Die formidable Carte Blanche im Julius

Kulinarik – Intelligenz – Kunst

Die formidable Carte Blanche im Julius

Zum kometenhaften Aufstieg des Restaurant Julius am Weddinger Nettelbeckplatz

An die Kegelbahn am Nettelbeckplatz erinnert nur noch das Reklameschild Keglerklause gleich neben den großen Schaufenstern des Julius. Mitten im ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie im April 2020 sollte das Restaurant Julius eröffnen. Plötzlich bildeten sich an Wochenenden längere Schlangen meist jüngerer Menschen vor dem verhinderten Restaurant, um besonders angepriesene Orangenmarmelade in 250-Gramm-Gläsern für einen recht stolzen Preis zu kaufen. Meistens waren die Marmeladengläser schnell ausverkauft. Die Menschenschlangen hatten sich wieder aufgelöst. Mit den ersten zaghaften Lockerungen im Sommer 2020 durfte das Julius seinen Restaurantbetrieb aufnehmen. Ausgerechnet zu jener Zeit, als sich ein wenn auch nicht ganz so katastrophales, so doch spürbares Restaurantsterben wegen der Pandemie in Berlin ereignete, eröffnete Shunsuke Nagaoke am Nettelbeckplatz sein ambitioniertes Projekt Julius.

Die Carte Blanche im Julius ist ein kulinarisches Feuerwerk. Die drei Köche im Julius beginnen ihre Kunst am frühen Vormittag beispielsweise mit der Auswahl der rot geäderten Mangoldblätter, die abends um 19:00 Uhr mit Bohnen und Miso als zweiter Gang auf den Punkt serviert werden. Das Eintreffen der Gäste ist nach Reservierung genau getaktet, damit jeder Gang fast auf die Minute frisch serviert werden kann. Kochen heißt im Julius zunächst einmal eine genaue Taktung, wie sie sonst vielleicht nur in der Musik bekannt ist. Die Carte Blanche als vegetarisches, fleischliches oder aquatisches Menü aus 9 Gängen erlaubt Shunsuke Nagaoke als Chef die größtmögliche Flexibilität bei perfekter Taktung mit Aromen, Texturen, Farben und Formen. Neben dem schmuddeligen Nettelbeckplatz mit seinen Spätis, Romas, Döners, Alkis, Demos, aber auch jungen Familien, Kita, Bonaventure Soh Bejeng Ndikungs Savvy Contemporary[1] und Ernst ebenso wie Silent Green ist das eine internationale Sensation der Nouvelle Cuisine, die nur hier möglich werden konnte.

Meine Besprechung des Julius möchte ich nutzen, um städtische Transformationen in einem Kiez zu beschreiben, der wegen seiner noch niedrigen Mieten genau den Humus für jüngere und junge Menschen bietet, auf dem eine innovative, engagierte Koch-, Kelter- und Fermentierkunst gedeihen kann. Dass sich das Ernst mit Dylan Watson-Brawn als bestem Koch Deutschlands laut Gault-Millau 2022 in einem Restaurant mit 8 Plätzen mitten im Post-Arbeiterviertel, „Ghetto“ und Quartiersbereich Pankstraße ereignen könnte, war einerseits nicht vorherzusehen und andererseits für eine Gastronomie, in der auf höchstem internationalen Niveau gar experimentell gekocht wird, nur folgerichtig. Die Räume des Ernst beherbergten zuvor eine Stehbierkneipe und später einen türkischen Kulturverein, bevor sie zum Gastrotempel wurden. Das Julius darf sich selbst „little brother“ des Ernst nennen. Das Menü Carte Blanche Pesceterian übertrifft selbst kühnste Erwartungen.

Die Shiso-Blätter mit Kohlrabi-Steinpilz-Maki als Eröffnung des Menüs auf eigens gefertigtem Keramikplättchen sind ein grandioser Auftakt. Er bereitet gleich einem Musikstück auf die vielschichtigen Kombinationen und Variationen vor, die folgen werden. Die äußerst intensiven, frischen Shiso-Blätter werden in der japanischen Küche vielfältig verwendet und neuerdings in Brandenburg angebaut. Denn zum Konzept der Küche im Julius gehört die Verwendung hochwertiger regionaler Produkte. Im Süden von Berlin und in Potsdam werden die unterschiedlichsten Gemüse und Gewürze angebaut, um frisch an den Nettelbeckplatz zu gelangen. Natürlich gibt es kaum Menschen, die in Berlin je eine Art Kohlrabi-Maki mit Gelee vom Steinpilz gegessen haben. Zugleich wecken die Shizo-Blätter die Geschmacksnerven in Kombination mit dem wohl gedämpften Kohlrabi, der zur Rolle gewickelt wurde. Auf dem täglich neu ausgedruckten Menü steht einfach „Cep, Shiso, Kohlrabi“. Doch eine der zwei Servicekräfte um die Restaurantmanagerin Inga Krieger erklärt beim Servieren, auf welche Aromen es dem Kochkünstler ankommt.

Mit dem ersten Gang wird bereits klar, auf welchem Handwerksniveau sich Shunsuke Nagaoke mit seinen beiden Assistenzköchen in der kleinen, offenen Küche bewegt. Japanische Aromen und Zubereitungsarten werden auf regionale Produkte aus Brandenburg angewendet, um Kohlrabi in ein kulinarisches Erlebnis zu verwandeln. Der Chefkoch und sein Team wohnen und leben ebenfalls im Wedding. Die Restaurantmanagerin Inga sogar gleich um die Ecke in der Adolfstraße. Denn Gastronomie geht von morgens bis in die Nacht nach 0:00 Uhr. Das derzeit sechsköpfige Team ist an den 4 Öffnungstagen voll und ganz gefordert. Deshalb sind vermeintlich „autonome“ Angriffe mit Spray oder gar mit Steinen auf die Fenster verstörend und zutiefst ungerecht. Sie treffen nämlich wirklich engagierte und hart arbeitende Menschen, die keinesfalls damit reich werden. Leidenschaft spielt hier die größte Rolle. Einst galt der Wedding mit AEG und Osram als Arbeiterbezirk. Dann rutschte er noch bis in die 10er Jahre des neuen Jahrtausend an den sozialen Rand. Jetzt entwickelt er sich mit dem Kulturquartier Silent Green und Savvy Contemporary zum Creative Tank.

Das Visuelle des Menüs geht ins Piktorale: Farbkompositionen. Zum zweiten Gang wird ein dunkelgrünes, gefaltetes Mangoldblatt mit roten Adern auf einem weißen Teller serviert. An den Rändern des Blattes zeichnet sich eine hellere grüne fein abgestimmte Mangoldsoße ab. Wagt man einen Blick in die offene Küche, sieht man wie Shunsuke Nagaoke die Soße mit einem Löffel noch einmal abschmeckt, bevor er sie als grünen Spiegel auf dem Teller verteilt. Daraufhin wird das warme Mangoldblatt mit Bohnen und Miso auf den Spiegel gelegt. Die Handgriffe und Abläufe zwischen den drei Köchen sind eingespielt, fast meditativ konzentriert. Das Mangoldblatt ist auf den Punkt gegart und lässt sich mühelos schneiden, während es zugleich frisch und fest aussieht. Auf der Zunge entfaltet dann die Komposition ihre Eigendynamik bis zum einzelnen Salzkorn.

Jeder Gang ist ein Meisterstück der Logistik. Das wird mit dem dritten Gang deutlich: „Scallop, Hidai, Walnut, Yuzo“. Die Jacobsmuschel für das Sashimi vom weißen Schließmuskel kommt vom Produzenten aus Norwegen. Hidai bzw. die Dorade für das rotgemaserte Sashimi wird frisch aus dem Wildfang an der Mittelmeerküste in Frankreich angeliefert. Auf dem weißen Keramiktellerchen bilden die beiden Sashimi von Form, Farbe und Struktur bereits einen visuellen Kontrast, der auf der Zunge in Textur und Aroma eingelöst wird. Das Kompositionsprinzip der Kontraste, um die Geschmacklichen Unterschiede allererst erfahrbar zu machen, wird hier erkennbar. Kein Vergleich mit einer gegrillten Dorade. Hier kommt es auf den Eigengeschmack an, der eher noch von den Noten der Walnuss und dem klaren Yuzo-Spiegel verstärkt wird. Shunsuke Nagaoke hat in Japan und Frankreich in der Gastronomie gearbeitet und ein umfangreiches Wissen nicht zuletzt über Produzenten generiert, bevor er nach Berlin kam und zunächst im Ernst mit Dylan Watson-Brawn arbeitete.

Der klare Yuzo-Spiegel ist fast unsichtbar und drängt sich gleichfalls mit seiner nuancenreichen Säure nicht auf. Ein gewöhnlicher Zitronensaft könnte den Eigengeschmack von Jacobsmuschel und Hidai übertönen. Doch die ausgewogene Säure mit einem bitteren Hauch unterstützt den Eigengeschmack der Sashimi. Die japanische Zitrusfrucht Yuzo aus womöglich Brandenburger Anbau ist insofern nicht nur eine Marotte. Das Carte Blanche Menü wird auf diese Weise eine Schule des Gaumens. Jede Scheibe vom Sashimi soll nicht nur auf der Zunge zergehen, vielmehr soll sie dort erst ihren Eigengeschmackssinn entfalten. Dafür muss man sich Zeit lassen. Und genau an diesem Punkt spielt das Timing wieder eine entscheidende Rolle. Die Küche lässt den Gaumenkundlern genau die Zeit, die benötigt wird, um sich mit den Noten sinnlich zu beschäftigen.          

Gleich einer symphonischen Komposition kehrt im vierten Gang der Steinpilz mit „Flatbread, Cep, Ricotta“ wieder. Dieser Teil, auf seinem Steingutteller in beige serviert, ist der gehaltvollste wegen des Brotes, der nun dominanten Steinpilze, des Ricotta und der Shiso wie Mangoldblätter. Die Komposition folgt einer fast klassischen Praxis der Setzung und Wiederholung. Erst im Nachhinein entdeckt man auf dem Menü in kleinerer Schriftgröße, dass sich dieser Gang mit „Organic N25 Caviar“ zusätzlich hätte veredeln lassen. Zugleich steckt in dem Zusatzangebot ein Hinweis, auf welch gastronomischem Niveau sich das Julius am Nettelbeckplatz positioniert. Denn der Stör wird auf dem 25. nördlichen Breitgrad in 2.000 Meter Höhe in frischem Quellwasser gezüchtet und nach der japanischen Umami-Methode fermentiert. Dadurch soll der Bio-Kaviar ein nussig-florales Aroma erhalten. N25 Kaviar wird in Spitzenrestaurants in Deutschland, England, Holland, Japan und Hongkong etc. serviert.

Spätestens beim Muscat de Provence im fünften Gang wird die Klimakomponente der Jahreszeit im Menü deutlich. Denn der orangefleischige Muskatkürbis ist im Oktober bestimmt aus Brandenburg. „Muscat de Provence, Sabayone, Marigold“ sind eine herbstliche Sensation aus der Region um Berlin. Der Muskatkürbis schmeckt besonders aromatisch und die Ringelblumen- oder Calendula-Blütenblätter sind nicht nur auf die Kürbisfarbe, vielmehr noch mit der grünen Schaumcreme auf die Aromen abgestimmt. Die Zubereitungsarten und jahreszeitlichen Kombinationen überzeugen. Die Aromen entfalten sich erst auf der Zunge in einer Weise, die man nie für möglich gehalten hätte.

Im sechsten Gang mit „Oyster, Mussels, Savagnin“ kommt wieder eine ganz andere Geschmacksnote zum Zuge, die diesmal in einem grauen Steingutschälchen serviert wird. Die Auster und die Muscheln sind in einem Sud mit Mangold aus Savagnin bzw. einem Traminer aus ökologischem Anbau gegart worden. Die Zubereitungsart verstärkt den Geschmack nach Meer. Was kann in dieser Steigerung intensiver Geschmacksnoten noch folgen? – Die beiden unterschiedlich zubereiteten Stücke von der Makrele im siebenten Gang mit zwei kleinen Tacos aus Mais und einer Blüte der intensiven Kapuzinerkresse sind ein ebenso glaubwürdiges wie finalisierendes Crescendo. Man folgt Shunsuke Nagaokes Kompositionskunst, seinen Kombinationen, komplexen Variationen und intelligenten Einfällen gern.

Es gibt eine kulinarische Intelligenz, die äußerst komplex ist. Sie ist ebenso regional wie international. Japanische, französische, mexikanische, norwegische und deutsche Ebenen werden erforscht, ausprobiert und in der Küche neu komponiert. Dazu müssen unterschiedliche Bereiche praktischen und theoretischen Wissens verarbeitet werden. Das zeigt sich nicht zuletzt in den letzten beiden Gängen der Desserts. Einmal geht es mit „Quince, Pear, Double Cream“ ins stark Fruchtige, das andere Mal ins Nussige mit „Hojicha, Hazelnut“. Einen Quittesaft mit einer Birne zur Crème Double zu servieren, ist intelligent, weil die eher steinige Quitte als Saft allererst ihr Aroma entfalten kann. Der gefrostete Hoji-Tee, der geröstet worden ist, passt wunderbar zur Haselnuss, die allerdings leicht zu allergischen Reaktionen führen kann, wenn sie nicht ebenfalls etwas angeröstet wird.

Die Carte Blanche im Julius ist eine regelrechte Entdeckungsreise der Kulinarik. Sie braucht Zeit, um ihre ganze Faszination zu entfalten. Wenn man sich zu zweit über die Geschmackserlebnisse austauschen kann, dann wird der Genuss noch verstärkt. Es geht nicht um ein Menü für einen netten Abend mit Freunden, die den Geschmackssinn schon wieder stören könnten. Hier wird der Kaffee für ein nicht ganz so frühes Frühstück am Wochenende von Hand geröstet. Das selbstgebackene, würfelförmige French Toast mit Yuzu-Konfitüre aus Eigenherstellung erfreut bis zum Nachmittag, wenn es nicht schon ausverkauft ist. Naturweine und Säfte oder fermentierte Tees sind ebenso gut zum Chillen wie zum Menü am Abend geeignet. Natürlich wird durch eine gute Portion digitaler Vernetzung im Hintergrund alles organisiert. Aber wirklich wichtig ist die Ebene der Handwerkskunst des Kochens. Gerade das kommt bei jungen Gästen aus aller Welt besonders gut an.

Torsten

Julius
Gerichtstraße 31
13347 Berlin
S+U Wedding


[1] Siehe zu Savvy Contemporary und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

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