Musik jenseits des Gehörwissens

Maschine – Musik – Mensch

Musik jenseits des Gehörwissens

Zum Eröffnungskonzert von MaerzMusik 2024 mit dem Acousmonium der Groupe de Recherches Musicales

Die Musik wurde beim Eröffnungskonzert von MaerzMusik mit dem Acousmonium vom Wissen gereinigt. Hörverstehen oder das Wissen des Gehörs wurden gleichsam umgangen. Lautsprecher wurden zum Orchester und zu akustischen Akteuren im Zuhörerraum im Haus der Berliner Festspiele. Die Komposition wird im Studio am Regler elektronisch eingespielt und im Raum der Aufführung am Regler in einer Diffusion oder Zerstreuung nachgesteuert. Was macht das Ohr als ein Wissens- und Erinnerungsorgan mit der Diffusion? Wir erkennen Instrumente, Stimmen, Melodien, Geräusche etc. wieder. Das Musikwissen wird durch Regeln strukturiert, nun wird es am Regler unterlaufen.

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Die Frage nach der Musik wird mit dem Acousmonium durch INA grm – Groupe de Recherches Musicales seit 1974 in Paris neu gestellt. Forschung, Elektronik und Musikmachen werden seit 50 Jahren in der zeitgenössischen Musik durch Frequenzen, Lautstärken, Geschwindigkeiten, Unterbrechungen etc. transformiert. Es geht um die auditive Wahrnehmung des Menschen, die seit den 50er Jahren eben in jenem institutionalisierten Rahmen, der Übertragung und Verbreitung akustischer Wellen, dem staatlichen, französischen Rundfunk (RTF bzw. ORTF) erforscht wurde. Das Acousmonium, obwohl es räumlich in einem Raum mit Zuhörer*innen als eine Art akustisches Maschinenorchester aufgeführt wird, verdankt sich dem Rundfunk, für den nicht zuletzt Klangregisseure und Tontechniker an Mischpulten arbeiten.

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Die akusmatische Musik gibt einen Wink auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt im Feld des Hörens. Das Objekt wird beispielsweise in den Kompositionen von Beatriz Ferreyra wie in dem Eröffnungsstück L’Orvietan (1970) unterlaufen. Weder soll ein identifizierbares Objekt hörbar werden, noch kann sich ein Subjekt im Wissen vom Ursprung des akustischen Signals einrichten. Es muss sich von Musik aus der elektronischen Verschaltung und Verkopplung bzw. der elektroakustischen Musik mitreißen lassen.[1] Ferreyra formuliert dies über das mythologische Allheilmittel „Orvietan“ als reinigend oder heilend. Die auditive Wahrnehmung erhält wie in L’Orvietan delirante Züge. Mit den Worten von Ferreyra, deren Komposition von François J. Bonnet am Mischpult für das Acousmonium aktualisiert wurde:
„In der elektroakustischen Musik haben wir mit Schaeffer gelernt, unseren Blickwinkel zu verändern, etwas zu hören, das Klang ist und nicht das, was den Klang erzeugt. Wir hören, wenn es ein Auto, eine Stimme oder eine Geige ist – aber wir können auch etwas anderes hören. Ich weiß nicht, wie andere Musik machen, aber ich mache Musik basierend auf dieser anderen Art des Hörens.“[2]   

© Fabian Schellhorn

Die Geschichte der Musik ist tief in akustische Modi der Imitation, Wiederholung und des Wiedererkennens organisiert. Insofern eröffneten die elektroakustische Musik und noch zugespitzter das Lautsprecherorchester des Acousmoniums seit 1974 einen völlig neuen Bereich des Hörens und Hörerlebnisses. Insbesondere der Modus der Imitation, der in der Moderne fragwürdig geworden war, bekam aus dem Bereich der Institution Rundfunk eine weitere Drehung.[3] Die neuen, überwiegend als störend empfundenen Effekte der Rundfunkübertragung durch elektromagnetische Wellen werden mit den Forschungen in der Elektroakustik zum Feld künstlerischer Experimente bzw. Produktionen, in dem sich beispielsweise Beatriz Ferreyra und andere Frauen wie Éliane Radique als Künstler*innen positionierten.[4] Die Imitation wird in der Musik verstärkt in den Bereich der „Wellen“ verschoben, die neuartige Verschaltungen erlauben. Auf diese Weise wird „(a)kusmatisch“ zu einer „Form der auditiven Wahrnehmung, bei der die Klangerzeugungsmittel und damit die ursprünglichen Quellen der Geräusche unerkannt bleiben“. Sie zielt auf „eine Situation reinen Hörens“.[5]

© Fabian Schellhorn

Die Uraufführung von KMRUs Dissolution Grip in der „Acousmatic Version“ als Auftragswerk der Berliner Festspiele/MaerzMusik und INA grm erinnerte programmatisch an das Unkenntlich-werden der Klangquellen und -erzeugungsmittel. Insofern Joseph Kamaru alias KMRU mit Field Recordings in Europa und auf der ganzen Welt arbeitet und forscht, setzt er mit seiner akusmatischen Version von Dissolution Grip auf eine ebenso einzigartige Aufnahme von einem konkreten Aufnahmeort wie dessen Unkenntlichkeit durch das Lautsprecherorchester. Der Originalsound wird durch seinen forschenden Entstehungsmodus einmalig und wiederholbar. Aber durch die Aussteuerung am Mischpult für das Acousmonium zugleich ins Unkenntliche transformiert. Der Forschungsgegenstand eines lokalen Klangs wird quasi chiffriert, um keinen Wissenspraktiken ausgesetzt zu werden. Insofern Field Recordings als eine Methode zur Generierung ethnologischen Wissens bis zur Musikethnologie genutzt wurden und werden, wird von KMRU diese auf poetische Weise hinterfragt.  

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Das Konzertprogramm war von François J. Bonnet so angelegt, dass eine kurze Geschichte der Akusmatik bis in die Gegenwart entstehen konnte. Denn mit L’infini du bruit (1979) von François Bayle wurde nicht nur der mittlerweile 91jährige Entwickler und Theoretiker der Akusmatik gewürdigt, vielmehr wurde mit der Diffusion von dessen zweiten Abschnitt La fin du bruit (Érosphère I) von 1999 durch Bonnet zugleich ein Wink auf die vielfältigen Implikationen der aus elektroakustischen Maschinen entstehenden Musik gegeben. Stand zu Anfang die Endlosigkeit (l’infini) der Geräusche, verweist der zweite Teil auf das Ende (la fin) der Geräusche mit dem Hinweis auf eine Sphäre des Erotischen. Das Erotische lässt sich schwer fassen oder bestimmen. Nach Bayle beschreibt Érosphère „das Gesetz der Anziehungskraft des Begehrens“. Begehren entstehe paradoxerweise im „Vorhersehen, Verstehen und Sehen auf der Grundlage dessen, was nicht gesehen werden kann, einem Echo der akusmatischen Situation“.[6]  

© Fabian Schellhorn

François Bayle hat die Paradoxe der Akusmatik durch die Maschine des Acousmonium wiederholt formuliert. Obwohl das Lautsprecherorchester zutiefst im Medium Rundfunk und dessen Erforschung verschaltet ist, ließe sich die Live-Diffusion im Raum nicht im Radio übertragen, weil es dort wieder auf einen Lautsprecher oder eine Lautsprecheranlage hinausläuft. Trotzdem gibt es eine Aufnahme von Érosphère als Album.[7] Die in der Maschine angelegte serielle Wiederholbarkeit lässt sich in der Akusmatik gerade nicht wiederholen. Insofern waren die Stücke im Programm des Abends in ihrer Diffusion im Moment des Klangs einmalig und unwiederholbar gerade wegen der Maschine im konkreten Raum. Die vom Mischpult aus gesteuerte Diffusion durch François J. Bonnet, Jules Négier, Philippe Dao, KMRU, Emmanuel Richier und Eve Aboulkheird lässt sich nicht nur wegen der Menschen am Regler, sondern wegen der Maschine im Raum nicht wiederholen. Es kommt mit Bayle zu einer „Wechselwirkung von Musik und Publikum“ im Raum.
„Die von Lautsprechern projizierten akustischen Bilder verändern die Art und Weise, wie wir an die Frage nach der Wechselwirkung von Musik und Publikum herantreten. Diese neue Situation zwingt uns, uns zu neune Fragestellungen zu positionieren, und führt uns zu neuen Reaktionen. Diese vielfältige poetische Musik versammelt sich um einen gemeinsamen Nenner: das Hörsystem.“[8]

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Doch was heißt Hörsystem? Es geht mit der Akusmatik einerseits um die Befragung des Hörens, andererseits wirkte eine Lichtregie oder auch das Design der Lautsprecher wie das der krakenförmig angeordneten Kugellautsprecher konkret in das Hörerlebnis hinein. Das Saallicht wurde heruntergedimmt und die Lautsprecher in verschiedene, farbige Lichtkegel gesetzt. Das Konzert fand im temperierten Saal und auf der Bühne statt. Sinnlich waren im Konzert mehr als allein der Hörsinn involviert. Die sesselartigen Sitzreihen waren mit Festivalpublikum zur Eröffnung gut gefüllt. Immerhin war das Publikum konzentriert und gab keine Störgeräusche von sich. Wie ich höre, wird von mehr als nur „akustischen Bildern“ bestimmt. Das Publikum reagiert nicht nur auf die Klänge oder Geräusche, die aus den Lautsprechern kommen, es interagiert sinnlich. Das Eröffnungskonzert von MaerzMusik 2024 bekam den Hauch einer Messe, in der es um eine maschinell ausgesteuerte Technik ging. Die einzelnen Diffusionen wurden mit Applaus erwidert.

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Die Vielfalt der Kompositionen zwischen Luc Ferraris Presque rien avec filles (1989), Michèle Bokanowskis Rhapsodia, Ivo Malec‘ Triola – Turpituda (1978), Eve Aboulkheirs 22/12/2017 Guilin Synthetic Daydream (2020), François J. Bonnets Étude spectrale (2018), Iannis Xenakis Orient-Occident (1960) und der zweiten Uraufführung mit Jim O’Rourkes 8 Views of a Secret schwankt zwischen Nichts und Geheimnis, die durch das Acousmonium diffundiert werden. Eingedenk elektroakustischer Kompositionen zwischen 1960 (Xenakis) und den beiden Uraufführungen wurde ein Zeitraum von 64 Jahren abgedeckt. Orient-Occident entstand als frühe elektroakustische Musik nicht zuletzt durch Xenakis‘ Kooperation mit der Groupe de Recherches Musicales für einen gleichnamigen Dokumentarfilm von Enrico Fulchignoni. Er experimentiert in dem Stück mit den durchaus geheimnisvollen Klangmöglichkeiten der elektronisch generierten Filmmusik. Durch die Diffusion im Haus der Berliner Festspiele wurden die Zuhörer*innen ohne den Film in die ursprünglich für vier Lautsprecher konzipierte Geräuschkulisse eingebettet.[9] Man könnte bei dem Stück fast von einem Klassiker der Elektroakustik sprechen.

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Auf ganz andere Weise funktioniert das eigens für das Acousmonium komponierte und diffundierte Stück 8 Views of a Secret von Jim O’Rourke als Geheimnis. Mit der fast analytische Herangehensweise an das Geheimnis durch 8 Ansichten situiert sich O’Rourke in der Akusmatik, die das Geheimnis der Klangquelle nicht entschlüsselt, vielmehr verstärkt. Die im Studio produzierte akusmatische Musik wird im Saal und auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele projiziert und zerstreut. Für jede Zuhörer*in kommt es zu einem tendenziell individuellen Hörerlebnis. Deshalb lassen sich die „Geräusche“, von denen François Bayle spricht, schwer mit Worten fassen.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2024
bis 24. März 2024


[1] Zur elektroakustischen Musik bei Hermann Scherchen siehe: Torsten Flüh: Von der Rückkehr des Nullstrahlers. Zu KONTAKTE ’17, der 2. Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2017.

[2] Zitiert nach: Acousmonium – INA grm Groupe de Recherches Musicales 15.3.2024. In: Berliner Festspiele (Hg.): MaerzMusik 2024, S. 8..

[3] Zum Rundfunk und den Rundfunksinfonie-Orchestern siehe: Torsten Flüh: Vom Politischen in der Musik. Zu den Donnerstagkonzerten von ultraschall berlin festival für neue musik im Haus des Rundfunks In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Januar 2024.

[4] Zu Eliane Radique siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[5] Zitiert nach: Acousmonium … [wie Anm. 2] S. 6.

[6] Übersetzt aus dem Englischen nach: François Bayle: Érosphère. In: ders.: Bandcamp. Album 5. März 2021.

[7] Ebenda.

[8] Zitiert nach: Acousmonium … [wie Anm. 2] S. 29.

[9] Siehe Iannis Xenakis: Orient-Occident. (YouTube)

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