Von der Kunst der Messe

Messe – Liturgie – Konzertsaal

Von der Kunst der Messe

Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven und Vespro della Beata Vergine von Claudio Monteverdi beim Musikfest Berlin 2022

Wie verschieden nicht nur wegen eines musikhistorischen Unterschieds von ca. 200 Jahren die liturgische Form der Messe klingen kann, ließ sich beim Musikfest Berlin 2022 mit zwei hochkarätigen Aufführungen nachhören. Das Orchestre Révolutionnaire et Romantique spielte und der Monteverdi Choir sang mit den Solist*innen Lucy Crow, Ann Hallenberg, Giovanni Sala und William Thomas am 31. August unter der Leitung von John Eliot Gardiner die Missa solemnis von 1823/24. Am 14. September folgte die Aufführung der Vespro della Beata Vergine von 1610 durch das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe. Für beide Komponisten war es eine Ausnahme und Herausforderung, eine Messe für die Kirche bzw. den Gottesdienst zu komponieren. In der Forschung ist das mehrfach thematisiert worden.

Wofür und weshalb komponierte der Hofmusiker von Mantua die Vespro della Beata Vergine? War er unzufrieden in Mantua und wollte sich für die Kirchenmusik in Rom beim Papst empfehlen? Warum wandte sich der Klaviervirtuose und Tonkünstler Beethoven dem Genre der Kirchenmusik mit der Missa solemnis zu? Die Fragen sind auf die eine oder andere Weise beantwortet worden. Doch Anlass und Kontext bleiben vage. Zwar folgen beide Komponisten den katholischen Liturgien ihrer Zeit, aber musikalisch sprengen sie die zeitgenössischen Grenzen der Kirchenmusik. Denn Beethovens musikalisches Hochamt konnte kaum noch in einer Kirche, nicht einmal im Wenzelsdom in Olmütz aufgeführt werden. Es erlebte erst am 7. April 1824 von der Philharmonischen Gesellschaft in St. Petersburg im Konzertsaal seine Uraufführung. Philharmonie als Religion? Beim Musikfest wurden beide Konzertmessen vom Publikum frenetisch gefeiert.

Die Orgel als Kirchenmusikinstrument kommt in beiden Messen zum Einsatz. Doch in der Konzeption John Eliot Gardiners (79) verschwindet sie geradewegs aus dem Klangspektrum, weil nicht die Orgel der Berliner Philharmonie, sondern eine kleine, zeitgenössische Kapellenorgel verwendet wird. Beethoven setzt die Orgel vor allem als Begleitinstrument neben den Streichern für den Chor ein, wie sich aus der erstmals 1827 bei Schott gedruckten Partitur ersehen lässt.[1] Es ist das Todesjahr Beethovens, der am 26. März in Wien starb. Welche Quellen lassen sich einsehen? In der musikhistorischen Forschung wird erwähnt, dass es bei der Aufführung in St. Petersburg zu Fehlern durch die Kopisten gekommen war. Die Staatsbibliothek zu Berlin hütet in ihrer bedeutenden Beethoven-Sammlung den undatierten, digitalisierten „Entwurf eines Briefes von der Hand Anton Schindlers betr. Angebot der Missa solemnis an die Höfe Europas“.[2] Nach einem ersten Entwurf mit Tinte wurde dieser offenbar mit Bleistift von Beethovens Sekretär ergänzt. Wie und ob überhaupt dieser Entwurf realisiert wurde, ist nicht bekannt.

Die Verschiebung der Kirchenmusik mit der Orgel zu einem Volumeninstrument in einem groß besetzten Sinfonieorchester zeigt bereits Beethovens Ansatz für die Komposition dieser Messe an. Die Liturgie wird damit als Praxis des Gottesdienstes ebenfalls verschoben, wenn nicht gar ausgehöhlt. Die „Gemeinde“ kann und soll nicht mehr wenigstens passagenweise mitsingen. Die Kenntnis der Orgel als Kirchenmusikinstrument ist heute in den meisten europäischen Ländern nicht mehr beim Konzertpublikum vorauszusetzen. Die Gottesdienste der Katholischen, Anglikanischen und Evangelischen Kirchen werden i.d.R. spärlich besucht. Kirchenaustritte führen zu Zusammenlegungen von Kirchengemeinden oder Schließung, Verpachtung und Umnutzung von Kirchen. Insofern ist die Aufführung der Missa solemnis durch John Eliot Gardiner in der Philharmonie dysfunktional und zugleich treffend, weil der funktionale Kontext bereits bei der Komposition durch Beethoven vage bleibt.

© Fabian Schellhorn

Persönliche, theologische, wirtschaftliche, philosophische und kirchenmusikalische Narrative vermischen sich am Ursprung von Beethovens Missa solemnis. Überliefert ist Beethovens Freundschaft zu seinem Klavierschüler und Mäzen Erzherzog Rudolph von Österreich aus dem Hause Habsburg-Lothringen. Dieser sollte 1820 mit 32 Jahren zum Erzbischof von Olmütz im Kaiserreich Österreich-Ungarn inthronisiert werden. Doch der Kardinal Rudolph erkannte wohl beim Empfang der Partitur, dass eine derartige Kirchenmusik im Norden Mährens nicht zu bewerkstelligen war. Harald Hodeige macht dagegen in seinem Essay für das Programm des Musikfestes Berlin 2022 auf eine von Beethoven ins Manuskript eingetragene Devise als Zitat seines Bekannten und ab 1826 Regensburger Bischofs Johann Michael Sailer aufmerksam. Dieser sei „eine zentrale Figur in der geistlichen Lebenswelt des Komponisten (geworden), der aufgrund seines Hörverlusts und schwerer Erkrankung eine tiefe Lebenskrise durchlitt und Trost suchte“.[3] „Trotz aufgeklärtem Denken stand Sailer Mystik und romantischen Strömungen nahe und propagierte ein inneren Werten verpflichtetes Christentum.“[4]

© Fabian Schellhorn

Mit Beethovens Missa solemnis werden gleich mehrere Fragenfelder eröffnet: Trägt die neuartige (katholische) Messe kirchenreformatorische Züge? Hat Beethoven im Format der Messe sein persönliches Leiden geradewegs hoffnungsselig verarbeitet? Sollte die Messe für ein Hochamt an den katholischen Höfen Europas um 1820 Beethovens Einkommenssituation verbessern, wenn man den Briefentwurf von Anton Schindler bedenkt? Verband Beethoven mit der Zusendung an seinen einstigen Schüler und Mäzen Erzherzog Rudolph als Erzbischof von Olmütz in Mähren an der Grenze zu Schlesien finanzielle Interessen? Erkannte Rudolph gar den abweichenden Charakter der Messe, der die Autorität der Katholischen Kirche mit dem Papst an ihrer Spitze beeinflussen könnte? Oder war Olmütz schlicht zu klein und zu entfernt, um die musikalischen Anforderungen personell zu erfüllen? Oder entwickelte Beethoven beim Komponieren der Missa solemnis eine musikalische Logik, die jene der Messe auf die Spitze treibt und die Form selbst angreift?  

© Fabian Schellhorn

Die Frage der musikalischen Logik betrifft die Kompositionspraxis. Adolf Nowak hat die „Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten“ über einen langen Zeitraum seiner Lehrtätigkeit als Musikwissenschaftler untersucht. 2015 wurde Musikalische Logik als Band 10 der „Studien zur Geschichte der Musiktheorie“ veröffentlicht.[5] Dass Ludwig van Beethoven abschließend bei der Drucklegung seiner Partitur höchste Sorgfalt walten ließ, kann an den überprüften Abschriften für die Stichvorlage im Mainzer Verlag Schott eingesehen werden.[6] Die sorgfältigen Korrekturen legen einen durchdachten Eigensinn der Komposition dar. Überhaupt gibt es mehrere Skizzen zur Missa solemnis, mit denen verschiedene, sagen wir, musikalische Denkmöglichkeiten ausprobiert werden. Das gibt erstens einen Wink darauf, dass sich der Komponist mit dem musikalischen Format der Messe selbst auseinandersetzt. Zweitens wird das Sailer-Zitat „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehen!“[7] als Gefühlsübertragung von christlichem Glauben irreführend. Die Korrekturen könnten ebenso auf die eigensinnigen Abweichungen vom Messe-Format hinweisen.

© Fabian Schellhorn

Adolf Nowak lässt mit Beethoven in der Musiktheorie einen neuartigen Logikbegriff entstehen. Es sei „vor allem die Sonatenform, wie sie Beethoven ausgeprägt hat, die in der Ästhetik als Modell der Bildung und Entwicklung musikalischer Gedanken in Anspruch genommen wird.“[8] Eine derart formulierte Ästhetik der Sonatenform trifft mit der Missa solemnis auf ein Regelwerk, das den „musikalischen Gedanken“ enge Grenzen setzt. Nowak zitiert Friedrich Theodor Vischers Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen von 1857, für die die „Freiheit“ als „freie() musikalische() Gedankenentwicklung“ entscheidend ist.[9] Die Sonatenform als schematisches Denken in der Musik wird im 19. Jahrhundert an die Musik Mozarts und vor allem Beethovens herangetragen.[10] Zugleich transportiert die Sonatenform einen aufklärerischen Gestus der Freiheit des Denkens in der Musik. Wo bleibt dann der Trost? Bei Beethoven wird der „Widerstand gegen das Ordnungsprinzip der Melodie (…) zu einem Versprechen der Freiheit“.[11]

Wie sich beim Musikfest Berlin 2020 an den Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven mit Igor Levitt nachdenken ließ, bietet die Sonatenform als „freie() musikalische() Gedankenentwicklung“ einige Fallstricke. Wohin führt die radikale, musikalische Freiheit? – Es ist nicht zuletzt Theodor W. Adorno, der mit seiner Philosophie der Musik an Ludwig van Beethovens Missa solemnis nach eigener Formulierung scheiterte: „Bislang kam es nicht zur Niederschrift, vor allem weil die Anstrengungen des Autors immer wieder an der Missa Solemnis scheiterten.“[12] Es blieben indessen nicht mehr und nicht weniger als Fragmente. Möglicherweise wurde die Frage des Zusammenhangs, mit der Adorno Beethovens Musik analysierte, zum entscheidenden Problem bei der Missa solemnis.
„Der Z u s a m m e n h a n g bei Beethoven kommt immer dadurch zustande[,] daß der jeweilige Formteil die Tonalität verwirklicht, darstellt, und das Movens, das das Detail über sich hinausstrebt, ist allemal das Bedürfnis der Tonalität nach dem nächsten um sich selber zu erfüllen.“[13]

Die Logik der Tonalität wird denn auch für Adolf Nowak zur entscheidenden Kompositionspraxis bei Beethoven. Im Unterschied zur Melodie produziert die Tonalität im Format der Messe zwischen Kyrie und Agnus Dei musikalische Höhepunkte. Doch indem die Höhepunkte allein aus der Tonalität generiert werden, schießen sie auch ins Leere oder „haben etwas Metphysisches“ wie es unlängst Ricardo Muti formulierte. In der ZEIT hat der Stardirigent gerade in einem Interview gesagt, dass er „fünfzig Jahre gebraucht“ habe, „um die Missa solemnis zu durchdringen“.[14] Anlässlich seines fünfzigjährigen Jubiläums bei den Salzburger Festspielen hatte er 2021 mit den Wiener Philharmonikern und dem Konzertverein Wiener Staatsopernchor im Großen Festspielhaus erstmals die Missa solemnis dirigiert. In den im Internet verfügbaren Ausschnitten von 2021 und 2022 fehlt die Orgel ganz. Die Messe wird zum symphonisch-monumentalen Chorwerk. Man könnte diese Form der Interpretation auch eine Logik der Tonalität nennen, in der der Orchesterapparat und große Chor bis an die Grenzen des tonalen Volumens geführt werden. Alles ist auf Volumen, Größe ausgelegt, das physisch ist, dieses aber nach Muti übersteigen oder hinter sich lassen soll.

Im Unterschied zu Ricardo Muti auf der Breitwandbühne des Großen Festspielhauses in Salzburg nimmt sich John Eliot Gardiners historisch-kritische Interpretation in der Berliner Philharmonie fast schon bescheiden aus. Orchesterapparat und „Denktätigkeit des Subjekts“ wie es Adorno in Bezug auf Kant nennt, stehen fast gegeneinander. Beethoven habe „die durch die Tonalität objektiv bewährten Formen in kritischer Reflexion als Synthesis ermöglichendes musikalisches Apriori reproduziert“.[15] Die musikalische Logik der Missa solemnis setzt auf physisch, akustische Überwältigung durch Volumen. Das funktioniert schon bei John Eliot Gardiner, aber kommt bei Ricardo Muti mit 81 Jahren in einer Art Karajan-Nachfolge zur vollen Entfaltung. Die Praxis der Überwältigung wird von Beethoven eigensinnig mit jedem noch so feinen Notenzeichen durchgeplant, wie die Korrekturen zu den Stichplatten bedenken lassen. Nach erheblichem Furor endet die Missa solemnis auf „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem” – „gib uns deinen Frieden“ fast schon leise. Die finale, liturgisch vorgeformte Bitte um den Sündenerlass, aus dem der Friede erwächst, wird im Konzertsaal vom Publikum kaum noch nachvollzogen.   

Ludwig van Beethovens Missa solemnis schwankt zwischen Kirchenmusikformat und musikalischer Denktätigkeit des Subjekts, das selbst nicht immer weiß, was es denkt. Was mag noch alles in die Komposition als Denken in Musik hineingespielt haben? – Wir wissen es nicht. Beklatscht das überwiegend kirchenferne Publikum heute mehr als eine musikalische Größe, von der es sich überwältigt fühlt und die es für einen Moment genießt? Dona nobis pacem bringt in der aktuellen Welt- und Gaslage trotzdem keinen Frieden mehr. Ob Beethoven damit um seinen eignen Seelenfrieden gebeten hat, wissen wir nicht. Doch das wäre der Wunsch nach Trost gewesen, den Harald Hodeige durch das Zitat unterstellt. Später im 19. Jahrhundert wird der Organist Franz Bruckner seine Musik inklusive Messen und 1852 einem Magnificat in b Dur für den lieben Gott komponieren, an den Beethoven schon nicht mehr so ganz glauben mag.

Claudio Monteverdis bisweilen volkstümlich klingende Vespro della Beata Vergine verdankt sich einem gewissen kompositorischen Pragmatismus. 2017 erklang sie zuletzt mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre unter der Leitung von Justin Doyle im Pierre Boulez-Saal beim Musikfest Berlin.[16] Das Collegium Vocale Gent und sein Ensemble spielte nun die Messe mit Orgel (Lorenzo Feder) und historischen Instrumenten unter Leitung des Barockexperten Philippe Herreweghe. Für die gregorianischen Passagen der Messe zog das Collegium seine Schola Gregoriana unter der Leitung von Barbora Kabátková hinzu. Diese Aufteilung des Vesper in zwei Gesangsgruppen machte die musikalische Kombinatorik aus Gregorianik, Kunst- und Volksmusik bei Claudio Monteverdi noch deutlicher als 2017. Monteverdis Messe ist keinesfalls aus einem, sagen wir, kompositorischen Guss, vielmehr ist das Kombinatorische besonders gut von Herreweghe, der ebenfalls 81 Jahre alt ist, herausgearbeitet.

Gregorianik, Orgel als Begleitinstrument, Volksmusik, Psalm und weltliche erprobte Kunstmusik kommen bei Monteverdi zum Zuge. 1607 hatte er die „Favola in musica“ L’Orfeo am Hof von Mantua aufführen lassen. Erst 1632 ließ er sich unter dem Eindruck der Pestepidemie in Venedig zum Priester weihen. Zuvor hatte er schon seit 1613 als gewählter Kapellmeister am Markusdom gearbeitet. Obwohl Monteverdi 1610 noch als Hofkapellmeister in Mantua arbeitete, pflegte er also eine wesentlich stärkere Nähe zur Kirchenmusik als Beethoven ca. 200 Jahre später. Für die Vespro della Beata Vergine kombiniert er Melodien des bäuerlichen Tanzes aus Bergamo, der Bergamasca, und dem Satzmodell der Romanesca. Die Komposition korrespondiert auf musikalischer Ebene mit den Allegorien als Literatur. Der religiöse Sinn entsteht insofern aus einer neuartigen Kombinatorik in Form der Allegorie. Insofern allegoría ἀλληγορία andere Sprache heißt, kündigt sich mit der Allegorie eine Art Übersetzung des Gleichen über mehrere Sprachen bzw. formulierten Bildern hinweg an.

© Fabian Schellhorn

Der Wechsel von Concertos, Psalmen und Antiphon ist selbst auf die Wiederholung als Form in unterschiedlichen Registern angelegt. In Audi coelum/Höre Himmel als Concerto wird die Verknüpfung zwischen Himmel und Erde bzw. Geist und Körper nicht nur als allegorische Erzählung vorgenommen. Vielmehr wird die Funktion des Echos, wie sie Monteverdi schon im L’Orfeo zum Modus der Kommunikation zwischen Mensch und Gott gemacht hatte, nun kirchenmusikalisch eingesetzt. In der Wiederholung antwortet der Himmel als Echo. Auf faszinierende Weise komponiert Claudio Monteverdi einen sinnlosen Natureffekt der Akustik zur sinngesättigten Gegenwart des Himmels und der Jungfrau Maria.
Audi coelum, verba mea,              Höre, o Himmel, meine Worte,
plena desiderio                           die voll Verlangen sind
et perfuse gaudio.                       und vor Freude überströmen.
… audio.                                    … ich höre.
…                                             …  
Dic nam ista pulchra ut luna,         Sprich, ist sie doch schön wie der Mond,
electa ut sol,                              erlesen wie die Sonne,
replet laetitia terras,                   erfüllt mit Freude den Erdkreis,
coelos, maria.                   die Himmel und die Meere.
… Mariá.                                    … Maria.[17]

© Fabian Schellhorn

Das lateinische Reimschema – gaudio … audio/maria. … Mariá – generiert mit winzigen phonetischen Verschiebungen im Echo göttlichen Sinn. Reimdichtung und musikalische Variation generieren ein Frage-Antwort-Echo als eine Wahrheit der Messe. – Orientalis? … Talis./vita? … ita./remedium? … Medium. Die Lobpreisung der Heiligen Jungfrau entsteht aus einer syntagmatischen Operationen. Das gesprochene bzw. gesungene Wort steht bei Claudio Monteverdi unter Anwendung einer barocken Rhetorik ganz im Vordergrund der kirchenmusikalischen Form. Nowak nennt das eine „Umwandlung sprachmelodischer in musikalische Logik“. Der „Sinn des gesprochenen Satzes“ kann nach Nowak bei Monteverdi „durch die Sprachmelodie ausgedrückt“ werden.[18] Die barocke Form der Messe folgt einem rhetorischen Regelwerk, das die Wahrheit in der Anwendung und Wiederholung der Regeln selbst findet. Vielleicht ist die Praxis des Komponierens nach kombinierten Regeln Monteverdis eigentlicher Beitrag zum Format Messe. Als Markusdom-Kapellmeister gestaltet Monteverdi denn auch ein ausgeklügeltes Regelwerk auf einander folgender kirchenmusikalischer Ereignisse.

Torsten Flüh   


[1] Ludwig van Beethoven, Messe für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel (D-Dur) op. 123 (Missa solemnis), Stimmen, Schott, 2534, Mainz: Schott, 1827. (Beethoven-Haus).

[2] Die genau Entzifferung des Briefes wurde bislang nicht geleistet. Nicht ganz auszuschließen ist, dass es sich bei den Bleistift-Notaten um Ergänzungen von Beethoven selbst handelt. Denn er war bereits ertaubt.

Beethoven digital: Entwurf eines Briefes von der Hand Anton Schindlers betr. Angebot der Missa solemnis an die Höfe Europas. Staatsbibliothek zu Berlin. (Digitalisat)

[3] Harald Hodeige: „Mein größtes Werk“. Beethovens Missa solemnis. In: Musikfest Berlin: 31.8.2022 Orchestre Révolutionnaire et Romantique & Monteverdi Choir – John Eliot Gardiner Ludwig van Beethoven Missa solemnis. Berlin 2022, S. 6. (Abendprogramm)

[4] Ebenda.

[5] Adolf Nowak: Musikalische Logik. Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten. Hildesheim: Olms, 2015.

[6] Beethoven-Haus Bonn: Ludwig van Beethoven, Messe für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel (D-Dur) op. 123 (Missa solemnis), Partitur, Überprüfte Abschrift. Beethoven-Haus Bonn, NE 269.

[7] Zitiert nach Harald Hodeige: „Mein … [wie Anm. 3] S. 6.

[8] Adolf Nowak: Musikalische … [wie Anm. 5] S. 255.

[9] Ebenda.

[10] Siehe zur Sonatenform: Torsten Flüh: Heitere Harmonie und Zersplitterung. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2020.

[11] Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[12] Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. (Herausgegeben von Rolf Tiedemann) Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2004, S. 3 und 10.

[13] Ebenda S. 82.

[14] Ricardo Muti: »Mein Vater fand, Musiker zu werden sei für einen Süditaliener ungefähr so, wie zum Mond zu fliegen« In: DIE ZEIT vom 22. September 2022 S. 46.

[15] Theodor W. Adorno: Beethoven … [wie Anm. 12] S. 293.

[16] Torsten Flüh: Strahlendes Antrittskonzert mit dem Geheimnis der Musik. Justin Doyle bringt Monteverdis Marienvesper mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre zum Strahlen. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 18, 2017 18:53.

[17] IX Concerto zitiert nach Abendprogramm S. 13-14.

[18] Adolf Nowak: Musikalische … [wie Anm. 5] S. 55.

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