Visuelle Musik – Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin

Kombinatorik – Musik – Visualität

Visuelle Musik

Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth

Igor Strawinsky hat in seinen Kompositionen wiederholt das Visuelle bedacht, bearbeitet und kommentiert. Die Wahrnehmung der Musik im Konzert wurde von ihm früh mit dem Stück L’Histoire du Soldat (1918) konzeptuell bedacht. Indem er durch narrative Kompositionen für das Ballett wie L’Oiseau de feu (1910) zu Beginn des 20. Jahrhunderts berühmt wurde, setzte er sich frühzeitig mit einem Wahrnehmungsbereich der Musik auseinander, der bis in das Spätwerk des Canticum Sacrum ad honorem Sancti Marcis nominis (1955) fortwirken sollte. Die Kantate zu Ehren des Heiligen Markus wurde im prunkvollen Markusdom von Venedig unter Einsatz der Orgel als Königin der Instrumente mit Wiederholung uraufgeführt. Der visuelle Effekt der verschwenderischen Instrumentierung der Ballettmusiken in eine enorme Musikmaschine wirkte nicht zuletzt bis in die Erwartungen der venezianischen Auftraggeber für die Kantate fort.

Beim Musikfest Berlin ließ sich nicht nur der Visualität von Musik im Kleinen wie bei der L’Historie du Soldat durch die Stargeigerin Isabelle Faust und Dominique Horwitz mit Freunden nachspüren, vielmehr wurden vom freien nordfranzösischen Sinfonieorchester Les Siècles mit dem Rundfunkchor Berlin die Markus-Kantate mit Orgel, das in Berlin 1931 im neuen Haus des Rundfunks an der Masurenallee uraufgeführte Violinkonzert Concerto en ré und Le Sacre du printemps unter der Leitung des detailversessenen François-Xavier Roth gespielt. Dass die Ballettmusiken von Igor Strawinsky heute meistens von großen Orchestern als Konzert aufgeführt werden, hat nicht zuletzt mit ihrer Visualität zu tun. Der ganz große Orchesterapparat der Jahrhundertwende wird in Aktion versetzt. Strawinsky wollte nach einer Überlegung zu L’Histoire du Soldat, dass das Publikum sieht, wie Musik gemacht wird.

Ist es nicht ein Paradox, dass Strawinskys Kompositionen für das Ballets Russes – L’Oiseau de feu, Le Sacre du printemps und Petruschka – heute überwiegend als Konzert aufgeführt werden? Der Feuervogel wurde im Tempel der Oper des 19. Jahrhunderts in der Pariser Opéra am 25. Juni 1910 zum ersten Mal gezeigt. Le Sacre du printemps wurde im seinerzeit mit 2.000 Plätzen noch größeren, neu erbauten Grand Théâtre des Théâtre des Champs-Élysée knapp drei Jahre später uraufgeführt. Die Dimensionen der Instrumentierung bezogen sich nicht zuletzt auf die Möglichkeiten der größten Konzertpodien ihrer Zeit. Aktuell wird das Grand Théâtre in Paris u.a. von den Wiener Philharmonikern bei Gastspielen in Paris genutzt. Les Siècles bot insofern mit z.B. fünffach besetzten Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten und Trompeten sowie den 8 Hörner inklusive 2 Tenor-Wagnertuben einen schon visuell beeindruckenden Orchesterapparat mit historischen Instrumenten.

© Philippe Rebosz

Nach der Reihenfolge der Aufführungen begann Les Siècles zunächst in der kleineren Besetzung der selten aufgeführten Markus-Kantate mit dem Rundfunkchor Berlin und John Heuzenroeder, Tenor, sowie Miljenko Turk, Bariton, unter der Leitung von François-Xavier Roth. Anders als die Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel mit dem Text des Psalm 110, der durch die Komposition in der Aussage gefühlsgeschichtlich transformiert wurde, oder Johann Sebastian Bachs Christ lag in Todes Banden nach einem Text von Martin Luther, wie sie von Sir John Eliot Gardiner zu hören waren[1], komponierte und kombinierte Igor Strawinsky 1955 einen eignen Kantatentext, der nur drei Texte aus dem Evangelium nach dem Apostel Markus enthält. Bereits dieses Kombinationsverfahren für die neue Kantate gibt einen Wink auf Strawinskys eigenwillige Komposition. Er arbeitete sich auf autonome Weise in die Kantatenliteratur ein, um eine für ihn stimmige Version zu komponieren.

© Philippe Rebosz

Igor Strawinskys Gesang zur Ehre des heiligen Markus folgt vom Umfang und Form der Kantatenliteratur, während durch die Kombinatorik der biblischen Texte – Evangelium nach Markus, Hohes Lied, Deuteronomion und Psalmen – eine eigene Textologie generiert wird, „die rhetorische Strukturen, Metaphern, grammatische Besonderheiten und intertextuelle Bezüge“ betrifft.[2] Mit dem Zitat des Hohen Liedes IV, 16 nimmt Strawinsky auch eine Profanierung des Kantatentextes vor, insofern die Liebe im zweiten Gesang erotische Züge annimmt. – „Comedite, amici, et bibite; et inebriamini, carissimi./Esst Freunde, und trinkt und werdet trunken von Liebe.“ – Im dritten Gesang wird im ersten Teil mit dem Titel Caritas/Liebe der Liebesdiskurs der Kantaten mit Moses V, VI, 5 weiter ausgeführt. Spes/Hoffnung und Fides/Glaube werden im dritten Gesang mit poetischen Psalm-Zitaten beschrieben. Die Montage der Psalm-Zitate lässt mit unterschiedlichen musikalischen Mitteln wie Orgelvorspiel, Bläserhymnen, Chor- und Soli-Blöcken eine eigene Dramaturgie der Kantate entstehen.

Insbesondere die Montage der Psalmen 125 und 130 des Teils Spes/Hoffnung, löst die gleichwohl poetischen wie religiösen Kontexte der Psalmen auf. Strawinsky spaltet die Psalmen auf und montiert einzelne Satzteile neu. Auf diese Weise wird die Hoffnung neu komponiert, indem sie verdichtet wird, was sich als ein Stilmittel von Strawinskys moderner Kantate im 20. Jahrhundert beschreiben lässt. Das Montageverfahren als ein spezifisch modernes ließe sich ebenso als neuartiges in der Kantatenliteratur beschreiben, wenn die Psalmen nicht immer schon nahelegten, dass sie durch eben diese poetische Textologie entstanden sind. Die besondere Elastizität der Sprache in der Psalmenliteratur richtet sich auf Wiederholungen, Wechselgesänge und nicht zuletzt sinnliche Überlagerungen.
„Die auf den Herrn hoffen …“ (Psalm 125,1)
„Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort …“ (Psalm 130,5)
„… werden nicht fallen …“ (125,1)
„Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.“ (130,6)
„… sondern ewig bleiben wie der Berg Zion.“ (125 1-2)   

Die Uraufführung der Kantate mit ihrer bedenkenswerten Instrumentierung – Soli, vierstimmiger gemischter Chor, Flöte, Oboen, Englischhorn, Fagotte, Trompeten und Posaunen, sowie Harfe und Orgel, neben Violen und Kontrabässen[3] – zitiert insbesondere mit der Orgel die Kantatenliteratur und erweitert sie beispielsweise mit den Tenor-, Bass- und Kontrabassposaunen ins Dramatische. Am 13. September war die Kantate exakt 65 Jahre zuvor unter der Leitung Strawinskys im Markusdom mit einer Wiederholung als gesellschaftliches Konzertereignis aufgeführt worden. Denn die Auftraggeber hatten bemängelt, dass das Stück zu kurz sei, weil sie „für das große räumliche Spektakel und das hohe Honorar auch einen entsprechenden zeitlichen Rahmen erwartet“ hatten.[4] Die Kantate wird im Markusdom zum gesellschaftlichen Großereignis, indem sie nicht an einem 25. April, dem Namenstag des Heiligen Markus, dessen Reliquien im Markusdom von Venedig aufbewahrt werden[5], sondern zu Beginn des Venice International Festival of Contemporary Music uraufgeführt wurde.[6] Anders gesagt: Es findet eine programmatische Verschiebung der Kantate aus der Liturgie in ein Konzertformat statt.

© Philippe Rebosz

Die Musikkritik, die am 24. September 1956 im New Yorker Time-Magazin veröffentlicht wurde, trägt den kriminalliterarischen Titel Murder in the Cathedral. Wenigstens in der Kathedrale hatten sich die 130 Musikkritiker unter den 3.000 Gästen aus aller Welt eine andere, womöglich auch „mehr“ Musik von Igor Strawinsky erwartet. Stattdessen hörten sie wie am 13. September in der Philharmonie eine 17minütige Kantate, die nicht nur musikalisch die Regeln des Genres verletzte und erstmalig erweiterte. Das Dirigat selbst wird visuell zur Mordtat nach der Beschreibung des Kritikers, der sich rhetorisch ganz in der eingeschworenen Gemeinde der Musikkenner verortet: „Das Publikum in der Kathedrale war gespannt vor Erwartung, als der alternde (74) Komponist selbst auftrat, der wie ein animierter gotischer Wasserspeier aussah. Er dirigierte mit geballten Fäusten und hölzerner Wut („Er liebt es zu dirigieren“, flüsterte ein Zuhörer, „aber er kann es nicht“), während Blitzlichter die Dunkelheit durchbohrten und die goldenen Schätze der Kathedrale erhellten.“[7]

© Philippe Rebosz

Durch die visuelle Beschreibung des Dirigats und die Kontrastierung von „animierte(m) gotische(n) Wasserspeier“ mit den „goldenen Schätze(n) der Kathedrale“ stimmt der Musikkritiker des Time-Magazins einen geradezu feindseligen Ton an. Die Kritik wird ein Verriss nicht nur des Komponisten in seiner körperlichen Erscheinung, vielmehr noch schüttet sich der zwar namenlose, doch in dem tonangebenden Magazin einflussreiche Musikkritiker in der Rhetorik des Hohns über das mit 50 Musiker*innen besetzte Orchester aus: „An anderer Stelle wogte der 70-stimmige Chor mit kraftvollem Gesang und besiegte das quietschende, dröhnende, 50-köpfige Orchester.“[8] Aufschlussreich ist an dieser Formulierung, wie die visuelle Wahrnehmung – surged/wogte – des Chores in das Auditive eines Kampfes – defeating/besiegte – nahtlos in einander übergeht. Die bemerkenswerte nicht zuletzt visuelle Größe des Chores und des Orchesters wird verhöhnt, um sich selbst von den Kritikern abzugrenzen: „Die Kritiker waren keine Hilfe, sie brachten Sätze wie „seltsame Desorientierung“, „mystifizierende Dekadenz“, „verärgernd“ vor. Aber treue Strawinsky-Jünger staunten über die schöpferische Energie des alten Mannes.“[9]

© Philippe Rebosz

Die Rezension des Canticum Sacrum ad honorem Sancti Marcis nominis als Hauptattraktion des 1930 gegründeten Venice International Festival of Contemporary Music, das sich somit im 26. Jahr befand und in der Venice Biennale Musica aufgegangen ist, gibt einen Wink auf die Schwierigkeiten des Genres selbst. Statt der Beschreibung des Gehörten, der Musik und des Textes wird Anekdotisches kolportiert und zu einem rhetorischen Stimmungsbild verwoben. Was „quietsch(te)“ und „dröhn(te)“, war eine nicht mehr ganz neuartige Kompositionsform, die unter Komponisten und Forschern als Kontrapunkt oder Zwölftonmusik diskutiert wurde. Die Suche nach neuen Formen und Praktiken interessierte offenbar nicht einmal das Publikum eines Festivals für zeitgenössische Musik. Was zog, so kann man zwischen den Zeilen des Time-Magazins lesen, waren die Bekanntheit des Komponisten, die aufwendige Größe und der Veranstaltungsort. Der Einsatz der Orgel beispielsweise wird gar nicht erwähnt.

Die Bekanntheit Igor Strawinskys durch seine epochalen Kompositionen für das Ballett führte offenbar dazu, dass ein Großteil der Kritik und des Publikums ihm eine kompositorische Weiterentwicklung verwehrte. Die Resonanz zur Aufführung des Canticum Sacrum gibt dafür einen Wink. Man wollte hören und sehen, was man kannte. Dieses Wissen stand dem Interesse für neue Entwicklungen entgegen. Insofern als das Konzertprogramm von François-Xavier Roth mit dem Orchester Les Siècles genau den umgekehrten Weg des Wissens vorschlug, wurde die musikalische Qualität und Originalität der Komposition in den Raum gestellt. Die Markus-Kantate bietet nicht eine Spur „russisches“ Kolorit, während eine Kollegin und Sitznachbarin auf das „Russische“ im Violinkonzert geradezu entzückt reagierte. Das Concerto en ré mit Isabelle Faust von 1931 sollte an ein Musikwissen des Russischen aus mehreren Gründen anknüpfen. Andersherum verrät das Canticum sacrum etwas über das Missverständnis vom „russischen“ Komponisten Igor Strawinsky.

Mit dem chronologisch gegenläufigen Konzertprogramm wurde Igor Strawinsky als ein Komponist ins Interesse gerückt, der bis ins hohe Alter neue Musikentwicklungen nicht nur wahrnahm und ausprobierte, sondern sich nach einer Anekdote zutiefst überzeugt zeigte von Transformationen der Musikliteratur. Das hatte schon die Aufführung der Movements mit Tamara Stefanovich und dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von George Benjamin beim Musikfest gezeigt.[10] Er verstand sich selbst mehr als ein forschender als ein wissender Komponist, wenn er sagte: „“Who says it’s twelve-tone?“ Stravinsky snapped. „In a few years people will not care whether it’s twelve, 16, or 24, or any other number. They will understand.““[11] Treffsicher zitierte und persiflierte Strawinsky das Zahlenwissen[12], das seit der Moderne als Wissensmodus schlechthin gilt. Doch das Verstehen von Musik und des Canticum Sacrum lässt sich nicht mit Zahlen erfassen, wohl aber wenn die Kantatenliteratur bedacht und erinnert wird.

Das Concerto en ré kündigt bereits Igor Strawinskys Arbeiten am Musikwissen an. Im Violinkonzert mit großem Sinfonieorchester gibt es noch thematische Spuren seines Lehrers Nikolai Rimski-Korsakow, der in der Konzertmusik des 19. Jahrhunderts allererst einen russischen Farbton mit ausarbeitet. Im Concerto, obwohl mit vier Sätzen als Toccata, Aria 1, Aria 2 und Capriccio ausgearbeitet, erklingen sehr tänzerische Passage, die mit ariosen Passagen der Violine wechseln. Obzwar Strawinsky das Konzert für den polnisch-amerikanischen, also keinesfalls russischen Geiger Samuel Dushkin komponierte, stellt sich beim Hören des Concerto mit Isabelle Faust und Les Siécles eher ein weiblicher Klang ein. Faust spielt mit ihrem ganzen Körper kraftvoll und zart die Violine. Sehr reizvoll wird der dunkle, schwere Takt in den Kontrabässen gegen das Tänzerische der Violine kontrastiert. Zugleich fordert Strawinsky allerdings nicht die höchste Virtuosität von der Violinist*in. Isabelle Faust erhielt brandenden Applaus für ihre Aufführung, so dass sie mit Klarinette und 4 Bläser*innen eine Zugabe geben musste.

Mit Le Sacre du printemps zum Abschluss des Konzerts war das Programm sozusagen beim Strawinsky-Wissen angekommen. Das epochale Orchesterwerk ist wohl die bekannteste Komposition, die häufig auch verklärt, in ihrer Radikalität mit dem vorherrschenden Rhythmus und Schlagwerk unterschätzt und zum Träumen gebraucht wird. Im Juni 2017 hatte Sir Simon Rattle am gleichen Ort mit den Berliner Philharmonikern einen „schonungslosen Le Sacre du printemps“ als ein „Enden der Melodie“ aufgeführt.[13] François-Xavier Roth dirigierte das Frühlingsopfer mit Les Siècles ebenfalls schnell und pointiert. Wiederum stellte sich bei mir das Gefühl ein, dass Stravinsky mit dieser Komposition unter schönen Titeln wie „Kuss der Erde“ oder „Tanz der Erde“ bis „Heiliger Tanz: Die Auserwählte“ der Musik die Melodie hätte austreiben wollen. Das sehr große Schlagwerk dominiert die Musik, gegen das die Melodien z.B. der Klarinette kaum noch eine Chance haben. Das lässt sich nicht zuletzt visuell wahrnehmen. Das Schlagwerk ist ebenso vielfältig wie massiv. Strawinsky war gegen das Hören von Musik mit geschlossenen Augen.

Mit L’Histoire du Soldat wollte Strawinsky in einer Musiktheaterproduktion, dass das Publikum sieht, wie Musik gemacht wird. In seiner Autobiographie hat er detailliert Auskunft über den Produktionsprozess und die konzeptuellen Überlegungen zwischen „Dynamik“ und Beschränkung hinsichtlich der Instrumentierung gegeben.[14] In den instrumentalen Gruppen beschränkte er sich auf „die repräsentativen Typen (…) von den Streichern als Violine und Kontrabaß; von den Holzbläsern die Klarinette – weil sie das größte Register hat – und das Fagott; vom Blech Trompete und Posaune und endlich Schlaginstrumente, soweit sie von einem Musiker bedient werden können“. Doch die Violine spielt in der Geschichte eine ebenso dramaturgische wie dramatische Rolle, was vom Vorleser (Dominique Horwitz) vielstimmig erzählt wird:
„… Er gräbt tiefer noch hinab
und zieht zuletzt aus seinem Sack
eine kleine Geige mit zerkratztem Lack.
Er dreht sie um und um. Der Fund, der macht ihn stolz.
Die rauhen Finger streichen zärtlich übers rote Holz,
sie kosen Geigenhals und Steg und Saiten:
das sind die Notenlinien, sagt man unter Leuten.“[15]

© Monika Karczmarczyk

Das Musikmachen wird vom Soldaten vorgespielt, indem er „(v)ersucht, die Geige zu stimmen“ und das „Stimmen“ selbst zum Problem wird. – „Man merkt’s ich habe sie vom Brockenhaus,/da kommt man aus dem Stimmen nicht heraus …“[16] – Ein endloses Stimmen kündigt sich an. Die Verschränkung von Geschichte und Musikmachen mit der Geige durchzieht die gesamte Erzählung. Die Geschichte erzählt in einer Bandbreite vom Finden der Geige, über ihre Kraft in der Liebe – „Hört, mein Fräulein, laßt euch sagen,/Durch seine Geige werdet ihr gesunden.“ [17] – bis zur Gewalt des Teufels Begebenheiten vom Machen der Musik. Denn der Teufel will dem Soldaten unbedingt die Geige entwinden, um schließlich mit ihrem Spiel den Soldaten gefügig zu machen, wenn es in der Regieanweisung heißt:
„… Der Teufel hat wieder die Geige. Er spielt. Musik: Triumphmarsch des Teufels. Der Soldat hat den Kopf gesenkt. Er folgt dem Teufel, der ihn geigend vor sich hertreibt, langsam, aber ohne Widerstand. Man hört hinter der Bühne rufen. Der Soldat zögert, aber der Teufel drängt. Sie verlassen die Bühne. Man ruft nochmals. Der Vorhang fällt.“[18]

© Monika Karczmarczyk

Die Ambiguität der Musik und des Machens von Musik beschränkt sich keineswegs nur auf ein historisches Soldatenleben am Ende des Ersten Weltkriegs, vielmehr funktioniert das Märchen aus der Sammlung von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew in der Bearbeitung von Ramuz als eine Parabel auf das Leben. Der Besitz der Geige stellt sich nicht nur beim Stimmen als schwierig heraus, es wird auch schwierig, dass das Leben nicht nur für Soldaten stimmt zwischen Freiheit, beethovenscher Idylle am Bach und finaler Existenz in Zwängen. Es ist bisweilen absurd und verstimmt, was nicht zuletzt in der Violine (Isabelle Faust) hörbar wird. Wolfgang Burde hat für Die Geschichte vom Soldaten auf die Performativität des Stückes hingewiesen:
„Strawinskys Ästhetik der »offenen Karten«, …, sein Gespür für verborgene Sinnzusammenhänge in kühnen Arrangements visuell verschiedenartiger Elemente führte zwangsläufig zu einer »neusachlichen« Musiktheater Konzeption, deren literarische, visuelle und musikalische Bausteine in der Geschichte vom Soldaten dann nurmehr locker aufeinander bezogen waren, der grundlegenden Konzeption so eine neue Qualität zuweisend.“[19]

Isabelle Faust, Dominique Horwitz und deren Freunde verzichteten auf eine szenische Einrichtung der Geschichte, was der Konzentration auf die Musik und die vielstimmige Erzählung zu gute kam. Dominique Horwitz zog alle stimmlichen Register als Vorleser, Soldat, Teufel und Prinzessin. Einerseits lockte eine hohe Verständlichkeit des Textes, andererseits tendiert der Text selbst zum Musikalischen in seiner Vielstimmigkeit. Das ist bereits bei Ramuz angelegt, weil die Erzähltexte des Vorlesers ins Dramatische übergehen. Wenn es in der Geschichte vom Soldaten im Untertitel heißt „gelesen gespielt und getanzt“, dann geht es mit dem Lesen um einen komplexen kognitiven Vorgang, in welchem Visuelles und Auditives mit einander verschränkt sind, um die Vieldeutigkeit der Musik Gehör zu verschaffen. Die kluge, bis ins Virtuose gehende Aufführung erhielt begeisterten Applaus.

Torsten Flüh  

Musikfest Berlin im Radio bis Oktober 2021


[1] Siehe: Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[2] Zur Textologie vgl. auch Monika Leipelt-Tsai: Spalten – Herta Müllers Textologie zwischen Psychoanalyse und Kulturtheorie. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015, S. 7.

[3] Musikfest Berlin: Les Siècles Rundfunkchor Berlin François-Xavier Roth: Igor Strawinsky. Berlin 2021, S. 6.

[4] Martin Wilkening: Wie Strawinsky auf immer andere Weise sich selbst treu blieb. Ein Lebensweg, rückwärts erzählt in drei Kompositionen. In: Ebenda S. 10.

[5] Vgl. Der Heiligenkalender: Namenstage: Markus.

[6] Time: Music: Murder in the Cathedral. Monday, Sept. 24, 1956 (S. 44).

[7] Übersetzung T.F. nach ebenda.

[8] Übersetzung T. F. nach ebenda.

[9] Ebenso.

[10] Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[11] Time: Music: Murder … [wie Anm. 6].

[12] Zum Zahlenwissen siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[13] Torsten Flüh: Das Enden der Melodie. Sir Simon Rattle treibt die Berliner Philharmoniker zu einem schonungslosen Le Sacre du Printemps. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 9, 2017 21:14.

[14] Vgl. dazu das Zitat in Wolfgang Burde: Strawinsky. Mainz: Schott’s Söhne, 1982, S. 116.

[15] C. F. Ramuz/Igor Strawinsky: Die Geschichte vom Soldaten. gelesen gespielt und getanzt. London: J. u. W. Chester Ltd., 1925 (Kopenhagen: Wilhelm Hansen, Musik-Forlag … um 1975) S. 1.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda S. 14.

[18] Ebenda S. 16.

[19] Wolfgang Burde: Strawinsky … [wie 14] S. 115/116.

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