Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas

Korea – Konfuzianismus – Kosmos

Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas

Zur begeistert aufgenommenen Vorführung von Jongmyo Jeryeak des National Gugak Centers in Seoul beim Musikfest Berlin 2022

Beim Musikfest Berlin wurde am 12. September 2022 erstmals in Deutschland die Ahnenzeremonie Jongmyo Jeryeak von über 80 Mitgliedern des National Gugak Centers in Seoul aufgeführt. In der Philharmonie erklangen zum ersten Mal koreanische Töne auf nach Forschungen rekonstruierten Instrumenten vom zeremoniellen 축 Chuk am Anfang bis zum das Ende eines Abschnittes signalisierenden 어 Eo. Die nach den Vorgaben von König 세종 (Sejong) in der ersten Hälfte des 15. Jahrhundert geformten Klangsteine des Pyeon-Gyeong ließen ihre Töne zwischen C und D# durch die Philharmonie fliegen. Die Instrumente, Verse, Kleidungen, Farben, Töne, Gesten entwarfen in ca. 75 Minuten eine koreanische Kosmologie über den reinen Konfuzianismus hinaus.

Der Konfuzianismus als Lebenspraxis wird für Jongmyo Jeryeak angereichert mit dem der energetischen Kosmologie von Yin und Yang. Zugleich schimmert das Y Ging, Buch der Wandlungen, hindurch. König 세종 (Sejong) konzipierte als 4. König der 조선왕조 Joseon Dynastie (1392-1910) für die koreanische Halbinsel und das Reich Korea eine Verschmelzung und Umschreibung regional geübter Riten mit den Lehren des Konfuzius. Mit der 집현전 (Versammlungshalle der Weisen) gründete er ein königliches Forschungsinstitut, dass alle Wissensbereiche auf koreanische Weise ausrichtete. So entstanden die koreanischen, buchstabenartigen Schriftzeichen ebenso wie Ritual- und Musikinstrumente. Auf beeindruckende Weise lässt sich mit Jongmyo Jeryeak die einzigartige Kultur Koreas in Kostümen, Riten, Instrumenten, Versen, die synchron in Deutsch angezeigt wurden, Gesten erleben. Bis zum 26. September werden Aufführungen in der Elbphilharmonie, im Prinzregententheater und in der Kölner Philharmonie zu erleben sein.

© Fabian Schellhorn

Das Publikum in der Philharmonie wurde Zeuge der Ahnenzeremonie, die selbst die wenigsten Koreaner bzw. Südkoreaner jemals gesehen und gehört haben. Denn sie wird nur einmal im Jahr am 1. Sonntag im Mai vor und in der königlichen Ahnenhalle des Jongmyo Schreins in Seoul aufgeführt. Nach der Lehre des 孔夫子 Kong Fuzi bzw. Konfuzius existieren die Geister der koreanischen Könige und Königinnen bis zur legendären letzten „Kaiserin Koreas“ Myeongseong[1], kurz Min, die am 8. Oktober 1895 von einem japanischen Terrorkommando ermordet wurde, durch ihre Namenstafeln im Jongmyo auf so reale Weise, dass ihnen Speisen und Getränke im Ahnenritual dargeboten werden. Die Ahnenzeremonie wird zu einer hochformalisierten Institutionalisierung von Lehren und Tugenden des Konfuzi für das gegenwärtige Leben. Das National Gugak Center macht diese Praxis nicht nur als Weltkulturerbe (seit 2001) transparent und erfahrbar.

In seinem Einführungsvortrag hob Frank Böhme, Professor für Angewandte Musik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, vor der Büste Wilhelm Furtwänglers von Alexander Archipenko hervor, wie anders Musik des koreanischen Hofes im Vergleich zur europäischen konzipiert sei. Als Beispiel erklärte er eine 대금 Daegeum genannte große Querflöte aus Bambus. Diese werde nicht nur mit den Fingern durch Verschluss der Löcher gespielt, vielmehr wird zusätzlich ein Loch mit einem Papier und Metallplättchen überdeckt, um einen zusätzlichen schnarrenden oder schwirrenden Ton zu erzeugen. Eindrucksvoll erzählte Böhme ebenso davon, dass die Musik auf dem Steinplatz vor der über 100 Meter langen königlichen Ahnenhalle aus Holz durch das auf der Länge verteilte Orchester schon deshalb völlig anders klinge, weil die Instrumente wegen der Ausmaße kaum zusammen gehört werden können.

© Fabian Schellhorn

Zusätzlich werde die Zeremonienmusik durch Vogellaute und rauschenden Straßenverkehr in der Großstadt Seoul gestört. Die Funktion der Musik, könnte man sagen, strukturiert eher den Zeitverlauf der Zeremonie, als dass sie von lebenden Hörer*innen wahrgenommen werden soll. Dennoch werden die Instrumente mit höchster Präzision gleichförmig gespielt. Zu Beginn wird das würfelartige, grüne Schlaginstrument aus Holz, 축 Chuk genannt, mit einem Stab senkrecht bzw. vertikal geschlagen, so dass ein dumpfer Ton aus der Öffnung des hölzernen Schlaginstruments nach oben entweicht. Am Ende wird, noch während andere Instrumente gespielt werden, 어 Eo mit einem besenartigen Stab quer bzw. horizontal gestrichen. Eo hat die Form und Farbe eines weißen Tigers. Es gibt keine Steigerungen oder Entladungen in der Musik. In der Philharmonie bot sich nun erstmals ein Klangerlebnis, wie es eigentümlicher und vielschichtiger hätte kaum sein können.

© Fabian Schellhorn

축 Chuk und 어 Eo markieren das kosmologische Prinzip von Yin & Yang.„Die vertikalen Bewegungen weisen darauf hin, dass die Musik durch das symbolische Öffnen des Himmels und der Erde beginnt. Chuk repräsentiert das ‚Yang‘ der Dualität von Yin & Yang und bedeutet außerdem ‚Beginn‘ oder ‚Anfang‘.“[2] Das Chuk steht kosmologisch im Osten, wo der Sonnenaufgang den Tag beginnen lässt. Das Eo steht im Westen oder in der Philharmonie nach der räumlichen Logik rechts. „Das Instrument wird gespielt, indem mit einem Stab zunächst auf den Tigerkopf geschlagen und der Stab dann drei Mal über den Wellenkamm gezogen wird.“[3] Es entsteht auf diese Weise eher ein schnarrender Ton. Die räumliche Dualität wird tonal vollzogen. Auf diese Weise wurde in der Philharmonie deutlich, wie stark die Dualität von Yin & Yang die ganze Ahnenzeremonie strukturiert.

© Fabian Schellhorn

Die Deutschland-Tournee des National Gugak Centers mit Jongmyo Jeryeak findet anlässlich des 50. Jubiläums des Deutsch-Koreanischen Kulturabkommens statt. Jüngere Mitarbeiter*innen der Koreanischen Botschaft in Berlin äußerten verschiedentlich wenig Verständnis dafür, anlässlich des Kulturabkommens eine dergestalt fremdartige, äußerst langsam ausgeführte Zeremonie dem deutschen Publikum vorzusetzen. Was selbst junge Koreaner*innen heute kaum noch verstehen, könne Deutschen doch nicht zugemutet werden. Vermutlich gibt es in Südkorea heute eher mehr Protestanten und Katholiken als praktizierende Konfuzianer.[4] Freikirchen und Sekten sind in Seoul wesentlich einflussreicher als eine dynastische Hofkultur für tote König*innen. Doch Jongmyo Jeryeak ist nicht nur bunt und fremdklingend, vielmehr wird im Programmheft eine umfangreiche, wissenschaftlich fundierte Einführung in Deutsch und Koreanisch geboten.[5]   

© Fabian Schellhorn

Das rituelle Instrument Pyeong-Gyeong mit seinen 16 Klangsteinen stellt eine eigene koreanische Symbolik aus Klang und Bildelementen her. Die Form aller Steine ist gleich. Auf Anweisung von König Sejong weichen sie in der Form von vergleichbaren chinesischen Klangsteinen ab. Sie unterscheiden sich nur in der Dicke. Durch die Dicke entsteht der einzelne Ton. „Je dicker der Stein, desto höher der Ton“, heißt es im Programmheft. Der Rahmen dieses Instrumentes folgt einer eigenen Symbolik. An den beiden oberen Enden des Rahmens wurden Phönix-Köpfe herausgeschnitzt und traditionell bemalt. Der Phönix als altes koreanisches Symbolwesen lässt sich ebenso in den Malereien der Goguryeo Hügelgräber von Pyongyang (heute die Hauptstadt Nordkoreas) wiederfinden, wie sie beim Musikfest 2017 mit dem Komponisten Isang Yun eine Rolle spielten. Die Gorguryeo-Kultur geht der Joseon-Dynastie voraus. König Sejong  (15. Mai 1397 bis 8. April 1450) hat diese Elemente mit dem Konfuzianismus in Korea verschmolzen. Zwei weiße Enten- oder Gänseskulpturen halten den Rahmen des Pyeong-Gyeong. Als flugfähige Wesen symbolisieren sie den Wunsch, dass der Klang der Steine weit fliegen möge. Er soll bis in die Ferne hörbar sein.

Die Form und die räumliche Anordnung der Instrumente ebenso wie die Farben – grün und weiß für Yang und Yin – oder die Dualität von klarer Ton und Schnarren etc. lassen eine kosmische Ordnung entstehen, in die das Leben und Nachleben eingeordnet werden kann. Mit anderen Wort: die Ahnenzeremonie Jongmyo Jeryeak kann nach westlichem Denken als ein Art großes Welttheater aufgefasst werden. Der Ablauf dieses Welttheaters funktioniert auf geradezu mechanische Weise wie ein Uhrwerk. Dabei unterscheiden sich die koreanische Form und Praxis von chinesischen ebenso wie von der japanischen. Begleitet wird die Musik von den 11 Stücken oder Versen des Botaepyeong und den 11 des Jeongdaeeop. In ihnen werden die Königsnamen in Zusammenhang mit den konfuzianischen Tugenden bzw. ihren Kriegserfolgen in Erinnerung gerufen.

Zwei Sänger fungieren mehr als Vorleser der Texte über der musikalischen Untermalung, als dass sie einen individuellen Gesang anstimmen würden. Die rituelle Musik reagiert nicht auf die Erzählungen. Auf der Tafel, die der Offiziant während der gesamten Zeremonie mit beiden Händen vor sich hält und wie er es beim Schlussapplaus zeigte, steht die Reihenfolge der Rituale, die dieser zu Beginn jeweils laut vorliest. Der Jipsa bzw. Offiziant wacht über die gesamte Zeremonie und kündigt die einzelnen Schritte an. Gleichwohl ergibt sich im Konzertsaal ein gewisser Zusammenklang. Im Schrein sitzen die beiden Vorleser ebenfalls nebeneinander, wie sich in einem Videozusammenschnitt des 국립국악원 National Gugak Center vom 28. April 2020 sehen lässt. Als Tag 10 der Daily Gugak veranstaltete das Center ein Online Concert, um die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen. Die Aufnahmen waren im Jahr zuvor oder noch früher aufgenommen worden. Im Video lassen sich ebenso die gleichzeitig stattfindenden rituellen Opfergaben im Schrein einsehen. Im Zusammenschnitt strahlt die Zeremonie ebenfalls eine große Ruhe der Ordnung durch ihre Langsamkeit aus.

In den Texten geht es um eine Geschichtserzählung, die die Namen der Könige wie König Taejong mit einer tugendhaften Handlungsweise verknüpfen. Zunächst werden die Geister um die Annahme der Opfergaben gebeten. „Altehrwürdige Könige, bitte labt euch an unseren Gaben mit Genuss. Wir erweisen euch unsere aufrichtige Ehrerbietung, …“[6] Der verlesene Text stellt im Sprechakt eine Präsenz der König*innen her. Dann werden die Namen mit den Tugenden wie Loyalität genannt: „Groß ist sein Name, Ikjo! Er blieb dem König von Goryeo loyal. Unser heiliger Dojo, Sohn von Ikjo, auch ihm vertraute der König von Goryeo.“ Die Loyalität gehört zu den Kerntugenden des hierarchisch ausgerichteten Konfuzianismus. Insofern ist die Wiederholung durch den Sohn Dojo nicht einfach ein historischer Zufall, vielmehr wird die generationelle Loyalität betont. Der Sohn tut es dem Vater gleich, als handele es sich um ein dynastisches Erbe bzw. eine Übertragung und Wiederholung der Tugend Loyalität.

Die Geschichtserzählung der Joseon-Dynastie folgt weniger einer historischen Abfolge. Vielmehr wird sie vom lebenspraktischen Programm des Konfuzianismus strukturiert. Die Herrscher werden als Vorfahren gepriesen, während die Beamten mangels Loyalität zur Schwachstelle des Herrschaftsapparates werden. „Die unfähigen Beamten vernachlässigten ihre Pflichten und das Volk litt“. Der Ritus oder die Zeremonie in ihrer Synchronizität und Gleichförmigkeit verkörpert insofern den Konfuzianismus in seiner koreanischen Ausprägung. Wahrscheinlich gab es auch in der Joseon-Dynastie Unordnung und Streit. Doch die alljährlichen Zeremonien trugen als Lebenspraxis zur Stabilisierung und Tradierung eines Wertesystems bei. Während in China die Dynastien wechselten, um vom Drachenthron die Macht auszuüben, und in der Qing-Dynastie der Buddhismus wichtiger wurde, konnte sich in Korea die konfuzianische Lebens- und Herrschaftspraxis bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts halten.

Die Funktion der Stabilisierung der königlich-koreanischen Herrschaftsform wird insbesondere an Yongmyo Jeryeak erkennbar. In Ausnahmefällen wurde die Ahnenzeremonie in Krisenzeiten quasi außer der Regel durchgeführt, um das konfuzianische Regelwerk zu stärken. In den königlichen Geistern und der zu ihren Ehren aufgeführten Zeremonie wird das Regelwerk belebt und materialisiert. Während sich das Smartphone meines jungen, koreanischen Sitznachbarn mehrfach meldete und er Push-Nachrichten oder Anrufe wegdrückte, lief Yongmyo Jeryeak mit großer Konzentration ab. Diese ist unter anderem deshalb noch bemerkenswerter, als es keinen Dirigenten für das Orchester gibt. Es gibt mit dem Offizianten sozusagen einen Ordnungshüter, der völlig hinter der hochgehaltenen Tafel mit der Reihenfolge der Zeremonie zurücktritt. Die Tafel verkörpert das Gesetz. Es ist alles vorgeschrieben – es lässt sich auch sagen: programmiert. Die Musiker*innen kennen des Ablauf ihrer, sagen wir, Partitur auswendig und vertiefen sich in diese mit großer Hingabe. Es wird immer das Gleiche ohne Abweichungen gespielt. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die Tafel mit der Programmierung wie ein Smartphone von Samsung funktioniert. – Das dürfte allerdings den wenigsten Südkoreanern aufgefallen sein.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2022
National Gugak Center
Jongmyo Jeryeak
in der Mediathek bis 23. September 2022, 16:00 Uhr

Musikfest Berlin 2022
bis Montag, den 19. September.


[1] Vgl. zu Königin Min: Torsten Flüh: Unter Spinnweben. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 3, 2009 15:49.

[2] Berliner Festspiele (Hg.): Musikfest Berlin 2022, Abendprogramm 12. September 2022. Koreanisches Kulturzentrum: Yongmyo Jeryeak. (ohne Ort) 2022, S.31.

[3] Ebenda.

[4] Siehe zum Protestantismus in Südkorea auch: Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN  April 15, 2017 19:56.

[5] Berliner Festspiele (Hg.): Musikfest … [wie Anm. 2].

[6] Transkription nach dem Livestream der Aufführung.

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