber die durchaus witzige Ebene seiner Herkunft wird unterschlagen. Es geht um den boy als doll oder im Deutschen den Jungen als ambige Puppe. Unschlagbar in der Mattel-Firmengeschichte ist 1961 die nur für Kinderohren unzweideutige Werbung für Ken mit „HE’S A DOLL“.[11] Die Mattel-Werbung machte Ken zu einer Puppe mit blonden Haaren und blauen Augen im blauen Sakko. Ein männlicher Barbie-Clon, der fortan ihr geschlechtsneutraler Boyfriend sein sollte. Bereits 1959 traute so manch eine Gay-Person ihren Ohren nicht, als Cliff Richard seinen Hit Living Doll sang: „Got myself a cryin‘, talkin‘, sleepin‘, walkin‘, livin‘ doll/Gonna do my best to please her just ‚cause she’s a livin‘ doll.” Cliff Richard stand Pate für Ken. Der Maler David Hockney regte der Song 1960 dazu an, seinen DOLL BOY mit dem Zusatz „Queen“ in Öl auf Sackleinen zu versehen.[12]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Das Problem der Mechanik wird im Song Living Doll von Cliff Richard zum Symptom der Liebe. Das Ich ist zu einer Living Doll geworden, die sich und ihre Gefühle nicht beherrschen kann. Es wird von den Gefühlen beherrscht. Noch bevor Mattel Ken herausbringen konnte als einen neuartigen Typus von Puppe und Boyfriend, hatte David Hockney sich in einen „Doll Boy“, einen Puppenjungen verliebt oder sein Begehren als prekär gemalt. Diese ebenso popkulturelle wie begehrensökonomische Überschneidung in der Figur Ken, er soll von den Barbie-Mädchen gekauft werden, wird in ihrer Tragweite im Film und den Songs von Ryan Gosling und Sam Smith nicht einmal angerissen. Das Dilemma der Homosexualität, wie es nicht zuletzt von Muslimen mit dem Film debattiert wird, ist nicht nur in der körperlichen Ähnlichkeit von Barbie und Ken, sondern ebenso im Feld der Sprache angelegt, wenn Puppe und Junge sich gegeneinander abgrenzen müssen.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Haarfarbe Blond hält ebenso in dem Revuefilm Blonde Venus ein Versprechen bereit. Im Unterschied zu Barbie war der Film kein großartiger Erfolg an den Kinokassen. In dem Film von 1932 wird eine Evolutionsszene als Revuenummer karikiert: ein Mensch in einem Gorilla- bzw. Menschenaffenkostüm wird wie aus dem Dschungel Afrikas zu rhythmischer Trommel-Musik an einer Kette von afrikanisch-gekleideten Revuegirls mit schwarzen Afroperücken auf die Bühne geführt, um nach einigen schwankenden Bewegungen zunächst die Affenhandschuhe von weißen Frauenhänden zu ziehen. Zum Song Hot Voodoo – “Hot voodoo, black as mud/Hot voodoo, in my blood/That African tempo, has made a slave…” – entkleidet sich Marlene Dietrich des Affenkostüms und setzt sich demonstrativ eine blonde Afroperücke mit funkelnden Amor-Pfeilen auf ihre blonden Haare.[13] Das gleich mehrfach wiederholte und gesteigerte Blond macht den verführenden Anspruch komisch statt erotisch. Das überreizte Blond wird im Kontext zeitgenössischer Evolutions- wie Rasseideologien als lächerlich entlarvt. Barbie und Ken waren immer blond und geschlechtsneutral

Barbie – Screenshot Official Trailer

In einer Welt, in der sich die Debatte um Texterzeugungsprogramme und Künstliche Intelligenz, über Sprachsoftware und Intelligenz, über Rechte am Bild und digitaler Verwertung von Schauspieler*innen in den letzten 5 Jahren zugespitzt hat, wird mit dem Film Barbie mit echten Schauspieler*innen weniger eine Spielzeugpuppe verhandelt als vielmehr die beunruhigend, brüchige Grenze von Puppe bzw. Künstlicher Intelligenz und Mensch. Der vermeintliche Mangel an Intelligenz von blonden Menschen wird im Film offensiv vorgeführt und in Dialogen witzig thematisiert. Ruth Handler wusste möglicherweise sehr genau, was sie mit den kleinen, weißen, blonden und blauäugigen Puppen tat, als sie sie in Serienproduktion gab. Als Anziehpuppen im Mädchenzimmer verloren die großen, sich als überlegen gebenden Blondundblauäugigen den Schrecken, den sie noch kurz zuvor bei der Selektion an der Rampe von Auschwitz verbreitet hatten. – Ob Barbie in der Debatte ebenso den Schrecken vor dem Patriarchat und der KI nehmen kann, bleibt offen.    

Torsten Flüh

Barbie (2023)
frei ab 6 Jahre
im Kino in Ihrer Nähe


[1] Zu Nietzsches Buch Also sprach Zarathustra siehe auch: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[2] Siehe zur Revue als Maschine: Torsten Flüh: Traumheftig! Die neue Grand Show THE ONE im Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2016 (als PDF unter Publikationen).

[3][3] Zur Figur der Olympia siehe: Torsten Flüh: Aus Beethovens Geisterreich. Zur Uraufführung von Hoffmanns Erzählungen als Stummfilm mit der Musik von Johannes Kalitzke im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2021.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[5] Zu Homosexualität und Staat siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[6] Google: I’m Just Ken. Lied von Ryan Gosling. (Suchergebnis).

[7] Zitiert nach Genius: Man I Am. Sam Smith (21. Juli 2023)

[8] Hans Jürgen Wulff: Screwball Comedy. In: Filmlexikon der Universität Kiel: 2022/03/23 01:17.

[9] Siehe zur generationellen Wahrnehmung: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[10] Siehe: Matel: History (18.08.2023).

[11] Ebenda History 1960s.

[12] The David Hockney Foundation: Doll Boy, 1960-1961. (online).

[13] Siehe: Internet Archive: Blonde Venus (1932) by Josef von Sternberg ca. 26:16.

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Polizei – Homosexualität – Staat

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau

Im Lesecafé der Stadtbibliothek Spandau hielt Ralf Kempe am 10. Juli 2023 seinen Vortrag zum „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vom 24. April 1945.[1] Die Rote Armee kämpfte seit dem 16. April mit einem „Zangenangriff“ in den Straßen von Berlin[2], als der vermeintlichen Gerechtigkeit durch den „geheimen Führererlass“ vom 15. November 1941 Genüge getan werden musste. 4 wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftete Polizisten wurden von einem Polizeioberleutnant und weiteren Kollegen zu einer Grube geführt und von einem Polizisten per Genickschuss hingerichtet. Die Befehlsketten der Polizei im weitgehend in Trümmern liegenden Berlin hatten noch einmal funktioniert. Ralf Kempe lässt seit Jahren der Gedanke nicht los, dass er auf dem Polizeiübungsgelände in der Pionierstraße über den sterblichen Überresten dieser schwulen Polizisten nach Dienstanweisung trainiert haben könnte.

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Für Ralf Kempe als Teil der Polizei Berlin geht es um Respekt, Vielfalt, Würde, Totenruhe und eines von wahrscheinlich viel mehr Verbrechen gegen homosexuelle Polizisten etc. in Berlin und dem Deutschen Reich, die seit dem 15. November 1941 vollstreckt und sehr häufig vergessen wurden, weil sie vergessen werden sollten. Wer mitgemacht hatte, schwieg. Die Verurteilung des Polizeimeisters der Schutzpolizei Otto Jordan erfolgte nicht nur nach dem § 175 StGB, dem sogenannten Homosexuellenparagraphen, der ab 1935 zu einer „totalen Kriminalisierung“[3] gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Männern führte und am 11. Juni 1994 abgeschafft wurde, sondern nach einem „geheimen Führererlass“. Die anderen drei Polizisten wurden ohne Urteil erschossen. Ralf Kempe als Erster Polizeihauptkommissar wird von seiner obersten Dienstherrin der Polizeipräsidentin Dr. Barbara Slowik bei der Aufarbeitung des historischen Verbrechens unterstützt.

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Im Oktober 2021 und Frühjahr 2022 unterstützte der Volksbund mit dem Umbetter Joachim Kozlowski und dem Leiter der Polizeihistorischen Sammlung Berlin Jens Dobler Kempes Suche nach den „Gebeine(n)“ der 4 ermordeten Polizisten.[4] Dennoch konnten keine sterblichen Überreste gefunden werden. Luftbilder aus dem betreffenden Zeitraum sind schwer zugänglich. Ralf Kempe hat die Vorarbeiten der SPDqueer Spandau und der AG Rosa Winkel zu Otto Jordan[5] vertieft und durch systematische Archivsuche sowie internationale Korrespondenz erweitert. Es ist ihm, als Ansprechperson LSBTI der Direktion 2, eine ebenso persönliche wie polizeihistorische Angelegenheit, dass das Verbrechen an Otto Jordan, Reinhold Hofer, Willi Jenoch und Erich Bautz nicht vergessen wird. Für Reinhold Hofer konnte Kempe erst im Oktober 2021 dessen Schicksal und den richtigen Namen klären, denn dessen Ehefrau hatte ihn im April 1945 als vermisst gemeldet. Seit 1945 wurde er als vermisst vom Suchdienst des DRK geführt und konnte nun nach mehr als 75 Jahren durch Kempes Nachforschungen gelöscht werden. Er hat sich dafür eingesetzt, dass nunmehr folgender Wortlaut auf der Tafel am Polizeidienstgebäude in der Moritzstraße 10 steht:

Zum Gedenken
und zur Mahnung
Die Polizeibeamten
Otto Jordan
Reinhold Hofer
Willi Jenoch
Erich Bautz
wurden in den letzten Kriegstagen
in der Polizeiarrestanstalt Moritzstraße inhaftiert,
weil ihnen Homosexualität angelastet wurde.
Am Abend des 24. April 1945 wurden sie zur
Polizeiübungsanlage Pionierstraße
verbracht, erschossen
und dort namenlos vergraben.
Sie sind unvergessen.[6]

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Es ist vermutlich allein der Witwe Erna Jordan zu verdanken, dass es 1947 und 1948 überhaupt zu einem Prozess vor dem Schwurgericht Berlin gegen die Täter, den Revieroberleutnant Alfred Wandelt und den Landgerichtsrat Simon (Gerichtsherr beim Reichsführer SS) im April 1948 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kam. Damit wurde das Verbrechen aktenkundig. Zeitungsartikel erschienen im Tagesspiegel und dem Spandauer Volksblatt. Denn die Witwe Jordan brauchte nicht nur einen Totenschein, sondern hoffte auch auf Entschädigung und Pension. Der Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, auf den allein Alfred Wandelt als schuldig erkannt und zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er keinesfalls absitzen musste, ist schwierig zu verifizieren. Welche Gesetzesnorm galt? Das Grundgesetz trat erst 1949 in Kraft. Vom 20. September 1945 bis 1949 galt das alte Reichstrafgesetzbuch, das natürlich kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorsah. Insofern herrschten die alten Gesetze. Spandau gehörte zum Britischen Sektor der in 4 Sektoren geteilten Stadt: Sowjetischer, Britischer, Amerikanischer, Französischer Sektor.

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Homosexualität als Grund für die Verhaftung der 4 Polizeibeamten erscheint in den Zeitungsberichten nicht. Anscheinend geht es bei der Verhandlung des „Verbrechen(s) gegen die Menschlichkeit“ allein um die Frage nach der Verantwortlichkeit in der Befehlskette. Denn in „der Verhandlung drehte es sich nun um die Frage, wie weit Simon an der Erschießung beteiligt war“. „Simon hatte keine Entscheidungen zu treffen, und ein Telefonat mit Wandelt, das zu der Hinrichtung führte, konnte ihm nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Simon wurde daher freigesprochen.“[7] Der Vizepräsident des Landgerichts Berlin Dr. Blasse spricht im Jahr 1948 als „Polizistenmord in Spandau“ kursierenden Fall ausgerechnet den „Gerichtsherr(n) beim Reichsführer SS“ Simon frei, weil das entscheidende „Telefonat … nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden“ konnte? Der „Polizistenmord“-Prozess wie die entsprechende Berichterstattung – „Die SS-Verbände haben nicht nur gegen die herannahenden Truppen zu kämpfen, sie müssen sich auch des „inneren Feindes“ erwehren.“ (P.J.B. Tagesspiegel) – bringen durchaus an das Verständnis der Leser*innen appellierend die SS ins Spiel.

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Die (Berliner) SS als Machtelite geistert durch den „Polizistenmord“-Prozess und mit dem als Zitat markierten „inneren Feind()“ wird an ein weithin bekanntes Wissen in der Bevölkerung appelliert. Innerhalb der SS muss es somit einen „Feind“ gegeben haben. Welche Rolle spielt dieser Feind? Und wird dieser „innere() Feind()“ noch heute nicht geradezu permanent ins Spiel gebracht, wenn es um eine bedrohliche Lage der Machtelite und damit die Macht selbst geht? Ralf Kempe umgeht eine genauere Analyse des „geheimen Führererlass(es)“, weil er dem nationalsozialistischen Gedankengut keinen Raum geben will. Ihm geht es um die Kollegen. Doch die Homophobie, die mit dem „geheimen Führererlass“ formuliert wird und der die 4 Polizisten in Spandau zum Opfer fallen, verdient eine genauere Analyse. August Heißmeier war von 1933-1945 als Chef des SS Hauptamtes und General der Waffen SS zuständig für den Polizeibereich Berlin-Brandenburg.

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Ralf Kempe stellte in einem Organigramm zugleich Wolf-Heinrich Graf von Helldorf als Polizeipräsident in Berlin von 1935 bis 1944 vor. Helldorfs Beteiligung an der Organisation des Attentats vom 20. Juli 1944 gilt als äußerst ambivalent. Er wurde dennoch in Plötzensee am 15. August 1944 hingerichtet. Er wird häufig als Abenteurer und Spieler charakterisiert, der mehrfach durch Adolf Hitler und Josef Goebbels mit hohen Geldsummen entschuldet wurde. Auf einem Foto von 1933 posiert er in Polizeiuniform neben Goebbels, Karl Ernst, Hans Meinshausen und Albert Speer.[8][9] Die Verstrickung des Berliner Polizeipräsidenten Graf von Helldorf nicht nur im Widerstand gegen Adolf Hitler, sondern in Machtkämpfe auf allerhöchster Ebene 1944 musste eine Schwächung der Staatsorganisationen und somit des Staates selbst in Berlin zur Folge haben. Die verschärfte Verfolgung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten im Prozess des Machtverlustes gibt einen Wink auf ein Konstrukt von Geschlecht und Macht.

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Woher kommt der unbändige Hass auf die 4 Polizeibeamten in unterschiedlichen Funktionen, der zu ihrer Erschießung führt, während 10 weitere inhaftierte Polizisten freigelassen wurden, um sich im Kampf zu bewähren? Im Bewusstsein eigene Kollegen zu töten, wird Simons Befehl ausgeführt. Die „Homosexualität (, die ihnen) angelastet wurde“, macht im Moment der Auflösung von Machtstrukturen derartige Angst, dass nur eine Auslöschung als Linderung angesehen wird. Der als „Streng vertraulich!“ ausgegebene „Erlass des Führers zur Reinhaltung der SS und Polizei vom 15. November 1941“ ist ein ebenso rhetorisches wie verräterisches Schriftstück.
„Um die SS und Polizei von gleichgeschlechtlich veranlagten Schädlingen reinzuhalten, bestimme ich:
I.
Für die Angehörigen der SS und Polizei tritt an Stelle der § 175 und 175a des Strafgesetzbuches folgende Strafbestimmung:
Ein Angehöriger der SS und Polizei, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit dem Tode bestraft.
…“

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Der als „Streng vertraulich!“ eingestufte Führererlass wird anscheinend in der Forschung zur Homosexuellen-Sonder-Gesetzgebung wenig beachtet. Schwule Polizisten und SS-Angehörige haben es weiterhin schwer als Opfer wahrgenommen zu werden. Doch die Formulierung der „Erlass zur Reinhaltung“ lässt sich nicht nur mit einer persönlichen Marotte Adolf Hitlers oder Heinrich Himmlers, der 1936 zum Leiter der gesamten deutschen Polizei ernannt worden war, erklären. Mit der „Reinhaltung“ wird vielmehr eine Reinheit vorausgesetzt, die gerade nicht existiert. Hitler formulierte nicht zuletzt in Absprache mit Himmler ein staatstheoretisch bedenkenswertes Verhältnis von Geschlecht und Staat. Denn Himmler sprach bezüglich des sogenannten Dritten Reiches schon 1937 von einem „Männerstaat“, der dadurch gefährdet würde, dass gleichgeschlechtliche Kontakte nicht etwa die Ausnahme seien, sondern „in der SS“ einmal „pro Monat“ aufgedeckt würden.[10] Die SS als Elite des „Männerstaat(es)“, zu der ebenso die Polizei gehört, generiert gewissermaßen die eigene Gefährdung, weil sie einen Männerkult betreibt. Körperliche Merkmale werden als erstrebenswert und begehrenswert in Machtverhältnissen gesetzt.

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Slavoj Žižek sagte einmal über das Begehren, dass uns gezeigt werden müsse, was wir begehren sollen. In dieser Begehrensökonomie erweist sich der „Männerstaat“ als ein Paradox. Dieses Paradox durchzieht den „Männerstaat“ rechter Ideologien und Organisationen bis auf den heutigen Tag. Das Begehren wird insbesondere mit den Uniformen der SS und Polizei geweckt und gleichzeitig aufs Schärfste mit dem Tode bestraft, wenn dem Begehren (zu sehr) nachgegeben wird. Hinter einem vermeintlichen Leistungsprinzip – „rein nach Leistung“ – verbirgt sich bei Heinrich Himmler eine Begehrensökonomie, die seit seiner Jugend eingeübt worden ist. Begehrt werden soll nicht zuletzt die Macht, die zum Mitmachen anstachelt. Die Teilhabe an der Macht erfordert insbesondere ein Kartell des Schweigens. Himmler formulierte das frühzeitig mit anderen Worten.
„In dem Augenblick aber, wo dieses Prinzip, nicht rein nach Leistung auszusuchen, sondern (…) ein geschlechtliches Prinzip im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstörung des Staates. (…)“[11]

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Heinrich Himmler hielt seine Rede zur Homosexualität, in der er „ein paar Gedanken entwickel(te)“,[12] am 18. Februar 1937 vor den „Gruppenführern“ der SS.[13] Der „Männerstaat“ wird einerseits historisch mit den „germanischen Völker(n)“ gegen den „Frauenstaat“ der „Amazonenreiche“ und der Königin in „Holland“ in Verbindung gebracht, andererseits werden ökonomische, bevölkerungspolitische und SS- bzw. SA-spezifische Argumente bei Karrieren angeführt. Das Trauma des Röhm-Putsches vom Juni/Juli 1934 wirkt in der Rede explizit nach. Denn schließlich hatten altgediente Kameraden auf ihresgleichen schießen müssen, um das Begehren zu kontrollieren. Himmler erwähnt ausdrücklich „den homosexuellen SA-Gruppenführer Heines und de(n) homosexuellen Gauleiter und Oberpräsidenten Brückner“. Um das eigene Begehren zu kontrollieren, wird das ungezügelte Begehren auf die SA als einen äußeren Konkurrenten um die Macht und „inneren Feind“ projiziert. Denn selbst 1937 gibt es weiterhin sogenannte Fälle „von Homosexualität“.  
„Wir haben in der SS heute immer noch pro Monat einen Fall von Homosexualität (…) Diese Leute werden selbstverständlich in jedem Fall degradiert und ausgestoßen und werden dem Gericht übergeben. Nach Abbüßung der vom Gericht festgesetzten Strafe werden sie in ein Konzentrationslager gebracht und werden auf meine Anordnung auf der Flucht erschossen. Das wird (…) von mir durch Befehl bekanntgegeben.“[14]

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Der von Heinrich Himmler propagierte „Männerstaat“ gibt nicht zuletzt einen Wink auf seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft Apollo von 1865, der in die Franco-Bavaria München aufging.[15] Die Burschenschaft trägt die Farben Schwarz Rot Gold und wirbt heute mit „800 Akademiker im Kartell“. Burschenschaften wurden nicht nur gegründet, um günstige Studentenzimmer für Mitglieder zur Verfügung zu stellen, vielmehr bilden Burschenschaften „Kartelle“ aus Alten Herren, die das „Bündnishaus“ und berühmtberüchtigte Trinkgelage durch ihre Beiträge finanzieren und zugleich mit einem sogenannten Leporello Karrierewege im „Männerstaat“ öffnen. Die rein männlichen Trinkgelage führen geradezu prototypisch zu mehr oder weniger sanktionierten sexuellen Übergriffen, die unter dem Begriff der Enthemmung verbucht werden. Anders gesagt: die Burschenschaft Apollo bereitete Himmler ab dem 14. Juni 1920 nicht nur auf das „arische Prinzip“[16] vor, vielmehr erlernte er gewissermaßen Karriere- und Verschwiegenheitspraktiken, die niemals unter „Homosexualität“ verbucht werden mussten. Dass sich jüngst der Alte Herr der Burschenschaft Franco-Bavaria München, der CSU-Politiker Peter Raumsauer, mit „Ungeziefer“ für Geflüchtete einen Lapsus erlaubte, erscheint in der Konstellation der Burschenschaftspraktiken eben nicht zufällig. Heinrich Himmler studierte vom Herbst 1919 bis Sommersemester 1922 an der Technischen Hochschule München.[17]

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Während aus deutschen Burschenschaften gleichgeschlechtliche Übergriffe oder auch Freundschaften selten an die Öffentlichkeit dringen[18], veröffentlichte Der Standard im Zuge der MeToo-Debatte 2020 das Protokoll Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“[19] Die männerstaatlichen Strukturen funktionieren über Begehrens- und Machtstrukturen, die den Missbrauch mit einschließen. Exemplarisch wird vom männerstaatlich erzogenen Vater im Protokoll die Frage gestellt, ob der Sohn „jetzt schwul“ sei. Obwohl oder gerade weil der Vater die Praktiken der Burschenschaft kennt, droht er dem Sohn. In Schlagenden Verbindungen gehört zugleich die Körperverletzung als Körpererfahrung von Nähe und Distanz zum guten Ton – „Ich habe drei Mensuren gefochten, zwei Mal wurde ich abgeführt mit einem „Lappen“ und riesengroßen Schmissen und einmal mit einem „Scherzerl“.“[20] Der „Scherzerl“ ist eben kein Scherz, sondern ein abgetrennter „Hauptlappen“.
„Warum ich meinem Vater nichts sagen konnte? Schon, als im Internat etwas Ähnliches passiert war, kam die Frage, ob ich jetzt schwul sei. Das war nicht der einzige Vorfall, wo ich seine Homophobie gespürt habe. Deshalb hatte ich Angst, wegen des Übergriffs so gesehen zu werden. Jetzt bin ich mit einer Frau verheiratet und selbst Vater. Noch dazu konnte ich nie etwas gegen seine „heilige“ Burschenschaft sagen.“[21]

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Die Überlänge der Rede Heinrich Himmlers[22], der lediglich als Diplom-Landwirt sein Studium abschloss, weil er gleichzeitig bereits in paramilitärischen Diensten und Organisationen aktiv war, bevor er im August 1923 Mitglied der NSDAP wurde, verrät eine zumindest ausgiebige Beschäftigung mit der „Homosexualität“ und ihren Abgrenzungen. Als Diplom-Landwirt gehörte Himmler bestimmt nicht zu den führenden Alten Herren – und wurde dennoch einer. Obwohl die Burschenschaft Apollo 1936 sich selbstauflöste, existierten die Verbindungen weiter. Das allerhöchste Gebot der Verschwiegenheit, wie es noch im Protokoll von 2020 wiederklingt, wird von Himmler mit der Sünde der „Lüge“[23] und dem Verbrechen eines „unstillbare(n) Mitteilungsbedürfniss(es) auf allen Gebieten“[24] konterkariert. Das Verschwiegenheitsgebot der Burschenschaften als Karrierepraxis ist Heinrich Himmler zutiefst vertraut, trotzdem spricht er zu viel von der Homosexualität. Die Elastizität seiner Rede speist sich aus einem Erfahrungs- und Eigenwissen zwischen Bildung und Halbwissen wie insbesondere des Wissens um das eigene Begehren. Darin liegt vor allem ihre rhetorische Kunst: unablässig über Homosexualität zu sprechen, um das eigene Begehren zu zügeln. Die Rede zur Homosexualität in der SS wird selbst zum Indiz für ein „unstillbares Mitteilungsbedürfnis“ und wird vier Monate später in weiten Teilen wiederholt.[25]

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Ralf Kempe hat mit seiner in Uniform und damit als Vertreter der Polizei wie des Staates das Verbrechen gegen schwule Polizisten vom 24. April 1945 in die Aufmerksamkeit der Queer Studies gerückt. Er zitierte abschließend eine Formulierung von Theodor W. Adorno: „Die Wertschätzung von Vielfalt bedeutet, ohne Angst anders sein zu können.“ Bis zum allerletzten Moment – und noch einige Jahre darüber hinaus – musste ein homogener „Männerstaat“ verteidigt werden, der insbesondere rechten Parteien mit einer patriarchalen Führungsfigur strukturell und keinesfalls zufällig als Vorbild dient. Dass sich nun gerade eine weibliche Führungsfigur als rechte Parteichefin in Deutschland, aber auch in Frankreich und Ialien hervortut, ist keinesfalls ein Widerspruch. Vielmehr lässt sich Begehren zwischen den Geschlechtern übertragen. Das Paradox des „Männerstaates“ und ob die Parteien dann eines Tages nicht „reingehalten“ werden müssen, wird sich nicht auflösen lassen. Ralf Kempe geht davon aus, dass die 4 schwulen Polizisten von Berlin und ihre Ermordung kein Einzelfall waren. Die Rede Himmlers von 1937 und der Führererlass von 1941 geben Grund genug für die Annahme, dass sehr viel mehr SS-Angehörige und Polizisten nach den gleichen Regeln zur „Homosexualität“ ermordet worden sind.

Torsten Flüh  


[1] Der Rechtsbegriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wird heute im Völkerstrafrecht anders gebraucht, als es der Tagesspiegel vom 21.04.1948 gebrauchte: „Wandelt und Simon werden sich in wenigen Tagen wegen dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu verantworten haben.“

[2] Siehe: Deutsches Historisches Museum (DHM): Arnulf Scriba: Die Schlacht um Berlin 1945. Berlin, 14. Mai 2020.

[3] LSVD: Paragraph 175 StGB: Verbot von Homosexualität in Deutschland. (Online)

[4] Diane Tempel-Bornett: Geschichte ist eine Bürde und Pflicht. Volksbund hilft bei der Suche nach ermordeten Polizisten aus Spandau. 01/07/2022.

[5] Carola Gerlach/Bernd Grünheide: Otto Jordan (Polizeibeamter), ohne Anklage und Urteil ermordet am 24.4.1945. (AG Rosa Winkel).

[6] Transkription nach im Vortrag gezeigtem Foto.

[7] Ohne Namen: Der Polizistenmord in Spandau. Zehn Jahre Zuchthaus für Wandelt. In: Spandauer Volksblatt v. 30.04.1948.

[8] Wikipedia: Wolf-Heinrich Graf von Helldorf: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ernsthelldorfhanke.jpg

[9] Zur Frage der Machteliten siehe auch: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[10] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich Himmler: Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen. Frankfurt am Main: Propyläen, 1974, S. 95.

[11]Ebenda.

[12] Ebenda S. 94.

[13] Ebenda S. 291, Fußnote 133.

[14]  Ebenda S. 97-98.

[15] Siehe das Foto nach S. 64 ebenda. Und: Wikipedia: Münchner Burschenschaft Franco-Bavaria. (Wiki) und (Internet-Auftritt)

[16] Ebenda.

[17] Siehe Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 10] S. 264.

[18] Aus den Erzählungen eines Freundes des Berichterstatters, der zumindest für eine kürzere Zeit ein Zimmer in einem Kieler Bündnishaus bezog, wurden gleichgeschlechtliche Praktiken mit Burschenschaft-Bewohnern als üblich mitgeteilt.

[19] Fabian Schmid: Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“. In: Der Standard vom 2. März 2020.

[20] Ebenda.

[21] Ebenda.

[22] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

[23] Ebenda S. 96.

[24] Ebenda S. 97.

[25] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

Im Netz der Literaturen

Jugend – Sprache – Liebe

Im Netz der Literaturen

Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel

Die Spinnennetze in den Büschen und zwischen den Pfeilern der Balustrade zum Großen Wannsee des Literarischen Colloquiums Berlin drohten unter stürmischen Regenböen zu zerreißen. Nachdem Michel Decar aus seinem Text und Künstlerroman Kapitulation, der am 1. September 2023 im Verlag März erscheinen wird, auf der Seebühne unten im Garten fünfzehn Minuten gelesen hatte, zog eine Regenwand heran. Die Mikrofone und das Mischpult wurden von den Technikern des LCB abgebaut. Stecker raus. Fortsetzung nach 30 Minuten Pause und Ortswechsel in den Saal mit der Ausstellung LCB-Editionen 1968-1989 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Assemblage – 60 Jahre Literatur intermedial. Das LCB feiert sein sechzigjähriges Bestehen und zum 18. Mal Kleine Verlage.

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Literarische Texte lassen sich dehnen und verweben wie Netze der fleißigen Spinnen. Texte bilden Texturen, Romane als fleißig und oft gegen die Zeit ausgelegte Gespinste. Sigrid Behrens wird von ihrem Hamburger Verleger von MTA (Minimal Trash Art) mit dem Roman Gute Menschen angekündigt. Lesepremiere des neuen Buches. Fünfzehn Minuten. Die Fünfzehn dauern meistens länger. Danach betritt Friedrich Kröhnke die Lesebühne innen. Er liest aus seinem gerade im Rimbaud Verlag aus Aachen erschienenen Roman Spinnentempel die Passage, als der Ich-Erzähler den Spinnentempel der Baha’I von Battambang besucht. Dann denkt er auf einem Bett im Hotel liegend über sein Leben nach. Sehr viel später liest Christoph Geiser fünfzehn Minuten aus seinem Caravaggio-Roman Das geheime Fieber, der gerade als Teil der Werkausgabe bei Secession in Berlin erschienen ist. Alle Lesungen lassen sich gar nicht hören und bedenken, sie hinterlassen schon so im Flash ein eigentümliches Gespinst.

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Es ist ja nicht so, dass sich alle Besucher*innen, Autor*innen, Lektor*innen und Verleger*innen auf der Seewiese versammelt hätten, um z.B. dem Autor Michel Decar aufmerksam zu lauschen. Viele tummeln sich gleichzeitig oben an der LCB-Villa um die Verlagsstände draußen. Vielmehr geht es bei diesem Event ebenso um ein Sehen und Gesehenwerden, Streunen und Blättern an den Verlagsständen, Signaturensammeln eines Autors, um die Bücher einer oder einem Lieben mit Widmung zu schenken oder, durch das Autogramm aufgewertet, auch nur antiquarisch zu verkaufen. Die veganen Speisen vom Grill oben am Eingang links sind schnell ausverkauft. Bratwurst und Nackensteak werden eher als Drohung wahrgenommen. Frischhaltedosen werden auf der steil abschüssigen Wiese ausgepackt und mit Familien, der oder dem Liebsten geteilt, bis das Wetter doch zu ungemütlich wird.  

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Die kleinen Verlage aus vielen Teilen des Leselandes Deutschland sind besonders eigentümlich, eigenwillig und oft auf ein bestimmtes, von den großen Publikumsverlagen wie Suhrkamp vernachlässigtes Lesepublikum spezialisiert. So das Credo. MTA wirbt mit „MTA ist für die Kunst, nicht für den Profit.“[1] März gibt sich „immer radikal, niemals konsequent“, und schreibt seine Geschichte seit 1967 dem „Vormärz“ mit seinem Verleger Jörg Schröder.[2] Bernhard Albers gründete und leitet seit 1981 die Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH mit dem Credo „zeitgenössische Lyrik und Prosa“[3], der Name des Lyrikers Arthur Rimbaud gibt einen Wink nicht zuletzt auf das komplizierte Verhältnis zu dem zehn Jahre jüngeren Paul Verlaine oder umgekehrt. 1995 spielte Leonardo DiCaprio, gerade 21, Arthur Rimbaud in Agnieszka Hollands Total Eclipse – Die Affäre von Rimbaud und Verlaine.   

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Das allerdings wollte der Berichterstatter gar nicht so genau erzählen, das schlich sich vielmehr ins Erzählen ein. Das Einschleichen ganz anderer Erzählungen macht unterdessen Literaturen unterschiedlicher Genres aus. Heute wird fast jeder Text zum Roman. Die kürzere Form der Erzählung erscheint immer seltener unter dem Titel. Ein Roman soll es schon sein. Romane waren einst lang bzw. dick bis sehr, konnten wie bei Proust keine Grenzen und kein Ende finden. Heute sind sie eher kurz, versprechen aber eine komplexe Geschichte über eine gewisse Zeitspanne. Kapitulation – Roman[4], Gute Menschen – Roman[5], Spinnentempel – Roman[6], Das geheime Fieber – Roman[7]… Der Romantitel ist eine eigene Formulierungskunst. „Noch wach?“[8], der Roman des Benjamin von Stuckrad-Barre über Julian Reichelt und Bild traf voll die What’s App-Sprach- und Aufreiß-Praktiken aller Menschen, die What’s App nutzen – und das sind fast alle. Nur Verkopfte gendern, Reichelt und Stuckrad-Barre nie:
„Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden.“[9]

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Kapitulation ist auch gut – aber wer möchte schon seine eigene Kapitulation – vor was auch immer – erleben oder eingestehen müssen. Bei „Noch wach?“ wollen alle Leser*innen – aus welcher Perspektive auch immer, Frauen, gar Feministinnen – durch das Messanger-Schlüsselloch gucken. Von der Lesebühne am Wannsee werden Satzfetzen von Michel Decar herangepeitscht, als sich der Berichterstatter nähert. Es geht um die Literaturpreisverleihung einer Kreissparkasse, die mit irgendwelchen Nazis ganz früher oder auch schon nicht mehr so ganz früher ihr Preisgeldvermögen angelegt haben könnte oder hat. Der Schriftsteller im Künstlerroman gerät in einen Konflikt. Die Verlagsbeschreibung klingt fast gleich: „Als die Preisverleihung im Wolfsburger Ritz-Carlton zur Farce gerät …“[10] Preisgeld von altem Geld oder gar kein Geld – zum Überleben als Künstler? Passt. Künstler-Tristesse funktioniert heute so oder auch schon länger, wenn man an den Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung-Fall Fritz Martini von 1966 denkt.[11]  

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Der Gute Menschen-Romantext wird im Saal schon nicht mehr so brutal von der Witterung zerfetzt. Gedränge im Saal. Es treibt auch die zuvor wandelnden Besucher*innen vor Platzregen oder doch nur Schauer ins LCB-Innere. Bevor Sigrid Behrens zu lesen beginnt, erklärt sie. Zeitverlust. Bei der Lesung soll vor allem der neu publizierte Text, in diesem Fall ein Milieuroman, sprechen. Kann man nicht erklären, muss der Text selbst machen. Verlagsbeschreibungen sogenannte Klappentexte verfehlen i.d.R. den Roman oder wecken bedenkliche Identifikationswünsche. Und „Idylle“ ist fast wie Kitsch schon immer falsch.
„Eine Frau geht. Sie verlässt die jugendlichen Kinder, den loyalen Ehemann, das schöne Haus, das sie über Jahre hinweg gestaltet hat, die liebenden Familien und den innig verbundenen Freundeskreis. Sie verlässt eine Idylle, sie bricht ins Ungewisse auf. Warum? Wofür?“[12]   

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Der Stich der 15-Minuten-Stechuhr beendet die Lesung. Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und die schöne, farbige Frau, die sich aus den knapp 100 Bänden der LCB-Editionen von 1968 bis 1989 nicht recherchieren lässt, bleiben aus der temporalen Ferne ungerührt der Kamera zugewandt. Wong May veröffentlichte Wannsee-Gedichte (1975), György Konrád Gesicht und Maske (1978), und Jiří Kolář Suite (1980). Regine Ehleiter, die an der Freien Universität den Exzellenzcluster Temporal Communities leitet, hat die Ausstellung LCB-Editionen, 1969-1989 – eine Re-Lektüre kuratiert.[13] Ab 1974 gingen die Editionen aus dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) hervor. Die Wannsee Poems der 1944 geborenen Wong May wurden von Nicolas Born, der im LCB aktiv war, ins Deutsche übersetzt. Die Ausstellung läuft noch bis zum 31. Oktober 2023 und wurde begleitet von einem Festival im Juni.

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Temporal Communities könnte beinahe zum Spinnentempel von Friedrich Kröhnke überleiten, weil der Roman um die verlorene Zeitlichkeit von Gemeinschaften kreist, könnte ich schreiben im Hinüberwerfen des Fadens. Kröhnkes Roman vom Ich, das sich wiederholt an die Leser*innen adressiert – „Sie sagen, das sind beliebige und oberflächliche Eindrücke, und wie in allem will ich Ihnen ja gar nicht widersprechen.“[14] – webt sich aus Erinnerungen wie Literaturen z.B. Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas und gibt sich, in der vor May, Konrád, Kolář und der Schönen gelesenen Passage, ironisch. Die Passage befindet sich schon im 4. Teil der mit Versen aus Leonard Cohens Song So long, Marianne als Motto versehenen 5 Teile des Romans.
„… Oh you are really such a pretty one.
I see you’re gone and changed your name again …
In den weiteren Jahren meines Lebens habe ich kaum etwas getan. Eigentlich bin ich nur herumgereist.“

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Der Spinnentempel und das Spinnen werden von Kröhnke in vielfältiger Weise durchkomponiert. Baha’I-Tempel, Paris, die OCI erinnern an Spinnen und insbesondere Taranteln, die sprichwörtlich wie von einer Tarantel gestochen, was eigentlich gebissen heißen müsste, den Gebissenen in Ekstase versetzen. In Battambang übernachtet und überlebt der Ich-Erzähler Fips für „lachhaft geringe Summen in geradezu prächtigen Hotels“ gelegentlich gegenüber einer Markthalle:
„Die Markthalle war ein weiterer Anziehungspunkt. Frühstück gab es keins im Hotel, und  ich frühstückte in der Markthalle. Sie war spinnenförmig, ein Bau im Stil des Art Déco aus der französischen Kolonialzeit. Man genoss das bunte Treiben, die Geräusche und Gerüche unter einem Kuppeldach, das sich in alle Himmelsrichtungen verzweigte, ihre Seiteneingänge waren Spinnenarme, …“[15]

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Friedrich Kröhnke liest in einem lakonischen Tonfall, der mit der sprachlichen Ironie das Publikum mehrfach zu einer amüsierten Reaktion reizt. So schon bei der Begründung des Aufenthalts in Battambang für „lachhaft geringe Summen“. Die dem Namen der kombodschanischen Verwaltungshauptstadt inhärente Alliteration wird lakonisch gelesen komisch. In Battambang überkreuzen sich für Fips mehrere Erinnerungsstränge an seine frühe Jugend wie den Spinnentempel der Baha’I in Langenhain im Taunus, einer Jugendliebe und die Kommunistische Internationale nicht zuletzt an das kommunistische Regime in Kambodscha. Ein Verbrechen. Kröhnke beherrscht einmal mehr die kompositorischen Verfahren der Themensetzung, ihrer Wiederholung und Variation. In Battambang und im Kröhnke-Tonfall wird die Religionsfrage im Alter bittere Ironie:
„Ich war sechzig und wollte noch einmal etwas anderes in meinem Leben. Einer religiösen Richtung anzugehören! Da hat man doch ein gutes Recht drauf: im Alter religiös zu werden.“[16]  

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Der Roman Spinnentempel entwickelt in seiner Verdichtung einen eigenen Sound zwischen Velosolex-Knattern, dem Allegro con fuoco oder feurig schnell des 4. Satzes aus Antonín Dvořáks Aus der Neuen Welt, der Internationale und So long, Marianne. Geräusche tragen zum Sound bei. Nicht zuletzt der „so süße(), schöne(), melodische() Gesang, der über die Dächer ringsum schwebte“[17] in Jerusalem – der Ruf des Muezzin. Das Fips genannte Ich, das einen Zwillingsbruder namens Falk hat, verliebt sich sechzehnjährig in den fünfzehnjährigen Tibor Teichmann in „der sogenannten Wissenschaftsstadt“.[18] Sie besuchen auf Fahrrad und Velosolex im Jahr 1972 den Spinnentempel, weil eine „spinnerte alte Dame über Baha Ulla undsoweiter geredet hatte“.[19] Frühzeitig setzt Kröhnke die Ambiguität von Spinnen und spinnen zur literarischen Komposition ein. An den Grenzen der Fakten wird entlang erzählt, so dass die Erzählung wie am Faden einer Spinne in der Schwebe und elastisch bleibt. Anders formuliert: Spinnentempel lässt sich ebenso als Literatur-Roman lesen. Als Roman von der literarischen Produktion.[20]

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Die Jugendliebe zu Tibor Teichmann wird vom Erzähler Fips mit dem Wunsch, „von diesen jungen Lehrern anerkannt zu sein“, verknüpft.[21] Diese jungen Lehrer waren links. ’68 hinterließ seine Spuren und Fips und Falk waren mittendrin. Sie wurden Trotzkisten, genauer Lambertisten „nach ihrer führenden Persönlichkeit, Pierre Lambert“.[22] Fips‘ Erzählung wird zu einer generationellen Geschichtserzählung von Reisen nach Paris in die Faubourg St. Denis, wo die Organisation Communiste Internationaliste, kurz OCI ihre Zentrale hatte, die sogleich literarisch mit Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas verwoben wird:
„die Zentrale der OCI, Michael Kohlhaas‘ „Sitz unserer provisorischen Weltregierung“. Wir waren müde und bekamen gleich unsere Lager zugeteilt: nebeneinander zu zehnt oder so kampierten die nach und nach nachts Eintreffenden auf Matten oder in Schlafsäcken auf den unsauberen Fußböden der großen Büroräume, welche Namen hatten, Salle Rosa Luxemburg, Salle Friedrich Engels, Salle Léon Sedow…“[23]   

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Es geht nicht nur um „Tagträume … und Träume“[24], die erzählt werden, vielmehr um ein Trauma zugleich. Das Trauma des Verlusts einer Jugendliebe durch Verbot und gesellschaftlicher Ächtung, weil gleichgeschlechtlich, und durch eine kaderförmige Organisation.  Aus den Romanen und Erzählungen von Friedrich Kröhnke können die Leser*innen wissen, dass er und sein Bruder Karl sich als Gymnasiasten euphorisch in „eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte(n)“.[25] – Wie eine Sprache finden für das, was einem angetan wurde beziehungsweise wo man mitmachen musste? – 1977 schrieb Friedrich Kröhnke zum ersten Mal über Zweiundsiebzig. Als er es 1987 veröffentlichte, hatte er im August 1986 in einer „Nachbemerkung“ vermerkt:
„Ich habe das alles nämlich zu einer Zeit geschrieben, als ich mich in eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte, geradezu heimlich geschrieben, denn „Subjektives“ war nicht angesehen.“[26]

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Ist das Subjektive Kitsch? Das wiederholte Einräumen, dass die subjektive Erzählung von Tibor Teichmann ebenso wie von der OCI Kitsch sein könnte, gibt einen Wink. – „Das alles, sagen Sie, ist offensichtlich ein Kitsch.“[27] – Nicht Fips sagt, dass es ein Kitsch ist, sondern eine imaginäre/r Leser*in, die angeschrieben wird. Wer die imaginäre Leser*in sein könnte, wissen wir nicht. Das heimlich Subjektive und der Kitsch durchziehen den Roman thematisch.[28] Seit 1986 ist schon eine gewisse Zeit vergangen. Ist die imaginäre, lambertistische Leser*in eine Art Über-Ich, das zensiert und zugleich den Kitsch für notwendig hält, wenn es um das Subjekt Fips geht, das als Ich erzählt? Wenn man die Zweiundsiebzig in Anschlag bringt, dann kehrt 50 Jahre später 2022 ein Liebesobjekt wieder, das zuvor schon vielfach abgewandelt worden war. Transformiert in immer wieder neue, eher flüchtige Verhältnisse mit Fünfzehnjährigen. Die Jugendliebe zweier Jungen, die man heute queer benennen würde, schwul gar, scheitert nicht zuletzt am – autoritären – Medium Festnetztelefon, das zwischenzeitlich immer weniger, kaum noch genutzt wird. Über das Festnetztelefon übten die Väter und Mütter ihre Autorität aus.
„Es gab noch keine Mobiltelefone und kein What’s App, nichts von alledem. Wenn ich bei seinen Eltern oder in der Arztpraxis anrief, wurde auf der anderen Seite aufgelegt.“[29]

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Wie schwul ist ein Roman, in dem das Lemma nicht einmal vorkommt? Schwul ist nicht irgendein Lemma. Im Caravaggio-Roman Das geheime Fieber (1987!) wird schwul zwar nicht in der Passage verhandelt, die Christoph Geiser am Nachmittag der Kleine(n) Verlage am Großen Wannsee zu fortgeschrittener Zeit mit Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und der schönen, farbigen Frau im Rücken vorliest, aber sonst geradezu um Legitimation ringend im kunsthistorischen Kontext bearbeitet. Ein Restaurator gebraucht schwul eher abwertend, wenn Maler „noch das von Michelangelo kopiert (hätten)“. Lässt sich schwul kopieren?
„Schwul, sagt der Restaurator, waren doch auch seine Nachfolger, diese Manieristen, fast eine Mode, als hätten sie noch das von Michelangelo kopiert – aber ins Süßliche verkehrt; der ist wenigstens nicht süßlich, nicht einmal süß, auch darum ist es kein Kitsch, sondern eine Provokation, gegen diese Moden, diese Idealisierung.“[30]

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Mit der Restaurator-Szene zum Gemälde Amor als Sieger, der in der Berliner Gemäldegalerie hängt, wird der Roman über Caravaggio und schwul eröffnet. In zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung des Romans hatte 1986 Derek Jarmans biografischer Film Caravaggio Premiere. Die vom Restaurator formulierte „Provokation“ in der Darstellungsweise eines fünfzehn- oder sechzehnjährigen, fast noch kindlichen nackten Jungen umgeben von allegorischen Instrumenten wie einer Violine, einer Laute, einem Winkel und Zirkel, aber auch zwei Pfeilen in der linken Hand, einer Schreibfeder und einem Teilen einer Rüstung, schließlich einer Art Himmelsglobus mit Sternen und einem Bogen für die Violine, die Flügel aus dunklen oder verschatteten Schwanenfedern nicht zu vergessen, wird vor allem durch ein angedeutetes Lachen im abgeschatteten Knabengesicht gestützt. Der Amorknabe provoziert. Er triumphiert nicht – Cupid as Victor. Das Gemälde ist eher dunkel als hell gehalten, doch der Körper, die Haut, das Glied sind hell ins Licht gerückt.[31]

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An der exponierten Nacktheit und dem Lachen brechen sich die Imaginationen und Identifikationen. Schuld oder Unschuld. Provokation oder Triumph. Religiöse Allegorie oder sich exponierender Junge aus dem Volk. Und was daran, an der Haltung und dem Verhalten ist schwul? Der Bogen aus dem italienischen 17. Jahrhundert ins emanzipative Schwul des 20. Jahrhundert lässt sich nicht so einfach schlagen. „Ich bin schwul“, wurde erst im 20. Jahrhundert in Berlin sagbar, wie es Robert Beachy mit W. H. Auden gezeigt hat. Im beginnenden 21. Jahrhundert, um die natürlich immer schleichende Transformation von Kulturpraktiken wie meist geübt in Jahrhunderten beizubehalten, ist der Amorknabe oder Cupidboy prekär geworden. 1987 war es eine Provokation:
„Ein nackter Bub auf einer Holzbank, nichts sonst, wenn ich mir die Zutat, das Stilleben wegdenke. Haut und Fleisch zum Greifen. Das ist nicht irgendeiner, das sind alle, alle zusammen in einem. Der Kopf eines Halbwüchsigen, fünfzehn-, sechzehnjährig, dem ich die Haare auf der Stirne streichen möchte, während er, ganz weggeräumt noch, lächelt geniert ein wenig, weil er sich einem wildfremden Schwulen hingegeben hat, in irgendeinem Hotelzimmer, einer einschlägigen Pension – amüsiert von der Erregung, aber befriedigt – versöhnlich nach dem geilen Spiel; das Schwänzchen eines Zwölfjährigen – nichts kommt, wenn es ihm beim Spielen plötzlich kommt – geil, aber verboten heute, auch in den größten Städten unberührbar, damals bloß ein wenig sündig; Pubertätsspeck an den Flanken, für die Gier der Hände, zum Kneifen wenigstens.“[32]

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Wie eine Sprache finden im Schreiben? Literaturen müssen sich immer eine Sprache erschreiben. Die Provokation, die emanzipatorische Geste, sich in einen Diskurs einschreiben oder gegen den Zeitgeist anschreiben haben immer die künstlerische, die literarische Produktion – um Amor als Sieger nicht zuletzt der Künste nachklingen zu lassen – beflügelt. Woher die Flügel genau kamen und kommen, wie lange sie tragen, über What’s App hinaus oder nur den Moment einer groß orchestrierten Hype der Ex-Freunde um eine Herrn Döpfner herum, der Medienturm exponiert, lässt sich auch bei kleinen Verlagen nicht so schnell entscheiden. Trash oder zeitgenössische Prosa? Kapitulation oder Spinnentempel? Gute Menschen oder das geheime Fieber? Der Roman Spinnentempel in seiner Ambiguität und Verdichtung zu einer lakonischen Sprache zwischen Schulverweis und Weltregierung fällt dann doch auf, vielleicht gar heraus. Queer history ist er allemal. Im 15-Minutes-Time-Slot fällt das noch nicht einmal so stark auf. Literaturen brauchen Zeit.

Torsten Flüh

Michel Decar
Kapitulation
Berlin: März, 2023.

Sigrid Behrend
Gute Menschen
Hamburg: Minimal Trash Art, 2022.

Friedrich Kröhnke
Spinnentempel
Aachen: Rimbaud, 2023.

Christoph Geiser
Das geheime Fieber
Berlin, Secession, 2023.

Literarisches Colloquium
LCB-Editionen, 1968-1989 – eine Re-Lektüre
bis 31. Oktober 2023.


[1] MTA: Über MTA.

[2] März-Verlag: Google Header.

[3] Rimbaud-Verlag: Google Header.

[4] Michel Decar: Kapitulation. Berlin: März, 2023. (Website)

[5] Sigrid Behrens: Gute Menschen. Hamburg: Minimal Trash Art. 2022. (Website)

[6] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel. Aachen: Rimbaud, 2023. (Website)

[7] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Berlin, Secession, 2023. (Website)

[8] Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2023. (Website)

[9] Ebenda S.

[10] Michel Decar: Kapitulation [wie Anm. 4] ebenda.

[11] Siehe: Torsten Flüh: Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt. Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juni 2023.

[12] Sigrid Behrens: Gute … [wie Anm. 5]

[13] LCB: https://lcb.de/programm/lcb-editionen-ausstellung/

[14] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 94.

[15] Ebenda S. 75.

[16] Ebenda S. 81.

[17] Ebenda S. 92.

[18] Ebenda S. 5.

[19] Ebenda S. 16.

[20] Zu weiteren Werken von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Der Mythograph

Ein Werkaufriss zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Friedrich Kröhnke. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[21] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 19.

[22] Ebenda S. 34.

[23] Ebenda S. 52.

[24] Ebenda S. 26.

[25] Friedrich Kröhnke: Zweiundsiebzig. Das Jahr, in dem ich sechzehn wurde. Frankfurt am Main: Materialis Verlag, 1987, S. 86.

[26] Ebenda.

[27] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 23.

[28] Zu weiteren Romanen von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Farbenfroh wuchernde Sehnsucht. Friedrich Kröhnke feiert den 150. Geburtstag von Max Dauthendey mit dem paradoxwitzigen Text Wie Dauthendey starb Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2017. (Jetzt unter Publikationen)
Und: Torsten Flüh: Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur. Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Oktober 2018. (Jetzt unter Publikationen)

[29] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 27.

[30] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Zuerst: Zürich: Nagel & Kimche, 1987, S. 16.
Zum Lemma schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (Jetzt unter Publikationen)

[31] Amor als Sieger von Caravaggio https://smb.museum-digital.de/object/60794?navlang=de

[32] Christoph Geiser: Das … [wie Anm. 30] S. 18.

Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse

Terror – Architektur – Staat

Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse

Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste

Der Saal 1 der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 wurde in der Zeit um 1943 zur Ausarbeitung eines Fassadenmodells im Maßstab 1:10 für die Nord-Süd-Achse von Albert Speers Hauptstadt Germania schon im Detail genutzt. Vier Männer in weißen Kitteln mit pomadisierten Haaren stehen auf einer Leiter oder sitzen auf einem Klappschemel mitten im Krieg und malen mit Pinseln an dem Holzmodell, wie auf einem Foto in der Ausstellung Macht Raum Gewalt zu sehen ist. Der Durchgang zur Verbindungshalle ist an seinem Bogen zu erkennen, von dem ein Teil in den Neubau der Akademie von Günter Behnisch ab 2005 integriert worden ist. Die planerische Tätigkeit der vier Männer im Jahr 1943 für das monumentale, die Dimensionen sprengende Bauvorhaben sind gespenstisch. Ab November 1943 war Berlin massiven Lustangriffen der Alliierten ausgesetzt. Am 23. November 1943 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zerstört.

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Gespenstisch monströs wirkt ebenso der Schwerbelastungskörper in der General-Pape-Straße in der Nähe vom Südkreuz oberhalb der Süd-Nord-Bahntrasse, die unter dem zerbombten Lehrter Bahnhof, dem neuen Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel entlang erst nach dem Hauptbahnhof wieder an die Oberfläche kommt. In einem Modell auf dem Aussichtsturm des Informationsortes Schwerbelastungskörper wird die massive Gewalt fühlbar, mit der sich die Achse der Staatsbauten in die Stadt hineingefräst hätte. Die Ausmaße als Versprechen von nationaler Größe im kleinen Modell mit einem 10 Mal größeren Triumphbogen als dem Arc de Triomphe de l‘Étoile in Paris auf der Avenue des Champs-Élysées verkehren sich in blanken Staatsterror. In der Akademie der Künste näherten sich nun Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze literarisch dem Unfassbaren des SCHWER BELASTUNGS KÖRPERs.

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Ab 1937 war der Sitz der Akademie der Künste am Pariser Platz von Albert Speer zum Ort des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ geworden. Dort wurden die nationalsozialistischen Bauten in Berlin geplant, gezeichnet, berechnet und wie mit dem Fassadenmodell detailliert vorbereitet. Der Planungsaufwand nicht nur für die Nord-Süd-Achse wurde derart vorangetrieben, dass das zweckentfremdete Akademiegebäude aufgestockt und erweitert werden musste. Zwar blieb die Aufschrift „Akademie der Künste“ bestehen, doch seither wurden weitere Gebäude am Pariser Platz und sogar Räume des beschädigten Reichstags für die totale Planung von der Reichskanzlei über die neuen Gebäude am Flughafen Tempelhof bis zur gigantischen „Großen Halle“ am Nordende der Hauptstadtachse entworfen. Der Neubau des Tempelhofer Flughafens war bei seiner Fertigstellung 1941 bereits das flächengrößte Gebäude der Welt.[1] Wenig später wurde das Pentagon in Washington das flächengrößte.

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Die Lüge der Größe verdeckte bereits beim Flughafen Tempelhof mit seinen riesigen Hangars aus Beton, Stahl und Glas die Funktion der Kontrolle. Der Beton der massiven Treppentürme an den Hangars wurde geradezu programmatisch mit Tengener Muschelkalkplatten verklebt.[2] Dadurch erhielt die Bauweise des „Weltflughafens“ programmatischen Charakter. Nur ca 1.000 Meter westlich der Flughafenhangars wurde der Schwerbelastungskörper zum Test für den Baugrund auf der Nord-Süd-Achse gebaut. Die versprochene Größe des Triumphbogens und anderer Bauten bis zur „Großen Halle“ erwies sich nicht nur als ein physikalisches Belastungsproblem durch Betonmassen, vielmehr sollte der Beton hinter Muschelkalk und ähnlichen Werkstoffen verschwinden, damit die Gebäude visuell historisiert werden konnten.

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Die nationale wie architektonische Größe wurde beim Flughafenbau wie beim Bau des Schwerbelastungskörpers exemplarisch durch systematische Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erreicht. Insofern lässt sich die Ambivalenz der Größe im Bauen immer zugleich mit Praktiken der Unterwerfung und der Ausbeutung bedenken. Für die Erzeugung der Größe beim Flughafenbau als „Infrastrukturanlage“ wurden bereits Zwangsarbeiter*innen in sklavenähnlichen Verhältnissen eingesetzt. Das Autorenkollektiv der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste formuliert die „Kernbotschaften“ ein wenig anders, was möglichweise mit der Größe als blindem Fleck zu tun hat:
„Die Ausstellung soll zeigen,

  • dass das Planen und Bauen im Nationalsozialismus alle Lebensbereiche durchdrang und sowohl der Integration der „Volksgenossen“ als auch dem völkisch-rassistischen Ausschluss und der Vernichtung von „Gemeinschaftsfremden“ diente;
  • dass als prägendes Ergebnis der Dynamik und Radikalisierung des Planens und Bauens im Nationalsozialismus weniger die meist nicht verwirklichten Repräsentationsbauten als vielmehr Wohnsiedlungen, Verwaltungsbauten, Rüstungskomplexe, Infrastrukturanlagen, Bauruinen, Baracken, Bunker und vor allem die zahllosen Zwangsarbeits- sowie die Konzentrations- und Vernichtungslager anzusehen sind;“[3]
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Die Ausstellung in der Akademie der Künste, zu der ein 320 Seiten umfassender Katalog mit ca. 420 Abbildungen erschienen ist, hat insbesondere hinsichtlich einer „Egalisierung“ der „Baufachleute und Bauunternehmer“ nach 1945 zu einigem Widerspruch geführt, den Friedrich Dieckmann in Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? formuliert hat. Die Ambiguität der Architektur in der Moderne führt zu einer Egalisierung von Menschen, die für das Planen und Bauen im Nationalsozialismus verantwortlich waren. Dieckmann kritisiert die Ausstellungspraxis von 150 Portraitfotografien alphabetisch aneinander gereihten, teilweise verfolgten „Baufachleuten“ scharf.[4]  

  • dass sehr vielen Baufachleuten und Bauunternehmern in allen Bereichen des Planens und Bauens eine Mitverantwortung für die Ausübung von Gewalt und Verbrechen zugeschrieben werden muss – nicht nur den wenigen bekannten Architekten. Viele Verantwortungsträger konnten nach 1945 ihre Karrieren fortsetzen.
  • dass Planen und Bauen auch im Nationalsozialismus eine internationale Perspektive besitzt und entsprechend betrachtet werden muss – mit Blick auf Rivalitäten, Einflussnahmen und Demonstrationen vermeintlicher Überlegenheit;
  • dass zur baubezogenen Erinnerung nach 1945 Verdrängungen, Verharmlosungen und Ausblendungen gehören und dass ein bewusster und angemessener Umgang mit dem gebauten Erbe des Nationalsozialismus eine herausfordernde Aufgabe bleibt.“[5]  
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Wäre ein Spaziergang in den Schluchten der staatlichen Großbauten vom Regime überhaupt erwünscht worden? An das Klima und die Hitzestauungen dachten ein Albert Speer und seine Planungsfanatiker natürlich nicht. Kerstin Hensel, seit 2021 Direktorin der Sektion Literatur in der Akademie der Künste, setzte im Plenarsaal am Pariser Platz den Begriff Spaziergang, zu dem sie mit der Lesung einlud. Cécile Wajsbrot habe sie schon vor einiger Zeit nach dem Schwerbelastungskörper gefragt, ob sie ihn kenne und schon einmal dort gewesen sei. Schwerbelastungswas …? Der Ort, der von Speers Hauptstadt Germania, übriggeblieben sei. Spazieren ist eine eher absichtslose Fortbewegungsart, die kein Ziel kennt, doch Wissen generieren kann. Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze nähmen uns mit auf einen Spaziergang zum Schwerbelastungskörper. Immerhin ein Ort, der durch einen eigens gebildeten Namen bezeichnet wird. In der bis dato einzigartigen Kombination physikalischer Begriffe von Schwere, Belastung und Körper benennt der Eigenname einen Ort und ein Bauwerk.

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Mit dem Schwerbelastungskörper ging es den nationalsozialistischen Bauingenieuren um die Vorbereitung der zentralen „Repräsentationsbauten“ in dem Maße, wie dieser selbst zur Repräsentation und noch bis in die 1970er technisch genutzt wurde. Denn für die Baufachleute repräsentierte der Testkörper bereits die in Planung befindlichen Bauten. Schriftsteller*innen sehen, fragen und formulieren anders. Sie generieren Wissen vom Corpus anders. So schreibt die in Paris geborene, französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot in ihrem essayistischen Text Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen zum Schwerbelastungskörper:
„Da haben wir ein solides Wort, ein Wort, das Gefühle wirkungsvoll eindämmt, ein Wort aus Fakten, Fakten … dieser Betonzylinder wurde 1941 von Kriegsgefangenen, oft aus Frankreich stammenden Zwangsarbeitern gebaut. Albert Speer, der Architekt des Dritten Reiches, wollte damit den Widerstand des Bodens testen, um herauszufinden, ob dieser die Übergröße des Triumphbogens aushalten würde, der als Abschluss der Nord-Süd-Achse zur Strukturierung der künftigen Hauptstadt Germania vorgesehen war – ein Triumphbogen, der als Zeichen der Revanche zehnmal so groß sein sollte wie der von Paris.“[6]

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Wajsbrot verfolgt in ihrem Text die vielzähligen Vernetzungen, in die der Schwerbelastungskörper über den Widerstand verwoben war oder ist und womöglich weiter vernetzt werden kann. Nicht nur der physikalische, vielmehr noch der politische Widerstand gegen die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Praktiken des „völkisch-rassistischen Ausschlusses“ kommen zum Zuge. Die Akademie der Künste, zu denen der Architekt Erich Mendelsohn in der Sektion Bildende Künste bis 1933 gehörte, wurde für Speers Projekte und seine Mitarbeiter*innen homogenisiert. Die paradoxe Gleichzeitigkeit der Messungen und Vermessungen als Strategie der Moderne nicht zuletzt im Krieg wird von Cécile Wajsbrot herausgearbeitet:
„Tausende von Kilometern weiter stand in einer anderen Zeitzone, in einer Wüste Utahs, 145 Kilometer von Salt Lake City entfernt, zu der Zeit, als man maß, wie tief der Betonzylinder in den Boden einsank, ein von dem Architekten Eric Mendelsohn entworfenes »Deutsches Dorf«. Erich Mendelsohn war jüdischer Herkunft und gleich 1933 nach Großbritannien ausgewandert, wo er seinen Vornamen ins englische Eric geändert hatte. Im Dezember desselben Jahres war er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen worden, baute jedoch zehn Jahre später Berlin in einem unwirklichen Landstrich von Utah nach, indem er ein Berliner Arbeiterviertel zu rekonstruieren half, sechs Mietskasernen mitten in der Wüste. (…) Es ging darum, den Widerstand dieser Gebäudeart zu testen, Teil der Vorbereitungen, die die amerikanische Armee für die Bombardierung deutscher Städte traf – insbesondere Berlin.“[7]  

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Die planerischen Praktiken, die Berlin auf brutale Weise neu strukturieren sollten, damit Kontrolle und Überwachung zwischen Massenaufmärschen und Verfolgung Einzelner in Gebäudefluchten optimiert werden könnten, führten sozusagen am anderen Ende der Welt mit einer widerständischen Geste Mendelsohns zur Planung der Auslöschung des Regimes. Die Vermessungspraktiken der Größe, die am Schwerbelastungskörper symmetrisch, glatt, massig in nie zuvor bekannten Ausmaßen erprobt wurden, generierten zugleich Szenenarien der Zerstörung. Bauen und zerstören: bauen, um zu zerstören. Cécile Wajsbrot spitzt die Ambiguität der Größe und ihres Schreckens in ihrem Text auf kaum auszuhaltende Weise zu.
„Zerstören, aufbauen. Nach Babi Yar, zum riesigen Massengrab in einer Schlucht am Rand von Kiew, die in Sergei Lozenitsas Film »Babi Yar. Context« auf den darin gezeigten Archivbildern weitab von jeder menschlichen Gegenwart zu liegen scheint, gelangt man heute mit der U-Bahn. Man muß ein Stück laufen, aber das ist nichts im Vergleich zu jener Wüste damals, die Zeugin von hunderttausend Toten wurde, jeder davon ein einzelner. Die Städte überdecken die Spuren, werden zum schwer entzifferbaren Palimpsest. Das etwas höher gelegene Viertel von Warschau, das die Ruinen des Ghettos überdeckt. Der Berliner Teufelsberg, unter dem Rester einer technischen Fakultät liegen, die ebenfalls zum Projekt Germania gehörte.“[8]

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In Yoko Tawadas Titel Der Zylinderpilz schwingt, wenn ich ihn lese, der Atombombenpilz über Hiroshima mit, der unter seinem Ausmaß der Zerstörung den II. Weltkrieg in Japan beendete. Umrundet man den Schwerbelastungskörper am Boden zeigt sich, dass der Versuchskörper fast freischwebend auf einer Betonsäule, die sich tief in den Boden hineinsenkt, steht. Für Tawada „verwandelte (die Zeit) ein Gebäude in ein organisches Wesen“[9], einen gewissermaßen unförmigen und atypischen Pilz. Pilze sprießen aus Rhizomen unter der Erde an die Oberfläche. Sie brechen hervor. Doch als Schriftstellerin bezweifelt sie, dass diesem Bauwerk, das den Rechenoperationen der „Vernunft“ entsprungen ist, wirklich mit der „Vernunft“ beizukommen ist. Vielmehr kommen in Tawadas Texten immer wieder plötzlich Wendungen aus einer Art Rhizom in den Text, die unter mehrfachen Drehungen des Sinns ganz anders Sinn machen.
„Er hat im weitesten Sinne die Form eines Pilzes. Um die Bezeichnung »Schwerbelastungskörper« zu vermeiden, nenne ich ihn zuerst Pilz. Wie jene Atompilze, die nach den Bombenexplosionen in den Himmel wuchsen. Vor einigen Jahren kurz vor Mitternacht hat ein Berliner Taxifahrer mich mit einer Frage überrascht: »Wußten Sie, daß es keine Atombomben gibt?« – »Wie meinen Sie das?« – »Ich meine es genauso, wie ich es Ihnen sage. Die Atombomben existieren nicht. Niemand hat es bis jetzt geschafft, solche Waffen zu bauen.« – »Wie kommen Sie darauf?« – »Wundern Sie sich nicht, daß die sogenannte Explosionswolke in Hiroshima auf jedem Foto anders aussieht? …«“[10]  

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Tawadas Berliner Taxifahrer speist seine Argumentation gegen die Atombombe aus dem Internet, das sich mit seinem frei flottierenden Wissen nach einer Recherche ebenso als kurzlebig erweist, weil die „Beiträge“ gelöscht werden. Yoko Tawada formuliert ihre „Fragmente zu einem Spaziergang“ von der Sprache her und fragt nach der Sprache, wie sie mit dem Schwerbelastungskörper Wissen generiert. Der Begriff Beton wird von ihr gewendet und befragt.
„Das Wort Beton kam aus dem Französischen, in seiner Wurzel entdeckte ich zwei weitere Wörter: Erdharz und Bergteer. Was in einem Text dicht zusammenwächst, ist konkret. So wie das Bauwerk vor meinen Augen steht, ist es zuerst nicht konkret genug. Erst muß durchs Schreiben ein Prozeß der Verdichtung stattfinden.“[11]

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Die höchst unterschiedlichen Texte zum verstörenden Spaziergang von Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze sind gerade im Junihelft von Sinn und Form – Beiträge zur Literatur erschienen. Wie lässt sich der Architektur in ihrer Mehrdeutigkeit von Baukunst, Baustil und Bauwerk sprachlich beikommen? Die Architektur kommt im 17. Jahrhundert im Deutschen in Gebrauch.[12] Sie wird insofern ein Projekt der Moderne, indem sich eine Matrix der Berechnungen und Vermessungen und Formen über Bauwerke, Städte, ganze Landschaften, legt. Im Schwerbelastungskörper findet die moderne Architektur zumindest der Größe nach einen End- und Schreckenspunkt. Nicht zuletzt werden Bauwerke von den Pyramiden bis zum Eiffelturm von den nationalsozialistischen Architekten bemüht, um die Größe ihrer Germania-Bauten als Höhe- und Endpunkt der Architekturgeschichte zu avisieren. Womöglich wäre der übergroße Beton-Triumphbogen im Berliner Urstromtal einfach umgekippt oder im Boden versunken, hätte man den Beton-Testkörper nicht gebaut. – Immerhin sind bereits Milliarden Euro in der Museumsinsel zur Stabilisierung des Baugrundes versenkt worden. Ganz zu schweigen von den Berechnungsproblemen beim Bau des BER, der einst einen Skywalk erhalten sollte.

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Das Problem der Architektur und die Probleme, die sie generiert, liegen zutiefst im Projekt der Erfassung der Welt in der Moderne. Die vermeintliche Berechenbarkeit folgt sehr oft, wenn nicht meistens einer Problemlösungspraxis, die sich nicht voraussehen lässt. Albert Speers Germania-Bauten waren keine Luftschlösser, sondern staatliche Kontrollregime und Rechenexempel der Moderne, die sich als Kunst und Geschichte maskierten. Im fünfzehnten und letzten Fragment ihres – literarischen – Spaziergangs kommt Yoko Tawada mit einer Ich-Formulierung an einen paradoxen Schluss.
„Ich werde versuchen, den Schwerbelastungskörper nicht umzubenennen. Ich werde seinen Namen beibehalten. Er klingt weiter unsinnig, lächerlich, furchterregend, belastend und schwer. Das war nicht die Absicht der Nationalsozialisten. Der Name enthält wie sein Bau eine Materialität, die nicht schnell veränderbar ist. Er wird uns die düstere Melodie des Namensgebers, die er unfreiwillig verraten hat, noch lange vorspielen.“[13]   

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Ingo Schulze wich in seiner Lesung mit einem neuen Manuskript am stärksten von seinem bereits zur Veröffentlichung freigegeben Text Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße ab.[14] Er schränkte die Gültigkeit seines Textes mit einem Kommentar ein und widmete sich verstärkt dem Konzept der englischsprachigen Mall als Vorbild für die brutale Nord-Süd-Achse. Weder dem Ausmaß des benannten Körpers noch dem SA-Gefängnis lassen sich erzählerisch leicht beikommen. Die Verschiebung des massig benannten Körpers, der kein menschlicher, vielmehr ein geradewegs entmenschlichender Körper sein sollte, zu Reflektionen über die National Mall in Washington, D.C., verfehlte den Spaziergang möglicherweise zurecht. National Mall wird meistens mit „Nationalpromenade“ ins Deutsche übersetzt. Im deutschen Wortschatz ist gar das Verb promenieren für spazieren gehen gebräuchlich.[15]

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Die National Mall in Washington ist 4,8 Kilometer lang und 500 Meter breit. Die Nord-Süd-Achse Germanias hätte vom Schwerbelastungskörper bzw. Triumphbogen bis ungefähr zum Europaplatz des Berliner Hauptbahnhofs schnurgerade durch die Stadt gefräst ungefähr die gleiche Strecke einnehmen sollen. Ungefähr 5 Kilometer sind indessen keine Distanz zum Spazierengehen. The Mall in London als Vorbild der historischen oder imperialen Malls ist gar nur 930 Meter lang. Da lässt sich dann promenieren oder spazieren. Nichts dergleichen lässt sich auf den Modellen für Germania erblicken. Ingo Schulze kontrastiert die Speer-Achse zur Mall wie folgt:
„Da die National Mall das Aufmarschgelände durch Rasenflächen und Wasserbassins ersetzt, wird der entscheidende Platz dem einzelnen eingeräumt, sei es bei der Teilnahme an der zeremoniellen Vereidigung eines neuen Präsidenten, beim Sonnenbad oder Spaziergang, sei es bei einer Demonstration oder dem Besuch der Museen oder Denkmäler.“[16]     

 

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Der Gestus der Erzählung, wie Ingo Schulze ihn vorführt, scheitert an der gespenstischen Einzigartigkeit des Bauwerks, für das ein eigener Name gefunden werden musste. Wie weit gehört das SA-Gefängnis in der gleichen Straße dazu? Welch monströse Schrecken mögen die Parzellen der Schrebergärten „Kolonie: General-Pape-Straße“ bergen? Lenken Sie nicht eher ab vom Beton und Schrecken? Auf dem Gelände des Informationsortes stehen im Sommer 2023 Bienenstöcke mit fleißig arbeitenden Fluginsekten. In den Hohlräumen des Bauwerks sind alte Messgeräte gleich einer Installation aufgestellt. Auf Fotografien von einstigen Synagogen-Standorten – Missing Synagogues – in Berlin kontrastieren Spielplätze, Kohlendepots etc. das Verschwinden der Synagogen mit der monströsen Präsenz des Betonzylinders. Melissa Gould schreibt 1991 dazu:
„(…) als ich die einzelnen Standorte auf meinem klapprigen Fahrrad abfuhr, wurde ich sehr bald von den Eindrücken der Erinnerung und den Fakten der Vergangenheit, kombiniert mit der leeren Trostlosigkeit der modernen Hässlichkeit, überwältigt. Da und dort waren einige Gedenktafeln angebracht, aber ein allgemeines Gefühl von Unwirklichkeit durchdrang die Präsenz des gegenwärtigen Alltagslebens (manchmal in Form eines Spielplatzes oder eines Kohlendepots), das sich so gelassen auf den früheren heiligen Stätten installiert hatte.“[17]  

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Das Bauen im Nationalsozialismus in einer Kombination aus Macht Raum Gewalt lässt sich schwerlich von der Architektur der Moderne abkoppeln. Der Berichterstatter hat mehr als 20 Jahre gebraucht, um den Informationsort Schwerbelastungskörper aufzusuchen. Freunde hatten teilweise mit einer gewissen Faszination von dem Bauwerk gesprochen. Diese Faszination war ihm unheimlich oder besser: fühlte sich unpassend an. In unzähligen Kontexten tauchten, die Fotos von Albert Speer mit Germania-Modellen wenigstens mit einer Größenfaszination auf. Mit der Weltpremiere von Speer Goes to Hollywood auf der Berlinale 2020(!)[18], einem Film, der dann bald wieder in den Archiven verschwand, rückte die Perfidität seines Protagonisten unangenehm näher. Doch warum der Architekt mit seinen Versprechen auf Größe keinesfalls Hitlers guter „Nazi“, sondern ein autoritärer, machtversessener und brutaler Haupttäter des Regimes war, wird erst und exemplarisch am Schwerbelastungskörper deutlich. Die Maske der Kunst und der Geschichte verbarg, das Projekt der Herrschaft durch Angst und Schrecken.

Torsten Flüh

PS: Eine Verlängerung der Ausstellung über den 16. Juli 2023 hinaus wäre wünschenswert.

Sinn und Form
Beiträge zur Literatur
Akademie der Künste (Hg.)
Heft 3/2023
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Akademie der Künste
Macht Raum Gewalt
Planen und Bauen im Nationalsozialismus
Pariser Platz 4
U/S-Brandenburger Tor
bis 16. Juli 2023    


[1] Zur Hangar-Architektur des Flughafens Tempelhof siehe: Torsten Flüh: Faszination und Versäumnis der künstlerischen Vielfalt Europas. Zur Großausstellung Diversity United in Hangar 2 und 3 des Tempelhofer Flughafens. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juni 2021.

[2] Ebenda.

[3] Siehe: Macht Raum Gewalt: Kernbotschaften und Themenfelder.

[4] Friedrich Dieckmann: Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? AdK: News 5.7.2023.

[5] Macht Raum Gewalt: … [wie Anm. 3].

[6] Cécile Wajsbrot: Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen. Aus dem Französischen von Esther von der Osten. In: Sinn und Form fünfundsiebzigstes Jahr, 2023, Drittes Heft, Juni 2023, S. 330.

[7] Ebenda S. 333.

[8] Ebenda S. 334-335.

[9] Yoko Tawada: Der Zylinderpilz – Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang. In: Sinn und Form. Ebenda S. 339.

[10] Ebenda S. 340.

[11] Ebenda.

[12] Siehe DWDS: Architektur.

[13] Yoko Tawada: Der … [wie Anm. 9] S. 347.

[14] Ingo Schulze: Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen ab. Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße. In: Sinn … [wie Anm. 6] S. 351.

[15] DWDS: promenieren.

[16] Ingo Schulze: Weisse … [wie Anm. 14] S. 361.

[17] Melissa Gould: Rooms of Memory: The Evolution Of An Idea. A biographical note on Floor Plan. 1991. Siehe: Melissa Gould A.K.A. MeGo. January 2012.

[18] Torsten Flüh: Bildgewaltige Faszination und Verstörung. Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2020.

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Juden – Antisemitismus – Reich

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag

Der Ort der Vorstellung der neuen, überarbeiteten und erweiterten Auflage des Berliner Antisemitismusstreits hatte es in sich: der Berliner Dom. Kaiser-Nostalgie und internationales Tourismus-Highlight. Im Berliner Dom predigte 1879/80 der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker. Nur wenige hundert Meter den Boulevard Unter den Linden hinauf geschlendert in der Berliner Universität hielt der Historiker Heinrich von Treitschke seine Vorlesungen über die Geschichte der Deutschen. Die räumliche Nähe in der noch jungen Hauptstadt des Kaiserreichs wurde zum Schnittpunkt eines qualitativ neuen Redens und Wissens über die jüdischen Bürger im Reich. Wilhelm von Treitschke dockte an den Begriff der „Antisemiten“ des Journalisten, Publizisten und Vereinsgründers Wilhelm Marr an, um ihn als einen akademisch-wissenschaftlichen Diskurs des „Antisemitismus“ auszuformulieren.

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Der Berliner Dom in seiner prunkvollen Architektur, wie sie durch die DDR in den 1980er Jahren restauriert worden ist, wurde 1905 geweiht. Stoecker predigte in seinem weniger ausladenden klassizistischen Vorgängerbau von Friedrich Schinkel. Nach der Reichsgründung 1871 war dieser Raum nicht mehr repräsentativ. Das Unbehagen des deutschen Kaisers aus dem Haus der Hohenzollern mit dem Dom korrelierte mit der Suche des dynastisch und nicht – wie 1848 versucht – demokratisch gebildeten deutschen Reiches nach sich selbst. Hof ebenso wie Kirche und Universität als Institutionen der Macht mussten, wie man heute sagen würde, ihre Meinungsführerschaft darüber, was das Deutsche am Reich sein sollte, beweisen. In dieses diskursive Vakuum hinein, begleitet vom sogenannten Gründerkrach 1873 in New York, Österreich-Ungarn, Deutschland, bricht der Berliner Antisemitismusstreit als ein neuartiges Wissen über die jüdischen Mitbürger.

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Der Altarraum des Berliner Doms war mit 4 Clubsesseln und einem Rednerpult zu einem Debattenraum für die Buchvorstellung umgewandelt worden. Thomas Sparr vom Suhrkamp Verlag, dem der Jüdische Verlag angehört, moderierte den Abend mit Nicolas Berg, Superintendentin Silke Radosh-Hinder und dem Schauspieler Garry Fischmann. Zuvor hatte Jonathan Landgrebe als Vorstandsvorsitzender der Suhrkamp AG einen historischen Überblick zur Situation um 1879/80 gegeben. Er verwies auf unterschiedliche Krisen in jener Zeit. Gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt der Begriff der Krise in entstehenden Zeitungen und Zeitschriften steil ansteigend in Gebrauch.[1] Die Wortverlaufskurve für Antisemitismus[2] zeigt deutlich eine Korrelation zwischen einem Beginn der Rede von Krisen noch im 18. Jahrhundert und dem Aufkommen wie Gebrauch des Antisemitismus‘ als Reaktion auf Krisendebatten.

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Welche Rolle spielte Adolf Stoecker als evangelischer Prediger der Hof- und Oberpfarrkirche, genannt Berliner Dom, für die Ausformulierung des Antisemitismus? Stoecker wollte sich ab dem 19. September 1879 vor allem parteipolitisch in der Debatte um Bismarcks Sozialistengesetz vom 19. Oktober 1878 positionieren. Mit dem Sozialistengesetz sollten im jungen 2. Reich vor allem die sozialen Konflikte der Industrialisierung neutralisiert werden, die Friedrich Wilhelm IV. schon 1848 durch Schüsse vor dem Berliner Schloss hatte bekämpfen lassen. Der Hofprediger Stoecker suchte sozusagen ein Ventil, um Dampf aus dem Kessel der Industrialisierung abzulassen. Bereits 1965 und 1988 hatte Walter Boehlich in seinem Nachwort zur Herausgabe der wichtigsten Dokumente wie Zeitschriftenartikel, Reden und Briefe zum Berliner Antisemitismusstreit die initiale Funktion des „Hofprediger(s) Adolf Stoecker“ für Heinrich von Treitschke – mit einem heute ganz anders klingenden Begriff – beschrieben: „Stoeckers öffentliches Auftreten zeigt einen Klimawandel an.“[3]  

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Die Verschiebung des Begriffes Klimawandel nach Walter Boehlich gibt einen Wink auf die sprachlich-rhetorischen Prozesse, mit denen Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke ein neuartiges Wissen von Nation und Reich, Juden und Deutschen sowie Parteipolitik und Antisemitismus erzeugten, in die Welt setzten und es bis auf den heutigen Tag beispielsweise durch den AfD-Politiker Alexander Gauland wiederholbar machten.[4] Sie schafften eine Redeweise für den Antisemitismus, die sich in ihrer elastischen, keinesfalls theologisch begründenden Art als hoch anschlussfähig für die unterschiedlichen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Biologie etc. erwies. Boehlichs „Klimawandel“ benennt einen Diskurswechsel, den Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke erzähl- und sagbar machten. Heute kursiert ein generationelles Wissen über den Klimawandel, der politische Debatten zutiefst strukturiert und mit der Generation Z bzw. Letzten Generation vermeintlich grenzenlos legitimiert.[5]

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Der Hofprediger und damit per Amt zugleich Seelsorger des Kaisers und seiner Familie Adolf Stoecker wird über die „Judenfrage“, wie er es nennt, zum theologischen Politiker. Den Begriff Antisemitismus verwendet er in seiner 1880 veröffentlichten Rede Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin nicht.[6] Gleichwohl führt Adolf Stoecker den Titel „Hof- und Domprediger zu Berlin“ auf der Titelseite. Im Untertitel wird sie als eine von „Zwei Reden in der christlich-sozialen Arbeiterpartei“ angekündigt. Die Grauzone von Prediger und Politiker bespielt Adolf Stoecker bewusst als theologisch legitimierender Parteipolitiker. Sie verschafft ihm allererst den Raum für seine Rede im Umfeld der kaiserlichen Macht in der Reichshauptstadt. Walter Boehlich hat das Zusammenspiel von Stoecker und Treitschke deutlich formuliert.
„Stoecker … schaffte (dem Antisemitismus) Einlaß in die Wahlversammlungen, er deckte ihn mit der Achtung, die einem Hofprediger durchaus entgegengebracht wurde, er machte ihn hoffähig. Aber hoffähig, das war nicht auch 1879 nicht genug. Sollte das Bildungsbürgertum für ihn gewonnen werden, dann konnte das nicht im Namen der Religion oder eines auch noch so verwaschenen Pseudo-Sozialismus geschehen; dann mußte der Antisemitismus nicht nur von der Kanzel, sondern vom Katheder verkündet werden. Diesen historischen Part hat Heinrich von Treitschke übernommen.“[7]

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Die „Judenfrage“ wird von Stoecker in der „christlich-sozialen Arbeiterpartei“ nicht zuletzt in einem marxistischen Diskurs von Kapital und Arbeit verhandelt[8], um den Sozialismus in einem anachronistischen, hierarchisch-monarchistischen Ständestaat zu neutralisieren. Insofern füllt die Beantwortung der „Judenfrage“ unter dem Namen „Antisemitismus“ eine Leerstelle in der Debatte um die sich mit der Industrialisierung zuspitzenden kapitalistischen Produktionsweisen, die sich im „Börsenkrach“ als reine Spekulation erwiesen hatten.[9] Die evangelische Kirche am Berliner Hof hatte mit Adolf Stoecker die Verpflichtung im mit den Hohenzollern evangelisch dominierten Deutschen Reich die Leerstelle der sozialen Frage im industriellen Kapitalismus zu besetzen. Nochmals mit einer Formulierung Walter Boehlichs:
„»Die Judenfrage, sagte Stoecker, ist schon lange eine brennende Frage; seit einigen Monaten steht sie bei uns in hellen Flammen.« »Unterdessen, schrieb wenig später Treitschke, arbeitet in den Tiefen unseres Volkslebens eine wunderbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selbst besänne …«“[10]    

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Die Evangelische Kirche in Deutschland formulierte am 19. Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, das hoch umstritten war. Damit bekannte sich die EKD halbherzig zur Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Erst „mit dem „Wort zur Schuld an Israel“, das im April 1950 auf der Synode in Berlin-Weißensee(!) beschlossen wurde, bekannte sich die EKD erstmals zur Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber Jüdinnen und Juden.“[11] Die initiale Rolle für den modernen Antisemitismus durch Adolf Stöcker hatte sie gar nicht im Blick, weil er durch den Diskurs nachgerade naturalisiert worden war. Nicht zuletzt deshalb kam der Buchvorstellung im Berliner Dom mit Superintendentin Silke Radosh-Hinder eine besondere Aufgabe zu. Am Schnitt- wie Brennpunkt des modernen Antisemitismus erklärte sie, dass Stoeckers Reden aus der Perspektive der EKBO und des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte eine „Sünde“ seien. Das Eingeständnis der Schuld als Sünde an diesem Ort hat für die Jüd*innen in Deutschland keine geringe Bedeutung. Sie ist allein dem persönlichen Engagement von Thomas Sparr und dem scheidenden Superintendenten Dr. Bertold Höcker zu verdanken.[12]

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Das Auf-sich-selbst-besinnen der Nation durch den Antisemitismus benennt zugleich dessen Leerstelle, die durch Treitschke formuliert und machtvoll benannt wird. Die Ursprungsfrage der deutschen Nation wird von Treitschke durch das Als-ob „sich auf sich selbst besänne“ mit dem Antisemitismus beantwortet. Boehlich trieb bei der Erstveröffentlichung 1965, wie Nicolas Berg schreibt, „die Sprachkritik“ an. Nach 1945 war die Sprache des Antisemitismus, die Treitschke entworfen hatte, nicht aus den Köpfen der Deutschen verschwunden. Vielmehr stieg der Gebrauch des Begriffs nach 1953 in den Zeitungen wieder an, um 1962 einen erneuten Höhepunkt zu erreichen. Ab 1963 bis 1974 fiel die Rede vom Antisemitismus wieder ab.[13] Nicolas Berg verweist darauf, wie sich nicht nur Worte und Formulierungen festsetzten:
„Viele der antisemitisch geprägten Formulierungen und Codewörter des 20. Jahrhunderts waren von Treitschke geprägt worden und hatten »im Kanon der Antisemiten geradezu sprichwörtliche Berühmtheit« erhalten, und Boehlich wollte mit diesen Denkfiguren brechen; zudem litt er auch an der fehlenden klaren Sprache über ihre Wirkung, die nach 1945 aber nötig geworden war, um die antisemitischen Formeln und Phrasen wieder aus der Sprache herauszubekommen.“[14]

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Die Sprachkritik Boehlichs betraf nicht zuletzt die Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland und damit die akademische Rede. Gleich einer pathologischen Amnesie war die Verschränkung von Ursprungsfrage der Deutschen mit dem Antisemitismus durch den Historiker Treitschke vergessen. Auf der Suche der Bundesrepublik nach sich selbst wurde der Antisemitismus entweder beschwiegen oder gar geleugnet wie bei dem befürchteten Büchner-Preis-Laudator Fritz Martini, der als ein „gerichtsnotorischer Nazi“ galt. Martini war seit 1954 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Als Beirat der Jury wirkte er 1957 an der Verleihung des Büchner-Preises an Erich Kästner mit.[15] Doch Boehlichs Befürchtung einer Laudatio von Fritz Martini wurde erst 1979 für den Friedrich-Gundolf-Preis an Zdenko Škreb wahr.[16] Zu einer Laudatio auf Wolfgang Hildesheimer kam es 1966 nicht, doch Fritz Martini war zum vollwertigen Jurymitglied aufgestiegen.[17]
„Bei Boehlich gehörte beides zusammen, und so schärfte er den Blick beim einen für das andere: Seine Kritik an Treitschke machte ihn hellsichtig und auch hellhörig für den Unwillen der bundesrepublikanischen Universitäten und des ganzen Politik- und Kulturbetriebs, eine angemessene Sprache für die eigenen Verfehlungen zu finden; der Ärger über die Martinis lenkte seinen historisch-editorischen Blick wieder zurück auf die Sprache der Quellen, sozusagen auf die sprachliche Verfasstheit des modernen Antisemitismus selbst, den er in der Nachfolge von Karl Kraus als Korrumpierung von Sprache und Denken, also als ein politisches Sprachereignis betrachtete.“[18]

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Die Veröffentlichung der Quellen des Berliner Antisemitismusstreits umfasste für Boehlich nicht nur Treitschkes folgenreichen Antisemitismus-Aufsatz, vielmehr ebenso „die Verteidigung der je eigenen Sprachidentität“ durch Joël, Bresslau, Lazarus, Cohen, Bamberger und Auerbach.[19] Nicolas Berg bringt Boehlichs Sprachkritik an Treitschke nun auf den Punkt:
„Generell gehörte das sprachlich-ideologische Hantieren mit absoluten Gegensätzen, Boehlich zufolge, zu Treitschkes Weltanschauungsstil; der hohe Aufwand Treitschkes, einander völlig ausschließende Wertewelten sprachlich zu konstruieren, die in religiösen oder nationalen Kollektiven verkörpert seien und sich unvereinbar gegenüber stünden – das eben war der Antisemitismus, darin bestand er, das war seine Intention, sein Ziel, seine Methode und seine sprachliche Form: Er produziert, verbreitet, legitimiert und politisiert Antinomien, Gegensätze und Ausschließlichkeit, Antisemitismus – das ist die Grenzziehung in und durch Sprache mit der Absicht, sie möge eine zweigeteilte Wirklichkeit in Wahrnehmung und Wissen, in Recht und Politik herstellen.“[20]

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Berg beschreibt Treitschkes Rhetorik des Antisemitismus nicht zuletzt deshalb genau, weil sie weiterhin kopiert wird und lebhaft kursiert. Treitschkes Sprache des Antisemitismus war in der Lesung durch Garry Fischmann kaum auszuhalten. Die Elastizität des „Sprachantisemitismus“ führt zur Sagbarkeit und zwingt „faschistisch“ zum Sagen und Aussagen, wie es Roland Barthes einmal in seiner Antrittsvorlesung am College de France formuliert hat. Mit der Geste des Wissens werden unablässig neue Antisemitismen formuliert, die nach Bejahung und Gebrauch lungern. Einmal gesagt, gehört oder gelesen zwingen sie zu Anschluss oder Widerspruch, der dem Wissen dennoch nicht entkommen kann.    
„Und es gehörten, drittens, auch schlicht rhetorische Tricks zu diesem Sprachantisemitismus, die Treitschke auch dort verrieten, wo er in »Unsere Aussichten« Beschwichtigungen vortrug, Distanzierungen vom Radauantisemitismus der Straße zum Beispiel. Antisemitismus, das machte bereits Boehlich deutlich, konnte somit zum bösen Sprachspiel werden, mit der »Behauptungen« aufstellen konnte, »für die er keinen einzigen Beweis« erbringen musste.“[21]

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Besonders eindrücklich war die Lesung der Briefe von Berthold Auerbach durch Garry Fischmann, in denen von „Judenhass“ und „Judenhetze“ nicht aber von „Antisemitismus“ geschrieben wird. Diese Briefe sind von Nicolas Berg in die Quellensammlung neu aufgenommen worden, weil durch das „Briefwerk … seit den 1870er Jahren mit der Aufmerksamkeit der Bruch in der öffentlichen Kommunikation und der Sprache aus der präzisen Sicht eines deutsch-jüdischen Schriftsteller dokumentiert“ werde.[22] Die andere Lexik der Briefe gibt einen Wink auf den Begriff und seine Konstruktion selbst. Dennoch wird der Begriff Antisemitismus heute ebenso für die antijüdischen Schriften Martin Luthers wie für einen ganzen Wissenschaftsbereich als Antisemitismus-Forschung gebraucht. Er hat sich zur Benennung von Schreibweisen und Verhalten festgesetzt, weil er paradoxerweise wissenschaftlich „klingt“. „Judenhass“ und „Judenhetze“ erheben gerade keinen Anspruch einer wissenschaftlichen Begründung.

Die Sprachforschung oder Linguistik gibt einen Wink auf die Wortteile, die ein Wissen ankündigen. Durch das Präfix anti- wird nicht nur eine gegnerische Haltung mit einem polarisierenden Element verkoppelt, vielmehr wird mit dem Suffix -ismus ein abwertendes Ideologem zusätzlich hinterhergeschickt, das den verfehlenden Mittelteil semit einschließt. Als semitische Sprachen wird seit dem 18. Jahrhundert eine Sprachfamilie benannt, die biblischen Ursprungs ist und die eine Genealogie erzeugen. Treitschke dockt allerdings an ein Wissen von den Sem an, das er zu einer rassischen Unterscheidung verwendet. Eingedenk der sprachlichen Fehlkonstruktion insbesondere bezüglich aller deutschsprechenden Jüd*innen, mag es verwundern, dass der Begriff weiterhin politisch als Wissen funktioniert. Umso mehr tritt Treitschkes diskursive Leistung als Verbrechen hervor.

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Das Imaginäre des Antisemitismus wird von dem Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke an der Berliner Universität im Dienste einer Nationenbildung als Reich formuliert. John Conolly hatte er vor kurzem das Imaginäre des Reichs in der American Accademy untersucht.[23] Das Feld des imaginären Reichs überschneidet sich mit dem Antisemitismus, der nicht etwa ein nebensächlicher Aspekt, sondern durch Treitschke ein konstitutiver wird. Durch seine Sprachoperationen gelingt es Treitschke mit dem Antisemitismus, eine Reinheit des Reiches unter rassistischen Vorzeichen zu konstruieren. Die vermeintlich christliche Reinheit „wurzelt“ paradoxerweise in einem heidnischen Germanentum, das an körperlichen Merkmalen sichtbar gemacht wird. Für das Reich spielt im 19. Jahrhundert Martin Luther als Autor, Übersetzer und Sprachentwickler eine entscheidende Rolle. Ab 1821 werden mit der historisierenden Luther-Statue von Schadow nach und nach Lutherdenkmäler im protestantischen Deutschland errichtet.

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Eine judenfeindliche Sprache im Deutschen hatte sich seit Martin Luther im 16. Jahrhundert tief in die deutschen Literaturen eingeschrieben. Luther und seine Sprache werden für das Reich eine einende Funktion einnehmen. Ob 1543 in seiner Schrift Von den Jueden und iren Luegen oder in der Vermahnung wider die Juden 1546, sie erfahren eine besondere Wahrnehmung.[24] Luthers Sprache, sein Deutsch pendelt zwischen Narrativen des Judenhasses und Sprachpoesie[25], wenn sich beispielsweise „Jueden“ und „Luegen“ reimen. Die Narrative bekommen Züge des Aberglaubens, wie Matthias Morgenstern 2017 ausgeführt hat:
„Wie Luther am 1. Februar 1546 seiner Frau Katharina schrieb, verdächtigte er die Juden, für seine gesundheitlichen Probleme, sein „Schwäche“, verantwortlich zu sein. Jedenfalls hatten sie ihn unterwegs „hart angeblasen“:
So sind hier in der Stadt Eisleben jetzt diese Stunde über fünfzig Juden wohnhaft. Und wahr ist’s, als ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen ein auf meinen Kopf, durchs Barett, als wollte er mir das Hirn zu Eis machen. Solcher mag mir zum Schwindel etwas geholfen haben.“[26]

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Luthers Ängste – im Berliner Dom steht er als Autorität hoch über dem Altar mit einer Art Genie-Frisur und der Bibel in der Rechten furchtlos wirkend – kurz vor seinem Tod am 18. Februar 1546 werden in den Juden narrativ verkörpert. Sie vermögen ihm das Denken einzufrieren – „mir das Hirn zu Eis machen“. Das alleinige An-ihnen-vorbeifahren wird als gesundheitliche/intellektuelle Gefahr bzw. als Machtverlust in Form der „Impotenz“, wie Morgenstern schreibt, imaginiert. Juden imaginiert Luther als feindliche Macht, die seiner Kraft zu schaden vermögen. Doch entspricht dieser Aberglaube und wirklich volkstümlicher Gegenglaube zum Christentum bei Luther dem modernen Antisemitismus Treitschkes? Die Redeweisen sind sehr unterschiedlich. Für das Deutsche Kaiserreich des 19. Jahrhunderts übernimmt die Figur Luther eine einigende Funktion, für die Redeweisen transformiert werden, um sie in den Diskurs des Antisemitismus einzuspeisen. Die Wissensformen Luthers wie sein Aberglaube unterscheiden sich signifikant vom elastischen Antisemitismus. – In der Architektur des Berliner Doms wird zumindest mit LUTHER die Lösung der Widersprüche der Industrialisierung behauptet. Finanziert von Industrie und Kirchenbauverein ist er mit dem elektrischen Fahrstuhl für die Mutter des Kaisers eine machtvolle Demonstration des Kapitals.  

Torsten Flüh

Hg.: Walter Boehlich, Nicolas Berg
Der Berliner Antisemitismusstreit
Klappenbroschur, 544 Seiten
978-3-633-54311-3
Jüdischer Verlag, 1. Auflage
28,00 € (D), 28,80 € (A), 38,50 Fr. (CH)
ca. 13,0 × 21,0 × 3,6 cm, 610 g


[1] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1600“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Krise.

[2] Ebenda Antisemitismus.

[3] Walter Boehlich: Der Berliner Antisemitismusstreit. In: Nicolas Berg (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Berlin: Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, 2023, S. 457.

[4] Zur Verkoppelung von Nation als Reich in Alexander Gaulands „Fliegenschiss-Rede“ siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[5] Zu generationellen Klimaprotesten siehe: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[6] Adolf Stöcker: Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin. O.O.: Wiegandt und Grieben, 1880. (Wikisource).

[7] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 457-458.

[8] Vgl. zum Kapitalismus und den Ökonomischen Schriften Karl Marx‘: Torsten Flüh: Der MEGA-Coup. Zum Abschluss der „Kapital-Abteilung“ der Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2013. (PDF unter Publikationen)

[9] Siehe zur Geschichte des Börsenkrachs und des Spekulierens: Torsten Flüh: Das Börsengesumse und das Rauschen des Eichwaldes. Ulrike Vedders Vortrag „Spekulieren und ruinieren.“ In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Januar 2010. (PDF unter Publikationen)

[10] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 458.

[11] Siehe: bpb: Kurz und knapp: Vor 75 Jahren: „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der Evangelischen Kirche. 16.10.2020.

[12] Zur Funktion der Schuldbekenntnisse in der EKBO siehe: Torsten Flüh: Redet freundlich miteinander. Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021.

[13] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1946“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Antisemitismus.

[14] Nicolas Berg: Einführung. In: ders. (Hg.): Der … [wie Anm. 3] S. 46.

[15] Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Erich Kästner.

[16] Ebenda Fritz Martini: Laudatio. Zdenko Škreb.

[17] Ebenda Walter Jens: Laudatio. Wolfgang Hildesheimer.

[18] Nicolas Berg: Einführung … [wie Anm. 14] S. 46-47.

[19] Ebenda S. 47.

[20] Ebenda S. 48.

[21] Ebenda S. 49.

[22] Ebenda S. 53.

[23] Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[24] Der Judenhass Martin Luthers wurde in der Ausstellung des DHM Der Luthereffekt marginalisiert. Siehe: Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[25] Siehe Torsten Flüh: Performative Sprachpoesie mit Luther. Zu Robert Wilsons faszinierender Luther-Collage mit dem Rundfunkchor Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[26] Matthias Morgenstern: Luther letzte Tage in Eisleben und seine „Vermahnung wider die Juden“ – Judenhass, Teufelsfurcht, Impotenz und Angst vor dem Jüngsten Gericht. In: Judaica : Beiträge zum Judentum. Band 73 (2017), S. 448. (Digital)