Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie

Wissen – Begriff – Pandemie

Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie

Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte

Thomas Oberender hat nach Abschluss des Jahres 2020 am 4. Januar 2021 eine Liste von rund 300 „Denk-Wende-Worte(n)“ aus Hunderten in einer Liste für die Serie Licht an – „Wie also kommen wir ans Licht?“ – der Süddeutschen Zeitung aufgeschrieben.[1] In dieser Liste findet sich ein Teil der Worte und Begriffe, die seit mehr als einem Jahr, nämlich dem 27. Januar 2020 in Deutschland und den deutschsprachigen Medien unser Wissen zur Covid-19-Pandemie bilden und abbilden. Am 28. Januar teilte Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml mit, es seien „insgesamt rund 40 Mitarbeiter der Firma …, die als enge Kontaktperson in Frage kommen“ ermittelt worden.[2] Das Wort „Kontaktperson“ erhielt schlagartig ein epidemiologisches Bedeutungsfeld, wurde in Video-Konferenzen zum Streitpunkt, erfuhr einen inflationären Gebrauch und ging in einen Gesetzestext ein.

In Thomas Oberenders Liste kommt die Kontaktperson ebenfalls unter seinen ersten 50 Worten vor, um in Komposita wie „Kontaktverfolgung“, „Kontaktketten“ und „Kontaktintensitäten“ wiederzukehren. Die Gebrauchsfrequenz für Kontaktperson müsste in der „Wortverlaufskurve“ des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache für 2020 sprunghaft angestiegen sein, was allerdings noch nicht in der Grafik abgebildet wird.[3] Google findet zwischenzeitlich 12.700.000 Seiten in 0,44 Sekunden für die Suche nach Kontaktperson.[4] Der Begriff wurde nach dem DWDS in den 1950er Jahren geprägt. Kontaktperson ist, wie es Oberender nennt, ein „Historienbild() unserer Zeit“ ebenso wie Lockdown, Home-Office und Maßnahmenpaket und viele mehr. „In dieser Sphäre der Worte, die unser Denken versorgen, gibt es also zahllose Spreader, die unseren Verstand genauso fördert wie Täuschung.“[5] Die Bedeutungsverschiebungen von Wörtern generieren Wissen, weshalb hier einmal mit der Kontaktperson diesen nachgespürt werden soll.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache ist ein guter Einstieg für die Frage nach der Herkunft und Bedeutung der Kontaktperson. Mit der Quellenangabe des „Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in der 3. Auflage von 1999“ wird an erster Stelle der Bedeutungen jene in der Medizin genannt, um zugleich „selten“ in die Kriminalliteratur überzugehen.[6] Der Wahrig von 1997 kennt sogar nur die Kontaktperson als „jem. der mit einer an einer Infektionskrankheit leidenden Person Kontakt hatte u. daher ansteckungsverdächtig ist“.[7] An der Verlaufskurve und den typischen Gebrauchsverbindungen der Kontaktperson lässt sich im DWDS lesen, wie häufig sie dagegen mit Agent, Attentäter, Terrorverdächtige, Unterstützer, Verdächtige, abgeschöpft etc. verwendet wurde.[8] Bis 2010 nahm die Gebrauchsfrequenz insbesondere wegen des Terrorismus zu, während gleichzeitig Quarantäne, Infizierte und nur sehr selten Patient mit der Kontaktperson verwendet wurden.

Der Bedeutungswandel der Kontaktperson ist ein interessantes Beispiel für das Wissen, das mit ihr verknüpft wird oder einhergeht. Denn sie wird selbst zum Gegenstand wie zur Schaltstelle von Wissen. Während sich Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhundert die Kontaktperson besonders in der Medizinliteratur festsetzt, und zwar so deutlich, dass der Duden wie der Wahrig sie dort fast ausschließlich verorten, hatte der Satiriker und Autor Chlodwig Poth 1974, wie Christa Rotzoll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, das „biedere() und etwas flaue() Buch“, den Roman Kontaktperson geschrieben.[9] Im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz wird Poths Romantitel überhaupt als erstes bzw. zweiunddreißigstes und letztes Suchergebnis von 1975 angeführt.[10] Vor 1975 gibt es die Kontaktperson nicht im StaBiKat. Der Romanautor und Satiriker Chlodwig Poth spielt anscheinend mit der Doppelbedeutung von Medizin und sozialer Kontaktaufnahmen, wenn Rotzoll schreibt, „einige äußere Spannung durch die Suche nach Personen, die mit Pocken-Viren infiziert sein könnten, aus dem gleichen Anlaß Einblick in verschiedene Milieus und Lebensschwierigkeiten“ gibt.[11] – Da die Staatsbibliothek „coronabedingt“ geschlossen ist, konnte Kontaktperson leider nicht ausgeliehen und gelesen werden.

Überraschenderweise wurde der Begriff Kontaktperson nach Helmut Müller-Enbergs zuerst 1958 als „vertrauenswürdige(r) Bürger“ in den „IM-Richtlinien“ des Staatssicherheitsdienstes der DDR definiert. Die effizient „KP“ abgekürzte Kontaktperson werde „zur Lösung bestimmter Aufgaben angesprochen“.[12] Das MfS-Lexikon als Online-Nachschlagewerk für die Sprache des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gibt einen Einblick in die Funktion, Benutzung und das Umfeld der KP. Auf diese Weise geht die Kontaktperson in die Sprache und Überwachungsliteratur der Stasi ein. Doch der Begriff stellt sich nach Müller-Enbergs als „unscharf“ heraus und variiert bis Ende der 70er Jahre. Über Kontaktpersonen soll nach den Richtlinien für Inoffizielle Mitarbeiter (IM) von der KP konspiratives Wissen „abgeschöpft“ werden. Denn abschöpfen, wie man etwa Fett von einer Suppe abschöpft[13], heißt nach dem MfS-Lexikon: „… die vom Informationsgeber unbemerkte Sammlung von operativ relevanten Informationen.“[14] Abschöpfen wie Infizieren lassen sich als Modi der Übertragung beschreiben.

An dieser Stelle muss einmal auf die KP als Kürzel und das Wissen eingegangen werden. Die Verwendung von Abkürzungen in der MfS-Literatur generiert ein besonders mächtiges Wissen, weil es von einem begrenzten Kreis von Mitarbeitern des MfS verwendet wird und z.B. in den IM-Richtlinien die Bürger der DDR in Kategorien einteilt. Beispielsweise wurde eine „IM-Kategorie namens „A-Quelle“ (Abschöpfquelle; Quelle)“ definiert.[15] Durch die Kategorien wird ein durchstrukturiertes System des Wissens geschaffen. Als Abbreviation könnte KP ebenso gut Kommunistische Partei heißen. Was KP heißt oder wofür es steht, erschließt sich nur aus dem Kontext oder der permanenten Wiederholung in einer Fachsprache. Zugleich wird die Abbreviation zu einem Ausschlussverfahren, durch das der Zugang zu einem Fachwissen zumindest erschwert werden soll. Man könnte sie auch eine Codierung nennen. Nur wer den Code kennt, erhält Zugang zum Wissen und kann es auch gebrauchen. Die Semiologie hat die Funktion des Codes in den 60er Jahren untersucht, so dass Roland Barthes von einer „Zirkularität des Codes“ gesprochen hat.[16] Die Zirkularität generiert Wissen, so auch mit der Kontaktperson.

Nach dem Ende des MfS und der DDR spielte die Kontaktperson im Plural vor der COVID-19-Pandemie vor allem eine Rolle in der Terrorismusbekämpfung. Das Gemeinsame-Daten-Gesetz erfuhr durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 2013 eine strenge Regelung hinsichtlich der gespeicherten Daten durch die Polizeibehörden und Nachrichtendienste des Bundes und der Länder. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das „Antiterrordateiengesetz (…) dem (Übermaßverbot) nicht vollständig (genüge), nämlich hinsichtlich der Bestimmung der beteiligten Behörden, der Reichweite der als terrorismusnah erfassten Personen, der Einbeziehung von Kontaktpersonen, der Nutzung von verdeckt bereitgestellten erweiterten Grunddaten, der Konkretisierungsbefugnis der Sicherheitsbehörden für die zu speichernden Daten und der Gewährleistung einer wirksamen Aufsicht“.[17] Der „unscharfe“ Begriff der Kontaktperson wurde nun grund- und datenrechtlich zum Problem und musste genauer definiert werden. Das Antiterrordateiengesetz wurde daraufhin 2014 hinsichtlich des Schutzes von Kontaktpersonen geändert.

Der Datenschutz nimmt sich der Kontaktperson an. Die „Anzahl der Daten“, die zu „Kontaktpersonen“ gespeichert werden dürften, werde „begrenzt“. „Eine Kontaktperson darf nicht mehr selbständig, sondern nur als sog. erweitertes Grunddatum zu einer Hauptperson hinzu gespeichert werden.“[18] Die Kontaktperson als „erweitertes Grunddatum zu einer Hauptperson“ im Datenschutz gewährt ihr paradoxerweise mehr Rechte, indem sie nicht mehr „selbständig“ gespeichert werden darf. Gerade ihre unsichere Position führte datenschutzrechtlich zu mehr Schutz der Persönlichkeitsrechte als Grundrechte einer Kontaktperson. Die Begrenzung der „Anzahl der Daten“ macht sie zu einer schützenswerten Person. Damit erhielt die Kontaktperson insbesondere durch die Verdatung eine genauere Definition. Für die aktuelle Diskussion um Daten und Datengenerierung im Informationszeitalter nimmt die Kontaktperson insofern eine entscheidende Funktion ein.

Der Kontakt und die Kontaktperson betreten die Bühne der Literaturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich aus der Mathematik die Informatik, Informationstechnologien oder Künstliche Intelligenz um Alan Turin herauszubilden beginnen.[19] Die „Lösung bestimmter Aufgaben“ durch die Kontaktperson der Stasi spielt sich in jenem sprachlichen und ideologischen Bereich von Information, Informationsgewinnung und Daten ab, die sich im 21. Jahrhundert voll ausgebildet hat. Daten gelten nun als Wissen, das verknüpft, gespeichert, berechnet und zirkuliert werden kann. Doch im Unterschied zum MfS hatte die Kontaktperson einen entscheidenden Bedeutungswandel durchgemacht. Sie gilt zunächst als Quelle von Informationen bzw. Daten, die abgeschöpft werden sollen. Im Antiterrordateiengesetz verliert sie ihre Selbständigkeit und darf nur als „Grunddatum zu einer Hauptperson“ geführt werden. Im Zeitalter der Datenverarbeitung bzw. Künstlichen Intelligenz wird die Informationsverarbeitung zu einem Problem, das rechtsstaatlich geregelt werden muss.

Der Kontakt und die Kontaktperson sind Begriffe des 20. Jahrhunderts. Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt nicht einmal den Kontakt, auf KONSTABEL folgt KONTERBUNT.[20] Die Literaturen bis ans Ende des 19. Jahrhunderts verwenden weder den Kontakt noch die Kontaktperson. Erst Meyers Großes Konversationslexikon in der 6. Auflage von 1905-1909 erklärt den Kontakt aus der Geometrie und führt die „Kontaktelektrizität“ als „soviel wie Galvanismus“.[21] Es zeichnet sich ab, dass die Kontaktperson und das Denken des Kontaktes eine relativ neue Wissensformation sind. Besuche und Treffen finden noch im 19. Jahrhundert nicht als Kontakt, aber schon gar nicht „kontaktlos“ statt. Die Kontaktperson in der Fachsprache des Staatssicherheitsdienstes wie in der Epidemiologie mussten sich erst herausbilden und formalisiert werden, um nach dem Glossar zu COVID-19 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ihre Bedeutung herauszubilden:
„Person im Umfeld eines Infizierten bzw. Erkrankten, bei der je nach Kontakt die Möglichkeit einer Ansteckung besteht und die daher ggf. einer weiteren Beobachtung und evtl. weiterer Schutzmaßnahmen bedarf.“[22]

Das absolut Neuartige der Pandemie gegenüber früheren wie der AIDS-Epidemie ist die Transformierung in ein informationelles „Kontaktgeschehen“, das über die Anzahl von Kontaktpersonen in großem Ausmaß staatlich nicht zuletzt mit einer Smartphone-App über Bluetooth-Technologie zu kontrollieren versucht wird, um zugleich vom menschlichen Verhalten wie den „Kontaktintensitäten“(Oberender) destabilisiert zu werden. Während der sogenannten ersten Welle brach eine Diskussion über eine „Kontaktsperre“ und „Kontakt-Beschränkungen“ auf. Denn die „Kontaktsperre“ erinnerte im deutschen Strafrecht an die Unterbrechung jedweder Verbindung eines Straf- oder Untersuchungsgefangenen mit anderen Gefangenen und der Außenwelt. Dafür gab es das umstrittene Kontaktsperregesetz von 1977, das zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt wurde. Bereits am 31. März 2020 hat das Bundesverfassungsgericht mit der Ablehnung des Antrags auf eine Verfassungsbeschwerde entschieden, dass die epidemiologischen Kontakt-Beschränkungen keine „Kontaktsperre“ sind. Wegen Begriffsüberschneidungen nicht zuletzt auf verfassungsrechtlicher Ebene könnte man sagen, dass sich über die Kontaktperson im Hintergrund der Pandemie und ihrer medialen Übertragung eine Auseinandersetzung zwischen Künstlicher Intelligenz wie der Corona-Warn-App und „unsere(m) Verstand“ abspielt. Nie wussten wir so viel, so schnell und so genau über ein Virus, seine Übertragungswege und seine Dynamik anhand von Zahlen und Rechenprozessen.[23]

Vor einem Jahr wussten wir sehr wenig, fast nichts, aber es gab sogleich ein Bild vom Virus nach einem Rechenmodell in allen Nachrichtensendungen, als hätten wir es. Das Bild vom Virus, das zunächst permanent wiederholt wurde, erinnerte an die Funktion eines Fahndungsfotos. Der Virustäter war visuell „identifiziert“ und gleichsam zur Fahndung ausgeschrieben worden. Zwischenzeitlich hat sich das Bild von Sars-Cov2 in vielfacher Weise ausdifferenziert. Es ist im Werbespot zum russischen Impfstoff Sputnik V eingegangen und umschließt in Bildkombinationen den Erdball, hält ihn als Geisel. Mit dem Bild sah es so aus, als hätten wir das Virus erfasst. Diese Fokussierung auf das Virus verdrängte und konkurrierte auch mit dem der Kontaktperson. Wer den Virus als Feind der Menschen, der Menschheit darstellt, verdrängt auch das Wissen um die Verantwortung über die Kontakte der Menschen untereinander. Schließlich generiert die Wissensdynamik, sozusagen systemimmanent, immer neue Mutanten, die mit dem Wissen ständig neues Unwissen generieren. Die Gefahr wird nach außen projiziert und nicht als verhaltensbedingt wahrgenommen. Jede Mutante erhält aktuell schnell eine visuelle Eigenart.

Noch in der Textfassung des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20. Juli 2000 kommt die Kontaktperson als Begriff nicht vor.[24] Zwar kommt im § 8 der „Zur Meldung verpflichtete(n) Personen“ in Abs. 1 unter Nr. 4 hinsichtlich des Rabiesvirus bei Tieren die Formulierung vor, dass „bei Tieren, mit denen Menschen Kontakt gehabt haben, auch der Tierarzt“ zur Meldung verpflichtet sei[25], aber der seit Ende Januar 2020 völlig geläufige Begriff der Kontaktperson kommt zunächst im maßgeblichen Gesetzestext nicht vor. Man könnte das eine Begriffslücke oder ein Begriffsvakuum nennen, die zugleich einen Wink darauf geben, wie ein Begriff neu geprägt wird. Erst mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Frühjahr 2020 findet im Text die „Kontaktpersonennachverfolgung“ durch das Robert-Koch-Institut in § 4 Abs. 3 Erwähnung und wird nicht zuletzt datenrechtlich geregelt:
„das Robert Koch-Institut darf im Rahmen seiner Aufgaben nach den Sätzen 1 bis 3 personenbezogene Daten verarbeiten“.[26]

Das Robert Koch-Institut wird zum Scharnier für die Kontaktperson, obwohl das Glossar für die Gesundheitsberichterstattung, kurz GBE, sie bislang nicht führt.[27] Der Stand der Gesundheitsberichterstattung des Bundes vom 14.09.2016 kennt den Begriff nicht.[28], obwohl er zu einem der wichtigsten für die Pandemie-Bekämpfung geworden ist. Im § 11 des Infektionsschutzgesetzes – „Übermittlung an zuständige Landesbehörde und an das Robert Koch-Institut“ – erscheint zum ersten Mal die Kontaktperson im Plural:
„j) bei Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19): durchgeführte Maßnahmen nach dem 5. Abschnitt; gegebenenfalls Behandlungsergebnis und Angaben zur Anzahl der Kontaktpersonen, und jeweils zu diesen Angaben zu Monat und Jahr der Geburt, Geschlecht, zuständigem Gesundheitsamt, Beginn und Ende der Absonderung und darüber, ob bei diesen eine Infektion nachgewiesen wurde, …“[29]

Die kurze Begriffsgeschichte der Kontaktperson zeigt, wie wechselhaft, aber auch anschlussfähig das Wort gebraucht wird, um Wissen zu generieren. In der Datenbank des Robert Koch-Instituts wird das Wort zum ersten Mal für das Infektionsepidemiologische() Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2006 mit lediglich 2 Nennungen nachgewiesen.[30] Selbst in der Fachpublikation kommt die Kontaktperson bzw. ihr Plural stark formalisiert nur in der Negation vor: „Infektionen bei Kontaktpersonen sind nicht bekannt geworden.“[31] Erst der ungeahnt heftige Ausbruch der Pandemie macht die Kontaktperson zur Schnittstelle des Wissens, um zugleich mit der „Kontaktpersonennachverfolgung“ durch die Gesundheitsämter massive Grenzen ihrer Praktikabilität aufzuzeigen. Letztlich wird deshalb der Inzidenzwert auf 35 gesenkt, um wieder die Kontrolle über die Ausbreitung durch Quarantäne zu gewinnen. So lange „Infektionen bei Kontaktpersonen (…) nicht bekannt geworden“ waren, hat das Modell prima funktioniert. Insofern die Infektion heute als ein Austausch von genetischen Informationen verstanden wird, basiert sie auf einer Art Übertragung feindlichen Wissens, das in den Körper eindringt und ihn zerstört, langfristig umprogrammiert oder gleich tötet.

Ebenso wenig wie wir über den Ursprung des Virus in seiner epidemiologischen Ausbreitung beim Menschen herausgefunden haben, wissen wir, wo, wann und warum es zu Mutationen kommt. Selbst die WHO hat mit ihren Nachforschungen im Januar und Februar 2021 in Wuhan, den Übersprung des Virus auf den Menschen nicht klären können. Während im März und April 2020 intensiv über den Ursprung durch eine Zoonose mit dem Pangolin, der Fledermaus oder auf dem Markt in Wuhan durch Lachs diskutiert wurde bzw. Donald Trump, damals Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, gleich ein chinesisches Labor in Wuhan verdächtigte[32], werden weder spezifische Tiere noch das Labor in der Abschlusserklärung der WHO-Delegation genannt, vielmehr wurde vereinbart, weiterhin nach dem Ursprung in zwei Phasen zu suchen: „The search for the origins of SARS-CoV-2 therefore need to focus on two phases. The first phase involves viral circulation in animal hosts before zoonotic transfer. During this evolutionary process, various animal species may serve as reservoir hosts.”[33] Der Übertragungswirt könne noch nicht identifiziert werden. Dabei geht es nicht zuletzt um die Suche nach einem Erstkontakt zwischen Tier und Mensch, der dazu geführt hat, dass sich das Virus durch das Verhalten der Menschen unter ihnen ausbreitete.

Thomas Oberenders Liste eines Jahres macht auf die Rolle der Sprache in der Pandemie aufmerksam. Sie unterscheidet sich durchaus von Staat zu Staat und Regierung zu Regierung. Er spricht davon, dass die „Sphäre der Worte“ unser Denken wie ein Virus infiziere und verändere. Dazu sollte allerdings bedacht werden, dass diese fast offensichtliche Analogie nicht nur einfach hingenommen werden muss. Vielmehr kann man sich kritisch z.B. durch Begriffsgeschichten mit der Epidemie der Worte auseinandersetzen. Gerade die Analogie von der „Sphäre der Worte“ mit einer Infektionskrankheit, mit einem Virus sollte kritisch gesehen werden. Der Begriff des Virus und wie wir ihn uns vorstellen, hat sich selbst u.a. gegenüber den 1980er Jahren gewandelt. In den 1990 traten als Echo der HIV/AIDS-Epidemie die „Computerviren“ in unser Denken von der Künstlichen Intelligenz und dem Leben. Computerviren sind Schreib-Rechen-Programme. Die Sprache und Literatur über Sars-Cov-2, die Erklärungserzählungen haben sich häufig mit jener der Computerviren verschaltet. – Es gilt das Leben unterdessen auszuhalten.

Torsten Flüh

PS: Ohne jede Spur der Covid-19-Pandemie zeigten sich am 19. Februar 2021 zwischen 16:02:25 und 16:33:14 Spuren des Lebens im Forst Grunewald.

PPS: Das Leipniz-Institut für Deutsche Sprache hat laut der Sprachforscherin Maike Park im Projekt „Neuer Wortschatz“ „über 1.200 neue und umgedeutete Corona-Wörter gesammelt“, wie das Deutschlandradio Kultur am 22. Februar 2021 meldet. Die hohe Zahl der neuen und umgedeuteten Wörter lässt sich als ein Effekt der tiefgreifenden Wissenserschütterung durch die Covid-19-Pandemie bedenken.


[1] Thomas Oberender: Die Liste eines Jahres. In: Süddeutsche Zeitung vom 04.01.2021. (Süddeutsche-Plus)

[2] Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege: Drei weitere Coronavirus-Fälle in Bayern – Zusammenhang mit dem ersten Fall – Bayerns Gesundheitsministerin Huml: Am Mittwoch sollen vorsichtshalber rund 40 Personen getestet werden. (Pressemitteilung vom 28.01.2020)

[3] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Kontaktperson. „Kontaktperson“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Kontaktperson>, abgerufen am 15.02.2021.

[4] Google-Suche: Kontaktperson. 20.02.2021 ca. 17:45.

[5] Thomas Oberender: Die … [wie Anm. 1].

[6] Digitales Wörterbuch … [wie Anm. 3].

[7] Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch. Gütersloh: Bertelsmann, 1997, S. 758.

[8] Digitales Wörterbuch … [wie Anm. 3].

[9] Chlodwig Poth: Kontaktperson. München/Gütersloh/Wien: Bertelsmann, 1975. (447 S., Ln.).

[10] Staatsbibliothek zu Berlin: StabiKat: Suche: Kontaktperson. (Suche am 20.02.2021 ca. 18:00 Uhr)

[11] Christa Rotzoll: Poth, Chlodwig: Kontaktperson. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.04.1975, S. 26.

[12] Helmut Müller-Enbergs: Kontaktperson (KP). In: MfS-Lexikon. In: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. https://www.bstu.de/mfs-lexikon/detail/kontaktperson-kp/  

[13] „abschöpfen“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/absch%C3%B6pfen, abgerufen am 19.02.2021.

[14] Ebenda Abschöpfen.

[15] Ebenda.

[16] Roland Barthes: Elemente der Semiologie. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1983, S. 20. (Zuerst Editions du Seuil 1964).

[17] BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, Rn. 1-233, http://www.bverfg.de/e/rs20130424_1bvr121507.html

[18] Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit: Anti-Terror-Datei – Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. (ohne Datum nach Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 18.12.2014)

[19] Zu Alain Turing, Künstliche Intelligenz und dem Turing-Test siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[20] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB>, abgerufen am 18.02.2021. (Konstabel)

[21] Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage, 1905–1909), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/Meyers>, abgerufen am 18.02.2021. (Kontakt).

[22] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Glossar zu COVID-19. https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/basisinformationen/glossar.html#c13200

[23] Siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[24] Siehe Bundesgesetzblatt Online Bürgerzugang: Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG) vom 20. Juli 2000. (Bundesgesetzblatt Teil I 2000 Nr. 33 vom 25.07.2000)

[25] Ebenda S. 1049.

[26] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG). Letzte Änderung 21. Dezember 2020. (Gesetze im Internet)

[27] Robert Koch-Institut: GBE-Glossar: K (Stand 20.02.2021).

[28] Robert Koch-Institut: Allgemeines zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Stand 14. 09. 2016.

[29] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz … [wie Anm. 26].

[30] Robert Koch-Institut: Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2006. Berlin 2007. (PDF)

[31] Ebenda S. 12 (Lassavirus) und S. 178 (Lassavirus).

[32] Vgl. zu den frühen Wissensmodellen vom Ursprung: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[33] World Health Organization: COVID-19 Virtual Press conference transcript – 9 February 2021. (Link)

Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“

Rasse – Erbe – Begriff

Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“

Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek

2024 steht, wenn die Covid-19-Pandemie beendet sein wird, was wir nicht wissen, am 22. April die Feier des 300. Geburtstags von Immanuel Kant an. Schon im Juni 2016 hatte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zu einer eintägigen Tagung „Weg zum Jubiläum“ mit Workshops zu „Kant und die Politik“ und „Kant und die Aufgabe der Kultur“ eingeladen.  Bereits seit 2011 wurde eine „Neuedition, Revision und Abschluss der Werke Immanuel Kants“ auf den Weg gebracht, da die Akademieausgabe seiner Werke von 1894 u.a. den wissenschaftlichen Maßstäben der Editionsforschung nicht mehr genügt. Am 9. November 2020 eröffnete Marcus Willaschek als Moderator die Livestreams zur „Interdisziplinären Diskussionsreihe“ der BBAW „Kant – Ein Rassist?“.

Für Februar 2021 sind weitere Livestreams zur drängenden Frage nach dem Rassismus in Kants Schriften, und ob Kant in den Fokus der Cancel Culture geraten könnte, angekündigt. Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fächern wie der Rassismusforscher Christian Geulen aus der Geschichtswissenschaft, die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt oder der Rechtswissenschaftler Cengiz Barskanmaz, die grundlegende Arbeiten in ihren Feldern publiziert haben, fragen danach, ob vor allem 2 kürzere Schriften von Immanuel Kant rassistisch formuliert sind.[1] Sie sind bereits zu widerstreitenden Urteilen gekommen. Am 5. Februar werden die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan, der Politikwissenschaftler Rainer Forst und der Mitarbeiter für das Kant-Editionsprojekt Michael Hackl über das Thema „Universalismus und Rassismus“ diskutieren.[2] Was hätte die Literaturforschung zur Diskussion beitragen können?

Der Philosoph, Kant-Experte und Mitherausgeber Marcus Willaschek der Akademieausgabe gebrauchte in seiner Anmoderation den neuartigen Begriff Cancel Culture, der in der Rassismusdebatte seit jüngster Zeit, nämlich seit Mitte 2020 in Umlauf ist. Müssen wir Kant canceln – sein Denken löschen? Der Begriff hängt eng mit Aktionen der Black Lives Matter-Bewegung in den USA und dem UK nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd bei dessen Festnahme durch weiße Polizisten in Minneapolis am 25. Mai 2020 zusammen. Während der folgenden Demonstrationen und Proteste wurde u.a. spektakulär die Statue von Edward Colston in Bristol von ihrem Sockel gerissen und im alten Hafenbecken versenkt. Dazu möchte ich ein persönliches Déjà Vu vorausschicken, weil Bristol und die Statue von Edward Colston nicht unbedingt zu den Reisezielen und zum Allgemeinwissen deutscher Reisender in Großbritannien gehören.

1999 reiste ich mit einer Gruppe Student*innen von Dublin nach Bristol, um an einem Studententheatertreffen teilzunehmen. Bristol klingt nach Luxus und Luxushotels wie das Hotel Bristol der Kempinski-Gruppe auf dem Kurfürstendamm oder das Hotel Bristol in Wien.  Bristol galt wie Dublin im 18. Jahrhundert als besonders reiche und schöne Stadt im British Empire. Beide machten sich beinahe den Rang der zweiten Stadt im Königreich streitig, obwohl Dublin mit dem Trinity College bereits seit 1592 eine Universität besaß. Bristol entwickelte sich indessen zu einer führenden Stadt des Handels. In der Stadtmitte, ganz in der Nähe des College Green und der University of Bristol stieß ich auf die Statue des elegant dargestellten Edward Colston (1636-1721), die ihm 1895 von Bürgern Bristols errichtet worden war, weil sie ihn als Philanthrop ehren wollten.[3] Doch Colston war wie die Stadt am Ende des 17. zum 18. Jahrhundert vor allem durch den Handel mit Sklaven für Westindien überaus reich geworden.

Als ich am 8. oder 9. Juni 2020 in den Tagesthemen sah, wie die Statue des menschenfreundlichen Kaufmanns und Sklavenhändlers in den Narrow Quai gestürzt wurde, wo die Schiffe für den Handel mit englischen Waren, afrikanischen Sklaven und Rohrzucker aus Westindien einst lagen, wunderte mich das gar nicht. Der Narrow Quai gehört mit der Waterfront seit Ende der 90er Jahre zu den malerischsten Wohn- und Geschäftsgegenden mit Sportbootliegeplätzen. 1999 fühlte ich bei meiner Reise den zerreißenden Widerspruch zwischen der Schönheit, dem einstigen Reichtum und dem rassistischen Menschheitsverbrechen des Handels mit Sklaven aus Afrika über Dreiecksgeschäfte und durch die in London gegründete Royal African Company.[4] Die Kaufleute von Bristol beherrschten den weltweiten Sklavenhandel über mehr als ein Jahrhundert. Bristol am Avon in Südwestengland ohne direkten Zugang zum Meer hatte im 18. Jahrhundert auf immer noch weithin unbekannte Weise vom Rassismus profitiert. Dafür war die Statue Edward Colstons an der Colston Avenue das Symbol.   

Die Statue von Edward Colston, die am Ende des 19. an einen Menschenfreund an der Schwelle zum 18. Jahrhundert erinnert – „Erected by citizens of Bristol as a memorial of one of the most virtuous and wise sons of their city” –, visualisiert eine nicht nur lokale Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung, die den Rassismus des Sklavenhandels leugnet.[5] Das viktorianische England bzw. Bristol machte aus Colston ein Vorbild für Philanthropie und einen der tugendhaftesten wie vernünftigsten Söhne der Stadt, gerade weil seine Vernunft in seiner Geschäftstüchtigkeit mit Westindien bzw. den sogenannten Trauminseln der Karibik bestand. Es ist mir wichtig, an diesen vor allem ökonomischen, weltwirtschaftlichen Kontext des Rassismus im 18. Jahrhundert zu erinnern, bevor Kants Texte in ihrer literarischen Rahmung und Abfassung analysiert werden sollen. Die Funktion Bristols an der Schnittstelle des Handels zwischen Europa, insbesondere London, Afrika und den westindischen Inseln in der Karibik für die damalige Weltwirtschaft rückt zunehmend in das Interesse der Forschung.

Kürzlich hat der Havard-Professor für Amerikanische Geschichte Sven Beckert in einem Gastbeitrag in der Wochenzeitung Die Zeit auf das „Barbados-Prinzip“ in der Mitte des 17. Jahrhunderts hingewiesen. Das ökonomische Prinzip der Zuckerrohrplantagen auf Barbados verwandelte die westindische Insel nicht nur in eine „Plantagenmaschine“, sie verbrauchte auch die Menschenleben zahlloser Sklaven. Bristol wurde zur entscheidenden Drehscheibe für den Handel mit englischen Produkten, westafrikanischen Sklaven und westindischem Zucker. Es gab zunächst keine andere, weil die Royal African Company zwischen 1672 und 1688 das Monopol im Handel mit Afrika bzw. Westafrika hielt.[6]
„Bridgetown, die Inselhauptstadt, stieg (…) zur wichtigsten Stadt in British America auf. Die Insel war zu einem Sklavenarbeitslager geworden, in dem sich Jahr für Jahr Tausende zu Tode schufteten, um den Appetit der Europäer auf Profit und Süßes zu stillen. Jeder dritte Sklave starb innerhalb von drei Jahren nach seiner Ankunft; jährlich mussten etwa 20.000 Sklaven in die Karibik importiert werden, um die Zahl der Arbeiter stabil zu halten.“[7]   

Der moderne Rassismus entstünde in Anknüpfung an Sven Beckert nicht zuletzt als Legitimation für ein europäisches Prinzip der Ausbeutung von Menschen aus Afrika. Beckert zeichnet in seinem Artikel scharf die Modellfunktion des „Barbados-Prinzip“ für den sich herausbildenden Kapitalismus. Denn: „Die Geschichte des Kapitalismus (…) ist ohne die Geschichte der Sklaverei nicht zu erzählen“.[8] Der Kapitalismus bildet nicht zuletzt moderne Lehranstalten und Institutionen des Wissens heraus. Die Harvard Universität wurde 1636 und Princeton 1746 gegründet, somit zu einer Zeit, in der der Sklavenhandel florierte. So kommt Beckert denn für diese Universitäten nicht zuletzt als Ort der Herausbildung von Wissen und wissenschaftlicher Diskurse vom Menschen und den Rassen zu dem Schluss:
„Wichtige europäische und nordamerikanische Institutionen, darunter einige der weltweit führenden Universitäten wie Glasgow, Harvard und Princeton, verdanken ihren frühen Wohlstand Profiten aus der Sklaverei.“[9]

Immanuel Kant beginnt seine Schriften zu den Racen mit der „Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbenjahre 1775“ unter dem Titel Von den verschiedenen Racen der Menschen[10]auf ebenso beiläufige wie unterhaltende Weise. Das überrascht. Das Frontispiz vor dem Text zeigt in spätbarocker Manier zwei weiße, wohlgenährte Kinder auf einer felsigen Insel unter einer Kokospalme. Ob Kant es ausgewählt hat oder sein „könig(licher) Hof- und Academ(ischer) Buchdrucker“ Hartung das Bild zum Text aus einem Vorrat an Kupferstichen assoziierte, wissen wir nicht. Es ist als interessierten Kant die „Racen“ zunächst kaum. Und es wird sich herausstellen, dass die Vorlesung nicht sehr viel weiterkommt, als in der „Ankündigung“ vorgedacht. Die Vorlesung werde „mehr eine nützliche Unterhaltung, als eine mühsame Beschäftigung seyn“ schickt er voraus.[11] Für eine „physische Geographie“ sind die „verschiedenen Racen der Menschen“ Kant entweder nicht so wichtig oder er misstraut dem Rassendiskurs überhaupt, zumal er ihn „etwas vor dem Verstand“ hält. Der Einstieg in die „Untersuchung“ über die „Racen“ wird in einer Weise gerahmt, mit der sich Kant zugleich von dieser absetzt.
„… daher die Untersuchung, womit ich diese Ankündigung begleite, zwar etwas vor den Verstand, aber mehr wie ein Spiel desselben, als eine tiefe Nachforschung enthalten wird.“[12]

Als Vorrede einer Ankündigung zu einer Vorlesung im größeren Rahmen der „physischen Geographie“ und damit einer Philosophie der Natur ist die doppelte, rhetorische Figur der Einschränkung und Entschuldigung bedenkenswert. Kant beginnt sein „Spiel“ mit der „Büffonsche(n) Regel“. Er knüpft insofern an den lebenden französischen und das heißt Pariser Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon und damit das zoologische Wissen seiner Zeit an, um zunächst einmal zwischen „Naturgattungen“ und „Schulgattungen“ zu unterscheiden. Damit konkretisiert sich der Ansatz, dass Immanuel Kant lediglich den Diskurs seiner Zeit rekapitulierte, den Christian Geulen in seinem Impulsreferat zu »„Rasse“ und „Rassismus“« in der Gesprächsreihe eingeführt hat. Die Vorrede, die in späteren Veröffentlichungen und Wiederabdrucken fehlt,[13] stützt die These. Wie sich beispielsweise im Abdruck des Textes schon 1799 in Immanuel Kant’s vermischte Schriften zeigt, entfaltet er ohne die Vorrede eine eigene Wirkmächtigkeit. Denn nun folgt diesem schon die Bestimmung des Begriffs der Menschenrace.

Die „Büffonsche Regel“ bietet die Ordnung, nach welcher Kant „glaub(t)“ – „Ich glaube mit vier Racen derselben auszulangen“ – die „Menschengattung“ in „Racen“ einteilen zu können.[14] Glauben heißt nicht denken oder verstehen. Das spielerische Verfahren des ersten Textes kann mit seiner Lexik wie dem Verb glauben durchaus gelesen werden. Denn für den Philosophen der Aufklärung ist der Modus des Glaubens nicht ernsthaft bzw. vernünftig. Doch auf die Vernunft und den Verstand kommt es Kant bekanntlich ganz entscheidend an. Der unterhaltende Charakter der Schrift ließe sich auch mit der widersprüchlichen Einteilung der „Racen“ lesen. Zwar teilt er „1. die Race der Weissen, 2. die Negerrace, 3. die Hunnsche (Mungalische oder Kalmukische) Race, 4. die Hindische oder Hindistanische Race“ ein, aber nur um im nächsten Satz die „Mohren (Mauren von Afrika)“ „zu der erstern“ zu „rechne(n)“.[15] Der Begriff der „Race“ selbst verweist in seiner Schreibweise auf das Französische.[16] Kant wird diese Schreibweise beibehalten. Eine Normalisierung zu Rasse setzt erst bei späteren Ausgaben ein.

Christina Brandt führte in ihrer Replik auf Christian Geulen an, dass Kant überhaupt erst in seinem zweiten Aufsatz, Bestimmung des Begriffs der Menschenrace, von 1785 ein eigenes, neues Wissenskonzept der Rasse entwickelt habe, das sich von dem späteren bei Darwin und des 19. Jahrhunderts unterscheide. Zwischen 1775 und 1785 gibt es einen wichtigen Einschnitt nicht nur im Denken Kants, vielmehr noch in seiner Popularität. 1781 veröffentlicht er seine Kritik der reinen Vernunft, die ihn schlagartig über Königsberg und seine Universität hinaus bekannt, wenn nicht berühmt macht. Sie wird mit Bestimmung des Begriffs der Menschenrace allerdings 1786 zum Gegenstand der Kritik z.B. durch den Reisenden Georg Forster, der 1772 mit Captain Cook in die Südsee gereist war. Die Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft mit der Herausbildung des Begriffs der Vernunft führt 1783 dazu, dass Johann Jakob Engel nun eine erweiterte Fassung der Vorlesungsankündigung ohne Vorrede(!) in seinem Sammelband Der Philosoph für die Welt druckt.[17] Bei späteren Veröffentlichungen wird diese wiederholt mit Hinweis auf Engel abgedruckt.[18] Der Text sei ihm „gütigst von Herrn Professor Kant in Königsberg (mitgetheilt)“ worden.[19] Engels Abdruck gleicht bis auf die eingehende Rahmung mit „mehr als ein Spiel“ im Wortlaut der Vorankündigung. Sie unterscheidet sich lediglich in einer Erweiterung und Schematisierung.[20]

Die Rahmung der Texte verändert sich vom „Spiel“ zum Kennen bzw. Wissen. 1785, nach zehn Jahren kommt Kant auf die Frage der „Menschenrace“ zurück, indem er nun eine Erweiterung der „Kenntnisse“ durch „neue() Reisen über die Mannigfaltigkeiten der Menschengattung“ feststellt. Obwohl 1778/1780 in Berlin Georg Forsters Reise um die Welt erschienen war, nennt Kant diesen nicht als Quelle für neue Kenntnisse. Wir wissen nicht, ob Kant das Furore machende Buch von Forster nicht kannte oder es aus argumentativen Gründen nicht zitierte. Es müsste gewiss an der Universität Königsberg vorhanden gewesen sein, weil der Austausch zwischen Berlin und Königsberg innerhalb Preußens funktionierte. Für die Novemberausgabe der Berlinischen Monatsschrift hat Kant 1785 einen neuen Ansatz gewählt.[21] In der Berlinischen Monatsschrift hatte er in der Dezemberausgabe von 1784 seinen epochalen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? platziert.[22] Insofern misst er seinem zweiten Text mit der Bestimmung des Begrifs einer Menschenrace eine abschließende Bedeutung bei. Denn die Berlinische Monatsschrift der Herausgeber Johan Erich Biester und Friedrich Gedike gehört zu den entscheidenden Medien in Fragen der Aufklärung.

Die Berlinische Monatsschrift wird in den 1780er Jahren neben der Literaturzeitschrift Der Teutsche Merkur von Christoph Martin Wieland aus Weimar zu einem weithin beachteten Organ der Debatten um die Aufklärung. So wird denn Kants Text an prominenter Stelle als zweiter nach dem Gedicht An den Quintus Dellius des Berliner Dichters Karl Wilhelm Ramler und vor der Übersetzung Nachrichten von den Jesuiten in Rußland aus der Warschauer Zeitung abgedruckt.[23] Als 4. Text erscheint ein Briefwechsel zwischen Johann Caspar Lavater in Zürich und dem Hofmedicus Marcard in Lausanne über Magnetische Desorganisation in Paris, Straßburg, und Zürich. Die Berlinische Monatsschrift vom November 1785 vereinigt eine ganze Bandbreite literarischer, wissenschaftlicher, journalistischer und philosophischer Texte zwischen Poesie des „deutschen Horaz“ Ramler und einer Art Leserbrief von einem „Struve“ aus Ruppin an Friedrich Gedike unter dem Titel Ein Vorschlag zur Verbreitung wahrer Aufklärung unter allen Ständen.[24]

Was weiß der Professor für Philosophie Immanuel Kant an der Albertus-Universität Königsberg, die nach der Universität Wittenberg und der Philipps-Universität Marburg 1544 von Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach als dritte protestantische Universität gegründet worden war, von der Welt, den Rassen und den „neuen Reisen“? Bekanntlich hat Kant sein Leben lang keine größeren Reisen unternommen und hielt sich nur zeitweise in der weiteren Umgebung von Königsberg auf. Forsters Bericht von seiner Weltreise findet keine Beachtung. Eine Art blinder Fleck, obwohl es Literatur von „neuen Reisen“ geht. Kant zitiert bzw. paraphrasiert in seinem zweiten Text den „Missionar Demaner“ und den Reisenden „Carrerer()“, um deren Kenntnis, Urteil bzw. Beschreibung mit einer Behauptung argumentativ in Zweifel zu ziehen. Für den „Begrif“ akzeptiert er die Kenntnisse durch Anschauung nicht.
„Ich hingegen behaupte, daß man in Frankreich von der Farbe der Neger, die sich dort lange aufgehalten haben, noch besser aber derer, die da geboren sind, in so fern darnach Klassenunterschied derselben von andern Menschen bestimmen will, weit richtiger urtheilen könne, als in dem Vaterlande der Schwarzen selbst.“[25]   

Die Eröffnung des zweiten Textes zur Frage der Menschenrassen erinnert mit dem Gestus der Bezugnahme auf aktuelle Ereignisse – „neue Reisen“ – mehr an eine rhetorische Figur oder gar das Medium „Monatsschrift“ bzw. Monatszeitung, als dass sie für den Begriff wichtig wäre. Kant führt wiederum in einer Art Unterhaltungston den Begriff als Mittel für die Konstruktion von Wissen ein. Ausdrücklich vermerkt er, dass es Rassen für ihn bzw. in naturphilosophischer Hinsicht gar keine „Menschengattung“ geben muss. Ihm geht es vielmehr um das „Princip“, nach welchem der Begriff der Rasse konstruiert sein müsste:
„Meine Absicht ist jetzt nur, diesen Begrif einer Race, wenn es deren in der Menschengattung giebt, genau zu bestimmen; die Erklärung des Ursprungs der wirklich vorhandenen, die man dieser Benennung fähig hält, ist nur Nebenwerk, womit man es halten kann, wie man will. Und doch sehe ich, daß übrigens scharfsinnige Männer in der Beurtheilung dessen, was vor einigen Jahren lediglich in jener Absicht gesagt wurde (), auf diese Nebensache, nämlich die hypothetische Anwendung des Princips, ihr Augenmerk allein richteten, das Princip selbst aber, worauf doch alles ankommt, nur mit leichter Hand berühreten.“[26]  

Das neuartige Prinzip für den Begriff der Rasse hatte Kant schon 1775 formuliert. Es ist das, die „Kette der Natursachen nicht (zu) verlassen“.[27] Doch das genügt noch nicht. Kant nimmt 1785 Bezug auf seine Veröffentlichung von 1783 in Engels Philosoph für die Welt, denn während die Ankündigung quasi mit der „Kette der Natursachen“ endet, bildet sie später den prinzipiellen oder methodischen Mittelteil.[28] Die Rasse muss sich aus der „Kette der Natursachen“ erklären lassen, weil dieses Prinzip den Philosophen vom „Dichter“ unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen „Dichter“ und „Philosoph“ wird somit zu einem Problem, das mit dem Prinzip als Art und Weise des Schreibens und Denkens gelöst werden muss. Daraus ergibt sich eine brennende Frage: Wie muss der Vorgang genannt werden, der die „Kette der Natursachen“ sicherstellt? Als Mittel und Modus der semiologischen Verkettung wird das Erben wichtig. Kant schreibt nun, dass der „Begrif einer Race (…) der Klassenunterschied der Thiere eines und desselben Stammes“ sei, „so fern er unausbleiblich erblich ist“.[29] Das Erben und Vererben wird zur Signatur der Rasse in der Moderne, weil nur dieses die „Kette der Natursachen“ garantieren kann.

Das Erben als Modalität der Übertragung und Verkettung tritt bei Kant an die Stelle der Schöpfung durch Gott und unterscheidet den „Dichter“ vom „Philosophen“. Wo Kant 1775 quasi abbricht und 1783 noch keine Lösung hat, beginnt die Suche nach einem Prinzip, das die „Kette der Natursachen“ garantiert und stabilisiert. Was sich zunächst wie eine elegante Replik auf Voltaire liest, wird zum Auftrag, eine Funktion für die Absicherung der „Kette“ zu formulieren, mit der es um die Absicherung der Aufklärung überhaupt geht. Die Rassen werden lediglich zu einem Exempel, an dem sich das Prinzip der Naturphilosophie durch (Ver)Erbung oder, wie es Kant nennt, „anerben“ vorführen lässt. Darauf insistiert Kant 1785. Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen haben darauf hingewiesen, dass die „Verschiebungen der Erbe-Konzepte um 1800 (…) ein Symptom weitreichender – aus der Rückschau wahrhaft epochaler – Umbrüche in Wissen und Praxis zugleich“ seien.[30] Das neue Erbe-Konzept schreibt ein philosophisches Problem um, das hier noch einmal scharf zitiert werden soll:
„Mit Voltären sagen: Gott der das Rennthier in Lapland schuf, um das Moos dieser kalten Gegenden zu verzehren, der schuf auch daselbst den Lapländer, um dieses Rennthier zu essen, ist kein übler Einfall für einen Dichter, aber ein schlechter Behelf für den Philosophen, der die Kette der Natursachen nicht verlassen darf, als da, wo er sie an das unmittelbare Verhängnis geknüpft sieht.“[31]

Marianna Lieder hat kürzlich in einem „Klassikerdossier“ von philomag die Rassismusfrage unter dem Titel Kant und der Rassismus diskutiert.[32] Auf Kants Konzept des Erbes geht sie nicht ein, weil es in der philosophischen Argumentation leicht überlesen wird. Es ist auch nicht entscheidend, ob Kant sich in seinen Texten zu den „Menschenrassen“ in ihrer Hierarchisierung widersprochen hat oder nicht. Das Frontispiz der thematisch allerersten Schrift visualisiert vielmehr den europäischen Kolonialismus und seinen Rassismus als ein niedliches Kinderspiel unter einer Palme. Es sind Kants literarische Verfahren, seine Zitierweisen, seine (Un)Kenntnis, seine Suche nach Unterscheidung zwischen „Dichter“ und „Philosoph“, die sein ebenso modernes wie imaginäres Selbst-Verständnis ganz erheblich berühren, die eine Rassenschrift hervorbringen. Ob Immanuel Kant damit als Rassist gelten muss, bleibt eine prekäre Frage.

Die umfangreiche, interdisziplinäre Diskussionsreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften kann in der Mediathek nachgeschaut werden. Die Themen »“Rasse“ und „Rassismus“«, »Kants Theorie der „Menschenrassen“«, »Rassismus ohne Rassen bei Kant?«, »Rassedenken und Rassismus im 18. Jahrhundert« wurden bereits besprochen. Nach europäischem Recht müsste Immanuel Kant laut Cengiz Barskanmaz, der Autor des Buches Recht und Rassismus – Das menschenrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse (2019) ist, mit juristischen Problemen in seiner Wortwahl und Schreibweise rechnen, weil sie nach der Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr unter das Recht der Meinungsfreiheit fielen. Auch das Bundesverfassungsgericht, für das der Kantische Begriff der Menschenwürde grundlegend sei, würde nach Artikel 3 Absatz 3 – „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, … benachteiligt werden.“ – Kants Schriften zur Rasse kritisieren. Am 27. November 2020 hat sich „eine klare Mehrheit“ im Bundestag dafür ausgesprochen „den Begriff „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes … ersetzen zu wollen“, um Rassismus zu bekämpfen.[33] Am 5. Februar stehen »Universalismus und Rassismus« als Thema der Diskussionsreihe auf dem Prüfstand. Für den 19. Februar wird die Frage „Wie umgehen mit Kants Schriften in Forschung und Lehre?“ angekündigt.

Torsten Flüh

Das Beitragsbild ist ein Screenshot des Frontispiz‘ eines Originals von Kants Vorlesungsankündigung Von den verschiedenen Racen der Menschen von G. L. Hartung in Königsberg 1775. Die Blogfotos wurden auf der Kantstraße in Berlin am 2. Februar 2021 zwischen ca. 18:30 Uhr und 20:00 Uhr während des „harten“ Lockdowns aufgenommen. Die Kantstraße wurde am 23. Februar 1887 nach Immanuel Kant benannt.

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Kant – Ein Rassist?
Veranstaltungen
Mediathek


[1] Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Mediathek: Kant – Ein Rassist? Interdisziplinäre Diskussionsreihe. Stand 4. Februar 2021.

[2] Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Veranstaltungen – Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Stand 4. Februar 2021.

[3] Wikipedia: Statue of Edward Colston.

[4] Historic England: Statue of Edward Colston. Stand 11. Juni 2020.

[5] Inschrift auf dem Sockel der Statue. Ebenda.

[6] Ebenda.

[7] Sven Beckert: Das Barbados-Prinzip. Der Weg in den modernen Kapitalismus begann auch in der Karibik: Europäische Plantagenbesitzer schufen hier im 17. Jahrhundert einen rein kommerziellen Modellstaat auf dem Rücken Abertausender versklavter Afrikaner. In: Die Zeit N° 3, 14. Januar 2021 S. 17 oder Digital als Zeit+.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen. Königsberg: Hartung, 1775. (Digitalisat der Originalausgabe Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz).

[11] Ebenda S. 2.

[12] Ebenda.

[13] Siehe beispielsweise: Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen. In: Immanuel Kant’s vermischte Schriften. Zweiter Band. Halle: Rengersche Buchhandlung, 1799, S. 605-635. (Digitalisat)

[14] Immanuel Kant: Von … [wie Anm. 10] S. 4.

[15] Ebenda.

[16] Siehe: Rasse, die, Herkunft im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, DWDS.

[17] Johann Jakob Engel (Hg.): Der Philosoph für die Welt. Carlsruhe: Christian Gottlieb Schmieder, 1783, S. 100-131. (Digitalisat der Originalausgabe Österreichische Nationalbibliothek)

[18] Siehe N.N. Herausgeber: Immanuel Kants frühere, noch nicht gesammelte kleine Schriften. Linz, auf Kosten des Herausgebers, 1795, S. 87. (Digitalisat)

[19] Johann Jakob Engel (Hg.): Der … [wie Anm. 17] Fußnote S. 100.

[20] Immanuel Kant: Von … [wie Anm. 9] S. 2.

[21] Immanuel Kant: Bestimmung des Begrifs einer Menschenrace. In: Berlinische Monatsschrift, 1785, Elftes Stück, S. 390–417. Berlin: Haude und Spener, 1785. (Google Digitalisat) und N.N. Herausgeber: Immanuel … [wie Anm. 18] S. 107.

[22] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift Bd. 4, 1784, Zwölftes Stück, S. 481–494. Berlin: Haude und Spener, 1784. (Wikipedia)

[23] Berlinische Monatsschrift … [wie Anm. 21] S. 418.

[24] Ebenda S. 472-477.

[25] Ebenda S. 392.

[26] Ebenda S. 390-391.

[27] Immanuel Kant: Von … [wie Anm. 10] S. 12.

[28] Johann Jakob Engel (Hg.): Der … [wie Anm. 17] S. 124.

[29] Immanuel Kant: Bestimmung … [wie Anm. 21] S. 407.

[30] Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 14.

[31] Johann Jakob Engel (Hg.): Der … [wie Anm. 17] S. 124-125.

[32] Marianna Lieder: Kant und der Rassismus. In: Philosophie Magazin 02. Januar 2021.

[33] Deutscher Bundestag: Dokumente: 1. Lesung: Mehrheit der Fraktionen gegen den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz. (sto/mwo/27.11.2020)

Das Gespenst der Epidemie

Sanatorium – Tuberkulose – Freiheit

Das Gespenst der Epidemie

Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann

Ein striktes Zeitregime der „Liegedienst(e)“, Mahlzeiten, Spaziergänge, des Temperaturmessens, der Abendgesellschaft und Nachtruhe herrscht im Sanatorium „Berghof“, das sich leicht als das historische Sanatorium Schatzalp entschlüsseln lässt.[1] Es bringt paradoxer Weise die Zeit zum Verschwinden, indem sie konsumiert wird. Letztlich wird es ein eigentümlicher Zeitverlust von sieben Jahren sein, den Hans Castorp in der Höhenregion oberhalb von Davos Platz zu verbuchen haben wird. Dieser Zeitverlust wird wiederholt und als „Exkurs über den Zeitsinn“ oft voller Ironie besprochen, weil ständig das Leben vermessen wird.

Insofern das Sanatorium als Konstruktion von Körper, Gesundheit und Krankheit seine eigene Zeitordnung generiert, gibt es einen Wink auf die heutzutage Lockdown genannte Praxis der Kontaktbeschränkung, die ihrerseits eine der Quarantäne ist. Das Sanatorium wird im 19. Jahrhundert aus der schleichenden Tuberkulose-Epidemie geboren. Doch in Thomas Manns humorvollem Bildungsroman wird von Infektion und Epidemie erstaunlich wenig, fast gar nicht gesprochen. Aber viel gelacht. Das Sanatorium ist bei Mann ein Ort der Absonderung von der geschäftigen Welt im Flachland, in dem allerdings mehr Kontakte gesucht als beschränkt werden. Zugleich komponiert Thomas Mann seinen Roman mit dem Literaten Lodovico Settembrini nach Dante Alighieris Divina Commedia.

Die Konstruktion Sanatorium findet ihr Ende, als seit den 50er Jahren zunehmend Medikamente zu ihrer erfolgreichen Behandlung zum Einsatz kommen und Gesundheitsämter in Deutschland zwischen 1939 und 1983 durch „Röntgenreihenuntersuchungen“ die „gefährliche Seuche“ stoppen und beenden können.[2] Einen Impfstoff, um den Körper gegen das Mycobacterium tuberculosis zu immunisieren, gibt es bis heute nicht.[3] Robert Kochs Versuch, einen Impfstoff zu entwickeln und durch Tests an sich selbst wie an seiner Geliebten und späteren zweiten Ehefrau Hedwig Freiberg sowie an seinem japanischen Assistenten Kitasato zu bestätigen, 1890 auf dem X. Internationalen Medizinischen Kongress in Berlin auf politischen Druck(!) vorgestellt, schlug nach einem kurzzeitigen Tuberkulin-Tourismus-Boom in Berlin spektakulär fehl.

Seit den 60er Jahren wurden Tuberkulosespezialisten wie Thomas Manns Direktor des Sanatoriums „Berghof“ „Hofrat Behrens“ z.B. zu Asthmaspezialisten in Davos. Anders gesagt: Mit dem Ende der Tuberkulose-Epidemie werden beispielhaft in Davos Sanatorien zu Kliniken für Asthma und Allergien, bevor sie wie die Schatzalp in luxuriöse „Berghotel(s)“ und Wellness Resorts mit „Sommerrodelbahn“ und „Geschichtsblog“ verwandelt wurden.[4] Das Sanatorium war nicht zuletzt ein Geschäftsmodell. Christian Virchow berichtet, wie er im Oktober 1959 in ein „Tuberkulose-Sanatorium“ als Assistenzarzt eintrat, später die Leitung übernahm und die „Klinik“ modernisierte, um „Asthmaspezialist und Allergologe“ in Davos zu werden.
„Dank unterschiedlicher tuberkulostatischer und tuberkulocider Medikamente, die immer wirkungsvoller wurden, nahm die Zahl der Kranken ab; in den westlichen Ländern begann die Tuberkulose bedeutungslos und damit historisch zu werden.“[5]

Der Zauberberg kann als eine Komposition aus zahlreichen Texten darunter die Göttliche Komödie von Dante gelesen werden, wie es u.a. Heinrich Detering vorgeschlagen hat.[6] So ist der Roman aus sieben Kapiteln oder Sätzen wie in der Musikliteratur und einem „Vorsatz“ komponiert. Einundfünfzig einzelne Zwischentitel oder Überschriften strukturieren den Roman thematisch zwischen „Ankunft“ über „Frühstück“, „Exkurs über den Zeitsinn“, „Freiheit“ und „Enzyklopädie“ bis „Der Donnerschlag“.[7] Im Unterschied, doch korrespondierend ist Die Göttliche Komödie in 3 Teile – Inferno/Hölle, Purgatorio/Läuterungsberg, Paradiso/Paradies – und dreiunddreißig „Gesänge“ sequenziert.[8] Es ist der „Literat“, der im Roman die Verquickung von Zauberberg und Divina Commedia, von Sanatorium und Hölle anspricht. Settembrini macht keinen Hehl daraus, dass der Aufstieg ins Sanatorium oberhalb von Davos ein Abstieg „zu uns Heruntergekommenen“ (S. 91) genannt werden muss. Er zitiert Vergil mit dem Totengott „Dis“, wodurch der Weg auf der Alp zu einem durch das Totenreich transformiert wird:
„»Unser Leutnant treibt zum Dienst. Gehen wir also. Wir haben den gleichen Weg. – rechtshin, welcher zu Dis, des Gewaltigen, Mauern hinstrebt. Ah, Virgil, Virgil!“[9][10]

Das Vergil-Zitat aus der Aeneas gibt seinerseits einen Wink auf diesen selbst als Führer durch die Unterwelt im Inferno und Purgatorio der Göttlichen Komödie von Dante. Kraft der Aeneas-Erzählung wird Vergil zum Jenseitsführer an Dantes Seite. Dante zitiert Vergil, um ihn zum Führer durch das Jenseits zu machen. Ein Zitatwissen und dessen Transformation generiert die Divina Commedia. Korrespondierend spricht Settembrini denn auch von dem Sanatoriumsdirektor, „Erfinder der Sommersaison“ (S. 97) und Arzt Behrens als „Radamanth“, dem Richter der Unterwelt, und dem Sanatorium, als „Schreckenspalast()“(S. 96). Die „Oberaufseherin“ nennt er ein „Petrefakt“ im Sinne einer Versteinerung oder eines Fossils, das dem Reich der Toten angehört. Was voller „Bosheit“ im „Geist der Kritik“ (S. 96) von Settembrini erzählt und geschmäht wird, lässt sich auf diese Weise selbst als eine Unterweltführung lesen. Hans Castorp könnte seine Erzählung beginnen wie Dante, da er als junger Mensch gewissermaßen vom Weg seiner Schiffsbau-Ausbildung nach Davos „verschlagen“ worden ist:
„Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.
Wie schwer ist’s doch, von diesem Wald zu sagen,
Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Noth;
Schon der Gedank‘ erneuert noch mein Zagen.“[11]   

Die Divina Commedia wird von Dante selbst im Ersten Gesang als ein Re-Writing der Aeneas formuliert. Indem sich ein „Schatten“ als „Poet“ vorstellt, der „Anchises Sohn“ sang, wird er an der Erzählung von Dante als „Virgil“ erkannt und zu seinem Führer durch das Jenseits gemacht. Dantes Literaturwissen erkennt Vergil. Die Wissensübertragung durch das „Forschen“ in den Schriften wird sogleich poetologisch in eine Führung verwandelt. So spricht es Dante mit „Scham“, wobei diese selbst einem schuldhaften Wissen vom Unwissen entspringt. Das Erkennen durch die Erzählung lässt Dante selbst zum Menschen werden. So bemerkt schon sein Übersetzer Karl Streckfuss in einer Fußnote, dass Dante „die Werke Virgils zum Gegenstand seines fleißigsten Studiums gemacht hatte“.[12] Die Divina Commedia generiert sich aus dem Übersetzen und Re-Writing.
„„So bist du,““ rief ich, „„bist du der Virgil,
Der Quell, dem reich der Rede Strom entflossen?““
Ich sprach’s mit Scham, die meine Stirn befiel.
„„O Ehr‘ und Licht der andern Kunstgenossen,
Mir gelt‘ itzt große Lieb‘ und langer Fleiß,
Die meinem Forschen dein Gedicht erschlossen.
Mein Meister, Vorbild! dir gebührt der Preis,
Den ich durch schönen Stil davongetragen,
Denn dir entnahm ich, was ich kann und weiß.
Sieh dieses Thier, o sieh mich’s rückwärts jagen,
Berühmter Weise, sei vor ihm mein Hort,
Es macht mir zitternd Puls‘ und Adern schlagen.““ (V. 79 bis 89)

Annette Simonis hat in ihrer Thomas Mann-Lektüre wohl auf die Danterezeption mit Über Dante (1921) hinsichtlich eines „Schriftstellertypus“ hingewiesen. Doch sie geht auf den Zauberberg-Roman nicht ein. Vielmehr macht sie auf Doktor Faustus aufmerksam, dem „neun Verse aus dem zweiten Gesang von Dantes Inferno in der italienischen Originalsprache als Motto vorangestellt“ sind.[13] In Doktor Faustus wird motivisch, explizit und auf unterschiedliche Weise von Mann auf Dante Bezug genommen. Settembrini wie Serenus Zeitblom positionieren sich in den Erzählungen als Humanisten über Dante. Dante wird nach Simonis eine Art Referenzpunkt in der europäischen Kulturgeschichte nach dem, wie der Biograph Zeitblom die Persönlichkeit und Werkbiografie des Komponisten Adrian Leverkühn konstruiert.
„Der Erzähler hebt besonders die gelungene und eindringliche Vertonung jener Stelle aus dem Purgatorio, wo von dem Lichtträger die Rede ist, hervor, wobei die aufmerksamen Leser durchaus eine Selbststilisierung Leverkühns erahnen können, ohne dass diese selbstreflexive Komponente explizit erwähnt würde“.[14]

Thomas Manns intensive und langjährige Rezeption Dantes mit der Divina Commedia als Dichter des Humanismus wird fortlaufend transformiert. Gerade im Exil- ebenso wie Musik-Roman Doktor Faustus der 40er wie dem Sanatorium- und Tuberkulose-Roman Der Zauberberg der 10er und beginnenden 20er Jahre schreibt Dantes Humanismus an den Romanen mit.[15] Die Abgeschlossenheit des Sanatoriums „Berghof“ mit seinem eigenen Zeitregime bietet einen Prospekt für die humanistische Edukation Hans Castorps durch die Literaturfigur des Literaten Settembrini. Die Tuberkulose-Epidemie und die Infektionswege werden insofern um die Jahrhundertwende als ein Problem des Humanismus (S. 100) verhandelt. Zwar spricht Settembrini scherzhaft „Mischinfektionen“ (S. 98) und mangelnde Hygiene an, aber die Oberaufsicht hat der „Höllenrichter“(S. 99). Settembrinis Ironie führt den Humanismus auf und kritisiert nonchalant das Sanatorium als kapitalistische Konstruktion.

Über Settembrini lässt sich Thomas Mann regelrecht zu einer Kapitalismuskritik hinreißen. Nicht nur wird die Tuberkulose als Lungenkrankheit vom Medizinwissen mit der „Gehirntuberkulose“ ins Lachhafte gedreht. Vielmehr wird der adelig-wissenschaftliche Titel „Hofrat“ ins Unsinnige wie Kommerzielle gewendet, weil es erstens in der Schweiz keinen „Hof“ gibt, er ihn zweitens „von einem an Gehirntuberkulose leidenden Prinzen erhalten“ haben soll und drittens sich der Rat auf den „Berghof“ als Sanatorium bezieht, wo vielerlei Rat erteilt wird. (S.97) Die zuvor als Phthise, Schwindsucht oder Auszehrung benannte Krankheit wird nun metabolisch ins Gehirn verlagert. Als „Erfinder der Sommersaison“ tritt vor allem der rhetorisch verbrämte „Erwerbssinn“ des „Hofrats“ hervor. Die wissenschaftliche „Lehre“ wird vom „Hofrat“ mit einem „Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstab“ (S. 121) durchaus phantastisch nach dem „Erwerbssinn“ gewendet und medienstrategisch „in die Presse lanciert“:
„Er habe die Lehre aufgestellt, daß, wenigstens soweit sein Institut in Frage komme, die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dieses Theorem unter die Leute zu bringen gewußt, habe populäre Artikel darüber verfaßt und sie in die Presse lanciert. Seit dem gehe das Geschäft im Sommer so flott wie im Winter. »Genie!« sagte Settembrini. »In-tu-i-tion!« sagte er. Und dann hechelte er die übrigen Heilanstalten des Platzes durch und lobte auf beißende Art den Erwerbssinn ihrer Inhaber.“[16]

Die Kapitalismuskritik wird von der Ironie in einen „beißende(n)“ Zynismus transformiert. Die Welt der „Heilanstalten“ in Davos wird als ein gut florierendes System entlarvt. Dieses System aus Kapitalismus und Medizin wird lexikalisch und kompositorisch unterlegt mit der Führung durch die Hölle. Die „Patienten“ werden gar ausgezehrt und in den Alkoholismus getrieben – „daß die Leute wie die Fliegen stürben, und zwar nicht an Phthise, sondern an Trinkerlebern …“(S. 98). Der auktoriale Erzähler kommentiert die zynische Erzählung von den „Heilanstalten“ als „Wendungen und Formen, (…) grammatische Beugung und Abwandlung der Wörter“, denen sich Settembrini bediene als „viel zu klaren und gegenwärtigen Geistes, um sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen“. Über dem Sanatorium wacht der „Höllenrichter“, der dann gerade um die Ecke kommt. (S. 99) Was fast wie eine Verschwörungstheorie klingt, wird auf diese Weise als Diskurs der Wahrheit über das Sanatorium markiert.

Das Sanatorium ist gerade kein (christliches) Hospiz, vielmehr entspringt es dem Kapitalismus und der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Insoweit Settembrini mit dem Abschnitt „Satana“, was sich fast als ein Anagramm von Sanatorium oder als Pluralbildung von Satan lesen ließe, nicht nur als Figur in den Roman eingeführt, vielmehr noch das Sanatorium als kapitalistische Konstruktion vorgeführt wird, kommt diesem eine entscheidende Funktion für den Roman zu. Auf bedenkenswerte Weise werden die Sanatoriumärzte als kapitalistische Ausbeuter der Krankheit ihrer Tuberkulose-Patienten angeschrieben. Natürlich gibt es auch heute noch Heilanstalten, die sich Sanatorium nennen. Und es gibt in Sanatorien Direktoren. Sie sind in Krankenhäusern nicht nur für den wissenschaftlichen, medizinischen und organisatorischen Bereich zuständig, vielmehr noch haben sie den rechtlichen wie wirtschaftlichen Bereich der Klinik sicher zu stellen. So ist es keinesfalls Ironie, sondern systembedingt, dass während der aktuellen Covid-19-Pandemie Klinikdirektoren über leere Intensivbetten klagen. Die Klinik hat sich nicht erst in den letzten Jahren zu einem Wirtschaftsunternehmen gewandelt.

Die thematischen Titel der Abschnitte wie u.a. „Freiheit“ geben einen Wink auf Thomas Manns Kompositionsverfahren. Es geht weniger darum, einen Begriff zu bestimmen, als vielmehr ihn durchzuspielen. Das geschieht äußerst kunstvoll. So bietet ein kurzer Wortwechsel zum anstehenden Datum des ersten Oktober zwischen Hermine Kleefeld, Rasmussen und Gänser das Vorspiel zum Thema „Freiheit“. Hermine nennt das Sanatorium nicht nur ironisch „Lustort“ (S. 335), sie fühlt sich vielmehr „um das Leben betrogen“, weil doch die Lust und Wollust wenigstens seit Voltaire und der Aufklärung im 18. Jahrhundert zur libertären Lebenspraxis gehören.[17] Doch das Sanatorium als Ort der Unfreiheit ist paradoxerweise ein Lustort „in des Wortes zweifelhaftester Bedeutung“ (S. 335) für Hermine Kleefeld und ihre Freunde nach Settembrini. Indem die rhetorischen Mittel oder „klassischen Mittel der Redekunst“ (S. 336) Ironie und „Paradoxe“ (S. 337) angesprochen werden, geben sie zugleich einen Wink auf Thomas Manns Kompositionsweise. Sie folgt den Praktiken der Rhetorik und setzt diese ein, um die Romanhandlung voranzutreiben.

Das Thema Freiheit wird insofern mit dem Schauplatz des Romans selbst verknüpft. Das Sanatorium wird zu einem Ort der Freiheitsversprechen durch eine strikt geregelte Unfreiheit auf Zeit. Einerseits schimmert dabei die Lektüre der Philosophie der Aufklärung durch, andererseits dockt Thomas Mann mit der Sexualität, den Sexualpraktiken und dem Wissen von der Sexualität an die Psychoanalyse Siegmund Freuds an. Der Zauberberg wird zu einem guten Teil nicht nur als eine éducation sentimentale, sondern als eine éducation sexuelle entfaltet. So kommt denn Settembrini über die „Analyse“ als „Werkzeug“ (S. 338) auf die „Freiheit“ explizit zu sprechen. Analyse – wie Psychoanalyse – unterwühlten „die Autorität“, „mit anderen Worten, indem sie befreit“. (S. 338) Das Versprechen der Psychoanalyse läuft auf eine befreite Sexualität hinaus. Andeutungsweise spricht Settembrini davon, dass die „Analyse“ den Weg über den „Tod“ nehmen kann, wenn nicht muss. Das betrifft nicht nur den zu analysierenden Körper.

Ironischerweise hat Hans Castorp durch ein Röntgenbild als Analysetechnik, also seinem Körper als einem toten, seine „Freiheit“ gewonnen, um sich zu einer Fortsetzung seines Aufenthalts im Sanatorium zu entschließen. Die mehrdeutige „Lichtanatomie“(S. 338), die sowohl tötet wie Licht und Erkenntnis ins Körperinnere bringt, hat seinen Körper nicht nur analytisch „durchleuchtete“ und zum toten „Skelett“ gemacht, das „Diapositiv“ (S. 366) wird später auch als „Ausweis“ (S. 367) zum rechtmäßigen Aufenthalt im Sanatorium gebraucht. Doch die Freiheit ist für Castorp nicht zuletzt eine Frage der sozialen, „seiner Klasse“ (S. 341) und der „regelmäßigen Anweisung der nötigen Geldmittel“ von „800 Mark monatlich“ (S. 342), was um 1912 ein ziemliches Vermögen gewesen sein dürfte. Der Brief an den Onkel „befestigte Hans Castorps Freiheit[18], wie es in gesperrtem Druck in der Originalausgabe heißt.[19]

Die „mit schwarzen Papierstreifen gerahmte Glasplatte“ (S. 367) als „Legitimation“ verschafft eine „F r e i h e i t“ im Rahmen des Kapitalismus bzw. der kapitalistischen Ordnung. Thomas Manns druckgraphische Markierung des Begriffes am Ende des Abschnitts über „Freiheit“ könnte auch als eine Art Tusch gehört werden. Denn diese Freiheit ist eine mehr als exklusive – und verrät die Freiheit zugleich. Castorps Verrat an der Freiheit, indem er sie sich nimmt, sollte als Pointe nicht unterschätzt werden. Die „800 Mark monatlich“ für den Aufenthalt auf der Schatzalp werden ein relativ realistischer Betrag sein, weil Thomas Mann seine Frau Katia wegen einer Fehldiagnose auf Tuberkulose dort 1912 besuchte. Nun ist eher Heinrich als Thomas Mann als Kapitalismuskritiker gelesen worden, doch in Anbetracht der Kompositionsweise und der einmaligen druckgraphischen Hervorhebung ließe sich zumindest eine Verärgerung über die Kosten denken.

Das Freiheitsthema kehrt nicht zuletzt final im Suizid Naphtas wieder. Dr. Leo Naphtas als „Mut“ (S. 1070) gerechtfertigter Suizid geht eine radikale Diskussion über die Freiheit voraus, die zu einem Pistolenduell zwischen Settembrini und Naphta führt.[20] Der Freiheitsbegriff Naphtas ähnelt mit seiner Kritik am „Individualismus“ jenem autoritären und hierarchischen, der sich in den Milizen der radikalen Trump-Wähler in den USA Bahn gebrochen hat, indem sie ihre Freiheitsrechte mit evangelikalen Glaubenslehren verkoppeln. Naphtas kirchenhistorische Argumentation wird ebenso zusammen gewürfelt, wie sie sich oft bei Verschwörungstheoretikern findet, die selbstverständlich in Anspruch nehmen, dass ihre Erzählungen „die Autorität“ der Verschwörer untergraben und die Menschen befreien sollen.
„Man sei freilich gezwungen, in der Hierarchie eine Freiheitsmacht zu erblicken, denn sie habe der schrankenlosen Monarchie einen Damm entgegengesetzt. Die Mystik des ausgehenden Mittelalters aber habe ihr freiheitliches Wesen als Vorläuferin der Reformation bewährt, – der Reformation, he, he, die ihrerseits unauflösliches Filzwerk von Freiheit und mittelalterlichen Rückschlägen gewesen ist …“[21]   

Naphta gehört nicht der Sphäre des Sanatoriums an. Er ist kein Patient des Sanatoriums, das auf ambige Weise als Ort der Freiheit wie der Unfreiheit erzählt wird und das aus der Tuberkulose-Epidemie heraus entstanden ist. Die Tuberkulose-Epidemie des 19. Jahrhunderts, die aufs Engste mit der Industrialisierung, industriellen Wohnverhältnissen und Hygienebedingungen verknüpft ist, kommt in der luxuriösen Abgeschiedenheit des Sanatoriums nicht vor. Denn dort verkehren nur Menschen der „Klasse“ Hans Castorps oder haben zumindest Zugang zu dieser. Gleichwohl werden Bauweise des Sanatoriums mit abgetrennten Balkonen in frischer Landluft und sein technisches Arsenal wie der Röntgenapparat zum Modell für den gesundheitspolitischen Kampf gegen die Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten des 20. Jahrhunderts. Ich möchte es einmal so formulieren: Thomas Mann erzählt nicht von der Epidemie, weil er sich mittendrin in der Quarantäne befindet.

Torsten Flüh

Aufbau – Die erste Figur schlägt einen Trümmerstein mit einem Hammer zu, sie enttrümmert ihn sozusagen, eine weitere Figur reicht Steine nach oben zum Bauen.

PS: Die Fotos zeigen die Trümmersäule und ihr Bildprogramm auf dem Max-Josef-Metzger-Platz in Berlin-Wedding. Der Stadtteil Wedding ist mit seinen Fabriken wie AEG, Arbeiterquartieren und Wohnmaschinen mit etlichen Hinterhöfen aus der Industrialisierung hervorgegangen. Die quadratische Stele wurde aus 40.000 Trümmersteinen der Umgebung zu Beginn der 50er Jahre von Gerhard Schulze-Seehof konzipiert. Rote, weiße und schwarze zertrümmerte Ziegelsteine wurden mit Zement verbaut und wie in der graphischen Literatur zu Bilderstreifen arrangiert. Am Fuße der jeweiligen Bildseite sind die Begriffe „Demokratie“, „Zerstörung“, „Sklaverei“ und „Aufbau“ eingelassen. Die Gegenseite von „Demokratie“ erzählt in aufsteigender Weise vom „Aufbau“, wie die der „Sklaverei“ von „Zerstörung“. Die „Sklaverei“ wird nicht mit dem Kolonialismus kontextualisiert, sondern abstrakt in der Haltung der Figuren als Gefangen- und Knechtschaft verallgemeinert. Die Stele lässt sich heute als Mahnmal an die Berliner Trümmerfrauen ebenso wie an die Opfer von Faschismus und Kommunismus rezipieren. Quasi gegenüber wurde an der Müllerstraße Anfang der 60er Jahre die Parteizentrale der Berliner SPD erbaut.


[1] Siehe dazu: Torsten Flüh: Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020. Wie die Kombucha-Brauerei Bouche in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2020.

[2] Zur Einführung und Begründung des Gesetzes über Röntgenreihenuntersuchungen schreibt der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. med. H. J. Sewering: „Die Tuberkulose sei immer noch eine gefährliche Seuche und die einzige Methode, ihrer Herr zu werden, stelle die in regelmäßigen Abständen erfolgende Röntgenreihenuntersuchung der Gesamtbevölkerung dar.“ H. J. Sewering: Der Wert der Röntgenreihenuntersuchungen für die Bekämpfung der Tuberkulose in Bayern. In: Bayerisches Ärzteblatt. Heft 6. München, Juni 1958 (PDF), S. 126.

[3] RKI-Ratgeber: Tuberkulose. Stand 21.02.2013.

[4] Siehe: https://www.schatzalp.ch

[5] Christian Virchow: Medizinhistorisches um den „Zauberberg“. „Das gläserne Angebinde“ und ein pneumologisches Nachspiel. In: Augsburger Universitätsreden 26. (Herausgegeben vom Rektor der Universität Augsburg) Augsburg: Presse-Druck, August 1995, S. 2. (PDF)

[6] Heinrich Detering: Komparatistik 3 4 Thomas Mann und Dante. PDF (ohne Jahr – vermutlich Wintersemester 2019/2020.)

[7] Thomas Mann: Der Zauberberg. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer, Mai 2012.

[8] Dante Alighieri: Göttliche Komödie. Übersetzt und erläutert von Karl Streckfuss. Braunschweig: Schwetschke, 1871.

[9] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 96.

[10] Vgl. auch: Andreas Patzer: „Joachim Ziemßen drängt zur Liegekur, und Settembrini willfährt seinem Drängen: (nämliches Zitat) Wie die Erwähnung des römischen Totengottes Dis anzeigt, entstammt dieses Hexameter-Zitat einer Unterwelterzählung, die in der lateinischen Literatur beheimatet ist.“ Andreas Patzer: Ah Virgil, Virgil! – Der Speichellecker des Julischen Hauses. In: Thorsten Burkard, Markus Schauer, Claudia Wiener (Hrsg.): Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der Neuzeit. Berlin/New York:  Walter de Gruyter, 2010, S. 326.

[11] Dante Alighieri: Göttliche … [wie Anm. 4] S. 29.

[12] Ebenda S. 31, Fußnote 82.

[13] Annette Simonis: Ein Traum von einer schmalen Lorbeerkrone“ Zur Danterezeption bei Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal. In: Michael Dallapiazza und Annette Simonis (Hrsg.): Dante deutsch. Die deutsche Dante-Rezeption im 20. Jahrhundert in Literatur, Philosophie, Künsten und Medien. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Bern: Peter Lang, 2013, S. 22.

[14] Ebenda S. 24.

[15] Zu Doktor Faustus siehe auch: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll  op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[16] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 98.

[17] Zur Lust und Wollust, französisch volupté vgl. Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.

[18] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 342.

[19] Michael Neumann: Nachwort. In: Ebenda S. 1099.

[20] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 1053-1055.

[21] Ebenda S. 1054.

Von der Fiktionalität der Epidemie

Epidemie – Polio – Männlichkeit

Von der Fiktionalität der Epidemie

Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944

Als ich Alegra Lohmann kennenlernte, war sie schon alt, lebte im Kieler Stadtkloster und erzählte so gut wie gar nichts von ihrer Kinderlähmung, deren Spuren ihren Körper und ihr ganzes Leben geprägt hatten. Der Vorname Alegra war mir als jungem Menschen Mitte der 70er Jahren völlig unbekannt. Deshalb war Alegra von Anfang an besonders für mich. Welche Laune ihrer Eltern Alegra den Vornamen verliehen hatte, wagte ich nicht zu fragen. Eine gewöhnliche Frau, die um die Jahrhundertwende in Kiel oder ganz Schleswig-Holstein geboren worden war, hieß jedenfalls nicht Alegra, die Fröhliche. Maria, meine Großmutter mütterlicherseits, wurde Mimi von ihren Verwandten genannt. Erika, Martha, Elli und Alice waren die Namen meiner Großmutter väterlicherseits und ihrer drei Schwestern. Wobei Alice schon ziemlich extravagant klang. Asta gar, hieß eine Nachbarsfrau gleichen Alters. Aber Alegra hieß nur Frau Lohmann.

2010 hat Philip Roth seinen Roman Nemesis veröffentlicht. 2018 verstarb der amerikanische, in Newark, New Jersey, geborene Schriftsteller im Alter von 85 Jahren, nachdem er 31 Bücher geschrieben hatte, die teilweise mit wichtigen Buchpreisen prämiert wurden. Ende der neunziger Jahre wurde Philip Roth wiederholt als Kandidat für den Literaturnobelpreis ins Spiel gebracht. Nemesis erreichte 2011 einen Platz auf der Shortlist des Wellcome Trust Book Prize für die beste Medizin-Literatur und ging leer aus. Dass Philip Roth einen nahezu hellsichtigen Epidemie-Roman geschrieben hatte, geriet bis ins Frühjahr 2020 und dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Vergessenheit. Oder anders gesagt: erst mit den Erfahrungen der realen Pandemie wird im Roman lesbar, wie nah und genau Philip Roth die narrativen und gnostischen Prozesse nicht nur einer völlig fiktiven Poliomyelitis-Epidemie beschrieben hatte, vielmehr noch, dass sich viele Details der aktuellen Epidemie darin lesen lassen. Wie kann das sein? Wie gelingt es Philip Roth?

Die Poliomyelitis ist in Deutschland, Europa, Amerika, Westpazifik und Südostasien seit 2014 eradiziert. 1988 hatte „die WHO auf Basis des breiten Einsatzes der oralen Polio-Vakzine (OPV) die Globale-Polio-Eradikations-Initiative (GPEI)“ initiiert.[1] Doch es gibt immer wieder Ausbrüche durch Polio-Wildviren, weshalb die Eradikations-Initiative erst im April 2019 neu aufgelegt wurde, um bis 2023 eine vollständige Ausrottung der Infektionskrankheit zu erreichen.[2] Im Zeitraum der Romanhandlung im Sommer 1944 ist an eine Ausrottung der Kinderlähmung noch gar nicht zu denken. Die Diagnostik steht noch am Anfang und die Übertragungswege sind weitgehend unbekannt bzw. ungewiss. Eine Impfung ist noch nicht möglich. Eine „spezifische Therapie mit antiviralen Substanzen“ ist bis heute „nicht verfügbar“.[3] Doch seit Anfang der sechziger Jahre gibt es die „Schluckimpfung“ auf einem Stück Würfelzucker oder als „Likörchen“. „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam“, gilt auch heute noch. Ich kann mich an meine „Schluckimpfung“ in den 60er Jahren schwach erinnern. Die Methode hat sich durchgesetzt.

Wie geschieht die Übertragung der Poliomyelitis? Infektionskrankheiten sind von einem sozialen Geschehen abhängig. Das galt und gilt für Polio ebenso wie für Sars-Cov-2. Die „kleine(n), sphärische(n), unbehüllte(n) RNA-Viren“[4] der Polio, deren Erbgut aus Ribonukleinsäure besteht, bewegen sich nicht einfach mit eigener Kraft durch die Luft oder durchs Wasser, vielmehr müssen sie von einem Menschen als Wirt auf einen anderen übertragen werden. Polio braucht wie Sars-Cov-2 körperliche Kontakte von Mensch zu Mensch. Bei der Polio ist eine „fäkal-orale Schmierinfektion“ notwendig, über die sich Philip Roth informiert haben wird, die im Jahr 1944 noch nicht bekannt ist – „kein Mensch weiß, wie sie übertragen wird“ (S. 30) -, aber vermutet wird. In dieser, sagen wir, strukturellen Anlage ähneln sich Epidemien. „Händewaschen und -desinfektion“ helfen bei der Vermeidung der Ausbreitung im Roman wie in der Realität.[5] Insofern gibt es spezifische Ähnlichkeiten zu Sars-Cov-2. Da Roths Protagonist Mr. Cantor, genannt Bucky, nicht weiß, wie Polio übertragen wird, er sich allerdings die Übertragung imaginiert, kommt es gegen Ende des 2. Teils zu folgender Szene:
„»Was hat dein Vater gesagt?«, fragte er und hielt den Kopf so, dass er ihr nicht ins Gesicht atmete.“[6]

Anders als Thomas Mann in seinen Romanen Der Zauberberg mit dem Hintergrund der Tuberkulose- und Der Tod in Venedig mit dem finalen Ausbruch einer Cholera-Epidemie[7] wird von Philip Roth die Epidemie in ihren Wissensprozessen anhand seines Protagonisten Bucky erzählt, der durch Arnold Mesnikoff als Ich-Erzähler perspektiviert wird, was allerdings erst gegen Ende deutlich wird.[8] Arnold war ein Schüler des Sportlehrers Mr. Cantor, der an Kinderlähmung erkrankte und dessen Körper von ihr schwer gezeichnet wurde. Das Wissen von der Epidemie, der Krankheit, ihrer Symptomatik, dem Nicht-Wissen und dem „Gewissen“ – „Das Einzige, was er nicht mehr hatte, war ein reines Gewissen.“ (S. 137) – strukturieren Roths Epidemie-Roman. Wie soll Bucky mit „seinem“ Wissen von der Epidemie umgehen, das sich einerseits einem Erfahrungswissen verdankt, andererseits „dem Anspruch, ein überaus verantwortungsbewusster Mann zu sein“ (S. 136), verpflichtet ist? Die Wissensformationen um die nicht zuletzt geschlechtlich verknüpfte Verantwortung als Mann wird für Bucky zu einem Problem und führt schließlich zur Katastrophe.

Das Thema der Männlichkeit, und die Frage was es heißt, ein Mann mit einem Gewissen zu sein, spielen in Nemesis narrativ eine ebenso große Rolle wie der Ausbruch der Poliomyelitis im „jüdischen Viertel Weequahic im Südwesten von Newark“ (S. 7). Es lässt sich sagen, dass über den „neue(n) Sportlehrer“ Bucky Cantor, der die „Ferienaufsicht über den Sportplatz“ an der Chancellor Avenue School (S. 14) für all jene Jungen übernommen hat, deren Eltern sich keine Ferienreise in die Berge oder an die Küste erlauben konnten, die Männlichkeit mit dem Sport und dem Körper sowie der sozialen Gemeinschaft in Bezug auf den Ausbruch der Epidemie komponiert wird. Buckys Disziplinen sind Speerwerfen und Gewichtheben, auch vom Turmspringen versteht er etwas. Mit den Jungen spielt er Baseball bzw. organisiert und beaufsichtigt er im Juni 1944 deren Spiele. Weil er unter einer starken Kurzsichtigkeit leidet, darf er nicht wie alle anderen Männer seines Alters am Weltkrieg im Pazifik gegen Japan oder in Europa gegen Deutschland teilnehmen. Insofern ist seine Männlichkeit von Anfang an beschädigt bzw. in Frage gestellt, so dass die Epidemie zu seinem „Krieg“ wird. Die Epidemiebekämpfung als „Krieg“ gibt einen Wink auf die Rhetorik insbesondere von männlichen Regierungschefs während der Covid-19-Pandemie.

Die Drohung der Kinderlähmung durch Infektion und der Sport als Körperertüchtigung werden von Roth effektvoll gegeneinander in Stellung gebracht. Denn die Kinderlähmung zerstört bereits in der Eröffnungssequenz den Körper von „Mr. Cantors Lieblingsschüler Alan Michaels“ (S. 31), der im Krankenhaus stirbt. Als besonders grausam droht den Jungen ein Leben im technischen Beatmungsgerät der Eisernen Lunge. Die lebenslange Beatmung eines Menschen durch eine Maschine gilt als Kontrollverlust und ultimativer Horror. Seit der medizin-technischen Möglichkeit der Intubation Ende der 1970er geriet die Eiserne Lunge außer Gebrauch. Es gab Patient*innen die über 60 Jahre in einer Eisernen Lunge leben mussten. Die Lübecker Drägerwerke fertigten 1947 die ersten Eisernen Lungen in Deutschland serienmäßig an, fertigen seit 1982 elektronische Beatmungsgeräte und gelten derzeit als Weltmarktführer für Beatmungsgeräte in der Covid-19-Pandemie, dessen Nachfrage kaum befriedigt werden kann. Während die Mädchen 1944 Seil springen, sterben nach Baseball-Turnieren Buckys sportlichste Jungen, die nur 12 Jahre jünger sind als er selbst. Sport dient Bucky wie seinen Jungen zur physischen wie mentalen Entwicklung zum Mann. Verstärkt wird die Funktion des Sports von Buckys Großvater für die jüdische Identität: „Er ermunterte den Jungen, sich vor nichts zu fürchten, sich jederzeit als Mann wie als Jude zu behaupten und zu akzeptieren, dass die letzte Schlacht nie geschlagen war.“ (S. 25) Judentum und Männlichkeit prägen Bucky in seiner Fiktion von sich selbst nicht nur, vielmehr werden sie vom Großvater gleichsam auf ihn übertragen, ihm sprachlich geradezu eingeimpft.

Der Epidemie-Roman Nemesis erzählt mitnichten nur von der Epidemie und der „Schuldfrage“, vielmehr muss die Epidemie als soziales Geschehen mit der Symptomatik der Krankheit erzählt werden. Insofern ist Nemesis nur bedingt Medizin-Literatur wie auch die gleichnamige Göttin des Zorns in der griechischen Mythologie auf den Zorn als „politischen Affekt“ anspielt. Denn in der historischen Perspektive von 1944 weiß Bucky zu wenig von der Krankheit, kann und muss sie aber in seiner Wahrnehmung mit den Bildern der Männlichkeit, zu denen auch der Zorn Gottes wie seine Wut auf Gott gehören, verknüpfen. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wird Buckys männlicher Zorn mehr als Wut auf Japan und Deutschland maßgeblich durch den Kriegsverlauf generiert. Das Thema der Männlichkeit wurde in den ersten Rezensionen in Deutschland 2011 beispielsweise von Ulrich Greiner offenbar überlesen. Dass es mit dem Sport in Nemesis um mehr und anderes als nur den Sportlehrer Eugene Cantor gehen könnte, wurde nicht erwähnt.[9] Am 18. März 2020 wird lediglich auf die Frage der Gerechtigkeit einer Infektion während einer Epidemie angespielt.[10] Das Wissen der Literaturen von der Epidemie generiert sich, wie es Sam Lipsyte 2018 in seinem Nachruf auf Josef Roth in der New York Times formuliert hat aus Imagination, Erfahrung und Sprache.
„Fiction writers often operate in a grand swirl of imagination, experience and language. With the right amount of artifice, it all feels natural. With the right amount of invention (and biography), it all feels true. Mr. Roth’s body of work is one 20th-century American man’s hole.”[11]       

Einbildung, Erfahrungswissen und Sprachwissen überschneiden sich nach dem Schriftsteller und „chairman of the writing program at Columbia University’s School of the Arts“ Sam Lipsyte beim Schreiben von Fiktion. Er war in seinem Nachruf auf die Frage eingegangen, ob Philip Roth in seinem Roman Sabbath’s Theater (1995) mit dem alternden Puppenspieler Mickey Sabbath eine toxische Männlichkeit vorführe, sanktioniere und man deshalb Roth als Schriftsteller noch schätzen dürfe. Dies lässt sich in mehrfacher Hinsicht zu Nemesis in Beziehung setzen. Lipsyte erwähnt den Roman nicht, vielmehr fokussiert er sich auf den skandalisierten Puppenspieler-Roman, in dem Machtphantasien über andere Körper oder Körper der Anderen von vornherein angelegt sind. Dafür musste Roth sich nicht „aus Erfahrung“ mit Sabbath identifizieren, um es glaubhaft zu formulieren. Wir wissen nicht, wie genau Lipsyte Nemesis gelesen hat. Doch in der Kombination der Kinderlähmung als Symptom der umgangssprachlich verkürzt „Polio“ genannten Infektionskrankheit, die im Alter Spätfolgen bis zum Muskelschwund verursachen kann, mit einem so wirkmächtigen, sportlichen Bild von Männlichkeit, dass Bucky am Schluss des Romans jeden Kontakt zu seiner Verlobten Marciah ablehnt, kann diese Imagination gar nicht toxischer für den Protagonisten(!) sein.

Nicht die Polioerkrankung und quasi verspätete Kinderlähmung haben Bucky „verkrüppelt“, vielmehr ist es seine Imagination der Männlichkeit selbst, wie es durch die Erzählung von Arnold Mesnikoff deutlich wird. Arnold ist trotz seiner Kinderlähmung Architekt geworden, hat sich deshalb auf behindertengerechtes Bauen spezialisiert, hat geheiratet und Kinder bekommen. (S. 189) Doch Bucky, sein Vorbild, hat seine Behinderung nicht angenommen und hat seinen Zorn in eine anhaltende Verbitterung transformiert. Es ist gerade Buckys, man könnte sagen, unjüdische Humorlosigkeit, die sein ehemaliger Schüler kritisiert. Humorlosigkeit wird als sprachliches Manko formuliert. Arnold urteilt bei aller früheren Bewunderung recht hart über ihn und seine Männlichkeit, bevor nicht nur zufällig das Bild des antiken, mythologischen Helden Herakles als „erste(m) Speerwerfer“ aufgerufen wird (S. 216), weil sie völlig humorlos praktiziert wird.
„Er war ein weitgehend humorloser Mann, der sich zwar ausdrücken konnte, aber nicht geistreich war, der nie etwas Satirisches oder Ironisches sagte und kaum je einen Witz machte oder im Scherz sprach.“ (S. 214)

Philip Roths Romanfigur Eugene Cantor korrespondiert über das Idol Herakles als erstem Speerwerfer mit George L. Mosses vielleicht wirkungsmächtigstem Buch The Image of Man: The Creation of Modern Masculinity (1996).[12] Mosse hat in seinem Buch nicht nur das „Bild des Mannes“ und der Männlichkeit seit Johann Joachim Winckelmann im 18. Jahrhundert kritisch beleuchtet und dekonstruiert, er hat vor allem erstmals auf die Geschichte der jüdischen Sportvereine für das Männlichkeitsbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisch hingewiesen. Weil das normative Männlichkeitsbild seit Winckelmann insbesondere das der Juden ausgrenzte, gab es nach der Jahrhundertwende durch die deutschen Juden die größten Anstrengungen, diesem durch Sport zu entsprechen.[13] Roths Figur Eugene Cantor von 1944 zerbricht insofern nicht nur an der Polioepidemie und der Kinderlähmung, vielmehr scheitert er an einem normativen Körper- und Männlichkeitsbild, das George L. Mosse ca. 14 Jahre zuvor kritisiert hatte.[14]

Die Erzählung von der Polioepidemie wird von Philip Roth mehr oder weniger an Goerge L. Mosse anknüpfend insbesondere als eine der jüdischen Imagination von Männlichkeit entfaltet. Die Kombination der den männlichen Körper zerstörenden Kinderlähmung mit der schon um 2010 in Amerika aufkeimenden Re-Maskulinisierung des weißen Mannes z. B. durch Jack Donovan weist weit über die Epidemie hinaus.[15] Mosse wies darauf hin, dass das »Ideal der männlichen Schönheit […] politisch fast wichtiger als das der weiblichen« sei. »Die gesellschaftliche Symbolkraft der männlichen Schönheit, wie sie Winckelmann beschrieben hat, sowie die scharfe Unterscheidung zwischen schön und hässlich, liegt auch dem Faschismus zu Grunde«, weil es damit um das normative Geschlecht in seiner Mehrdeutigkeit von Herkunft, Rasse, Familie und Geschlechtspraktiken geht. »Seit dem 18. Jahrhundert soll man auf den ersten Blick erkennen können«, sagte Mosse, »wer schön und wer hässlich ist. Und wenn du hässlich bist, bist du sofort erkennbar als ein Feind der Rasse.«[16] Bucky ist relativ klein, aber athletisch mit einer gewissen narzisstischen Bewunderung für den jungen Männerkörper.  

Der Nemesis-Roman gibt nicht nur einen Wink auf die aktuelle Pandemie, vielmehr wusste der Text vor 2010, dass am 6. Januar 2020 ein an Indianererzählungen anknüpfender Schamane ins Capitol eindringen und sich auf den Sitz des Capitol-Präsidenten fläzen müsste. Denn die Indianer-Erzählung vom Camp Indian Hill im 2. Teil von Nemesis ist vor allem eine vom homoerotischen Männlichkeits- und Kameradschaftsmythos. Sie ist trotz der ständigen Drohung, dass die Polioepidemie im jüdischen Sommercamp in den Bergen ausbrechen wird, brüllend komisch. Insbesondere gerät die „Indianernacht“ der Jungen zur Groteske. Die Groteske verwendet Roth als eine rhetorische Form, in der mehrere Erzählstränge wie der der Männlichkeit transformiert, aufeinander zugeführt und ebenso grausam wie lächerlich zur Kollision gebracht werden. Um der Männlichkeit willen wird in der Fiktion von 1944 Rassismus bis ins Detail genauso ausgeführt, wie es Donald Trumps Schamane und QAnon-Verschwörungsanhänger Jake Angeli im Capitol vorgeführt hat.
„Buckys Indianerkostüm war vom Handwerksbetreuer zusammengestellt worden. Wie die anderen hatte er sein Gesicht mit Kakaopulver eingerieben, damit die Haut den dunklen Ton eines Indianers bekam, und auf jede Wange einen diagonalen Streifen – die »Kriegsbemalung« – aufgetragen, einen schwarzen mit Holzkohle, einen roten mit Lippenstift.“ (S. 162)  

Der Begriff der Angst kommt im Roman häufig vor. Die Angst grassiert in Weequahic durch das Wissen um die Epidemie, das ein höchst ungenaues ist. Wiederholt und drängend wird nach der Ordnungsmacht des Gesundheitsamtes und der „Gesundheitspolizei“ gerufen.(S. 33) Anders als in der Covid-19-Pandemie gibt es keine Bilder vom Virus. Auf Bilder lässt sich reagieren. Sie machen das Virus in gewisser Weise vertraut und angreifbar. Diese grafisch-rechnerisch generierte Bildlichkeit fehlte der Poliomyelitis komplett. Corona in seiner Vieldeutigkeit generierte sofort Sprach- und Bildspiele mit Biermarken, Kronenkorken und Kopfbedeckungen. Yoko Tawada hat mit ihrem Corona-Roman Paul Celan und der chinesische Engel die Sprachlichkeit der Covid-19-Pandemie erforscht. Die Angst vor Polio hatte vor allem mit den kursierenden Bildern versehrter Körper und dem lebenslangen Gefängnis der Eisernen Lunge zu tun. Die Kinderlähmung war das Bild für den Virus, während es für Sars-Cov-2 zunächst vor allem Bilder von Menschen unter Beatmungsmasken und -geräten gab. In Newark bricht denn auch nach dem Telefonat der Großmutter „Hass“ gegen die Juden in Weequahic aus. Das alte Narrativ des Antisemitismus bricht sich Bahn.
„Die Antisemiten sagen, dass ich die Polio ausbreitet, kommt daher, dass hier so viele Juden leben. Wegen alle der Juden – darum geht die Polio von Weequahic aus, und darum muss man die Juden isolieren. Manche von denen hören sich an, als würden sie denken, die beste Methode, die Polio loszuwerden, bestehe darin, Weequhic mit allen Juden, die dort leben, niederzubrennen. Es gibt viel Feindseligkeit, weil die Leute aus lauter Angst verrückte Sachen sagen. Aus Angst und Hass.“ (S. 152)

Die „Indianernacht“ mit Mr. Blomback trägt nicht nur folkloristische Züge, vielmehr wird sie voller Ironie als faschistisch beschrieben. Karl May lässt grüßen, wenn Mr. Blomback als „Indianerhäuptling“ auftritt und Bucky darüber erstaunt ist. Der Camp-Gründer und -Geschäftsführer imitiert und installiert ein respektgebietendes System, das die jüdischen Jungen (und Mädchen) schwer fasziniert. Die Dunkelheit der Nacht am See im Gebirge generiert ihr eigenes, groteskes Verhalten unter Knaben und jungen Erwachsenen, die von einem falschen „Indianerhäuptling“ in das obskure Wissen von der Männlichkeit und Gemeinschaft der Indianer eingeführt werden. Er legt ein „kakaofarbenes Make-up“ an und zelebriert eine Show der Macht, die von einer Art Versprecher begleitet wird bzw. wurde. Doch dieser Versprecher wurde rechtzeitig erkannt, um dann auf dem Heimweg in die nach Indianerstämmen benannten Unterkünfte von den Jungen kameradschaftlich ausgesprochen zu werden, weil sich die Jungen „nach Indianerart“ verständigen wollen.
„Früher hatte er die Jungen nach Indianerart begrüßt, mit erhobenem rechtem Arm, die Handfläche nach vorn gekehrt, und alle hatten den Gruß auf dieselbe Weise erwidert und dabei ein befriedigtes »Hugh!« gegrunzt. Doch diesen Teil der Zeremonie hatte man gestrichen, seit die Nazis auf der Weltbühne erschienen waren, denn die benutzten dieselbe Geste, die bei ihnen »Heil Hitler« bedeutete.“ (S. 163)

Die Koinzidenz der Ereignisse und Diskurse, von denen sich zwischen Quarantäne und Händewaschen sicher noch eine ganze Reihe mehr lesen und analysieren ließen, ist faszinierend. Was geschieht während einer Epidemie, wie sie Philip Roth mit Nemsis gleichsam täuschend echt und doch fiktional durchspielt? So einzigartig und unvergleichlich die Covid-19-Pandemie in den Medien besprochen wird, erweist sich z.B. die Rede von den Zahlen in „Rekordhöhe“ als ein viel geübtes, sich ständig selbst überholendes Wissen vom Messen in der Moderne. Was noch während der „ersten Welle“ als absolute Zahlen galt, ist längst um ein Vielfaches übertroffen worden, wofür irgendjemand verantwortlich(!) gemacht werden muss und seien es Regierungs- und Gesundheitspolitiker, die heutzutage immerhin enorm viel, doch keinesfalls alles von der Pandemie und ihrem Erreger wissen. Die Schlagzeilen der Zeitungen heute und morgen gleichen sich mit der fiktiven Schlagzeile von 1944: „»Zahl der Poliofälle auf Rekordhöhe. Bürgermeister schließt öffentliche Einrichtungen.«“ (S. 153) Es bedarf allerdings eines sehr feinen Gespürs für bereits kursierende Diskurse, um sie wie Philip Roth so zu kombinieren und zu verknüpfen, dass sie eines Tages als vorher gewusst gelesen werden.

Torsten Flüh

PS: Um Bildmaterial für diesen Blog zu generieren, habe ich heute Morgen drei „Bolzplätze“ (für Jungen) in Berlin-Wedding besucht. Den „Bolzplatz“ auf dem Sparrplatz, auf dem Leopoldplatz an der Schulstraße und den sogenannten „Käfig“ an der Panke neben der Bibliothek am Luisenbad, wo Jerome, George und Kevin-Prince Boateng gebolzt haben sollen, bevor sie von Hertha-Scouts entdeckt wurden und ihre internationalen Karrieren als Fußballer starteten.


[1] RKI-Ratgeber: Poliomyelitis. (2015) Online.

[2] Siehe RKI: Epidemiologisches Bulletin 14/2019.

[3] Siehe „Therapie“ in RKI-Ratgeber: Poliomyelitis … [wie Anm. 1].

[4] Ebenda „Erreger“.

[5] Ebenda „Hygienemaßnahmen”. (Maßnahmen bei Einzelerkrankung).

[6] Philip Roth: Nemesis. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2012 (8. Auflage November 2020), S. 180.

[7] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020. Wie die Kombucha-Brauerei in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2020.

[8] Philip Roth: Nemesis … [wie Anm. 6] S. 192.

[9] Ulrich Greiner: Gott ist böse. Bewegend, radikal und meisterhaft: „Nemesis“ von Philip Roth. In: Text und Zeit ohne Datum.

[10] Ulrich Greiner: Das Leben im Ausnahmezustand. Was die Literatur über Epidemien zu erzählen hat. In: 18. März 2020DIE ZEIT Nr. 13/2020, 19. März 2020.

[11] Sam Lipsyte: Philip Roth’s ‘Toxic Masculinity’. In: New York Times May 23, 2018.

[12] Vgl. zu George Mosses The Image of Man/Das Bild des Mannes auch: Torsten Flüh: Über die verheißungsvolle Geschichte von Bildung und Liberalismus. Zur Mosse-Lecture „Bildungsliberalismus“ und zum Jubiläumsvortrag über den deutsch-jüdischen Liberalismus der Familie Mosse. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 14, 2017 11:30.

[13] George L. Mosse: The Image of Man: The Creation of Modern Masculinity. Oxford: Oxford University Press, 1996, S. 155-180.

[14] Vgl. auch Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte. In: Jahrbuch Sexualitäten 2019. Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen: Wallstein, 2019, S. 43-70.

[15] Jack Donovan: The Way of Men. Milwaukie, OR [im Eigenverlag] 2012.

[16] George L. Mosse: Die Politik gegen Lesben und Schwule im Kontext nationalsozialistischer Machtausübung. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Der homosexuellen NS-Opfer gedenken. Berlin 1999, S. 29.

Beethovens Versprechen der Freiheit

Freiheit – Taubheit – Familie

Beethovens Versprechen der Freiheit

Zu Louis van Beethoven in der ARD und die Ode an die Freude

Alljährlich wird vielfach in Neujahrskonzerten Ludwig van Beethovens 9. Symphonie mit dem Schlusschor der Ode an die Freude von Friedrich Schiller aufgeführt. Monate im Voraus wurde die Neunte in Berlin von gleich mehreren Orchestern mit Chören angekündigt, so dass man in der alljährlichen Wiederholung eine gewisse Einfallslosigkeit oder gar einen inneren Zwang bei Orchesterchef*innen und Publikum befürchten musste. In diesem Jahr wird das Publikum weltweit nicht zum Neujahrskonzert mit der Neunten pilgern können. Es muss sogar gesagt werden, dass sie es nicht dürfen. Der Schlusschor wurde gar von Herbert von Karajan für Klavier und Orchester bearbeitet, um 1985 als European Anthem bzw. Europäische Hymne von den EU-Staats- und Regierungschefs angenommen zu werden. „Ohne Worte, nur in der universellen Sprache der Musik, bringt sie die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck“, heißt es auf der Website der Europäischen Union.[1]

Das Versprechen der Freiheit vor allem wird unauflösbar mit der Ode an die Freude in der Komposition von Ludwig van Beethoven verknüpft. Insofern ist es schlüssig, dass das Biopic Louis van Beethoven am ersten Weihnachtsfeiertag im Ersten ein vielfältiges Freiheitsbestreben des Komponisten quasi als Nachruf auf das schwer eingeschränkte Jubiläumsjahr zu seinem 250. Geburtstag zur narrativen Struktur macht. Der Regisseur und Drehbuchautor Nikolaus Stein von Kamienski erzählt in zahlreichen Gegenschnitten und Zeitsprüngen Beethovens Biographie im Film als Freiheitsdrama. Im Vergleich mit den ca. 30 Beethoven-Filmen seit der Stummfilmzeit ab 1913 ist das durchaus bemerkenswert. Fiktion sind sie alle im Genre der Biographie. Jedes Jubiläumsjahr bekam die Biographie, die die Medien, Forschung und Selbstbeschreibung erlaubten. Deshalb erzählt Nikolaus Stein von Kamienski mit seinem Film mehr von unserer Zeit und unseren Freiheitskonzepten als von Beethovens, was hier genauer thematisiert werden soll.

Das Wissen über Beethoven ist im Medium Fernsehen, und d.h. vom Öffentlich-Rechtlichen der ARD umfangreich in verschiedenen Formaten aufbereitet worden. So war es 2013 Die Akte Beethoven im Segment „planet Schule“, mit der WDR und Arte in einem Film von Hedwig Schmutte und Ralf Pfleger die Taubheit Ludwig van Beethovens ausführlich thematisierten.[2] Lars Eidinger spielt nicht nur den schon fast gänzlich ertaubten Beethoven, vielmehr werden akustisch die Hörprobleme medialisiert. Statt mit aufwendiger Mimik und Dramatik wie im Stummfilm 1927 mit Fritz Kortner[3] wird die Taubheit nun quasi hörbar. Auf der Seite der Beethoven-Beiträge des Fernsehens zum Jubiläumsjahr wird Die Akte Beethoven als wichtiges Wissensfeld verlinkt.[4] Pheline Roggan läuft Lars Eidinger auf dem Mittelstreifen der Straße des 17. Juni hinterher und ruft ihm nach, was er kaum hören kann.

Das Expertenwissen wird in Die Akte Beethoven breiter gefächert. Als Expert*innen kommen die Dirigentin Simone Young, der Experte für Innenohrschwerhörigkeit Hans-Peter Zenner, der Biographie-Autor und Dirigent Jan Caeyers, der Pianist Lars Vogt und die Mitarbeiterin im Beethoven-Haus Bonn Julia Ronge zu Wort. Nikolaus Stein von Kamienski räumt der Taubheit Beethovens daran anknüpfend mit seiner Eröffnungssequenz in der Reisekutsche zu seinem Bruder nach Gneixendorf eine konstitutiv narrative Funktion ein. Das Verhältnis von Komponieren und Hören wird auf der Ebene Medizin und Gesellschaft bzw. Soziabilität ausführlich verhandelt. Der Aufenthalt des „alten“ Beethoven bei seinem jüngsten Bruder, der zu einem wohlhabenden Apotheker geworden ist, in Gneixendorf auf Schloss Wasserhof wird ganz vor dem Hintergrund der Taubheit, der „Konversationshefte“[5], des Komponierens und der Erinnerungen erzählt.

Die Beethoven-Filme früherer Zeiten kaprizierten sich darauf, die Musik aus der Biographie und den tradierten Liebesgeschichten zu erklären. Das macht Louis van Beethoven nicht oder zumindest nicht vorwiegend. Nikolaus Stein von Kamienski setzt sehr viel mehr in seinem Film in der Kindheit an, was bislang so schon deshalb nicht möglich war, weil es die Struktur der Filmproduktion und ihrer Erzählweisen nicht erlaubte. Zwar wird der Film mit Zeitsprüngen aus den Erinnerungen und Tagträumen Beethovens in Gneixendorf erzählt und Tobias Moretti als Beethoven-Darsteller präferiert, aber mit Colin Pütz als Jungpianist bzw. „Wunderkind“ am Bonner Kurfürstenhof wird ein ganz anderer Erzählstrang möglich. Konzentrierte sich das Beethoven-Narrativ bislang auf die Erzählung vom unabhängigen Genie, so wird es nun in eines von der kindlichen Hochbegabung übergeleitet. Colin Pütz spielt nicht nur das „Wunderkind“ Louis, er ist selbst ein hochbegabter Jungpianist, der gleich bei einer ganzen Reihe von Klavierprofessor*innen studiert hat und studiert. Das hat vermutlich während der Filmproduktion noch einmal sehr viel am Drehbuch ermöglicht.

Der Jungpianist Colin Pütz hat es anscheinend nicht nur und erst als Louis im Film gelernt, Fragen nach der Musik und dem Komponieren zu stellen. Fragen an die Komposition werden wichtiger als die exakte Beherrschung der Partitur. Zu den Schlüsselszenen im ersten Drittel des Films gehört, wie Louis von seinem Vater zum Klavierspiel regelrecht gezwungen wird und er aus Trotz von sich aus schneller und besser spielt, als es ihm sein Vater aufzwingen kann. Das Komponieren wird in einer späteren Sequenz mit seinem Bonner Lehrer Christian Gottlob Neefe (Ulrich Noethen) zum Regelverstoß. Während im Geniekonzept das Wissen als vorgängiges und quasi aus der Natur hervorgegangenes erzählt wird, geht es nun um ein Überschreiten der Regeln. Neefe nennt es im Film ein anders Mal „Chaos“. Was für ihn nach Chaos klingt und mit der Partitur als solches zu klingen beginnt, gehorcht vor allem einem fast widerständigen Verstoßen gegen die Regeln, wie es sich in der Sonate Nr. 1 in f-Moll, Beethovens Opus 2 ankündigt.[6]

Nikolaus Stein von Kamienski setzt den Regelverstoß als Prinzip des Komponierens bei Beethoven in der Kindheit an, während die Beethoven-Historie sie erst für 1792 und später mit der sogenannten „Kurfürstensonate“ angesetzt hat, weil frühere Zeugnisse nicht überliefert sind. Sein durch die Rückblenden und Zeitsprünge für die Fernsehzuschauer durchaus anspruchsvoll komponierter Beethoven-Film funktioniert eher thematisch als chronologisch, obwohl eine chronologische Dynamik beibehalten wird. Beethoven stirbt im Film nicht. Vielmehr endet er unter den Klängen der Neunten mit den Bildern des jungen Beethoven (Anselm Bresgott), der aus der Kutsche 1792 auf der Reise nach Wien die französischen Revolutionstruppen sieht, die als Freiheitsversprechen nach Bonn ziehen. Es ist dieses Freiheitsversprechen, das in einer letzten Sequenz vom alten Beethoven in den Armen seines Neffen Karl (Peter Lewis Preston) auf einer Lastenkutsche im Schneetreiben, der mit den Worten, dass der Mensch bleibe, wo er herkomme, „ich wollte es nie wahrhaben“, melodramatisch zurücknimmt.

Das Freiheitsversprechen wird evoziert in der Musik und zugleich im Text zurückgenommen, um es auf diese Weise nur um so stärker als Thema der schnittreichen Filmerzählung (Schnitt: Jan Henrik Pusch) zu unterlegen. Doch geht es bei Friedrich Schiller um ein Freiheitsversprechen oder das Versprechen der Gleichheit aller Menschen? Egalität und Freiheit überschneiden sich in der Schlusssequenz. Die „universelle Sprache der Musik“, wie es zur Europa-Hymne heißt, wird in einen schmerzhaften Kontrast zu Bild und Wort gesetzt. In Eiseskälte mit Schneegestöber liegt der, wie man sagt, große Mann notdürftig in den Armen seines Neffen. Gibt es mehr Widerspruch zur Formulierung „alle Menschen werden Brüder“? Der Tod Beethovens wird mit diesem Schluss auch umgangen. Gleichzeitig wird der Tod durch schlechte Witterungsverhältnisse nahegelegt. In Die Akte Beethoven wurde immerhin ein kahles Sterbezimmer animiert und die Extraktion des Gehörorgans auf dem Sterbelager beschrieben. Dass sich Beethoven durch den übermäßigen Genuss billigen, schlechten Weins eine Vergiftung zugezogen haben könnte, wird nicht erwähnt.

War Beethoven ein Freiheitskämpfer? Nikolaus Stein von Kamienski legt mit seinem Film diese biographische Lesart zumindest nahe. Zudem war er noch ein enttäuschter, tendenziell depressiver Freiheitsfreund nach dem Drehbuch und der Regie sowie in der Darstellung von Tobias Moretti. Das Unglück der Taubheit, das Beethoven schon im Heiligenstädter Testament vom 6. Oktober 1802 an Suizid denken lässt, wird zumindest als Gegenthema in der Komposition des Films gesetzt. Nicht zuletzt durch das aufwendige Szenenbild von Benedikt Herforth und das Kostümbild von Veronika Albert mit historischen Modenwechseln wird eine Geschichtlichkeit erzeugt, die das Biopic mit Authentizität versieht. Diese Geschichtlichkeit macht weniger den erfolgreichen Konzertpianisten Beethoven in der europäischen Öffentlichkeit der Höfe mit königlicher Audienz in Berlin zum Thema als vielmehr das Private. Beethovens Freiheitswunsch wird vor seiner Abreise nach Wien 1792 als Federballspiel im Garten seiner Mäzenin Helene von Breuning inszeniert. Dort zitiert er mit rheinländischer Sprachfärbung Schillers Ode an die Freude und summt deren erste Takte.

Bonn und Schloss Wasserhof bei Krems werden weitaus stärker als Orte der Psychologie inszeniert als Wien, die Hofburg oder Berlin. Das weite und auch politisch widersprüchliche Netzwerk Beethovens bekommt weniger Aufmerksamkeit. Die Psyche und ihre Logik bleiben im Biopic eine eher private Angelegenheit. Als Wunderkind und überaus erfolgreicher Konzertpianist wie wegweisender Komponist war Ludwig van Beethoven eine öffentliche Persönlichkeit, die als solche durchaus ihren, wenn man so will, Marktwert kannte und bisweilen durchsetzen konnte. Die Mozart-Episode mit ihren Sequenzen bleibt in Louis van Beethoven die einzige mit einem gewissen Glamour. Wolfgang Amadeus Mozart (Manuel Rubey) lebt nicht nur öffentlich in Wien, er wirkt mit seiner ausgefransten Perücke auch entschieden unkonventioneller, ja, ein wenig durchgeknallt und unstet im Unterschied zum jungen Beethoven. „Rock me Amadeus“ stürzt sozusagen in Beethovens Biopic hinein, obgleich Beethovens Kompositionen viel stärker in der Popmusik ausgeschlachtet worden sind. Der junge Beethoven ist sichtlich fasziniert vom Pop- und Opernstar Mozart.

Die Familie und die soziale Herkunft bekommen in Louis van Beethoven eine weitaus stärkere Beachtung als das Nationale, wie es in den älteren Biographien und Beethoven-Filmen erzählt wurde. Das lässt sich selbst im Unterschied zu Mauricio Kagels Ludwig van … von 1970 sagen. Vor 50 Jahren ging es Kagel um eine Beethoven-Dekonstruktion mit Künstlern wie Joseph Beuys. Der berüchtigte Film zum 200. Geburtstag wurde ebenfalls vom Fernsehen, dem Westdeutschen Rundfunk, WDR, produziert. Der Blick auf den Komponisten wurde von der Kritik an den historischen Verdrängunsmechanismen der bundesdeutschen Gesellschaft geprägt. Doch statt Ludwig van … führt die Mediathek die WDR-Sendung Eroica: Ludwig van Beethoven – Eine deutsche Legende von 1949 mit einer Anmoderation von Daniel Hope als Präsidenten des Beethoven-Hauses im Programm.[7] Das Narrativ der Nation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg sozusagen vom „Wiener-Kunstfilm“ gerettet.[8] An die Stelle des Narrativs von der Nation ist heute die von der Familie und der Freiheit getreten.

Bereits die Filmtitel geben einen Wink auf die zeitgemäße Beethoven-Rezeption und ihre erzählerische Verknüpfung. Beethoven von Hans Otto Löwenstein war auf die Verkörperung durch Fritz Kortner ausgerichtet. Eroica war mit Ewald Balser auch eine Nachkriegserzählung. Ludwig van … stellte das Wissen von der Musik radikal in Frage. Louis van Beethoven von ARD Degeto, WDR, ARTE und ORF betont den Rufnamen des Komponisten in der Familie. Das Hören und das Verständnis der Musik von Ludwig van Beethoven wird heute deutlich ins Private und Individuelle gerückt. Es ist keine nationale Angelegenheit mehr. Daniel Barenboim hat am 27. Januar 2020 zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in der Staatsoper Unter den Linden die Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, also die Eroica mit der Staatskapelle aufgeführt, um das individuell Menschliche herauszuarbeiten. Der widersprüchliche Schluss von Louis van Beethoven mit Splittern aus der Hymne der Europäischen Union kann aktuell als gewagte Kombination einer Sehnsucht nach der Familie mit einem größeren politischen Kontext gehört werden. Zugleich aber befinden sich das traditionelle Familienkonzept und das Freiheitsversprechen der EU in einer Krise.

Der Tod der Mutter spielt in Louis van Beethoven eine prominente Rolle, insofern als er den Komponisten von seinem ersten Wienaufenthalt nach Bonn zurückkehren lässt. Durch diese Rückkehrsequenz wird ein starkes Schlaglicht auf die Familie Beethoven geworfen. Erstens stirbt die Mutter an einer ungenannten Krankheit, die sie Blut spucken lässt. Die Tuberkulose ist zu jener Zeit noch namenlos. Zweitens wird der Alkoholismus des Vaters drastisch in Szene gesetzt. Wir wissen nicht, woran Beethovens Mutter (Johanna Gastdorf) gestorben ist. Mit dem aktualisierten Epidemiewissen des Jahres 2020 können wir an dem Symptom einer Lungenkrankheit eine offene Tuberkulose erkennen. Man kann dies allerdings auch übersehen oder als zufällig betrachten. Doch im Jahr 2020 gibt dies einen Wink auf die Krankheiten und Seuchen vergangener Zeiten. Die Alkoholkrankheit des Vaters wird nur soweit für Louis folgenreich, als er die familiale Rolle des Vaters für seine jüngeren Brüder übernimmt. Das wird zwar im Kontext des Todes der Mutter deutlich angespielt, aber nur ansatzweise auf dem Schloss seines Bruders konsequent weiter verfolgt.

Die Figur des Schauspielers und Revolutionärs Tobias Pfeiffer (Sabin Tambrea) hat Nikolaus Stein von Kamienski am deutlichsten für seinen Film konzipiert. Er ist in der Beethoven-Forschung nicht überliefert. Doch er wird zu Ludwigs erstem Lehrer und er zeigt ihm die „Erklärung durch die Repräsentanten der Vereinigten Staaten von America“ von 1776. Die Unabhängigkeitserklärung als Befreiungs- und Freiheitstext wird gleich zweimal mit Schnitten ins Bild gerückt. – „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ – Im Gasthof in Bonn und gerahmt an der Wand in Gneixendorf wird die deutsche Übersetzung imaginiert. Sie bildet das visuelle Scharnier des Freiheitsversprechens und bietet mit den Worten Pfeiffers die Pause für die Freiheit, „wenn Du wirklich frei sein willst“. Wir wissen nicht, wann diese Sequenz gedreht oder abschließend in den Film geschnitten worden ist. Doch das Jahr 2020 und die Politik des scheidenden Präsidenten von Amerika, Donald Trump, haben in zahllosen Breaking News vor Augen geführt, wie sehr die „Liberty“ im Namen der als uramerikanisch gelabelten Freiheit nicht nur in den USA in Gefahr war und weiterhin ist.

Mit diesem Plädoyer für eine klug ausgehandelte Freiheit heute ein Prosit Neujahr!

Torsten Flüh

Anm.: Die Fotos der Originalpartitur der 9. Symphonie wurden in der Ausstellung der Beethoven-Sammlung in der Staatsbibliothek Berlin Unter den Linden aufgenommen. Die Fotos zum Film wurden vom Bildschirm abfotografiert, weil neuerdings Screenshots im Stream der ARD digital gesperrt sind.

ARD Mediathek
Louis van Beethoven
von Nikolaus Stein von Kamienski
noch bis 24. Januar 2021        


[1] Europäische Union: The European Anthem. (Deutsch)

[2] Hedwig Schmutte, Ralf Pfleger: Die Akte Beethoven. Gebrüder Beetz Film 2013. planet schule bis 20.01.2025.

[3] Siehe zu Beethoven (1927): Torsten Flüh: Beethoven gefeiert zwischen Kombination und Ionisation. Zu Hans Otto Löwensteins restauriertem Film Beethoven (1927) und Gene Pritskers EroicAnization (2020). In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. November 2020.

[4] ARD Mediathek Suche: Beethoven.

[5] Siehe zu den „Konversationsheften“: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[6] Vgl. zur Klaviersonate Nr. 1: Torsten Flüh: Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig. Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. August 2020.

[7] ARD Mediathek: … (wie Anm. 4).

[8] Eroica: Ludwig van Beethoven – Eine deutsche Legende. 18.12.2020 ∙ WDR KLASSIK ∙ WDR Fernsehen.

Davoser Sonnenumläufe

Geschichte – Davos – Ordnung

Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020

Wie die Kombucha-Brauerei Bouche in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat.

Das Jahr 2020 verlangt einen Rückblick, Review oder eine Revue. Wir sollten es uns Revue passieren lassen, was immer noch besser ist als ein Jahresrückblick. So fuhr der Berichterstatter am Freitag, den 11. Dezember, ein Nachmittag nasskalt, Grau in Grau die trostlose Landsberger Allee mit dem Rennrad hinauf, bis der Radweg kurz vor Marzahn auf der Autobahn endet. Autobahn geht selbst mit einem Rennrad nicht, so dass er unversehens im Kreisverkehr am Haupttor zum Knorr-Bremse-Werk stoppen musste. Er hätte Google-Maps nach einem korrekten Ausweg suchen lassen können. Stattdessen erregte die Infotafel zu Georg Knorr, ein Name, den er noch nie gehört und schon gar nicht in Marzahn erwartet hätte, seine Aufmerksamkeit. Plötzlich wird an diesem grauen, nasskalten Spätherbsttag – Hände durch den Fahrtwind fast gefroren, die Zehen in den Rennradschuhen vor Eiseskälte taub – mit dem Namen Georg Knorr Davos gegenwärtig.

Ziemlich genau einhundertachtundsechzig Stunden später steht der Berichterstatter im Haus 10 des Knorr-Bremse-Werks in der Kombucha-Brauerei Bouche und spricht mit Felix Rank, einst Student des Kommunikationsdesigns, über den gesunden EARLYBIRD. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Georg Knorr war in Berlin reich geworden, sehr reich und starb am 15. April 1911 in Davos sehr gepflegt an den Folgen einer pandemischen Tuberkuloseinfektion. Vorvorgestern oder so erhielt ich von zwei frohgelaunten Freund*innen zwei Pics von den Pisten Davos-Klosters‘. Trifft sich jetzt alle Welt in Davos? Gerade in diesem Jahr? Davos ist seit der Tuberkulose um 1900 nicht nur gesund, sondern irgendwie auf besondere Weise pandemiefähig. Mondäne Tuberkulose-Sanatorien wie das Schatzalp in Thomas Manns Roman Der Zauberberg wurden seit den 50er Jahren in Berg- oder Waldhotels verwandelt. Nun ist im Schatzalp alles „CLEAN & SAFE“. – Venedig? Venedig war in diesem Jahr im März einer der ersten Orte der Pandemie in Europa. Karneval und Sars-Cov-2.

In Davos hat man gut 9 Monate später schon viel gelernt. – Diese Revue verlangt nach Ordnung. Aber erst einmal ist all das, was einem passiert unordentlich. Oder wie Thomas Mann im Roman Der Zauberberg in der Eröffnungssequenz schreibt „Geschichte“. Kein Wort von der Pandemie in Davos, aber „Geschichte“: „Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. … vertraut man sich wieder der Eisenbahn …“[1] Hans Castorps Vertrauen in die Eisenbahn nach Davos-Dorf ist quasi darin begründet, dass Georg Knorr 1900 die Einkammerschnellbremse in Berlin Britz konstruiert hatte. Das neuartige Bremssystem für Eisenbahnen wurde schnell für Deutschland patentiert. Knorr-Bremse wurde zum Marktführer, wie man heute sagt.

© Knorr-Bremse AG

Leider verstarb der erfolgreiche Konstrukteur mit dem Kaiser-Wilhelm-Portrait an der Wand über seinen Produkten in seinem Büro im Alter von 51 Jahren 1911 in Davos, wenn nicht gar im Luxus-Sanatorium Schatzalp des berühmten Gründers und Arztes Dr. Gustav Maurer. 1942 veröffentlichte er in den Helvetiva medica acta sein Buch Aus dem Sanatorium Schatzalp-Davos: eine kombinierte Lungenkollapsmethode zur Kavernenbehandlung. Der Kaiser hatte drei Zimmer im Sanatorium auf Nummer sicher für sich und seine Familienangehörigen dauerreservieren lassen. Doch er kam nie auf die Schatzalp, während zahlreiche internationale und transkontinentale Gäste bis zur Verbreitung der Antibiotika in den 50er Jahren zu Kuren anreisen mussten. 1912 verbrachte Katia Mann wegen einen falschen Tuberkulose-Diagnose ein halbes Jahr im Sanatorium und wurde von ihrem Mann nach etlichen Briefen im Mai und Juni vier Wochen lang besucht.

© Knorr-Bremse AG

Katia und Thomas Mann haben Georg Knorr in Davos relativ knapp um ein Jahr verpasst. Weshalb Joachim Ziemßen, den Hans Castorp besucht, im Sanatorium ist, wird nicht direkt erwähnt. Vielmehr vergleicht sich Hans zu seinem Vetter als kleiner und schmaler, er sei „ein Bild der Jugendkraft und wie für die Uniform geschaffen“.[2] Doch Joachim leidet an „Kehlkopf-Tuberkulose“ und stirbt an einer merkwürdigen „Herzschwäche“.[3] Das tuberkulöse Endstadium eines wahrscheinlich multiplen Organversagens durch „Generalisation“[4] wird von Thomas Mann literarisch transformiert. Joachim stirbt literarisch, erzählerisch gerade nicht an der Tuberkulose. Vielmehr wird die Tuberkulose aus der Lunge in den Kehlkopf verlegt, weil es eine psychologisch-historische Schwierigkeit des Sprechens nicht nur über Gefühle, sondern über die tödliche Erkrankung gibt. Die Tuberkulose wird bei Mann zur Signatur einer Epoche der Verunsicherung:
„Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsächlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er sich, wie es ihm dort oben ergehen werde.“[5]

Das „klaftertief“ Abgründige der Existenz im Hochgebirge von Davos überschneidet sich mit der Pandemie einer bakteriellen Infektionskrankheit, die zwar von Joachim selbst angedeutet, mit einer „Flasche aus blauem Glas mit Metallverschluss“[6] geradezu zelebriert, doch nicht benannt wird. Das Wissen um das Unausgesprochene, aber Angesprochene strukturiert denn auch das Geschichtswissen zwischen Lokal-, Personal- und Weltgeschichte in Thomas Manns Zauberberg. Er schreibt im Vorsatz trotz der Ankündigung einer genauen und detaillierten Geschichte bereits das Problem einer weder emotional noch narrativ fertigen Erzählung an. Nach dem Vorsatz wird sich der Erzähler selbst um der Geschichte willen vergessen müssen.
„Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält.“[7]

Das Problem des Erzählens und der Geschichte wird von Thomas Mann im Roman quasi vorsätzlich vorausgeschickt. Seit Mai 2020 schreibt „Dr William Lee, Portland/Oregon“ den Geschichtsblog auf der Homepage des Berghotels Schatzalp. Ein Foto zeigt ihn „am 21. Mai 2020 während des Covid-19 Lockdowns auf der Schatzalp mit den Davos Blättern von 1939“.[8] Sein Geschichtsblog kämpft mit 18 Anmerkungen in einer „Ausgabe“ mit dem weit verzweigten Geschichtswissen. Thomas Mann formuliert das Äußere des Sanatoriums „auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau, die Front südwestlich gewandt“ als „ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm“.[9] Die Eingangsbeschreibung des Sanatoriums lässt sich insofern als mehrdeutig lesen. Denn „löchrig und porös … wie ein Schwamm“ erinnert nicht nur an Lungengewebe, vielmehr wird das „Gebäude“ dadurch als zwar luftig, aber auch instabil beschrieben.

Eine Epidemie oder gar Pandemie stellt immer die bestehende Ordnung in Frage. Hans Castorp trifft in Davos auf eine nach den Sanatoriumsregeln organisierte Welt, die er gegen die gesellschaftliche Ordnung der Norddeutschen Tiefebene eintauscht. Heutzutage reicht die Ordnung eines ersten eidgenössischen Lockdowns im Mai zwar bis auf die Schatzalp, aber im Dezember sind die Pisten bei weitaus höheren Infektions- und Sterbezahlen in der Schweiz weiterhin geöffnet. Frei nach der innovativen Sanatorium-Eröffnung, der Davos seine Weltbekanntheit verdankt, deutet sich eine Art Normalisierung der Covid-19-Pandemie an. Der letzte, mit 18 Fußnoten äußerst umfangreiche Blogeintrag im Geschichtsblog stammt vom 18. Dezember über einen Brief von Großfürst Dmitri Pawlowitsch Romanow vom 23. September 1939 auf dem Papier des Sanatoriums Schatzalp. William Lee widmet sich in seinem Blog nicht so sehr einer allgemeinen Geschichte der Schatzalp als vielmehr der von Dmitri Romanow, der durch den Ausbruch des 2. Weltkriegs aus Paris ins Hochgebirge wegen einer Tuberkuloseerkrankung flüchtet, sich erholt und doch 1942 auf ungeklärte, mysteriöse Weise dort verstirbt.[10]

Ernest B. Gilman hat das Sanatorium 2014 in seiner Studie Yiddish Poetry and the Tuberculosis Sanatorium: 1900-1970 als besondere Verknüpfung von Lyrik und Heilanstalt untersucht. „Gilman sheds light on how essential writing and literature were to the sanatorium experience. All three poets wrote under the shadow of death.“[11] In Davos spitzte sich das Verhältnis von Tuberkulose-Sanatorium, Kultur, Wirtschaft und Politik noch einmal auf besondere Weise zu. Georg Knorr wurde von Davos in das Familienbegräbnis auf dem evangelischen Friedhof „Zur frohen Botschaft“ in Berlin-Lichtenberg überführt und bestattet. 2016 wurde auf Betreiben des Vorstands der Knorr-Bremse AG eine „Ehrengedenkplatte“ enthüllt.[12] Während des 2. Weltkrieges entwarf Albert Sperr die neuen Werkgebäude in Marzahn für die Firma Hasse & Wrede, die seit 1921 zum Knorr-Bremse Konzern gehört. Von Georg Knorr wissen wir wenig. Bei der Enthüllung der Ehrengedenkplatte soll ein Enkel anwesend gewesen sein. Erhard Born schrieb für die Neue Deutsche Biographie 1980 einen Artikel über die Entwicklung der bahnbrechenden Knorr-Bremsen als Georg Knorrs Lebensleistung der Tuberkulose-Tod wird nicht erwähnt.[13]    

Als Thomas Mann 1913 an dem Text über die Welt von Davos zu schreiben beginnt, weiß er selbst nur wenig über die Geschichte, die er 1924 geschrieben haben wird. Denn es kam viel Geschichte, Ereignisse oder gar eine Epochenwende dazwischen. Mehrfach ist in der Thomas-Mann-Forschung darauf hingewiesen worden, dass er mit dem Text eine „Art von humoristischem Gegenstück“ zu seiner Novelle Tod in Venedig, hatte schreiben wollen.[14] Weniger beachtet wurde dabei, dass Tod in Venedig vor dem Hintergrund einer Cholera-Epidemie spielt. Hätte die Erzählung von der Tuberkulose „humoristisch()“ im Unterschied zur tödlichen von der Cholera verlaufen sollen? Oder war das Humoristische in der Fehldiagnose einer Tuberkulose bei Katia Mann angelegt? Zweifelsohne sind die Erzählweisen der Epidemien verschieden angelegt, wie es sich bereits mit Joachims „Flasche aus blauem Glas“ im Roman ankündigt. In der Novelle wird Gustav von Aschenbachs „Denkweise“ über die moralisch wie hygienisch „unsauberen Vorgänge() im Innern Venedigs“ mit der Infektionskrankheit verknüpft. Im fünften und letzten Kapitel steigt die „Seuche“ zunächst gerüchteweise herauf:
„Versessen darauf, Neues und Sicheres über Stand oder Fortschritt des Übels zu erfahren, durchstöberte er in den Kaffeehäusern der Stadt die heimatlichen Blätter, das sie vom Lesetisch der Hotelhalle seit mehreren Tagen verschwunden waren. Behauptungen und Widerrufe wechselten darin. Die Zahl der Erkrankungs-, der Todesfälle sollte sich auf zwanzig, auf vierzig, ja hundert und mehr belaufen, und gleich darauf wurde jedes Auftreten der Seuche wenn nicht rundweg in Abrede gestellt, so doch auf völlig vereinzelte, von außen eingeschleppte Fälle zurückgeführt. Warnende Bedenken, Proteste gegen das gefährliche Spiel der welschen Behörden waren eingestreut.“

Der fiebrige Choleratod wird schließlich zur ultimativen erotischen Begegnung mit dem begehrten Knaben Tadzio. Denkweise und Seuche verschmelzen im Tod in Venedig zu einem Narrativ vom homoerotischen Begehren. Erst unter den Bedingungen der Cholera wird der Abschied zur imaginierten Ankunft und Erwiderung des Begehrens. Die Cholera in der Schlusssequenz war immer auch ein Problem für das Begehrensnarrativ. Dennoch wird sie zur Bedingung der intimen Begegnung auf Distanz:
„Der Schauende dort saß wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so dass seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu folgen.“

Nun hatte der Berichterstatter vor allem von der Kombucha-Brauerei Bouche und der Gesundheit schreiben wollen. In Davos gibt es zumindest kein Kombucha von Bouche. Das ist Berlin. Das Künstlerkollektiv Yannic Pöpperling, Felix Rank und Walker Brengel haben sich Anfang 2020 mit ihrer Brauerei selbständig gemacht. Und dann kam der Lockdown besonders hart im Gastronomie-Sektor. Im Oktober hatte der Berichterstatter den Kombucha vom Fass im neuen Restaurant Remi an der Torstraße im Suhrkamp-Verlagshaus auf der Karte entdeckt und probiert. Dann war wieder der Lockdown da und für ein Sonntagsessen brauchte er unbedingt den Kombucha. So fand der Berichterstatter The Bouche. Die Covid-19-Pandemie hat den jungen Unternehmern den Geschäftsstart gründlich verhagelt, um es einmal so zu formulieren. Den wundervoll erfrischenden und moussierenden Kombucha in den drei Aromarichtungen EARLYBIRD, LEMONDROP und MELONBUZZ kann man sich allerdings bundesweit liefern lassen. Die Pfandflaschen werden derzeit von Lidl angenommen. Für ein innovatives Startup lohnt sich natürlich noch keine Pfandflasche, wie sie Ignaz Nacher für die Berliner Engelhardt Brauerei um 1910 erfand.[15] 1929 ließ er den Flaschenwaschturm in Stralau bauen.[16] – Doch das ist dann wieder eine andere Geschichte.

Torsten Flüh

Bouche
Kombucha
Georg-Knorr-Straße 4
12681 Berlin


[1] Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1991 (zuerst 1924), S. 10.

[2] Ebenda S. 13.

[3] Eva Dorothea Becker: Thomas Mann Figurenlexikon: Ziemßen, Joachim. In: Literaturlexikon online. Zuerst veröffentlicht 2006. – Überarbeitete Version 2011.

[4] Siehe: Klinische Symptomatik. In: Robert-Koch-Institut: Tuberkulose. Berlin, 21.02.2013.

[5] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 1] S. 10-11.

[6] Ebenda S. 14.

[7] Ebenda S. 8.

[8] Schatzalp: Geschichtsblog.

[9] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 1] S. 14-15.

[10] Schatzalp: Geschichtsblog: Das Imperiale Russland in den Alpen. 28. Mai 2020.

[11] Ernest B. Gilman: Yiddish Poetry and the Tuberculosis Sanatorium: 1900-1970. New York: Syracuse University Press, 2014.

[12] Knorr-Bremse: Ehrengrabstätte für Firmengründer Georg Knorr in Berlin. München 28.11.2016.

[13] Erhard Born: Knorr, Georg. In: Neue Deutsche Biographie. Bd.: 12, Kleinhans – Kreling, [Schriftleitung Hauptschriftl. Fritz Wagner … Genealog. Beratung Friedrich Wilhelm Euler], Berlin, 1980. (Digitalisat)

[14] Alexander Cammann: Über Der Zauberberg. In: Thomas Mann: Der Zauberberg. Hamburg: Zeitverlag, 2018, S. 892.

[15] Siehe: Johannes Ludwig: Die Erfindung der Pfandflasche. In: ans Tageslicht 26.11.2019.

[16] Wikipedia: Flaschenturm.

Musik als Geschenk im Advent

Grundgesetz – Musik – Gottesdienst

Musik als Geschenk im Advent

Anne-Sophie Mutter gestaltete mit ihrem Quartett die Domvesper musikalisch im Berliner Dom zugunsten des Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung

Am Samstag vor dem 3. Advent gestaltete Anne-Sophie Mutter mit ihrem Streichquartett nach dem Orgelvorspiel von Domorganist Andreas Sieling den musikalischen Teil der Domvesper. Etwa 2.000 Menschen hatten sich laut Domprediger Michael Kösling am Freitag zuvor per extra eingerichteter E-Mail um Sitzplätze bemüht. Das Kontingent der Plätze nach den geltenden Abstandsregeln mit ausgelegten Karten für 1, 2 oder 3 Personen war nach Freischaltung schnell erschöpft. Anne-Sophie Mutter, Violine I, Wei Lu, Violine II, Hwayoon Lee, Viola, und Lionel Martin, Violoncello, baten mit ihrem hochklassigen Spiel bei der Kollekte am Ausgang um Spenden für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung. Vorgeführt wurde mit vier Stücken während des Gottesdienstes die hohe Kunst des Zusammenspiels.

Weltweit können Orchestermusiker*innen keine oder nur eingeschränkt Konzerte geben. Häufig haben auch in Deutschland viele Orchestermusiker*innen oder Sänger*innen keine feste Anstellung. Die Kunst des Zusammenspiels und des klangvollen, oft kräftigen Ausatmens kam bereits mit dem „Lockdown light“ ab 1. November zum Erliegen. November und Dezember gehören zu den besonders intensiven Konzertmonaten der Saison. Dieses Jahr darf nicht einmal der Weltstar Anne-Sophie Mutter mit Orchestern vor Publikum auftreten. Im Fernsehprogramm vermischt sich die Realität der Aufzeichnung mit einem vermeintlichen live. Kirchen, Synagogen und Moscheen sind derzeit die einzigen Orte, wo Musik live gehört werden kann. Warum ist das so? Ist Kultur Lebensmittel? Ist Deutschland eine Kulturnation? Für die Deutsche Welle fragt Anne-Sophie Mutter: „Sind wir nun eine Kulturnation, oder sind wir es nicht?“[1]

Gottesdienste dürfen weiterhin stattfinden Konzerte, Theater, „Kultur“ nicht. Woran liegt das? – Es liegt einzig und allein an der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, mit seinem Artikel 4, in dem die Glaubensfreiheit als Grundrecht geschützt wird und der Entscheidung der 2. Kammer im 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2020, die einem muslimischen Glaubensverein die Religionsausübung unter Einhaltung der Regeln erlaubte. Noch 2019 wurde das Jubiläum 70 Jahre Grundgesetz mit Sondereditionen von der Bundesregierung gefeiert. Doch Ende März für den ersten Lockdown zu Ostern wurden die Grundrechte durch Länderverordnungen so sehr eingeschränkt, dass auch die „Religionsausübung“, die nach Artikel 4, Absatz 2 „ungestört … gewährleistet wird“, nicht mehr möglich war.[2] Keine Gottesdienste in Kirchen und Freikirchen zu Ostern. Lediglich einzelne kürzere Andachten auf Distanz z.B. vor der Berliner Auferstehungskirche in der Friedensstraße waren möglich.

Am 10. April hatte das Bundesverfassungsgericht noch den Antrag eines „Antragstellers … katholischen Glaubens“ auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus der hessischen Landesregierung vom 17. März 2020 abgelehnt, der es ihm erlauben sollte, an der Heiligen Messe teilzunehmen.[3] Die juristische Argumentation des Antrags war nicht ausreichend. 19 Tage später entschied die gleiche Kammer, dass ein generelles „Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen und Synagogen (…) zur Religionsausübung“ in der Niedersächsischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus nicht zulässig ist.[4] Die zweite Entscheidung wurde maßgeblich für den weiteren Verlauf der Religionsausübung aller Religionen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland während der Pandemie. Die demokratische Konstruktion von einer die Legislative – Bundesregierung – kontrollierenden und korrigierenden Judikative – Bundesverfassungsgericht – hatte, wie vorgesehen, funktioniert. Deshalb u.a. versuchen nun die Bundesregierung und alle Landesregierungen gar nicht erst, die Kirchen zu Weihnachten zu schließen, obwohl das Bundesverfassungsgericht die gegenwärtige epidemische Lage anders einschätzen könnte.      

Anne-Sophie Mutter hat ausdrücklich kein Konzert gegeben, vielmehr hat sie die Domvesper musikalisch mitgestaltet, so wie sie es bereits mit wechselndem Ensemble in Leipzig, Hamburg, München oder Stuttgart in Gottesdiensten zugunsten des Nothilfefonds getan hat und vermutlich weiter tun wird. Das ist richtig und gut so und eine große Ehre für die betreffenden Kirchengemeinden, was auch Domprediger Kösling zum Ausdruck bracte. Sie respektiert die geltenden Regeln und beschenkt die Gemeinden mit herausragender Musik als einem Kulturgenuss. Zwar gibt es in Deutschland viele exzellente Organist*innen, die um die Bedeutung der musikalischen Gestaltung eines Gottesdienstes in diesen Zeiten wissen, aber am Berliner Dom kommt mit Andreas Sieling hinzu, dass er sein Instrument auf orchestrale Weise zum Klingen bringt. Mit Xaver Schult verfügt der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte über einen weiteren hochkarätigen, jungen Organisten an der ältesten erhaltenen Kirche in Berlin, St. Marien.

Doch wie steht es um die Kultur in Zeiten der Pandemie? Die Respektierung der Verfassung, unseres Grundgesetzes, steht für die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung während dieser schwersten Krise seit dem Ende des 2. Weltkriegs in Deutschland als Gebot ausgesprochen oder nicht an oberster Stelle. Die Covid-19-Pandemie hat weltweit die Kraft und Dynamik, Regierungen und Systeme nicht nur in Frage zu stellen, sondern durch politische Gegenspieler wie die AfD hinwegzufegen. Das Grundrecht auf Religionsausübung darf selbst dann nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, wenn die Evangelische und Katholische Kirche in Deutschland auf eine weitgehend säkularisierte Gesellschaft treffen. Ein Grundrecht auf Kultur und Musik gibt es (leider), schon deshalb nicht, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes, keinen Kulturbegriff formulieren konnten, den sie als Grundrecht hätten schützen können außer die Religionen.

Für das Orgelvorspiel hatte Andreas Sieling das Rorate caeli der französischen Komponistin Jeanne Demessieux ausgewählt. Es gehört zu den frühen Kompositionen der Pianistin, Organistin und Komponistin von 1947. Demessieux wurde 1921 in Montpellier geboren und erregte schon als Kind die Aufmerksamkeit zeitgenössischer Komponisten. 1936 traf sie den Organisten und Komponisten Marcel Dupré in seinem Haus in Meudon, wo er die Salonorgel seines Lehrers spielte. 1939 wurde Demessieux seine Schülerin am Pariser Konservatorium. Das Rorate caeli desuper wird als Antiphon der Adventszeit besonders in katholischen Kirchen gespielt und gesungen. Denn der Text wurde von dem Schriftpropheten Jesaja im Alten Testament ins Buch der Richter aufgenommen. Insofern handelt es sich um einen ebenso poetischen wie prophetischen Text des Tanach im Judentum. Jesaja 45, 8 wird in den christlichen Kirchen als Ankündigung der Geburt von Jesus Christus gelesen.
Rorate caeli desuper,              Tauet Himmel, von oben,
et nubes pluant iustum:          ihr Wolken, regnet den Gerechten:
aperiatur terra,                       Es öffne sich die Erde
et germinet Salvatorem.          und sprosse den Heiland hervor.

Das Streichquartett in Es-Dur opus 20, Nr. 1 von Joseph Haydn aus dem Jahr 1772 wird relativ selten in Konzerten gespielt, obwohl es mit den Sätzen Allegro moderato – Menuetto (Allegretto) – Affectuoso e sostenuto – Presto zu den einfallsreichsten gehört. Joseph Haydn gehört zu jenen Komponisten an der Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft, die ihr Komponieren im 18. Jahrhundert noch ganz als Geschenk Gottes verstehen. Formelhaft setzt er den Streichquartetten Opus 20 die Eingangsformulierung „In Nomine Domini“, im Namen des Herren voran und beendet sie mit dem Dank an den „allmächtigen Gott“ und die „allerseligste Jungfrau Maria“, obwohl die Streichquartette nicht für die Kirche, wohl für die häuslichen und höfisch konzertanten Gebrauch komponiert wurden.[5] Das Regelwerk der Streichquartette mit ihren Kombinationen und Variationen wird als Gabe Gottes empfunden und gerahmt. Vor allem deutet Anne-Sophie Mutter mit dieser Wahl an, dass sie mit ihrem Ensemble Wiederzuentdeckendes zu bieten hat.

Der Fragment gebliebene Quartettsatz c-Moll von Franz Schubert wird häufiger in Konzerten gespielt und bricht nach ca. 9 Minuten ab. Der Berichterstatter hörte ihn zum ersten Mal und war sofort von dem Stück wie seiner Aufführung durch Anne-Sophie Mutter, Wei Lu, Hwayoon Lee und Lionel Martin hingerissen. Franz Schubert, der mit seinem Vater und seinen älteren Brüdern im Streichquartett die Viola spielte, probiert 1820 in diesem Satz im Allegro assai offenbar einen neuartigen Kompositionsansatz aus, um ihn dann nach dem 41. Takt des zweiten Satzes abzurechen.[6] Ein musikalischer Gedanke wird nicht weitergeführt und bis zu Schuberts frühen Tod 1828 nicht wieder aufgenommen. Im Unterschied zu Joseph Haydns Gottvertrauen fast 50 Jahre früher zeigt sich hier das Geschenk gerade darin, dass es nicht abgeschlossen ist. Doch Schuberts Quartettsatz vermag gerade deshalb, umso mehr zu faszinieren.

Nach dem Vaterunser und dem Segen spielte Anne-Sophie mit ihren hochkarätigen Mitspieler*innen den 2. Satz aus der Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur, das „Air“, von Johann Sebastian Bach. Und bei ihm ist dann wieder das Gottvertrauen da, wenn auch nicht unerschütterlich wie Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern für die Johannes-Passion 2014 herausgearbeitet hat.[7] Haydns und Bachs Gottvertrauen in der Musik sind nicht zuletzt in der geradezu mathematischen Regelhaftigkeit ihres Komponierens begründet. Gott materialisiert sich seit dem 17. Jahrhundert in der Berechenbarkeit der Welten z.B. im streng geometrischen Barockgarten. Der Wuchs der Bäume und Hecken wird als göttliches Prinzip in das Repertoire der Geometrie überführt. Das Jahresgerüst der Kirchenkalender und der Kirchenmusiken bietet Halt in einem zwischen 1665 und 1714 von der Pest mehrfach heimgesuchten Europa. Pest, Pocken und Cholera suchten bis Ende des 19. Jahrhunderts die Menschen ohne Aussicht auf einen Impfstoff mehrfach heim. Die Regelhaftigkeit spiegelt nicht etwa eine gesicherte Lebenswelt wider, vielmehr ist sie der Versuch, das Unvorhersehbare der Seuchen, Kriege und tödlichen Krankheiten mit Regeln einzuhegen.

Musik, vor allem live gespielte Musik, schafft einen Raum der Teilnahme. Das Hören im Gottesdienst ist noch einmal anders als Konzertsaal nicht nur passiv, vielmehr geht es darum, es gemeinsam zu gestalten. Für die Dauer der Versammlung entsteht ein „Gemeinschaftserlebnis“, wie es Anne-Sophie Mutter nennt. Der Begriff der Musik lässt sich schwer eingrenzen. Denn es sind nicht nur die Noten oder die Töne, vielmehr eine Art Gemeinschaftsproduktion, wenn es gelingt. Musik lässt sich als eine zutiefst soziale Tätigkeit formulieren. Oder, wie die Geigerin es in ihrem Spendenaufruf formuliert:
„Musik ist ein Refugium, eine Quelle der Kraft, des Trostes sowie leuchtender Hoffnung und tiefer Gemeinschaftserlebnisse. Bitte unterstützen Sie diejenigen, die Ihnen dieses Geschenk machen und wegen Corona in Existenznot geraten sind. Helfen auch Sie bitte mit, dass die Deutsche Orchesterstiftung Nothilfe leisten kann.“[8]

Die Schirmherrschaft für die Spendenkampagne des Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung haben Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Kirill Petrenko übernommen.[9] Mit dem Datum vom 15. Dezember 2020 hat der Spendenstand über 3 Mio. € erreicht, so dass für jeden bewilligten Antrag 600 € ausgezahlt werden konnten. Bei der Deutschen Orchester-Stiftung sind zum Teil erschütternde Danksagungen eingegangen: „Die Situation ist … nicht einfach, und als ich meinen Kontoauszug in den Händen hielt … habe ich mitten in der Bank geweint.“[10] Neben Anne-Sophie Mutter unterstützen Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart, das Konzerthaus Dortmund und der Pierre Boulez Saal die Spendenkampagne als Partner.[11] Epidemien und ihre Folgen haben wir im Geschichtsunterricht nicht behandelt und gelernt. Allenfalls kam Albert Camus‘ Pest als Lesestoff im Deutschunterricht vor.[12] Und Thomas Manns Zauberberg haben wir nie als Pandemie-Roman gelesen. Der Berliner Dom wurde 1894 bis 1905 mit neobarocker Handschrift von Julius Raschdorff erbaut, als ließe sich Welt mit Regeln beherrschen.

Torsten Flüh

Spenden Sie für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung:
Deutsche Orchester-Stiftung
IBAN: DE35 1004 0000 0114 1514 05
BIC: COBADEFFXXX
Kennwort: Nothilfefonds
Betreff: Berliner Dom     


[1] Rick Fulker: Anne-Sophie Mutter: „Sind wir nun eine Kulturnation, oder sind wir es nicht?“ In: DW 14.12.2020.

[2] Siehe Artikel 4 Grundgesetz Deutscher Bundestag.

[3] Bundesverfassungsgericht: Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, Rn. 1-16.

[4] Bundesverfassungsgericht: Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 – 1 BvQ 44/20 -, Rn. 1-19.

[5] Villa Musica: Kammermusikführer: Joseph Haydn: Streichquartett C-Dur, op. 20, 2.

[6] Ebenda: Franz Schubert: Quartettsatz c-Moll, D 703 op. post.

[7] Siehe Torsten Flüh: Herzenssache. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion der Berliner Philharmoniker auf DVD und Blu-Ray. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 10, 2014 20:32.  

[8] Zitiert nach Programmzettel für das Domvesper zum 3. Advent im Berliner Dom.

[9] Deutsche Orchesterstiftung: Nothilfefonds.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

[12] Vgl. zu Albert Camus: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. April 2020.

Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis

Zorn – Wut – Recht

Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis

Zwischenlese zur digitalen Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Zorn – Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts

Aus dem Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin wurden bisher an zwei Donnerstagabenden live via YouTube-Kanal die Mosse-Lectures von Johannes F. Lehmann und Ute Frevert gestreamt. Aaron Ben-Ze’ev bat die Organisator*innen der Mosse-Lectures, ihn nicht der rasenden Covid-19-Pandemie auszusetzen und aus seiner Heimat-Universität, University of Haifa, per „Online Learning“ seinen Vortrag halten zu dürfen. Auf drei unterschiedliche Weisen näherten sich die Vortragenden dem Thema Zorn. Lehmann betrachtete den Gefühlsausbruch des Zorns aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht. Ben-Ze’ev positionierte als Philosoph den Zorn zwischen Liebe und Hass. Und die Historikerin Frevert ging dem Zorn und der Wut als mächtige Gefühle in der deutschen Geschichte nach. Was wissen wir vom Zorn?

Die aktuelle Transformation des Zorns auf Demonstrationen der sogenannten Querdenker und Corona-Leugner heißt Wut. Was unterscheidet den Zorn von der Wut? Unter evangelikalen Christen in den USA und Ralph Drollinger, Mitglied der White House Bible Study Group, kursierte schon Ende März 2020 der Glaube, dass Amerika den „consequential wrath of God“ mit der Pandemie erfahre.[1] Der „folgerichtige Zorn Gottes“ über Homosexualität und Umweltschutz trifft die USA weiterhin mit allergrößter Wucht. Während in Deutschland die Rede vom Zorn oder gar einem Zorn Gottes nahezu versiegt ist, wird von ihm im Umkreis von Donald Trump weiterhin gesprochen. Agierte Donald Trump mit seinen Entlassungen nicht immer unter Anmaßung eines Zorns über jeden Funken eines Widerspruchs? Kanalisierte und transformierte er als Präsident nicht die Wut der Angry White Men (2013) in einen selbstgerechten Zorn? Wünscht sich Wut nicht immer im Zorn eines Machthabers eingelöst zu sehen?

In meiner Zwischenlese zu den Mosse-Lectures im außergewöhnlichen Wintersemester 2020/2021, denn es steht noch eine Performance von A. L. Kennedy am 21. Januar aus, möchte ich das Verhältnis von Zorn und Wut im Horizont eines religiösen, biblischen Sprechens unter Berücksichtigung der gehaltenen Lectures analysieren. Die Mosse-Lectures von Aaron Ben-Ze’ev Anger and its Interaction with Love and Hate und Ute Frevert Edler Zorn und Wut im Bauch. Historische Metamorphosen sind wie auch die von Johannes F. Lehmann im YouTube-Kanal abrufbar. Deshalb werde ich nur auf einige wenige Aspekte referierend, zuspitzend und erweiternd eingehen. Am heimischen, antiquierten Sekretär sah und hörte der Berichterstatter mit Headset die Lectures live und fertigte Screenshots für diese Besprechung an. Über die Chat-Funktion des YouTube-Programms stellte er Fragen. Erwähnenswert ist vielleicht schon hier, dass bei ca. 100 zugeschalteten PCs kaum Fragen aus dem, wie man sagt, Netz gestellt wurden. Ein Inkognito gerierte sich im Chat als Bot und gab zweimal kontextfreie Äußerungen von sich.

Hinsichtlich des Zorns im Englischen gibt es ein anderes semantisches Umfeld, das zwischen anger, wrath und fury oszilliert. Im Englischen wird wrath häufig als Steigerung von anger gebraucht.[2] Michael Kimmel veröffentlichte 2017 seine Studie über die Angry White Men: American Masculinity at the End of an Era mit einem neuen Vorwort, in dem er schrieb, dass „Donald Trump“ im Index seines Buches nicht vorkomme, weil es ein Buch nicht über ihn, sondern seine Anhänger (followers) sei. Nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im November 2016 erlangte die Studie weltweite Aufmerksamkeit. Denn sie schien nicht nur etwas über dessen Wähler*innen, sondern auch, wie Ute Frevert sagen würde, die „Gefühlspolitik“ des Reality-Stars und Geschäftsmannes zu verraten, der die stolze Partei der Republikaner mit Populismus[3] gekapert hatte.
„Populism is not a theory, an ideology; it’s an emotion. And the emotion is righteous indignation that the government is screwing “us.””[4] 

Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte in ihrer Schriftenreihe bereits 2016 in einer Lizenzausgabe mit der Übersetzung von Helmut Dierlamm Kimmels Buch über Männlichkeit als Angry White Men: die USA und ihre zornigen Männer veröffentlicht.[5] In dieser Übersetzung deutet sich ebenfalls eine literarische Verschiebung von der Wut zum Zorn an. Männer dürfen nicht nur wütend, sondern zornig sein. „Angry White Men“ sind geschlechtsspezifisch und erst einmal keine weißen Frauen. Mit dem Zorn wird nicht zuletzt in Bibeltexten ein unergründbarer Rechtsanspruch verknüpft. Denn Gott selbst figuriert in seinem Zorn als Gesetzgeber und Überwacher seiner Vorschriften. Die Verschränkung von Gefühl und Gesetz zeichnet den Zorn Gottes aus und macht ihn in der theologischen Einordnung durchaus problematisch, denn Gott darf nicht aus Gefühl handeln.
„Die Rede vom Zorn Gottes durchzieht das Alte und Neue Testament. Im Unterschied zum menschlichen Zorn ist dabei weniger an einen unbeherrschten Gefühlsausbruch gedacht als vielmehr an eine willentliche Reaktion Gottes, durch die er menschlichem Fehlverhalten und der Missachtung seiner Gebote entgegentritt. Deshalb ist mit dem Zorn Gottes häufig der Beschluss eines vernichtenden Gerichts verbunden, das diesem Treiben der Menschen ein Ende setzen soll.“[6]

Wut lässt sich mit einem Rechtsanspruch verknüpfen, so schwierig dessen Formulierung fallen mag. Zorn dagegen bricht aus, weil das Gesetz oder die Regeln überschritten, gebrochen, in Frage gestellt worden sind. Der zornige, weiße Mann beansprucht immer, aus seiner Männlichkeit und rassistischen, weißen Vorherrschaft das Gesetz zu sein, zu verkörpern. In gewisser Weise korrespondiert diese Unterscheidung mit den Untersuchungen von Johannes F. Lehmann in seinem Vortrag Wut als Alarmsystem. Zur historischen und politischen Dimension von Konzepten des Zorns. Denn er stellt die These auf, dass „um 1800 der Zorn vor dem Hintergrund der liberalen politischen Ökonomie zur Wut demokratisiert“ wurde. Eine „Theorie der Wut“ formuliert er damit, dass „Wut (…) als Alarmsystem energetischer Integrität“ fungiere. Und er formuliert die These, dass „wir (…) im Politischen zwischen Wut als Ausdrucksform verletzter und verweigerter energetischer Integrität unterscheiden“ können.[7] Konträr zum Zorn der „weißen Männer“ identifiziert Lehmann die berechtigte Wut in der Bewegung von Black Lives Matters. Denn Schwarzen werden von zornigen Weißen gleiche Rechte vorenthalten, ja, abgesprochen.

Johannes F. Lehmann führte drei historische Definitionen für Zorn an, die nicht nur zufällig mit dem Recht eines gebrochenen Gesetzes oder einer Gesetzmäßigkeit korrelieren. So schrieb Zenon von Citium ca. 300 vor Christus: „Zorn ist Begierde nach Rache an einem, von dem man ungebührliches Unrecht zu haben glaubt.“ Gefühl und Gesetz werden nicht etwa voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen. Thomas von Aquin schrieb später den Gefühlsanteil verstärkend: „Die Zornesneigung steigt nämlich nur auf wegen zugefügter Kränkung und wenn zugleich Sehnsucht und Hoffnung auf Vergeltung vorhanden ist.“ Und der barocke Dichter wie Sprachgelehrte Justus Georg Schottel, latinsiert Justus-Georgius Schottelius, formulierte mit rhetorisch-poetischer Zuspitzung: „Der Zorn ist eine begierliche Herzneigung / sich alsofort zu rächen wegen einer zugefügten Beleidigung.“ „Herzneigung“ reimt sich auf „Beleidigung“. Schottel gibt mit seinem Reim nicht zuletzt einen Wink auf die Affektenlehre in der Rhetorik des Aristoteles.

Rache und Vergeltung werden als Ziele des Zorns genannt, weil ein Konnex zwischen Gefühl und Gesetz hergestellt wurde. Das Gesetz und die Gesetzmäßigkeiten zeichnen sich durch eine emotionale Aufladung aus. Hinsichtlich der theologischen Auslegung des Zorns Gottes ist das bemerkenswert.  Denn in der theologischen Definition des Zorns muss das Gefühl zugunsten einer „willentliche(n) Reaktion“, die gleichwohl unergründlich bleibt, ausgeblendet werden. Durch den Zorn soll der Haushalt der Gefühle ausgeglichen werden, aber nicht so bei Gott. Er wird denn auch von Aristoteles in seiner Rhetorik zum ersten Mal im dritten Teil – „Von der gerichtlichen Rede“ – des ersten Buches angesprochen.[8] Doch der Zorn wird von Aristoteles sogleich aus dem Bereich der „gerichtlichen Rede“ zu den „Gemüthsbewegungen“ verschoben, wo er als Scharnier des Gefühlshaushaltes ausführlich behandelt wird.
„8. Vom Zorne wird nachher, wo von den Gemüthsbewegungen die Rede seyn wird, gehandelt werden.“[9]

Um 1800 erfährt die Rhetorik des Aristoteles eine Reihe von neuen Übersetzungen. Damit wird der Zorn auf auch neuartige Weise formuliert. Denn er nimmt in dem Text eine entscheidende Funktion ein. Der Zorn gilt Aristoteles als „Beispiel“ für die Verschiedenheit der Affekte. Er ist nicht nur ein Affekt unter anderen, vielmehr wird ihm eine ausführliche Diskussion zuteil. Im zweiten Buch der Rhetorik wird der Zorn bereits in der Einführung der „unangenehme(n) und angenehme(n) Empfindungen“ ausführlich verhandelt.
„Affecte sind alle die Regungen, wodurch die Menschen in wandelbarer Ansicht verschieden urtheilen, mit welchen unangenehme und angenehme Empfindungen verbunden sind: z. B. Zorn, Mitleid, Furcht und dergleichen, und derselben Gegensätze. Die Untersuchung über jeden einzelnen muß man dreifach abtheilen; ich meine z. B. die über den Zorn, in die Fragen: in welcher Verfassung man zornig ist; auf welche Menschen man zu zürnen pflegt, und über welche Dinge? Denn wenn wir eines oder zwei Stücke, nicht aber alle drei inne hätte, so wäre es unmöglich, den Zorn einzuflößen; und ebenso im Uebrigen.“[10]

Durch die neuen Übersetzungen der Rhetorik zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhält der Zorn eine strukturierende Qualität insbesondere für den männlichen Gefühlshaushalt. Aristoteles zitiert nicht nur den Zorn in der Literatur der Antike wie z.B. in der Odyssee oder Ilias – „Der weit süßer zuerst, denn sanfteingleitender Honig / Bald in der Männer Brust aufwächst“ –, er wird durch die neuen Übersetzungen auch in ein normatives Bild vom Mann eingespeist. Der Zorn wird zum Dreh- und Angelpunkt der geschlechtlichen, männlichen Identität. In Johann Gottlieb Fichtes Naturrecht findet der Zorn nur eine Erwähnung als Widerpart der Vernunft – „… aus Zorn oder Trunkenheit seiner Vernunft nicht mächtig gewesen, spricht zwar los von der Anklage des bedachten bösen Willens; …“[11] –, aber in den neuen Übersetzungen der Rhetorik erfährt er eine positive Wiederkehr:
„So sey nun der Zorn ein schmerzliches Verlangen nach Dem, was uns als Rache erscheint, wegen Dessen, was uns als Kränkung erscheint von Seiten Desjenigen, der gegen uns oder einen uns Angehörigen nicht nach Gebühr verfahren hat. Ist das der Zorn, so muß der Zürnende immer auf eine Person zürnen, z.B. auf Eseon, nicht überhaupt nur auf einen Menschen; und der Grund muß seyn, daß jener uns oder Einen der Unsern Etwas angethan hat, oder hat anthun wollen; und verbunden mit jedem Zorne muß eine gewisse Lust seyn, ausgehend von der Hoffnung des Rächens. Denn die Vorstellung, Das zu erlangen, wonach man strebt, gewährt uns Lust; und Niemand strebt nach Dingen, welche ihm unmöglich erscheinen; sondern der Zürnende strebt nach scheinbar Möglichem. Darum heißt es schon von dieser Leidenschaft […]:
          Der weit süßer zuerst, denn sanfteingleitender Honig
          Bald in der Männer Brust aufwächst –“[12]

Johannes F. Lehmann zitierte in seinem Vortrag zur Verschiebung des Zorn-Begriffs um 1800 nicht zuletzt Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Das Aussetzen der Vernunft, wie es von Fichte formuliert worden ist, hatte dieser den Zorn als „Schreck“ bezeichnet, „der zugleich die Kräfte zum Widerstand gegen das Übel schnell rege“ mache. 1807 kommt nach Lehmann eine psychologische Definition durch Johann Christoph Hoffbauers Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände hinzu. Hoffbauer schrieb, dass „Anlässe zum Zorn (…) schon das Kind (habe), so bald es einen Widerstand empfindet, gegen welchen es seine Kräfte aufzubieten sich versucht fühlt“. Gegenüber der Aristotelischen Zorn-Definition zeichnet sich bei Hoffbauer ein, wie es Lehmann nennt, energetisches Modell des Zorns ab, das für die Politik zur Wut transformiert, wirksam wird. Als Beispiel zitierte Lehmann aus Arlie Hochschilds Studie Strangers in their own land. Anger and Mourning on the American Right von 2016. Der Zorn und die Trauer werden dort mit einem Wegschneiden von Rechten formuliert:
„Look! You see people cutting in line ahead of you! You’re following the rules. They aren’t. As they cut in, it fells like you are being moved back. How can they just do that?”
“Blacks, women, immigrants, refugees […] – all have cut ahead of you in line. But it’s people like you who have made this country great!”

Zorn kommt immer dann auf, wenn ein Verlust empfunden wird. Gilt das nicht auch für die Querdenker in der Covid-19-Pandemie? Sind Querdenker zornig oder wütend? Aaron Ben-Ze’ev fragt in seinem Vortrag danach, wie „Anger“ sogar nachhaltig werden könnte. Für ihn nimmt der englische Begriff anger eine semantische Bandbreite zwischen Zorn, Ärger und Wut u.a. bei Buddha, der die Wut zurückweise, an. Er entwickelt seinen anger-Begriff insbesondere in Opposition zu Martha Nussbaums Anger and forgiveness: Resentment, generosity and justice von 2016.[13] Sie befasste sich in ihrem Buch mit dem nationalistischen Populismus, der sich in Europa und Nordamerika verbreitete. Und stellte als zentrale These heraus: „anger is ‚normatively problematic‘ in all spheres of human lives, including the political“.[14] Ben-Ze’ev hält dagegen, dass Wut einer Hilflosigkeit (helplessness) entspringe. Die Hilflosigkeit wird von Ben-Ze’ev als entscheidendes Argument angeführt. Wenn wir wütend würden, dann sei das ein Anzeichen dafür, dass wir unsere Hilflosigkeit ändern können. Wut sei häufig assoziiert mit sozialem Verhalten wie der Pflege (caring) und nicht mit sozialer Indifferenz. Als Beispiel für Wut und romantische Liebe zitiert Ben-Ze’ev die mysteriöse Libby Fudim mit „Love me or hate me, but spare me your indifference“.

Anger ist mit dem Buch von Martha Nussbaum zu einem umstrittenen Thema in der Politischen Theorie geworden. Die Elastizität des Begriffs anger im Englischen erlaubt es Aaron Ben-Ze’ev in seinem Vortrag auf fast schon phänomenologische Weise, mit wutverzerrten Gesichtern auch in Paarbeziehungen eine produktive Kraft zu visualisieren und konzipieren. Insofern knüpft er an Libby Fudim an, die vor allem keine Indifferenz der Emotionen erfahren will. Er argumentiert damit, dass Gefühle extrem wichtig für das Überleben sind: „Feeling physical pain is vital for survival! Lacking the ability to do so is an extremely dangerous condition.” Wenn er darlegt, dass anger bei Aristoteles auf eine Balance des anger hinauslaufe – nicht zu viel anger und nicht zu wenig anger -, dann wird deutlich, wie dagegen im Deutschen das lateinische ira in die Übersetzung mit Zorn im 19. Jahrhundert eine folgenreiche Festlegung des Begriffs zeitigte. Im Englischen und den Classics wird anger zu einem komplexen Begriff, der stärker auf eine existentielle Balance ausgerichtet ist, wie sie weder Zorn noch Wut im Deutschen vermögen:
“Aristotle’s position on anger is that it is one of the most complex and distinctive of the human emotions, that it involves bodily, psychological, social, and moral dimensions, and that anger can and ought to be felt and acted upon in a number of right ways.”[15]

Einerseits erfährt das lateinische ira, im Griechischen θυμός thymos, Englischen als anger eine diätetische Aufwertung zur Lebenspraxis wie sie von Aaron Ben-Ze’ev entfaltet wird. Denn Aristoteles‘ θυμός kann auch mit Lebenskraft übersetzt werden. Andererseits ist ira im Englischen so anschlussfähig, dass die IRA – Irish Republican Army – das Homonym durchaus einkalkuliert haben dürfte. Ira und anger korrespondieren auf eine im Deutschen durch die Normalisierung zu Zorn undenkbare Weise. Das wurde denn auch mit Ute Freverts Vortrag zum Gebrauch der Begriffe Zorn und Wut in der deutschen Geschichte deutlich. Hier soll noch einmal erinnert werden an die Diskursivierung des Zorns durch die frühen Übersetzungen der Rhetorik im 19. Jahrhundert. Demnach regelt der Zorn eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft, wenn es heißt:
„Ferner den unbedeutenden Leuten um so mehr, wenn sie Geringschätzung zeigen; denn der Zorn ist angenommen als Aufreizung über die Geringschätzung gegen Solche, denen sie nicht zusteht;“[16]

Ute Frevert eröffnete ihren Vortrag mit dem Gebrauch der Wut im Kontext der Fußball-Berichterstattung. Da nimmt vor allem die „Fan-Wut“ eine entscheidende Funktion im nicht nur alltäglichen deutschen Fußballgeschehen ein, vielmehr fand Frevert die Schlagzeile: „Die Wut ist echt – Flutlicht an: In Halle demonstrieren aktive Fußballfans erstmals gegen »Geisterspiele«“. Das Politische der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie trifft auf den Unterhaltungssektor der systemrelevanten Fußballmedienindustrie zwischen 11 Freunde, Sportschau, sport1 und dem Streamingdienst DAZN. Während Kultureinrichtungen von Museum bis zur Oper geschlossen sind, finden aktuell weiterhin Fußballspiele ohne Fans im Stadion statt. Die „Fan-Wut“, darf man daraus schließen, ist eine hoch relevante für das politische System. Ob sie ebenso berechtigt ist, wie die Wut beispielsweise von Greta Thunberg über die Versäumnisse der Klimapolitik kann einmal dahingestellt bleiben.

Die Begriffsgeschichte von Zorn und Wut entfaltete Frevert anhand von Enzyklopädien und Universallexika vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. In der Literaturform der Enzyklopädien wird weiterhin um eine Unterscheidung von Zorn und Wut gerungen. So heißt es 2006 in der Brockhaus Enzyklopädie zum Zorn in der Psychologie: „elementarer Affekt mit unterschiedlich starker aggressiver Tendenz, z. T. mit vegetativen Begleiterscheinungen (Erblassen, Erröten u.a.) verknüpft; im Normalfall Reaktion auf Beeinträchtigungen durch die Umwelt, v.a. durch fremde Verhaltensweisen, die eine persönlich empfundene oder objektive Sollens- oder Rechtsnorm verletzen. Durch den Gehalt an rationalen und im weitesten Sinn eth. Komponenten unterscheidet sich der Z. von der Wut; er ist eine spezifisch menschl. Reaktion.“ Seit den Übersetzungen der Rhetorik Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich anscheinend im deutschsprachigen Wissen vom Zorn wenig geändert. Im Unterschied zu ira und anger geht es immer noch nicht um einen diätetischen Gebrauch des Zorns, wohl aber um ein affektives Merkmal des Menschen.

In den Gedichten Ferdinand Freiligraths kommt der Begriff des Zorns häufig vor. 1846 veröffentlicht er sechs Gedichte auf Deutsch unter dem französischen Titel ÇA IRA!, das den Zorn für die Politik und den Kommunismus mit dem Gedicht Von unten auf! ins Spiel bringt: „Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat, / Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!“[17] Das „Proletariat“ reimt sich durch den Zorn auf „Staat“. In dem Fragment gebliebenen Gedicht Schiffbruch naturalisiert Freiligrath den Zorn geradewegs mit der Formulierung: „Und hat es sie gefaßt, dann hält es sie den Schlägen / Der Stürzflut und dem Zorn des Tropensturms entgegen“. Der Wirbelsturm wird im Schiffbruch von ihm als „zürnende() Gewalt des Trombengeists“ verdichtet. Und in dem Gedicht Aus Spanien hat das „Volk“ „(i)m Auge Zorn“. Im Gedicht Vor der Fahrt, ebenfalls aus ÇA IRA!, das nach der „Melodie der Marseillaise“ gelesen oder gesungen werden sollte, befährt das Fahrzeug „die zorn’ge Flut“. Der Zorn wird so wiederholt im Naturbild politisch, proletarisch und patriotisch.

Der Zorn wird bei Freiligrath zur Signatur des deutschen Patriotismus. Sein Zorn findet 1887 in der Novelle Der Doppelgänger von Theodor Fontane eine literarische Verarbeitung. Dort denkt ein Erzähler über ein Lied nach: „Ich kannte zwar das Lied – hatte nicht auch Freiligrath seinen patriotischen Zorn an dem harmlosen Dinge ausgelassen?“[18] Der Zorn bei Freiligrath changierte daher zwischen einem kommunistischen und patriotischen. Das schwierige Verhältnis der Deutschen zum Zorn gipfelt denn wohl am 10. November 1938 in Joseph Goebbels Tagebuch-Formulierung eines „Volkszorn(s)“, der nachweislich ein gefälschter, neudeutsch Fake war:
„Wagner ist noch immer etwas lau. Aber ich lasse nicht locker. Wächter meldet mir, Befehl ausgeführt. Wir gehen mit Schaub in den Künstlerklub, um weitere Meldungen abzuwarten. In Berlin brennen 5, dann 15 Synagogen ab. Jetzt rast der Volkszorn. Man kann für die Nacht nichts mehr dagegen machen. Und ich will auch nichts machen. Laufen lassen.“[19]

Der „Volkszorn“ verdankte sich der antisemitischen Propaganda von Goebbels selbst. Der siebzehnjährige Herschel Grynspan, geboren in Hannover, hatte am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris den homosexuellen Diplomaten Ernst vom Rath angeschossen, der am 9. November im Krankenhaus verstarb. Die Umstände der Tat wurden nie genau geklärt. Die nationalsozialistische Propaganda nutzte die Tat, um sie in Zeitungen und Rundfunk als Attentat einer jüdischen Verschwörung auszuschlachten und so allererst den „Volkszorn“ zu generieren. – Ute Frevert erinnerte daran, dass Peter Sloterdijk 2006 mit seinem Buch Zorn und Zeit – psychologischer Versuch und dessen Abschnitt Die thymotische Revolution – Von der kommunistischen Weltbank in unbeabsichtiger Weise der Wut von Rechts eine argumentative Vorlage gegeben haben könnte. Der „Wutbürger“ sei allerdings ein Neologismus des Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit vom 11.10.2010 auf die Proteste gegen Stuttgart 21 und die Sarazin-Debatte. Mit dem Graffito „ZU VIEL ÄRGER ZU WENIG WUT“ auf steigende Mieten und Gentrifizierung in Berlin von 2017 schloss Ute Frevert ihren Vortrag.

Zorn und Wut lassen sich als emotionale Kippfiguren des Politischen beschreiben. Einerseits werden sie immer wieder als Wissensformationen gebraucht. Andererseits geben sie einen Wink auf ihre Herkunft vom griechischen θυμός bzw. lateinischen IRA, die sich als derart ambig erweisen können, dass daraus eine Lebenskraft und Lebenspraxis abgeleitet werden kann. Im 19. Jahrhundert spielte der Zorn eine große Rolle in der sozialen Frage und bei der Herausbildung von Patriotismus und Nationalismus. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird in Deutschland die Wut zunächst von Links und aktuell eher von Rechts für den politischen Diskurs wichtig. Der Gebrauch des Zorns als Gefühl in der Politik bleibt wechselhaft und vielfältig.

Torsten Flüh

Mosse-Lectures
ZORN
Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts
A. L. Kennedy – >>The Second Thing<<
21. Januar 2021 19 Uhr c.t.
YouTube-Kanal


[1] Eugene Scott: A White House faith adviser is under fire for appearing to suggest coronavirus is due to God’s wrath over homosexuality, evnvironmentalism. In: The Washington Post March 27, 2020 at 1:27 p.m. EDT.

[2] Vgl. wrath in Wiktionary.

[3] Bereits im Wintersemester 2016/17 hatten die Mosse-Lectures unter der Leitung von Elisabeth Wagner den Populismus zum Semesterthema gemacht. Am 27. Oktober 2016 eröffnete Slavoj Žižek im überfüllten Audimax die Reihe der Lectures: Torsten Flüh: Die Katastrophe akzeptieren. Slavoj Žižek eröffnet mit Rage, Rebellion, New Power die Vorlesungsreihe Populismus und Politik der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN  Oktober 30, 2016 21:29. Siehe auch: ders.: Vom Wandel der Verfassung und der Schrecken des Populismus. Christoph Möllers‘ Mosse-Lecture zu Autokratien, Philip Manows Die Politische Ökonomie des Populismus und ein Wetterbericht. In: ebenda November 14, 2018 17:09.

[4] Michael Kimmel: Angry White Men: American Masculinity at the End of an Era. (E-Book) 2017, Preface.

[5] Michael Kimmel: Angry White Men: die USA und ihre zornigen Männer. Bonn: bpb, Bundeszentrale für Politische Bildung, 2016.

[6] Deutsche Bibelgesellschaft: Stichwort: Zorn Gottes. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft (ohne Jahr).

[7] Zitate nach Screenshots während der Lecture vom 12.11.2020.

[8] Aristoteles: Rhetorik. (Übersetzt von Michael Wenzel Voigt) Prag: Karl Barth, 1803, S. 118-192.

[9] Ebenda S. 162.

[10] Aristoteles: Rhetorik. (Übersetzt von Karl Ludwig Roth) Suttgart: J. B. Metzler’sch Buchhandlung, 1833, S. 112-113.

[11] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1796-1797, S. 106-107.

[12] Aristoteles: Rhetorik … [wie Anm. 10] S. 114.

[13] Martha Nussbaum: Anger and forgiveness: Resentment, generosity, and justice. Oxford: Oxford University Press, 2016.

[14] Siehe auch: Dan Degerman: Review. Anger and forgiveness: Resentment,generosity, and justice Martha Nussbaum Oxford University Press, Oxford, 2016. In: Contemporary Political Theory (2017).

[15] Gregory B. Sadler: One Sentence Summary on Aristotle and Anger. Aristotle has a lot to say about anger, so how can we sum up his theory? In: medium May 11, 2018.

[16] Aristoteles: Rhetorik … [wie Anm. 10] S. 118.

[17] Ferdinand Freiligrath: Ça ira! Herisau, 1846, S. 28. (DTA)

[18] Theodor Fontane: Der Doppelgänger. Berlin: Gebrüder Paetel, 1887, S. 10. (DTA)

[19] Zitiert nach Frevert.

Von der Poesie des Naturbildes

Asche – Poesie – Trauma

Von der Poesie des Naturbildes

Zu Jinran Kims visueller Poesie in ihrer Ausstellung PAINSTAKING in der Galerie Z22

Galerien sind geöffnet. Es müssen die Distanz- und Hygieneregeln eingehalten werden. Doch statt eines Galerienbummels führt der Besuch diesmal in die Einzelausstellung von Jinran Kim unter dem Titel PAINSTAKING in der Galerie Z22 in der Wilmersdorfer Zähringerstraße. Die übliche Vernissage mit vielen Besucher*innen musste ausfallen. Denn schätzungsweise 4 bis 5 Personen dürfen sich zugleich in den einstigen hohen Ladenräumen aufhalten. Das erlaubt eine gewisse Blick-Freiheit, wo sonst oft Gedränge herrscht. Am 5. Dezember findet ein Artist Talk mit Jinran Kim zwischen 1 Uhr und 5 Uhr nachmittags statt. An der Schnittstelle von Kultur, Kunst und Wirtschaft sind Galerien z.Z. nicht vom Lockdown betroffen. Das ist ein Vorteil, der allerdings nicht allen Bürger*innen bewusst ist. Kunst entdecken, betrachten und kaufen, wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee zur Unterstützung von Kunst und Kultur.

Jinran Kim nennt ihre Ausstellung PAINSTAKING, was sich mehrdeutig lesen lässt, gar eine Poesie des Bildes ins Spiel bringt. Es hat viel mit den Materialien ihrer Arbeiten in Bilderrahmen zu tun. Die Rahmen machen die oft dreidimensionalen Arbeiten in verschiedenen Formaten recht eigentlich zum Bild. PAINSTAKING lässt sich als im Englischen geläufiger Begriff painstaking lesen, um als Adjektiv die Art und Weise zu beschreiben, mit der etwas akribisch, sorgfältig oder gewissenhaft, mühsam gemacht worden ist – „done with or employing great care and thoroughness“. Doch es ist auch ein Kompositum aus pains und taking, also Schmerzen und nehmen, so dass sich daran denken lässt, dass mit den Bildern aus Gaze bzw. Verbandsmull und Asche Schmerz genommen oder aufgenommen werden können. – Und das bei Schneelandschaften, Meer- und Strandansichten?

Das Material Gaze erforscht und verarbeitet Jinran Kim seit einigen Jahren für ihre Bildgestaltung. Gaze ist ein traditionelles Naturgewebe aus Baumwolle. Es wurde oder wird vielseitig eingesetzt wie z.B. als Kleiderstoff oder für das Binden von Büchern und die Verstärkung von Buchrücken. Jinran Kim hat immer wieder mit unterschiedlichen Materialien, oft Alltagsmaterialien z.B. Handseife für die Installationen zu koreanischen Reinigungszeremonien wie 2014 in ihrer Ausstellung After The Rain in der Galerie im Körnerpark gearbeitet. Asche und Naturfarben gehören ebenso zu ihren Materialen. Für die zarten Gaze-Bilder benutzte sie schon vor 2018 handelsübliche Verbandsgaze, um beispielsweise beziehungsreiche Portraits von Samuel Beckett, Karl Marx oder John Cage, aber auch Ruinenlandschaften mit Flüchtenden in ihrer Ausstellung Civilisation and its Discontents zu schaffen.

Die Gaze-Bilder haben sich bei Jinran Kim von der Collage zur Montage entwickelt. Die Künstlerin verarbeitet sie im wieder aus andere Weisen. Die ersten Arbeiten aus der Serie der Gaze-Bilder wurden mehr geklebt. Die Wellen fallen nun wie feines Gewebe. Das Textile des Materials wird in den Wellen und einem Wasserfall durch Vernähen stärker herausgearbeitet. Jinran Kim löst die Textur der Verbandsgaze bis in feinste Fäden auf, um daraus im Schwarz-Weiß-Kontrast z.B. ein abstraktes Triptychon mit einer Meeransicht zu schaffen. Vor einem Triptychon lässt sich innehalten. Die Welleneffekte – Schaumkronen – sind mit großer Sorgfalt gemacht. Dabei sind die Wellenszenarien oder Momentaufnahmen vom Strand, auf dem Wellen auslaufen, eine Art Augentäuschung. Der Moment ist aufwendig und akribisch hergestellt worden.

Die Wellen sind kein Wasser und keine Fotografien in Schwarz-Weiß, sondern sorgfältig und mit großer Geduld sowie ästhetischem Fingerspitzengefühl Montagen aus Lagen von Gaze und Asche. Das dargestellte Wasser als fließendes Element erweist sich als feingliedrige Konstruktion. Anders gesagt: Jinran Kim ist es außerordentlich wichtig, die Medien und Bilder mit den Materialien zu reflektieren, aus denen visuelle Poesie entspringt. Oder mit den Formulierungen des Medienkünstlers, Kurators und Digital-Philosophen Baruch Gottlieb:
“These are careful caring works, painstaking works, with every meticulous detail, they take the pain away. At once fragile and relentless, surging irreverence, the great forces at play are on the surface light, uncertain. Something is trapped in the mesh. The gauze bandage has absorbed some dark essence, or intoxicant, something from deep in nature, so deep in human nature it is indistinguishable from land. The landscape gapes from inner space behind furrowed brow and life-creased face.”[1]

Das Meer rauscht, nein, es braust und tost regelecht. Großformatig. Die Schaumkronen werden deutlich sichtbar. Das Meer ist bis auf die Wasserwellen leer und kein, wie man in der Marinemalerei sagt, Seestück mit Schiffen. Seestücke lassen sich als Genre bis in die Antike zurück verfolgen. Aus der Erinnerung schiebt sich Caspar David Friedrichs Mönch am Meer von 1810 in die Wellen. Damit ändert sich alles, weil das Seestück zur „Seelandschaft“ wird. Heinrich von Kleist hat das Ölgemälde in einer redaktionellen Montage mit dem Titel Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft in seinen Berliner Abendblättern am 13. Oktober 1810 besprochen. – „Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegränzte Wasserwüste, hinauszuschauen.“[2] – Doch gegenüber dem imaginierten Naturerlebnis nimmt „das Bild“ eine merkwürdig verletzende Medialität an. Denn wie bei Jinran Kim ist es nur der Rahmen, der das Gemälde zum Bild macht.
„Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Joungs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären.“[3]

Heinrich von Kleists ebenso merkwürdige wie poetische Formulierung von den weggeschnittenen Augenlieder(n) ließe sich dahin auflösen, dass der Betrachter auf das Bild zwanghaft schauen muss. Er kann nicht einmal mehr blinzeln oder seinen Blick im Bild deponieren, „wie man durch eine erotische Attraktion in Bann gezogen wird, Wünsche wach werden, etwas geschehen lässt und sich hingibt, der eigenen, der fremden und der gemeinsamen Lust“.[4] Es übt eine Faszination aus, der sich der Betrachter nicht entziehen kann und die er sich nicht zu erklären vermag. Auf verunsichernde und mehrdeutige Weise überschneidet sich das Kompositum Augenlieder mit dem „augendeckel“[5] und Liedern oder der Lyrik. Noch das Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1854 kennt nur die Form Augenlied.[6] Erst ab 1864 wird das Augenlied anatomisch in ein Augenlid normalisiert.[7] Die nähe zum Lied störte anscheinend. Es gibt auch noch andere, sagen wir, Motive als das Meer. Dazu gehören die Wasserfälle und die Wellen in der Ausstellung PAINSTAKING. Doch die Wellen/Waves faszinieren am stärksten.  

Der Rahmen macht die genähten Montagen aus Verbandsmull auf Leinwand mit Asche zum Bild. In einem bislang unveröffentlichten Buch zur Ausstellung gibt es ein Foto aus der Wasserfall-Serie vor Fertigstellung ohne Rahmen. Die mit Asche unterschiedlich stark eingefärbten Gazestreifen und -fäden hängen bauschig über das Rechteck des Papiers hinaus. Kim komponiert ihre Wellen und Wasserfluten. Was macht es, dass sich das Bild eines halbkreisförmigen Wasserfalls aus drei Einzelbildern einstellt? Wann sehe ich den Wasserfall? Und wann nicht? Es sind Licht- und Schattenspiele, die die Gazestreifen in Wasserströme verwandeln. Aus der sterilen Gaze wird visuell ein Wasserfall, der so angeordnet ist, dass man den Eindruck oder das Gefühl bekommt, man werde in die Tiefe, eine unendliche Tiefe, hineingespült. Naturschauspiel und Psychotrip zugleich. Ohne Rahmen, bevor der Rahmen angelegt wurde, ist das nicht so. Der Rahmen erweist sich als eine paradoxe Konstruktion: Erst der Rahmen erzeugt die unendliche Tiefe, indem er das Überlappende abschneidet.

Das Handwerkliche und Sinnliche spielt für die bildende Künstlerin eine wichtige Rolle. Man kann wissen, dass Jinran Kim sehr handwerklich arbeitet. In einem Interview zu ihrer Serie Last Mattress hat sie einmal erzählt, wie sie mit Baumwolle, Naturfarben und der Struktur arbeitet. Das Handwerkliche oder die Praxis lässt sich nicht so leicht in den Bildern sehen. Erst, wenn der Betrachter näher herangeht, wird sichtbar wie aus den Gazestreifen einzelne Fäden herausgezogen worden sind, um visuelle Effekte zu generieren. Dafür braucht es allerdings die akribische Beschäftigung mit dem Material. Natürlich war immer alle Farbe in der Malerei künstlich und entstand erst durch eine Handwerkskunst, die u.a. für Restaurator*innen eine immense historische, chemische und maltechnische Rolle spielt. Doch genau das übersehen die Museumsbesucher*innen. Warum sehen wir Bilder von der Natur, einer geradezu idyllischen, heilen Natur, wo handwerkliche Praxis mit dem Material Gaze perfektioniert worden ist?

Es gibt in der Ausstellung die Serie Winterlandscape/Winterlandschaft mit so weißem Schnee, dass er in den Augen brennt. – „AUF DEN LIPPEN SCHNEE“, heißt es in Heiner Müllers Hamletmaschine. – Selten war eine Winterlandschaft in der Kunstgeschichte weißer. Es liegt wohl an der Sterilität der Gaze auf besonders weißem Papier. An den Winterlandschaften, die einerseits als Kanal mit Waldrand oder mit See inszeniert werden, irritiert, dass es Landschaften sind, denen man in Berlin gleich um die Ecke begegnen könnte. Landschaften sind Naturdarstellungen. In der Geschichte der Landschaftsmalerei geht es immer darum, eine Landschaft nicht nur abzubilden, quasi fotografisch, sondern ideologisch aufzuladen. Die Landschaft als Naturauffassung idyllisch, romantisch, naturalistisch, realistisch, minimalistisch etc. Doch die gleißend weiße Schneelandschaft wird von einem Kanal durchschnitten. In Berlin gibt es viele Industrie-Kanäle. Sie sind das Gegenteil einer idealisierten und ökologischen Natur. Auf den Bildern von Jinran Kim werden die Landschaften in dieser Serie melancholisch und durch das sterile Weiß zur erschreckenden Idylle zugleich. In den Bildern kippt die Darstellung auf beunruhigende Weise.

Ich könnte mir vorstellen, dass Kims Winterlandschaften trotz Naturmaterialien ins Digitale verwickelt sind. Eine Fotografie wird in Grautöne aufgelöst. Durch die Grautöne entstehen ganze Landschaften. Auf der Wasseroberfläche des Kanals spiegeln sich die Schatten des Waldrandes. Zu den Winterlandschaften gehören auch Arbeiten, in denen die Baumrinde von Birken mit Gazefasern erzeugt wird. Da die Winterlandschaften wiederum menschenleer sind – keine Spaziergänger, keine Läufer*innen, keine Wanderer – bekommen sie einen geheimnisvollen Zug. Es sieht so aus als ob es, nur um die Natur bis ins Detail der Birkenrinde ginge. Baumrinden werden in mehreren Bildern geheimnisvoll. Ganz genau lassen sich die Bäume nicht bestimmen, weil sie – vielleicht auch das im Deutschen ein Wortspiel des Visuellen – aus feinster Baumwolle sind. Das Bild kann man sehr schnell sehen, indem der Betrachter die Baumwollfäden und Strukturen übersieht. Es gibt besonders in der Ausstellung PAINSTAKING immer eine Art Oszillieren zwischen dem Bild und seiner Herstellungsweise. Dieses Oszillieren lässt sich nicht stillstellen.

Ausgerechnet in der Ausstellung mit dem mehrdeutigen Titel PAINSTAKING, was auf eine Künstlichkeit und therapeutische Rezeption verweisen könnte, wird die Natur zum Bild. Mit einem Fotoapparat ließe sich die Natur gar nicht mehr so idyllisch darstellen. Vielmehr bekommen wir die Bilder vom Plastikmüll in den Weltmeeren nicht mehr aus unserem Gehirn. Sie haben sich uns heute eingebrannt. Auch der Dannenröder Forst in seiner Gefährdung durch den Braunkohleabbau hat sich als verletzte und gefährdete Natur in unser visuelles Gedächtnis gesengt. Die Naturfotografie zeigt häufig bildschöne Landschaften, die auf einen zweiten Blick vermüllt sind. Das klare Wasser eines Wasserfalls ist bei genauerer Betrachtung stark verunreinigt. Die Natur kommt für viele junge Menschen kaum noch anders denn als Trauma des Klimawandels vor. Die Natur und unsere Vorstellung von ihr mit vom Plastikmüll verletzter Meeresschildkröte bis zur seuchenverbreitenden Fledermaus kommt heute, alles andere als idyllisch in den Medien vor. Wir sind nicht zuletzt für den Klimaschutz, weil uns die Bilder der verletzten Natur erschüttern.

An diesem Punkt kommt der Titel noch einmal anders ins Spiel des Visuellen. Jinran Kims Arbeiten am Naturbild bekommen eine rituelle und therapeutische Dimension. Nur mit meditativer Sorgfalt können derartige Bilder von der Natur entstehen, die immer ein wenig zu schön aussehen. Riten können in der koreanischen oder buddhistischen Kultur therapeutisch wirken. Der Ritus wird eine kulturelle Form einer individuellen Therapie. Das Naturbild als Schönes kann heilen, wenn wir mehr als nur das Bild sehen und durch dieses in einer geradezu zen-buddhistischen Leere meditieren. Es gibt auch die Moose und Wälder und Wasserfälle in starken, intensiven Farben. Aus ihnen leuchtet das helle Weiß der sterilen Gaze als schäumendes Wasser. In der Ausstellung PAINTAKING lässt sich ein großes Spektrum der praktischen Meditation über die Natur mit dem Naturmaterial Gaze entdecken. Jinran Kim findet immer wieder neue Praktiken aus der Arbeit mit ihrem sterilen und dennoch natürlichen Material Gaze.

Und – es gibt die Asche als Material und Rest. Es ist gewesen. Die Asche ist eine Spur von Verbranntem. Man kann die Asche eines Menschen verstreuen oder in einer Urne mit Fürsorge aufbewahren. Jinran Kim verwandelt Asche in Bilder. Die Arbeit mit der Asche wird zu einer meditativen Praxis. In einem „Post-Skriptum“[8] auf seine Lektüre von Sigmund Freuds Studie Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva (1907) kommt Jacques Derrida noch einmal auf die Frage des Archivs mit der Asche zurück:
„Er träumt davon, wieder lebendig zu machen. Er träumt eher davon, sich selbst wieder lebendig zu machen. Aber eben dadurch, daß er den einzigartigen Druck und Eindruck, den Gradivas Schritt, der Schritt selbst, der Schritt von Gradiva selbst an jenem Tag, dieses eine Mal, an jenem Datum in dem, was er an Unnachahmlichem hatte, in der Asche hatte hinterlassen müssen, wieder lebendig macht. Er träumt diesen unersetzlichen Ort, die Asche selbst, in der der einzigartige Abdruck sich wie eine Signatur kaum vom Eindruck unterscheidet. Und das genau ist die Bedingung der Einzigartigkeit, das Idiom, das Geheimnis, das Zeugnis.“[9]     

Mit der Asche und der Gaze werden Jinran Kims Naturarbeiten zu einem Zeugnis für ein Trauma und dem kreativ-meditativen Umgang damit. Auf einzigartigeweise werden ihre Gaze-Bilder zu Archiven. Es wird nicht so einfach sein, in diesen virtuellen Archiven zu finden, was man sucht. Die Archive sind systematisiert. Aber die eigensinnige Arbeitsweise wird von den Bildern bezeugt. Malen, ja, malen ließen sich die Naturbilder auch wie Caspar David Friedrich. Aber nicht so. Das Malerische kippt bei ihm schon, in eine ganz andere Richtung, die häufig das Romantische genannt wird, bei der es unterdessen mehr um eine Art Verlust geht. Die Gaze-Bilder wirken auf den ersten Blick wie gemalt oder gar fotografiert. Aber Malen und Fotografieren sind etwas völlig anderes als Färben, Nähen und Montieren. Dadurch werden die Naturbilder einzigartig. Denn schließlich muss die Gaze zufällig, aber sorgfältig fallen, um einen natürlichen Wasserfall generieren zu können.

Torsten Flüh

Z22
Jinran Kim
PAINSTAKING
bis 16. Januar 2021
Zähringer Straße 22
10707 Berlin    
Do      14 : 00  –  20 : 00
Fr       12 : 00  –  20 : 00
Sa      11 : 00  –   17 : 00
und nach Vereinbarung


[1] Baruch Gottlieb: Foreword. In: Galerie Z22 (Hg.): Jinran Kim: PAINSTAKING. Berlin: (unveröffentlicht), 2020, S. 2.

[2] Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. (Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.) Band II/7 Berliner Abendblätter I. Basel; Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 61.

[3] Ebenda.

[4] Vgl. Karl-Josef Pazzini: Über die Angst, die Waffen abzugeben. In: Brigitte Verlic, Adam Budak, Peter Pakesch (Hg.): Zeichen der Psyche. Psychoanalytische Perspektiven zu Kunst. Wien: Turia + Kant, 2009, S. 137.

[5] So Deutsches Wörterbuch von Jacob Grim und Wilhelm Grimm: Augenlied. (Digital)

[6] Siehe auch Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Sprache von 1793: Augenlied. (Digital)

[7] Augenlider in Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände: Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig: Brockhaus, 1864, S. 377.

[8] Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin: Brinkmann + Bosse, 1997, S. 169-176.

[9] Ebenda S. 172.

Unfassbar traumhaft – Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman

Lyrik – Paul Celan – Corona

Unfassbar traumhaft

Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman Paul Celan und der chinesische Engel

Am 23. November 2020 wäre der Lyriker Paul Celan einhundert Jahre alt geworden. Ein Jahrestag. Yoko Tawada hat ihm ihren brandneuen Roman per Titel zum Geschenk gemacht. Das ist mehr als eine Widmung, wie sie literarisch häufig geübt wird. Der Roman Paul Celan und der chinesische Engel lässt sich nicht anders als ein fulminantes Literaturereignis beschreiben. Er wird als Geschichte eines Patrik in Berlin im Frühjahr 2020 erzählt und endet berührend schön auf dem Rücken eines Vogelkörpers. Patrik verehrt eine Sängerin und trifft Leo-Eric Fu im umgangssprachlich Corona-Lockdown genannten Ausnahmefrühling und will, dass, O-Ton Tawada, „die gerade angezündete Freundschaft nicht verlöscht“.[1] Anders gesagt: Yoko Tawada hat den Corona-Roman ganz aus Celans Lyrik geschrieben. Das wird ein Leseabenteuer und ein Liebesroman.

Es gibt keine Epidemie-Romane. Seit beginn der Covid-19-Pandemie in Europa und Deutschland treibt Literaturforscher die Frage um, warum es keine Romane z.B. von der Cholera-Epidemie um 1830 gibt.[2] Warum haben wir nie oder sehr verspätet einen Roman von der Spanischen Grippe gelesen? Albert Camus‘ La Peste verarbeitet ein Epidemie-Szenario, um es mit der Resistance erzählerisch zu verknüpfen.[3] Selbst ein anspruchsvollerer AIDS-Roman blieb in den 90er Jahren aus. Angels in America von Tony Kushner kam Anfang der 90er als Theaterstück im Off-OFF-Broadway raus und wurde 1993 von Werner Schroeter am Schauspielhaus Hamburg mit Aplomb inszeniert als „Schwule Variationen über gesellschaftliche Themen. Teil Eins: Die Jahrtausendwendenacht“.[4] Nun liegt eine Liebeserklärung vor der Dichterin an den Lyriker auf „dis-Tanz“ von hoher „Bei-Nähe“, wie es einmal Ginka Steinwachs formuliert hat.

Thomas Manns Zauberberg könnte eine Art Epidemie-Roman sein, insofern es sich bei der Tuberkulose um eine allerdings bakterielle Infektionskrankheit mit epidemischer Ausbreitung handelte. Sie hat in gewisser Weise sogar Ähnlichkeiten mit dem Krankheitsbild von Sars-Cov-2, weil es sich ebenfalls um eine Erkrankung der Lunge handelt, die über die Luft, also die Atemwege übertragen wird. „Eine Ansteckung erfolgt allerdings grundsätzlich nicht so leicht wie bei anderen über die Luft übertragbaren Krankheiten“, schreibt der RKI-Ratgeber.[5] Die relativ langsame Ausbreitung der Tuberkulose und ihr langfristiger Krankheitsverlauf (2-3 Jahre) generierten im 19. Jahrhundert eine regelrechte Straf- und Sanatoriumskultur, die zum wahrscheinlich ersten Mal 1848 von Alexandre Dumas dem Jüngeren in dem Paris-Roman La dame aux carmélias, Die Kameliendame, ausgebildet wurde. Alexandre Dumas schrieb den Roman 1852 um in ein Theaterstück, das in Paris als skandalös galt und außerordentlich erfolgreich wurde.

Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave transformierten den Drama gewordenen Roman 1853 in die Oper La Traviata. Die Vom-Wege-abgekommene, wie sich La Traviata aus dem Italienischen übersetzen lässt, also die Pariser Salonprostituierte Violetta Valéry stirbt inmitten der Gesellschaft, öffentlich an einem Hustenanfall, der ihre Tuberkulose-Erkrankung verrät. Die Oper führt so gesehen die Tuberkulose, die damit verbundene Atemnot und den Erstickungstod als ein Gesellschaftsereignis auf, das in ihrem Schlafzimmer auf der Bühne stattfindet. Hans Castorp richtet sich dagegen im Sanatorium in Thomas Manns Roman von 1924 behaglich mit einem „zweiten Frühstück“ ein, um ein europäisches Sitten- und Kulturgemälde des Niedergangs inklusive politischer Agitatoren zu entwerfen.
„»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Peter. »Aber ich muss zugeben, was mich am meisten fasziniert hat – obwohl ich weiß, dass ich an all diese wichtigen Dinge denken sollte –, was mich am meisten fasziniert hat, war …«
»Das zweite Frühstück«, unterbrach ihn Holly.
»Genau!«, sagte Peter. »Ganz genau! Woher wussten Sie das?«
»Ach, kommen Sie«, sagte Holly. »Wer kann schon lesen, dass es in einem Sanatorium eine Mahlzeit gibt, die ›zweites Frühstück‹ heißt, und nicht denken, Tuberkulose hin oder her: Das klingt nach Paradies? Bei einem leichten Fall wie Hans? Das wäre es unbedingt wert.«
Zwei Köpfe, ein Gedanke! Peter wurde ein wenig schwindelig, aber er fuhr fort.“

Erst 1839 hatte Johann Lukas Schönlein das Krankheitsbild unter der Benennung von „Lungentuberkel“ beschrieben. Unter dem 5. Januar 1844 beschreibt Schönlein den Fall des Raschmachergesellen, Carl Wagner, der unterentwickelt und krank ist. Bei ihm findet er u.a., „dass (sich) in den obern Lappen beider Lungen (…) Tuberkeln gebildet haben, die aber noch im Zustande der Crudität“ sind.[6] Schönlein diagnostiziert „eine Correlation zwischen Diabetes und Tuberculose“. Für ihn wird die Tuberkulose noch nicht durch die Luft in die Atemwege übertragen, vielmehr geht er von einer „Nierentuberculose“, die über eine Diabetes, „sich später Tuberculose in den Lungen ausbilde“ aus.[7] Wagner wurde immerhin am 1. März aus der Charité-Klinik als geheilt entlassen.[8] Da weder der Tuberkulose-Erreger 1853 bekannt, noch eine erfolgreiche Therapie im Sanatorium in den Alpen wie im Zauberberg entwickelt worden war, sich Robert Kochs Impfstoff Tuberkulin später als wirkungslos erwiesen hatte, wurde die Krankheit moral-mythologisch hoch aufgeladen.

Woher kommt der Engel im Titel des Romans? Yoko Tawada gibt mit Paul Celan und der chinesische Engel einen Wink auf Engel in Amerika von Tony Kushner – und macht literarisch doch alles anders. Schließlich lebte Yoko Tawada 1993 in Hamburg und ging sicher auch ins Deutsche Schauspielhaus. Aber der Engel könnte ebenso woanders herkommen, weil es ein chinesischer ist. Das heißt aber nicht gleich, dass der Engel aus China kommt. Weil Parteichinesisch im Deutschen unter anderem eine Sprache oder Sprechweise benennt, die sich nicht gleich erschließt. 1967 schreibt Celan allerdings auch das erotische Gedicht Aus Engelsmaterie, das im Gedichtband Fadensonnen 1968 erschien.[9] Paul Celan ist im Roman die Hauptperson. Aber Paul Celan denkt, schreibt oder erzählt den Roman nicht.
„Aus Engelsmaterie, am Tag
der Beseelung, phallisch
vereint im Einen …“

Der Roman beginnt mit Patrik und handelt, wie man sagt, von ihm. Er durchlebt eine Krise. Zumindest schlägt es der Klappentext so vor: „Patrik soll einen Vortrag auf einer Celantagung in Paris halten, doch er hat Angst, möchte absagen, befindet sich in einer Krise.“[10] Allerdings erhält Patrik im Roman seinen Namen erst später. – „Der Patient heißt Patrik.“[11] – Auf 13 Seiten bleibt auf verstörende Weise offen, wie der Patient heißt. Es ist immer nur von dem Patienten die Rede, was mehr als eine stilistische Geste andeutet. Der Patient ist nichts weiter als „der Patient“. Im ersten Satz heißt, der, von dem erzählt wird, „Patient“:
„An jeder Kreuzung bereut der Patient, keinen Würfel dabei zu haben, der ihm die Entscheidung abnehmen könnte. Geradeaus gehen oder abbiegen?“[12]

Das ist ein bedenkenswerter Romanauftakt. Denn erstens wird mit dem Begriff „Patient“ als Name sofort auf eine Erkrankung angespielt, die nie benannt wird. Wir werden nicht zu wissen bekommen, ob überhaupt und woran „der Patient“ erkrankt ist. Patient wird man, wenn man zu einem Arzt geht und behandelt wird. Die Benennung als „der Patient“ macht Patrik – oder Paul – zu einem Leidenden oder Betroffenen nach dem Lateinischen Nomen Patiens. Zugleich wird Patiens in der Linguistik zu einem Satzglied, das die semantische Rolle desjenigen bezeichnet, der/die von einem Verb betroffen ist. Als Leser*innen wissen wir nicht, ob eingangs eine linguistische Figur beschrieben wird oder der Protagonist als Patient an einer Entscheidungsschwäche leidet. Ein „Würfel“ sollte helfen können, um nicht nur eine Wegrichtung zu finden, sondern überhaupt die Erzählung in Gang zu setzen. Weiterhin kann man von der Autorin Yoko Tawada wissen, dass sie selbst das Würfelspiel für das Dichten einsetzt. Für sie ist der „Würfel ein Zufallsplaner“ beim Dichten.[13]

Die Covid-19-Pandemie hat binnen weniger Wochen alle Menschen zu Patienten gemacht, womit eine weitere Leseebene des ersten Romansatzes vorgeschlagen wird. Plötzlich wurde in der zweiten März-Hälfte von „Risikogruppen“ gesprochen. Menschen über 50 Jahre und solche mit „Vorerkrankungen“ wurden den „Risikogruppen“ zugerechnet, um sie einerseits besonders zu schützen, andererseits allerdings zu „Patienten“ zu machen. Insofern ist der Begriff „Patient“ als Benennung des Hauptakteurs nicht zufällig, obschon ein Zufallsszenario mit dem ersten Satz aufgerufen wird. Nicht zuletzt Paul Celan als „Patient“, eines am Überleben der שׁוֹאָה/Shoa leidenden, klingt in dem ersten Satz an. Doch Celan wurde auch durch wiederholte Aufenthalte in der Psychiatrie der Pariser Universitätsklinik, der Salpêtière, zum Patienten gemacht. Auf diese Weise verdichtet sich „der Patient“ zu einem vieldeutigen Akteur im Roman, bevor er sich in der Erzählung des Celan-Experten Patrick, sagen wir ruhig, konkretisiert. Unterdessen hat Yoko Tawada bei ihrer Celan-Lektüre das vieldeutige Wort Corona gefunden.
„Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.“[16]

Man kann, ein zwar heute übliches, doch gespenstisches Internetphänomen, Paul Celan jederzeit Corona lesen hören. Auf Lyrikline.org wird eine Lesung von 1963 im Hessischen Rundfunk hörbar gemacht. Paul Celan liest mit jenem eigenen Rhythmus, der mehrere Zeiten überschneiden lässt. So gehört Alles hat seine Zeit des Predigers Salomo im Tanach[17] ebenso zum Geflecht des Gedichtes wie eine Affäre mit Ingeborg Bachmann und das Gedenken an die Shoa. Es ist denn auch שְׁלֹמֹה/Salomo, der mit dem erotischen Hohenlied als Autor in Verbindung gebracht wird. Anders gesagt: Paul Celan praktiziert in seinem Gedicht und in der Weise wie er es liest, indem er in der dritten Strophe sein Lesetempo ekstatisch beschleunigt, eine Überschneidung mehrerer Bedeutungsebenen. Gleichzeit markiert das Gedicht mit Veröffentlichung, 1952, und Lesung, 1963, eine historische Zeit, in der die deutschen Leser wie besessen gegen das „Gedächtnis“ arbeiteten. Sie wollten alles, nur nicht sich an den Holocaust erinnern müssen.

Corona bezeichnet nicht zuletzt einen Kranz oder eine Krone um die Sonne herum. – Eine Straßenlaterne in der Dunkelheit zeigt auf einem Foto auch eine Corona. – Neigt der aktuelle Leser aus seinem übermächtigen Corona-Wissen heraus, diese nur als Virus-Art und Epidemie zu verstehen, so muss doch allein bei Paul Celans Gedicht Corona, darauf hingewiesen werden, dass dem Begriff eine besonders große Bedeutungsvielfalt eigen ist. Es könnte nicht nur eine Bekrönung der Geliebten oder ein Kranz um „das Geschlecht der Geliebten“ betreffen, sondern ebenso eine Corona um die verdunkelte Sonne. Zwischen Naturereignis, Erotikbeschreibung und Zeitpunkt in einer Mehrzeitigkeit lässt das Gedicht viele Bedeutungen offen. Paul Celan und der chinesische Engel verdankt sich vor allem der intensiven Werk-Lektüre durch Yoko Tawada. Gegen Schluss bringt Leo-Eric Fu Celans Kompositum Fadensonnen mit „Korona“ in Verbindung.[18] Wir wissen nicht, was Fadensonnen sind, weil es ein Wort der Lyrik Celans ist. Doch um das Kompositum hat sich eine strahlende Corona gebildet.

Die Wahrnehmung kann ebenso durch eine Corona beeinflusst werden. In der medizinischen Diagnostik wird der Begriff Corona indessen aktuell vollständig von Sars-Cov-2 abgedeckt. Für eine Seh- und Wahrnehmungsstörung bei einer starken Migräne wurden zeitweilig Aura und Corona synonym benutzt. Denn im Lateinischen heißt corona vor allem Krümmung. So sollen sich einige Darstellungen in der Bildenden Kunst nach einigen Wissenschaftlern und Kognitionsforschern wie bei Van Goghs Sternennacht durch eine migränebedingte Aura oder Corona bedingt sein. Patricks Wahrnehmung wird von Yoko Tawada allerdings allein poetologisch verschoben. „Hinter den Schulterblättern“ der Kellnerin tut sich im Roman vieldeutig eine ganze Tuberkulose-Erzählung, La Traviata auf:
„Genervt von dieser Antwort, kehrt die Kellnerin ihm den Rücken zu. Hinter den Schulterblättern der Kellnerin ist eine Flügeltür zu sehen. Hinter der Tür findet eine prächtige Feier statt. (…) Es ist Paris. (…) Violetta will ihnen folgen. Plötzlich ergreift ein teuflischer Hustenanfall ihre Brust. Sie kauert sich zusammen und rutscht in eine dunkle Sphäre, wo kein Scheinwerfer sie mehr erreicht.“[19]   

Der Roman beginnt im Lockdown. Doch Tawada beschreibt ihn nicht, vielmehr triggert sie in der Eröffnungssequenz nicht nur mit der geschlossenen Staatsbibliothek die Erinnerung an den Bewegungsrahmen während dieser Zeit. Das ist höchst kunstvoll formuliert, so dass man leicht überlesen kann, in welcher Situation „der Patient“ auf die Straße geht. Er hat keine große Auswahl zwischen rechts und links. Zwar gibt es im Café „Kaffeetrinkende() und erntet ihre Gesichter wie goldene Ähren“, aber damit werden die Gesichter als „goldene Ähren“ derart aufge- und überbewertet, dass sie vielmehr den Wunsch nach eben diesen gerade nicht vorhandenen Gesichtern unterstreicht. Und der Besuch im Supermarkt galt im März April auch ohne einer „Kassiererin mit bösem Blick“ als lebensgefährlich:
„Wenn er nach rechts gehen würde, würde bald ein kleiner Supermarkt erscheinen, in dem eine Kassiererin mit bösem Blick und eine zweite mit barmherzigen Augen arbeiten. Wer von den beiden wird ihm das Geld nehmen? Betreten eines Supermarktes ist russisches Roulette.“[20]

Indem Yoko Tawada Patrik als Nachwuchswissenschaftler für Paul Celans Fadensonnen konzipiert hat, wird es ihr möglich, den Roman als Celan-Poetologie zu schreiben. Wie hat Paul Celan seine Gedichte geschrieben? Wie hat er mit Worten und Zahlen gearbeitet? Woher kommen Celans Anatomiekenntnisse mit so merkwürdigen Begriffen wie Lippen, Schwellgewebe oder „Kleinhirnwurm“? Für diese wissenschaftlichen Fragen taucht der „transtibetanische“ Leo-Eric Fu, der vorgibt, im chinesischen Kulturinstitut zu arbeiten, plötzlich auf. Doch dieser „chinesische Engel“ oder „Vogel“ wird nicht durch seine Funktion im Chinesischen Kulturinstitut, das natürlich auch geschlossen ist – und war –, zum Motor der Geschichte, vielmehr kannte sein Großvater in Paris Paul Celan persönlich und so gut, dass er sich in einem Schlüsselbuch für Fadensonnen die Worte angestrichen hat, die Celan in seinem Exemplar „markiert“ hatte.
„Leo-Eric schließt das Buch und überreicht es dem Freund. Der Körper des Menschen. Einführung in den Bau und Funktion. Das Buch ist beim angesehenen Wissenschaftsverlag Georg Thieme erschienen. Patrik wirft einen flüchtigen Blick auf das Impressum und das Vorwort. (…)
»Das ist nicht das Original. Mein Großvater hat sich dasselbe Buch gekauft und die Stellen markiert, die Celan in seinem Buch markiert hat. Zum Beispiel hier. Celan hat das Wort Aortabogen unterstrichen. Deshalb hat mein Großvater das Wort genauso unterstrichen.«
»Hat er Celans Lesespuren übertragen?«“[21]

Ich denke mir die Dichterin bei einer sehr ähnlichen Lese-Schreib-Arbeit. Viele Wörter wie „Hirnstamm und Hirnmantel[22] oder eben Fadensonnen sind im Roman kursiv gesetzt. Yoko Tawda wird sich die Wörter in den Gedichten „markiert“ haben, um sie dann nicht nur in ihrem Roman zu verwenden, vielmehr daraus recht eigentlich den Roman zu generieren. Für Celan-Entdecker*innen als Leser*innen ist das ein ebenso spannendes wie amüsantes Erzählverfahren. Für Celan-Expert*innen wird der Roman zu einem geistreichen Spiel mit Celans Textmaterial. So geht das „Wort köpfeln (…) dem Patienten nicht mehr aus dem Kopf, ertönt alle drei Sekunden in voller Lautstärke und lässt ihn nicht in Ruhe“. „Der Patient“ denkt zunächst, dass das Wort „besser in Celans Umwegkarten bleiben“ sollte, weil „außerhalb des Gedichts (…) kaum jemand das Wort köpfeln“ brauche.[23] Doch schon wenig später hat sich „der Patient“ in ein „Ich“ transformiert, das das Wort gebraucht.
„Bevor ich damit (einem OP-Messer, T.F.) jemanden verletze, muss ich ins kalte Wasser springen, das mich zur Vernunft bringt. Ich verwandle mich in einen Wal und köpfle.“[24]

Der Roman lässt sich schließlich als eine Kritik der Celan-Forschung lesen. Zu den Forschungsfragen gehört die nach der Lyrik. Und dafür lässt Yoko Tawada ihren Patrik „weder Esoterik noch Verschwörungstheorien“ verwenden wollen, „er wollte etwas, was er als Mystik bezeichnete. So kam er zur Lyrik.“[25] Die Lyrik kommt im Roman nicht zuletzt als Liebe zur Musik, zum Gesang vor. Daraus wird ein ganzes, wiederkehrendes Motiv im Roman. Doch was heißt dann Lyrik, wenn Patrik „(i)rgendwann (…) aufhören (wollte) zu zählen, sich vom Gitter der zählbaren Buchstaben befreien und abends tanzen gehen“ will.[26] Lyrik, wie von ihr in Paul Celan und der chinesische Engel erzählt wird, wäre dann eine Verdichtung der Sprache, damit die Wörter leicht werden und zu tanzen beginnen.

Torsten Flüh

PS: Die Fotos wurden am 11. November 2020 nach 21:15 Uhr aufgenommen. Seit dem 2. November hat der zweite Lockdown die Schließung von Kultureinrichtungen wie dem Literaturforum im Brecht-Haus, der Ausstellung „Stageless“ im Friedrichstadt Palast, der Staatsoper Unter den Linden, der Komischen Oper, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Akademie der Künste etc. und der Gastronomie wie den Restaurants am Schiffbauerdamm und der Hotelerie wie dem Hotel de Rome am Bebelplatz oder selbst dem Adlon erfordert. Insofern zeigen die Fotos ein Trauma in einer inadäquaten Form. Was schön aussieht, zeigt eine Tragödie. Gleichzeitig wird auf Werbeflächen an Bus- und Tram-Haltestellen vom Bundesministerium für Gesundheit für die AHA Formel – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske – und Zusammen gegen Corona geworben.

Yoko Tawada
Paul Celan und der chinesische Engel
144 Seiten, einige farbige Bilder,
Fadenheftung, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88769-278-0
12,90 €


[1] Yoko Tawada: Paul Celan und der chinesische Engel. Tübingen: Konkursbuch, 2020, S. 129.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Verpassen des Traumas. Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juni 2020.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[4] Siehe: Helmut Karasek: Erfolgreiche Lust am Untergang. In: Der Spiegel 22.11.1993.

[5] Robert-Koch-Institut: RKI-Ratgeber: Tuberkulose vom 21.02.2013.

[6] Ludwig Güterbock (Hg.): Schoenlein’s klinische Vorträge in dem Charité-Krankenhause in Berlin. Berlin: Veit, 1843, S. 395.

[7] Ebenda S. 396.

[8] Ebenda S. 406.

[9] Paul Celan: Fadensonnen. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. In: Paul Celan: Werke. (Herausgegeben von Jürgen Wertheimer.) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 161.

[10] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] Rückseite.

[11] Ebenda S. 20.

[12] Ebenda S. 7.

[13] Torsten Flüh: „Ich lasse mich gerne atmen durch eine andere Sprache“. Yoko Tawada liest neue „Überseezungen“ mit Naomi Sato an der 笙 (shō) im Haus für Poesie. In: NIGHT OUT @ Berlin Februar 18, 2018 23:05.

[14] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] S. 103.

[15] Ebenda S. 48.

[16] Lyrikline listen to the poet: Paul Celan: Corona Hessischer Rundfunk 1963.

[17] Prediger 3, 14: 31 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. In: Lutherbibel 2017.

[18] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] S. 139.

[19] Ebenda S. 30-31.

[20] Ebenda S. 8.

[21] Ebenda S. 99.

[22] Ebenda S. 98.

[23] Ebenda S. 117.

[24] Ebenda S. 118-119.

[25] Ebenda S. 121.

[26] Ebenda S. 122.