Die neue Radikalität und Ethik in der Musik

Ethik – Forschung – Komponieren

Die neue Radikalität und Ethik in der Musik

Zu den Konzerten Pulp Science und (Musical) Ethics Lab 6 bei MaerzMusik 2024

Die Position des Dirigenten steht in der zeitgenössischen Musik schon seit geraumer Zeit zur Debatte. Im Rahmen des diskursiven Festivals MaerzMusik 2024 wurde sie mit 2 Konzerten auf radikale Weise in der Praxis ausgelotet. Das Black Page Orchestra wurde 2014 in Wien gegründet und feiert mit Pulp Science sein 10jähriges Jubiläum. Ein Orchester des 21. Jahrhunderts in vieler Hinsicht, das mit seinem Namen an die Rockmusik andockt, insofern Frank Zappa 1978 in New York das Stück The Black Page veröffentlichte, das seinerseits so viele Noten auf einer Seite präsentierte, dass sie fast schwarz war. Das Berliner Splitter Orchester und das Trondheim Jazz Orchestra präsentierten in der Akademie der Künste ihr (Musical) Ethics Lab 6 ganz ohne Dirigent*in als Ergebnis ihres Workshops zur Ethik beim Musikmachen.

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Braucht das Orchester der Zukunft in seiner ethischen Praxis keine Dirigent*in mehr? Obgleich das (Musical) Ethics Lab 6 im Unterschied zur Pulp Sciences von den so friedvoll ausgerichteten Fragen der Ethik ausgeht und strukturiert wird, das Konzert selbst zu einer Performanz der Ethik wird, ist seine Praxis nicht weniger radikal und kompromisslos als die des Black Page Orchestras. Zudem trugen mehrere Ensemblemitglieder weiße T-Shirts mit der Aufschrift „CEASE FIRE NOW“. Die Frage der Ethik spielt nicht nur bei einem Konzert und dem Musikmachen eine oft verwickelte Rolle, der Aufruf zum Waffenstillstand im Gazastreifen und Israel stellt ebenso wie im Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine die Ethik bis zum aus ihr formulierten Pazifismus aktuell vor schwierige Entscheidungen.

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Die neue Radikalität hatte bei beiden Konzerten nicht nur akustisch-musikalische Effekte, vielmehr wurde sie visuell z.B. durch Bemalungen des Gesichts etc. und Bühnenperformance ebenso beim Black Page Orchestra geübt. Es hat sich programmatisch vielmehr als „Ensemble für radikale und kompromisslose Musik“ gegründet.[1] Bereits die beiden Titel der Konzerte geben einen Wink auf die radikale Andersartigkeit der Konzertform. Konzertformate vom Orchester in uniformen schwarzen Anzügen und Kleidern etc. bis zu Casual Concerts und experimentellen Formen bleiben für die Musik nicht folgenlos. Dass die Position des Dirigenten im 20. Jahrhundert lange noch als geradezu natürlich wahrgenommen wurde, ist zwischenzeitlich aufgebrochen worden.

© Fabian Schellhorn

Was genau eine Pulp Science als Konzertformat sein könnte, wird nicht formuliert. Es wird als Titel ebenso kreativ wie experimentell gesetzt. Allerdings veröffentlichten Ulrich Kohler und Julia C. Post 2023 in Budrich Journals GWP – Gesellschaft, Wirtschaft, Politik ihren Aufsatz „Pulp Science? Zur Berichterstattung über Meinungsforschung und Massenmedien“.[2] Problematisiert wird in dem Artikel die Gefahr von Meinungsumfragen bei „politischen Meinungsbildungsprozessen“.[3] Doch der Begriff pulp schwankt im Englischen zwischen Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1994) mit Uma Thurman und billigem Papier oder einfach Brei. Für das Black Page Orchestra war wahrscheinlich vor allem das Paradox von Pulp als Wissenschaft anstoßgebend.

© Fabian Schellhorn

Die Radikalität der Pulp Science bezieht sich insbesondere auf die politischen Implikationen des Musikmachens, wenn Alexander Khubeev in seiner Komposition Ghost of Dystopia (2015) mit dem Titel nicht nur auf das Konzept Dystopie, vielmehr noch auf Karl Marx‘ Formulierung „Ein Gespenst geht um in Europa“ aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 anspielt.[4] Khubeev möchte mit dieser Überschneidung von Kommunismus bzw. Kommunistischem Manifest und Dystopie die „Beziehung und Interaktion zwischen „Solist*in“ und Ensemble“ reflektieren.[5] Dabei geht es nicht zuletzt um die Position des Dirigenten als „Solist*in“. Denn anstelle des Dirigenten steht hier Thomas Moore als „Solist*in“, die mit akustischen Sensoren auf Plexiglasflächen zugleich Klänge beisteuert. Doch die Dirigiergesten führen zugleich dazu, dass die Sensoren von den Platten gerissen werden.

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Das visuelle Geschehen, das mit dem akustischen wie an den Fäden der Plastikhandschuhe auf dramatische Weise verbunden ist, trägt zur klanglichen Reflexion über die Dystopie bei. Während das Kommunistische Manifest eine erfreuliche Zukunft formuliert, eine Utopie, setzte sich der um 1986 aufkommende Begriff Dystopie ab 2006 zu einer rasant kursieren Verunsicherung durch eine „düstere Zukunft“ durch.[6] Das Verhältnis der Solist*in-Dirigent*in zum Ensemble erweist sich nicht nur akustisch als schroff. Durch die Kontextualisierung des Komponisten mit dem Kommunistischen Manifest lässt sich auch bedenken, dass 2017 der Film Le jeune Karl Marx von Raoul Peck insbesondere dessen Manuskript ins Interesse rückte, indem es keinesfalls allein, sondern von Karl, Jenny, Friedrich und Mary zusammen geschrieben worden sei.[7] Prozesse des Schreibens und des Musikmachens werden auf diese Weise stärker als eine kollektive Praxis vorgeschlagen.   

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Für Halucinatio von Jung An Tagen wurde die Bühne in rotes Licht und Trockeneisschwaden getaucht, um das Akustische mit dem Visuellen für die dissoziative, psychoakustische Musik von Flöte (Alessandro Baticci), Schlagzeug (Igor Gross) und Elektronik (Matthias Kranebitter) zu verstärken. Das achtminütige, experimentelle Stück des Wiener Komponisten und Klangkünstlers Jung An Tagen lotet damit experimentell neue Konzertformen hinsichtlich einer ästhetischen Offenheit aus.[8] Die virtuose Spiel auf der Doppelflöte Dvojnice wird darin durch die Elektronik als „ultimative Spaltung, Entmenschlichung, mechanische Fremdheit“ eingesetzt. Die Modi der Elektronik wie Wiederholung und Rückkopplungen generieren nicht nur halluzinatorische Effekte, vielmehr wirken sie akustisch und visuell auf das psychische Befinden.   

© Fabian Schellhorn

Sarah Nemtsov waren bei MaerzMusik 2024 mehrere Veranstaltungen wie ein Gespräch und die Aufführung weiterhin hochaktuellen und politischen Medienkomposition Journal (2015) durch das Black Page Orchestra gewidmet. Wie schon bei ultraschall berlin 2024 mit Skotom zeigt sich einmal mehr der ausgeprägte Einfallsreichtum der aus Oldenburg stammenden Komponistin[9], die in ihren Stücken Wahrnehmungs- und Klangbereiche kombiniert, die bislang nicht für möglich gehalten wurden. Nemtsov komponiert seit ihrer Jugend ohne Berührungsängste Musik, die wie Klanglandschaften unterschiedliche Themen der auditiven wie visuellen Wahrnehmung berühren. Sie verfügt über die heute äußerst wichtige Fähigkeit, in Worte fassen zu können, was sie genau macht beim Komponieren. Seit dem Wintersemester 2022/2023 lehrt sie als Professorin Komposition an der namhaften Universität Mozarteum in Salzburg:
„In meinem Stück habe ich mich damals, vor fast zehn Jahren, mit der Überforderung des Einzelnen, der Ohnmacht angesichts der Fülle von Schreckensnachrichten auseinandersetzen wollen. Ein Thema, das heute leider weiterhin akut ist. Das Ensemble ist verstärkt, das Cello hat zusätzlich ein Distortion-Pedal, das den Klang verzerrt. Rhythmische Impulse im Ensemble, Eruptionen, klare, wenn auch verschränkte Impulse gegen freiere Teile, Strudel entwickeln sich. Verlorenheit und zugleich auch ein Aufgehobensein im Digitalen. Die virtuelle Welt kann Weltflucht und Welt-Bewusstsein bedeuten.“[10]    

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Journal erweist sich als eine komplexe Komposition zu Fragen des Subjekts in einer digitalen Medienöffentlichkeit. Nemtsov verwirft das Digitale nicht per se, vielmehr erforscht sie mit ihrer Komposition, was sie damit machen kann. – „Das Keyboard hat 37 Samples – eine Mischung von verfremdeten News-/Nachrichten-Jingles und Beiträgen aus aller Welt, Drones, Noise, anderen elektronischen Klängen und verfremdeten historischen Aufnahmen, sowie field recordings bis hin zu space sounds.“[11] – Das auf Nachrichtensendungen anspielende Journal verarbeitet und „verfremdet()“ eine schier kaum noch identifizierbare, klangliche Medienwelt. „Nachrichten-Jingles“ oder Soundmarken sind seit geraumer Zeit ein Klangraum, der jede Einzelne* in Alarmbereitschaft versetzt. Permanent wird das Subjekt im Digitalen von Sounds, die es erinnern sollen, die sich in die akustische Wahrnehmung einbrennen sollen, getriggert. Die Psychoakustik, die bei Jung An Tagen eher als positives Experimentierfeld komponiert wurde, taucht bei Sarah Nemtsov als Feld des akustischen Stresstests auf. Auf VIDEVO lassen sich „456 lizenzfreie Jingle Sound Effekte“ von „Zelttür mit Reißverschluss aus Nylon“ bis „Musical, Glockenspiel, Positiv, Motiv“ und „Herzschlag“ herunterladen und beim Anklicken einer Website oder Nachricht aktivieren.[12]

Ob Sarah Nemtsov bereits VIDEVO für ihr Komponieren mit dem Digitalen entdeckt hat, weiß der Berichterstatter nicht.[13] Sie verschließt sich dem nicht. Die „Fülle der Schreckensnachrichten“, die durch Jingles von 1 oder 2 Sekunden markiert werden können, hat 2024 eher zugenommen. Jede*s digital vernetzte Menschenwesen kann heute durch einen ständig wiederholten Jingle auf TikTok etc. seine Followers triggern – und d. h. durch ein akustisches Signal süchtig machen nach mehr. Bereits die Titelei von Online-Zeitungen ist heute auf Trigger-Begriffe ausgelegt, damit die User nach mehr klicken. Als Komponistin arbeitet Nemtsov mit dergleichen akustische Materialien, „verfremdet“ sie, um so darauf aufmerksam zu machen. Denn sie hat als Komponistin eine dezidiert politische Haltung, die Praktiken der Suchterzeugung und digitalen Manipulation aufzudecken.
„Durch Musik können wir Emotionen, Konzepte, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und andere wichtige Botschaften kommunizieren. Das Wesentliche und Aufregende jedoch für mich ist, dass Kunst einen offenen, weiten und überraschenden Raum schafft, wie eine Faltung der Raumzeit, ein Wurmloch, in dem Fragen auftauchen und Antworten (wenn überhaupt) vage sind. Er gibt hier eine einzigartige Gedankenfreiheit – und damit einhergehend individuelle Verantwortung. Das ist eine Basis von Demokratie.“[14]

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Der digitale Jingle oder die Soundmarke im Bereich der hörbaren Frequenzen haben heute einen massiven psychoakustischen Einfluss auf unsere Wahrnehmung wie die Musik im Supermarkt oder Kaufhaus. Sie beeinflussen unsere Stimmung, ohne dass wir sie bewusst hören. Matthias Kranebitter äußerst experimentelle und den menschlichen Hörbereich umfassende Encyclopedia of Pitch and Deviation (2020) für Ensemble und Elektronik bildet zum Jingle eine extreme Gegenposition. Zwischen 20.000 Hertz und 7.8 Hertz spielt er die Frequenzen von „Der „The Mosquito“-Alarm“ bis zur „Grundfrequenz der Schumann-Resonanz“ in 26 Einteilungen innerhalb von 21 Minuten durch. Die Frequenzen und Titel werden dabei vor jeder Einteilung von einer weiblichen Computerstimme angesagt und auf ihre Hörbarkeit erläutert. Unter 16 Hertz können vom menschlichen Ohr keine Frequenzen gehört werden. Der hörbare Schall liegt zwischen 16 Hertz und 20.000 Hertz, wobei die höchste Frequenz i.d.R. nur von jungen Menschen unter 25 Jahre gehört werden können. Das Sprachverstehen spielt sich in einem Bereich von 500 und 4.000 Hertz ab.

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Matthias Kranebitter spielt mit seiner Encyclopedia of Pitch and Deviation insofern die Hörbarkeit des durchschnittlichen menschlichen Ohres und jenseits dessen durch Musikinstrumente und Elektronik durch. Die streng nach dem Frequenzwissen ausgelegte Komposition mit ihren Abweichungen geht insofern bis ins Psychische und taktil Körperliche, wo die Grenzen des Gehörs unterlaufen werden. „443 Herz Konzerttonhöhe, kontinentaleuropäischer Standard“. Das komponierte Wissen wird indessen ironisiert, wenn bei „42 Hertz Die maximale Schleuderdrehzahl einer Gorenje WA65-Waschmaschine“ angekündigt wird.[15] Küchengeräte, Gaszentrifugen, Hochleistungsmixer, Flügelschlagfrequenzen, Chakrafrequenzen stehen neben „256 Hertz Das mittlere C in der alternativen Verdi-Stimmung, auch philosophische und wissenschaftliche Tonhöhe“. Das Wissen der Frequenzen, wie es von Matthias Kranebitter komponiert wird, bekommt, obwohl existentiell einen witzigen, fast lächerlichen Zug: „150 Hertz Die Höchstgeschwindigkeit des Remesis 13B Motors in einem Mazda RX-8“.

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Zum Abschluss spielte das Black Black Page Orchestra Mirela Ivičevič‘ neunminütige Komposition Case Black (2016), mit der die kroatische Komponistin an die Geschichte der jugoslawischen Partisan*innen erinnern will. Die durch den Titel an die „Operation Case Black“ im Frühjahr 1943 mit einem klanglichen Flickenteppich erinnernde Komposition soll die Politik des „heutige(n) Kroatien mit seiner offenen Antifaschismus-ablehnenden, den Holocaust leugnenden Regierung“ durch „das symbolische Gedenken an die Schlacht und an die Grundsätze von Solidarität und Einigung bei allen Unterschieden“ kritisieren.[16] Ivičevič wird auf diese Weise mit ihrer Komposition entschieden politisch. Sie hat das Stück in enger Beziehung zur Programmatik des Ensembles komponiert. Ihr geht es besonders darum, die klanglichen Unterschiede herauszuarbeiten.

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Dem Konzert des Splitter Orchesters und des Trondheim Jazz Orchestra ging ein Workshop zu den ethischen Implikationen der Improvisation voraus. Die Mitglieder der Orchester betraten mit ihren Instrumenten, sofern sie noch nicht auf der Bühne der Akademie der Künste platziert waren, auf und begannen aufeinander hörend ohne Dirigent*in zu spielen. Die Instrumente waren nicht in Instrumentengruppen, sondern locker angeordnet. Die Instrumentalisten samt zweifacher Elektronik (Roy Carrol und Marta Zapparoli) erzeugten aus der Situation ein Crescendo. Im Jazz spielt die Improvisation eine größere Rolle. Doch hier ging es weniger um eine Jazzimprovisation, als vielmehr um einen ethisch durchdachten Prozess des Musikmachens. Aus und für den Moment entsteht aus den Orchestern eine Uraufführung aus sich selbst heraus. Weder eine Komponist*in noch Dirigent*in leitet die Musiker*innen. Nach welchen Prinzipien beginnt und endet die Musikdarbietung? Lässt sie sich wiederholen? Oder findet die Aufführung nur für einmal statt? In einem zweiten Teil klingt die Musik ganz anders.

© Camille Blake

Nach dem ersten Teil betraten Joshua Bergamin und ein Vertreter der Orchester die Bühne, um einen Text zur (Musical) Improvisation und A word from the ensembles, als Ergebnisse ihres Forschungsprojektes zur Ethik zu verlesen. Denn seit 2022 erforschen die Ensembles aus Berlin und Trondheim gemeinsam „(Musical) Improvisation and Ethics“. Insofern lässt sich sagen, dass die Improvisation einem in mehreren Workshops debattierten Skript folgt. Zugleich definieren sie Ethik nicht als eine festgeschriebene Norm oder Regelwerk, sondern als „einen Prozess, der ständig neu verhandelt wird und sich in konstanter Veränderung befindet“. Das Konzert wird zugleich zu einem Experiment der Improvisation im ethischen Prozess. Im Studio der Akademie der Künste herrschte konzentrierte Aufmerksamkeit, weil es sich, mit einem anderen Wort, um einen Drahtseilakt handelte. Jushua Bergamin gab ein wenig Aufschluss über den Prozess:
Im-pro-visation refers literally to the un-fore-seen decisions that musicians make in the act of musicing.
But such decisions always take place in the context of pre-given pro-visos.
Provisos include material elements like instruments and spaces. But we can also think of social provisos, such as a performer’s history and training, or the expectations of a musical (sub)culture.
A proviso can be as intricate as a written score, or as vague as a proposal to play for half an hour. It can be as formal as a tonal key or time signature, or as loose an the ‘sound’ of a scene. Provisos can be explicit or implicit, but in each case, a musician’s improvised choices fill the space in-between them, interpreting and creating anew out of what is already there.”[17] 

© Camille Blake

Der Philosoph und Phänomenologe Joshua Bergamin, der an der Universität Wien das künstlerische Forschungsprojekt (Musical) Imrovisation and Ethics mitleitet, formuliert die Improvisation buchstäblich über das, was der Begriff mit der Vorsilbe im verneint, nämlich die „proviso“, das Vorhersehbare. Anders geschrieben: das „pro“ als vor oder für verspricht ein „videre“ (sehen). Begriffs- und musikhistorisch beginnt die Improvisation um 1800, was sich aus der Wortverlaufskurve ableiten lässt.[18] Die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers kennt den Begriff noch nicht.[19] Doch was vorgegeben ist als „pro-viso“, lässt sich nicht einfach bestimmen. Etwas verkürzt wiedergegeben macht Bergamin seinen Begriff der „provisos“ zum Bereich des Ethischen:
„We are, all of us, nodes in a web of provisos – in a web of social and material histories that define for each of us our very sense of the possible.
In the spaces in-between – the spaces of action and freedom – we find the realm of the ethical.”[20]

© Camille Blake

Im Dazwischen liegt der Bereich oder das Reich des Ethischen, formuliert Joshua Bergamin, wie ich sagen möchte, mit einem Wink auf das Denken Jacques Derridas. Die „provisos“ finden sich zu hochindividuellen Möglichkeiten des Einzelnen zusammen. Daher lassen sie sich schwer verallgemeinern, sondern unterliegen einzelnen und gar einmaligen Prozessen. Das Ethische geschieht. Eine Festschreibung führt bereits zu Verletzungen des Ethischen. Das gilt nicht zuletzt für Cease Fire Now. Für einmal mag die Haltung in einem Moment richtig sein. Sogleich wird sie von anderen „provisos“ heimgesucht und schwierig. Vielleicht passen dazu auch folgende Worte von Joshua Bergamin:
„… What was free and right yesterday might no longer be tomorrow.
The ethical life is a life of constant attunement. Of sensitivity to provisos and how they evolve. The ethical life is an improvisation – knowing when to hold back, when to let go, and how to change your mind.”[21]

Der Sprecher für die Orchester formulierte daraufhin einen konkreten Bezug auf das aktuelle soziale Klima der Polarisierung nicht nur in Bezug auf Berlin oder Europa. Denn es geht nicht zuletzt beim Musikmachen darum, andere Haltungen auszuhalten. Die aktuelle Kulturdebatte sei charakterisiert von einer Polarisierung. Dieser Polarisierung gelte es entgegenzuwirken. Gleichzeitig betonte er, dass das Statement nicht im Namen weder der Akademie der Künste noch des Festivals MaerzMusik gemacht sei. Das Splitter Orchester und das Trondheim Jazz Orchestra verstehen ihre Forschung als eine Utopie.
„The utopia of our improvised process is a multiplicity of voices and positions, a multiplicity characterized by an openness and curiosity that welcomes difference and allows to be heard.”

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Nach der Lesung der beiden Texte zur Frage der Ethik in der Musik und im Musikmachen, improvisierten die Musiker*innen wesentlich ruhiger als im ersten Teil. Es ergab sich ein Klangraum, in den sich alle auf unterschiedliche Weise einbrachten. Für Einmal entstand ein Klang, der von den Unterschieden, „provisos“ und einer Achtsamkeit erfüllt wurde, als solle Ethik zum Klingen gebracht werden. Die Einmaligkeit dieses Konzerterlebnisses mit all seinen Unterschieden wird in Erinnerung bleiben.

Torsten Flüh   


[1] Siehe auch: Black Page Orchestra: About us.

[2] Kohler, Ulrich/Post, Julia C.: Pulp Science? Zur Berichterstattung über Meinungsforschung in den Massenmedien, GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, 4-2023, S. 475-483. (Website)

[3] Ebenda: Zusammenfassung.

[4] Zum Kommunistischen Manifest und der Geschichte seiner Abfassung im Film siehe: Torsten Flüh: Ein Gespenst wird gefeiert. Hostages und Le jeune Karl Marx auf der Berlinale 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. Februar 2017.

[5] Alexander Khubeev In: Berliner Festspiele: MaerzMusik 2024: Abendprogramm 16.03.2024. Berlin 2024, S. 18.

[6] Siehe DWDS: Dystopie.

[7] Torsten Flüh: Ein … [wie Anm. 4].

[8] Siehe: Jung An Tagen: Info.

[9] Siehe Torsten Flüh: Neue Musik zwischen Freiburger Schule und no school. Zu den Konzerten von MAM.manufaktur für aktuelle Musik, Ensemble Apparat und Deutschem Symphonie-Orchester bei ultraschall berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Februar 2024.

[10] Zitiert nach Sarah Nemtsov: Journal. In: Berliner Festspiele: MaerzMusik … [wie Anm. 5] S. 20.

[11] Ebenda.

[12] Videvo: Lizenzfreie Soundeffekte: Jingle.

[13] Videvo stellt sich selbst vor als ein kleines leidenschaftliches Team im ländlichen Oxfordshire, was ob der weltweiten digitalen Reichweite geradezu idyllisch klingt. Videvo.

[14] Sarah Nemtsov zitiert nach: Berliner Festspiele: MaerzMusik … [wie Anm. 5] S.13.

[15] Siehe auch von der Uraufführung 2020 mit Johannes Kalitzke als Dirigent: Matthias Kranebitter: Encyclopedia of Pitch and Deviation. 30. November 2020.

[16] Mirela Ivičevič: Case Black. In: Berliner Festspiele: MaerzMusik … [wie Anm. 5] S. 24.

[17] Joshua Bergamin: (Musical) Improvisation… Berlin, March 2024. Zitiert nach Beizettel zum Abendprogramm. Berliner Festspiele: MaerzMusik 2024: Abendprogramm 22.3.2024. (Ohne Seitenzahl).

[18] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Improvisation.

[19] Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : IMPROVISTER, IMPROVISTEUR.

[20] Joshua Bergamin (Musical) … [wie Anm. 17].

[21] Ebenda.

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