Der lange Sommer der Verschwörungstheorien

Wissen – Lüge – Angst

Der lange Sommer der Verschwörungstheorien

Einige Beobachtungen zur politischen Ökonomie und Dynamik von Verschwörungstheorien in Zeiten der Covid-19-Pandemie

Ende September erinnerte Thomas Assheuer im ZEIT-Feuilleton daran, dass Leo Löwenthal im Exil schon vor 70 Jahren Verschwörungstheorien in der „Mitte“[1] der Gesellschaft der USA untersucht hatte.[2] Assheuer formulierte die Frage „Warum glauben vernünftige Bürger an Verschwörungen und globale Drahtzieher?“ 1949 veröffentlichten Leo Löwenthal und Norbert Guterman unterstützt vom American Jewish Commitee in der Social Studies Serie als ersten Band: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. bei Harper & Brother in New York. Später wurde die Studie in der deutschen Übersetzung Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation bekannt und mehrfach in Anthologien publiziert. Löwenthal blieb in den USA und wurde Professor in Berkley. Am 20. Oktober 2020 publizierte Charles H. Clavey im Boston Review mit Bezug auf Löwenthal den Artikel: Donald Trump, Our Prophet of Deceit.[3] Fast plötzlich wird Leo Löwenthals methodologischer Ansatz für die frühe Studie wieder lesenswert.

Aktuell lässt sich während der zweiten epidemiologischen Welle beobachten, dass sich die Verschwörungstheoretiker in sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen in Leipzig und Frankfurt am Main etc. radikalisieren und offen mit rechtsradikalen Gruppierungen fraternisieren. Während Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz einen zweiten, harten Lockdown verordnen muss, liefern sich Corona-Leugner in Frankfurt Straßenschlachten mit der Polizei und behaupten, dass es weder das Virus Sars-Cov-2 noch eine Pandemie gebe. Leo Löwenthal untersuchte die sprachlichen Prozesse und Narrative, die während des Zweiten Weltkriegs in Amerika zu rechten, faschistischen, um nicht zu sagen nationalsozialistischen Politikern und Agitatoren überzulaufen aufriefen. Wie konnte es sein, dass amerikanische Wähler*innen rechtsradikalen Politikern glaubten, während Millionen amerikanische Soldaten in Europa gegen Nazi-Deutschland kämpften? Wie können hunderte niedergelassene Ärzte und Wissenschaftler wie der Hirnforscher und Neurobiologe Gerald Hüther mit Wege aus der Angst (Oktober 2020) Verschwörungstheorien nähren?    

Als Bildmaterial erscheinen in dieser Besprechung Fotos vom Haus der Statistik Ecke Karl-Marx-Allee und Otto-Braun-Straße in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz. Die Fotos wurden am 1. Juni 2020 um ca. 18:30 Uhr aufgenommen. Es war Pfingstsonntag und die Einschränkungen des ersten Lockdowns seit März wurden nach und nach gelockert. Seit dem 4. Mai fuhren z.B. in Berlin die Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen wieder im Regelbetrieb. Ein Pfingstkonzert hatte vor der Auferstehungskirche in der Friedenstraße im Freien stattgefunden. Viele Veranstaltungen der „Werkstatt Haus der Statistik“ finden im November nicht wie geplant statt. Das Haus der Staatlichen Zentralverwaltung der Statistik (SZS) der DDR steht seit 10 Jahren leer. Es ist eine Liegenschaft des Landes Berlin geworden. Die Werkstatt arbeitet in einem Interessenverband an Perspektiven für eine Zukunft des repräsentativen Plattenbaus aus vier Hochhausscheiben, der zwischen 1968 und 1970 mit einer Grundfläche von 46.000 m² erbaut wurde. Eine Neonröhrenzeichnung zeugt heute noch vom DDR-Café Mocca-Eck.

Im Kontext der Verschwörungstheorien spielen die Fotos vom Haus der Statistik auf staatliche Berechnungen und Planungsmodelle in Zentralplanungswirtschaften an. Die Konzepte und Methoden der Staatlichen Zentralverwaltung der Statistik unterschieden sich von denen des Statistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutschland, so dass die Statistikgesetze des Bundes am 3. Oktober 1990 auch für die neuen Bundesländer in Kraft traten. Die Geschichte des Bundesamtes vermerkt entsprechend für 1991: „Alle Statistiken in den neuen Ländern und Berlin-Ost werden nach den Konzepten und Methoden der Bundesstatistik durchgeführt.“[4] In seinem Leitbild definiert sich das Statistische Bundesamt heute als ein Service für „demokratische, faktenbasierte Entscheidungsprozesse“, was auch einen Wink auf die nicht immer entsprechenden Prozesse in Zentralplanungswirtschaften wie z.B. der Volksrepublik China gibt.
„Wir stellen neutrale, objektive und fachlich unabhängige Statistiken zur Verfügung. Diese Zahlen sind die Basis für demokratische, faktenbasierte Entscheidungsprozesse. Wir bilden mit unseren Daten nicht nur das Hier und Heute ab, sondern vermitteln auch Informationen zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.“[5]

Das Zahlen-Wissen, die Planungsmodelle und die Planbarkeit von „gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen“ haben durch die Covid-19-Pandemie einen epochalen Bruch erfahren. Das aus den Statistiken generierte Zahlen-Wissen ist in Deutschland seit dem Beginn der Epidemie im März grundlegend erschüttert, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass die Politik der „Schwarzen Null“ von einem auf den anderen Tag mit den sogenannten Corona-Hilfen von der Bundesregierung und Finanzminister Olaf Scholz nach einer Dringlichkeitsabwägung für obsolet erklärt wurde.[6] Dahinter wirkt eine nachhaltige Verschiebung der Konzepte und Methoden. Die Krise des statistischen oder Zahlen-Wissens gehört zu jenem Komplex der Wissenserschütterung, der durch die Pandemie in Europa und der Welt eingesetzt hat. Paradoxerweise sind es die rein statistischen Methoden, Erhebungen und Berechnungen wie z.B. durch den R0-Wert, die Basisreproduktionszahl, die nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern massiv die Lebenspraxis jedes Einzelnen beeinflussen. Das Statistische Bundesamt hat eine eigene Kategorie der „Corona-Statistiken“ eingerichtet.[7]

Die Macht der Statistik hat sich verschoben zu einem Akteur, der fast unsichtbar oder dem Großteil der Bevölkerung nahezu unbekannt war: dem Robert-Koch-Institut, kurz RKI. Vor dem RKI am Nordufer stehen wie im Frühjahr seit einigen Wochen wieder Fernsehteams mit Reporter*innen, die per Live-Schaltung die neuesten Infektionszahlen ins Mikrophon sprechen. Die Direktoren und Mitarbeiter*innen des RKIs haben, soviel mir bekannt ist, bislang keine Interviews vor ihrem Institut gegeben. Mehr als Zahlenwerte ermittelt bzw. bündelt das Robert-Koch-Institut aus den nationalen Gesundheitsämtern nicht. Vor 20 oder 30 Jahren hätte das per Telefon oder FAX stattfinden müssen, was eine gewisse Verzögerung bedeutete. Heute werden die Zahlen durch digitale Datenübermittlung generiert und bisweilen jede Zeitverzögerung skandalisiert. Millionen von Bundesbürgern warten auf die morgendlich verkündeten Zahlen vom Vortag, als gehe es um die Lotto-Gewinnzahlen, was für die Macht der Zahlen spricht. Da es um mittelfristige Entwicklungen und nicht um plötzliche Zufallszahlen geht, dürfte diese Wahrnehmung der Zahlen ihre Aussagekraft verfehlen.

Den Hintergrund der Verschwörungstheorien gibt jene Macht der Zahlen ab, die in einer gewissen Monstrosität der leeren Fenster des Hauses der Statistik verkörpert werden könnten. Das historisierende Gebäude des Robert-Koch-Instituts in Backstein von 1910 am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal wirkt dagegen geradezu pittoresk. Trotzdem ist es bereits zum Ziel eines Brandanschlags und von Protesten der Corona-Leugner mit Megaphon geworden. Charles H. Clavey, der in Harvard lehrt, hat sich in seinem Artikel zu Leo Löwenthal und seinem Text Prophets of Deceit nicht nur mit dessen Rahmen der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer befasst, vielmehr weist er auf Löwenthals neue Methoden hin:
„The first prong was “content analysis,” a new method for systematically analyzing the creation and transmission of meaning through speech and text. Researchers in the emerging field of communications studies practiced content analysis by assembling a large body of evidence and then parsing each text, cataloging recurring images, tropes, claims, and rhetorical devices.”[8]     

Anders als es die deutsche Übersetzung des Titels von Prophets of Deceit vorgibt, geht es nicht um „Falsche Propheten“, sondern um Propheten des Betrugs oder der Täuschung bis hin zur Lüge. Die Lüge lässt sich indessen als rhetorische Figur auffassen. Sie formuliert das Gegenteil von dem, was zuvor als wahr und faktisch ausgesagt worden ist. Im Kontext des Zahlen-Wissens wird dieses per se als falsch erklärt. Die Lüge unterliegt einer Nachträglichkeit selbst dann, wenn z.B. Donald Trump im Voraus von einer manipulierten Wahl spricht, um bewusst Misstrauen in die Demokratie zu schüren. Donald Trump lässt sich nach Clavey als ein Prophet der Lüge auffassen. So stellte schon Leo Löwenthal seinem Buch ein Bibelzitat des alttestamentarischen Propheten Jeremia in Englisch voran: „Yeah, they are prophets of deceit of their own heart. Jer. 23:26“ In der Lutherbibel wird Jeremia 23:26 auf folgende Weise übersetzt: „Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen“.[9] Die Lüge, so Jeremia, wird dazu verbreitet, damit sie Vergessen bewirkt: „27und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?“ Der hebräische Text lässt einen gewissen semantischen Spielraum bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsch. Dennoch gibt Löwenthal einen Wink auf ein sehr altes rhetorisches Verfahren, das eine faktische Wahrheit in eine oft offensichtliche Lüge verkehrt. Donald Trump hat erwiesenermaßen tausendfach während seiner Präsidentschaft gelogen, dennoch oder gerade deshalb haben ihn ca. 70 Millionen Amerikaner*innen gewählt.

Die Lüge lässt sich nicht nur als äußerst wirksame Rhetorik analysieren. Sie wird nach Clavey von Löwenthal und Guterman methodisch ebenso mit der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und Erik Erikson kombiniert, um zu erklären, „how the agitator’s material activated “unconscious mechanisms” in followers’ minds, reinforcing deep-seated fears, manipulating their behavior, and diminishing their abilities to think and act independently“.[10] Obwohl die Forscher ihre Methode als „frankly experimental“ erklärt hätten, sei es ihnen möglich geworden, zu erklären wie Agitatoren ihre Zuhörer und Leser zu „followers“ transformierten, indem sie das Gespenst (specter) eines existentiellen Feindes konstruiert und sich selbst als Führer etabliert hätten. Sie schufen allererst die Wahrnehmung einer feindseligen Welt (hostile world).[11] Anders gesagt: Es lässt sich leicht erkennen, dass die oft reproduzierten und keinesfalls neuen Narrative durch geschickte Kombination häufig äußerst intensive Gefühle erzeugen, die die gesamte Wahrnehmung verändern. Die Benennung und Beschreibung von Ängsten – „deep-seated fears“ – nimmt dabei eine entscheidende Funktion ein. Ich werde auf die Funktion der Ängste zurückkommen.

Die Funktion der Lüge hat Slavoj Žižek in Anknüpfung an Lacan einmal genauer mit dem Fetisch beschrieben. Der Fetisch sei effektiv eine Art Umkehrung des Symptoms. „That is to say, symptom is the exception which disturbs the surface of the false appearance, the point at which the repressed truth erupts, while fetish is the embodiment of the Lie which enables us to sustain the unbearable truth”. Der Fetisch sei die Verkörperung der Lüge, welche es uns ermöglicht, die unerträgliche Wahrheit aufrecht zu erhalten, heißt, dass in Bezug auf die Verschwörungstheorien der Agitator oder politische Anführer wie etwa Donald Trump zum Fetisch gemacht wird, um es einmal so zu formulieren. Žižek führt als Beispiel den Tod einer geliebten Person an: „when I „repress“ this death, I try not to think about it, but the repressed trauma persists and returns in the symptoms. (…)” Wenn der Tod der Person als Trauma geleugnet oder verdrängt wird, dann kehrt er in den Symptomen für das Ich wieder.[12]

Žižek formuliert, wie der Fetisch bzw. die Fetischisierung genau die gegenteilige Funktion zu Leugnung oder Verdrängung erfüllt. Der Fetisch kann eine sehr konstruktive Rolle einnehmen, damit wir mit der besonders krassen Realität zurecht zu kommen. Wenn der Hinterbliebene von den schrecklichsten Momenten des Sterbens in einer besonders kalten und klaren Weise spricht, dann klammert sich das Ich an den Fetisch. Das Trauma leitet sozusagen die Fetischisierung ein. Anders als bei Löwenthal und Guterman spricht Žižek allgemeiner vom Trauma, obwohl der Tod eines geliebten Menschen selbstverständlich eine soziale oder gesellschaftliche Katastrophe sein kann oder ist. Mit Žižeks Worten:
„In the case of a fetish, on the contrary, I „rationally“ fully accept this death, I am able to talk about her most painful moments in a cold and clear way, because I cling to the fetish, to some feature that embodies for me the disavowal of this death. In this sense, a fetish can play a very constructive role of allowing us to cope with the harsh reality: fetishists are not dreamers lost in their private worlds, they are thoroughly „realists,“ able to accept the way things effectively are – since they have their fetish to which they can cling in order to cancel the full impact of reality.”[13]

Der Modus der Wiederholung lässt sich als ein wesentliches Element in „den verschiedenen Agitationstexten“ nach Löwenthal und Guterman identifizieren. Als „Agitationsmaterial“ dienten ihnen „Flugschriften, Zeitschriften und Reden“ im damals neuartigen Medium Radio. Doch „(i)n den weitaus meisten Fällen könnten die in diesem Buch verwandten Zitate ohne weiteres als ständig sich wiederholende Themen im Agitationsmaterial gefunden werden.“[14] Was die Autoren Agitation nennen, beschreiben sie „als Manifestation tiefliegender sozialer und psychologischer Trends“.[15] Trends lassen sich nur durch Wiederholungen erkennen. Löwenthal und Guterman haben vor allem die Beschreibung der Juden in den Texten als Konstruktion des Antisemitismus untersucht. Der Antisemitismus der Corona-Leunger unterdessen ist so diskret, dass ihn sogar jüdische Bürger*innen nicht erkennen oder partout übersehen wollen. Doch was Löwenthal über die „Sprache des Agitators“ schreibt, lässt sich der Struktur nach leicht in aktuelle Verschwörungstheorien übertragen.
„In der Sprache des Agitators gewinnt die Vorstellung vom Auserwähltsein der Juden eine negative Bedeutung. Die „geheimnisvollen Wurzeln des jüdischen Schicksals“, von denen die Theologen sprechen, werden als ausgeklügeltes jüdisches Komplott gedeutet; die Besonderheiten des jüdischen Intellekts gelten als jüdische Rücksichtslosigkeit und Gerissenheit; die kompromißfeindlichen messianischen Zielvorstellungen werden als verbrecherischer Vernichtungswillen gegen die nichtjüdische Welt ausgelegt. Ehrfurcht und Bewunderung verwandelt der Agitator in Furcht, Neid und Haß.“[16]

Löwenthal beschreibt sprachliche Operationen der Verkehrung, aus denen Antisemitismus und Verschwörungstheorien gemacht werden. Das zentrale Narrativ in Form des Gerüchts von QAnon sind die das Blut von Kindern trinkenden Mächtigen. Kinder und Schwangere nehmen eine entscheidende Funktion für die die Pandemie leugnenden Verschwörungstheoretiker ein. Die Machtlosesten werden von den Verschwörern misshandelt, gequält und getötet, um selbst an Macht zu gewinnen. Das setzt erhebliche Emotionen frei. Immer wieder wird von Teilnehmerinnen auf Corona-Demonstrationen die schwere Misshandlung der Kinder durch die Aufforderung zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen artikuliert und kolportiert. Insofern wäre die Wiederholung der immer gleichen Lügen wie bei QAnon keine Ausnahme, vielmehr gehört sie zur Struktur der Agitation oder Verschwörungstheorien. Denn der- oder diejenige, der sich der Verschwörungstheorie angeschlossen hat, will sie wiederholt hören, indem der/die andere sie ebenfalls ausspricht. Auf diese Weise lässt sich verstehen, dass der das Tragen einer Maske in der Bäckerei verweigernde Corono-Leugner die Verkäuferin und Frau des Bäckers, die allein im Laden bedient, davon überzeugen will, dass sie keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen soll. Man könnte das einen regelrechten Wiederholungszwang des sich selbst als frei von Angst wahrnehmenden Leugners beschreiben.

Das Aussprechen bzw. die Artikulation der Verschwörungstheorie als „mein“ Wissen nimmt z.B. für die Trump-Anhänger hinsichtlich einer amtlich widerlegten gestohlenen Wahl eine nicht nur verbindende Funktion ein. Sie wollen alle Anderen zwingen, ihre Lüge als Wahrheit zu übernehmen. Roland Barthes hat einmal in seiner Antrittsrede am College de France formuliert, dass Faschismus nicht heiße, am Sagen hindern, sondern dass das Zum-Sagen-zwingen faschistisch sei. Insofern sind Verschwörungstheorien nicht zufällig faschistisch, vielmehr liegt es in ihrer Struktur wie etwa beim Kunden in der Bäckerei, der die ihm hilflos ausgelieferte Verkäuferin zwingen will, die Maske abzunehmen und damit zu sagen, dass sie nicht an die Covid-19-Pandemie glaube. Im Hintergrund läuft ein unausgesprochenes Machtspiel als Narrativ ab, dass davon ausgeht, dass die Frau erstens keinen Kunden verlieren will und befürchten muss, dass durch eine sogenannte Mundpropaganda weitere Kunden ausbleiben könnten. Zweitens muss die Bäckersfrau befürchten, dass der erregte Corona-Leugner ihre Schaufensterscheibe beschmiert oder einschmeißt, wenn sie auf das Tragen der Maske besteht. Die Bäckersfrau erzählte mir eben jene Befürchtungen, die der Corona-Leugner selbstverständlich weiß.

Was ist Angst? Wie lässt sich z.B. mit der Angst vor einer ungewollten Infektion mit Sars-Cov-2 umgehen? Bin ich ängstlich, wenn ich meine Kontakte zu Bekannten, Freunden und Familie einschränke, weil die Bundesregierung und die Landesregierungen angesichts der dynamischen Epidemie und den entsprechenden Infektionszahlen in Deutschland zur Kontaktbeschränkung auffordern, Bußgelder verordnen und von der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs abraten? Gerald Hüther hat laut seiner Website Anfang Oktober 2020 bei Vandenhoeck & Ruprecht Wege aus der Angst. Über die Kunst, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens umzugehen veröffentlicht.[17] Der Vertrauen erweckende Titel mit der Bildungsgeste einer Anknüpfung an die Kunst des Lebens spricht aufgeschlossene Leser*innen an, die sich womöglich mit ihren Ängsten konstruktiv befassen möchten. Ein gewisser Bildungshorizont wird insofern vorausgesetzt und angesprochen. Gerald Hüther kann man einen Spitzenwissenschaftler nennen, weil er vor einigen Jahren in das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen worden war. Er hatte also die Möglichkeit erhalten, sich an einem universitären Forschungsinstitut anzudocken und binnen fünf Jahren mit einem Volumen über 500.000 € für eine ordentliche Professur in seinem Fach der Neurobiologie zu qualifizieren. Nur die Besten werden in das DFG-Programm aufgenommen. Hüther hat wiederholt über Angst publiziert und seit 19. April 2020 mindestens zwei Videos zum Thema Angst auf YouTube hochgeladen. Gleich am 28. März 2020 äußerte sich Hüther in einem Gespräch mit Michel Friedmann zu Angst während der Covid-19-Pandemie.[18]

Gerald Hüther kommt nach einer kurzen Anmoderation sofort auf die Kinder zu sprechen, um die „Folgeschäden“ des Lockdowns zu illustrieren, was gewiss kein Zufall ist: „Ich nehme mal so, was ganz einfach ist, dass es Unmengen von Kindern gibt, die normalerweise mit ihren Müttern, wenn sie von den Vätern geprügelt und geschlagen werden, die dann in solche Frauenhäuser gehen können. Die sind alle zu. Das hat mit Ökonomie gar nichts zu tun. Wo sollen denn die jetzt eigentlich hin? Wo soll ein Mensch, der völlig ratlos ist, jetzt finden?“[19] Die Transkription der mündlichen Rede über Zoom etc. wurde in der Syntax nicht normalisiert. Vielmehr wird auf diese Weise in der mündlichen Rede das willkürliche Aufrufen der „Kinder“ als Zeugen deutlich. Häusliche Gewalt, die durch einen Lockdown hätte zunehmen können, wird nicht erklärt, sondern syntagmatisch offen assoziiert. Mit Löwenthal lässt sich sagen, dass bei den Zuhörer*innen vom Agitator hängenbleiben sollte: „Mein Gott, die armen Kinder!“ Auf seiner Website kündigt der bekannte Neurobiologe zur „Angstforschung“ mit einer gewissen sprachlichen Elastizität sein neues Buch an:
„Das Schüren oder Beschwichtigen von Angst ist also gezielt zur Durchsetzung eigener Interessen und Absichten einsetzbar. Diese Instrumentalisierung der Angst macht Menschen abhängig und manipulierbar, beraubt sie ihrer Freiheit. Deshalb beschreibt Gerald Hüther in diesem Buch auch nicht, wie wir uns von der Angst befreien, sondern was wir tun können, um nicht zu Getriebenen der von anderen Menschen oder Interessengruppen geschürten Ängste zu werden.“[20]

Gegenüber dem Versprechen eines lebenspraktischen Umgangs mit Angst im Titel, wird nun die Angst ins Machtpolitische verschoben. Hätten wir erwarten dürfen, etwas über die neurobiologischen Wirkungsweisen von Angst im Gehirn erfahren zu dürfen, so geht es nun um eine politische „Instrumentalisierung der Angst“. Die therapeutische Praxis wird politisch, weil „wir uns von der Angst befreien“ müssen, die von anderen „Menschen oder Interessengruppen geschürt()“ wird. Die vermeintlich naturwissenschaftlich begründete methodologische Wende zur Gesellschaftspolitik wird von Hüther denn auch im darauffolgenden Absatz als entscheidende und positive Neuerung in einem großen Bogen zwischen Klima- und Epidemiepolitik herausgestellt.
„Es ist das gesellschaftspolitisch brisanteste Buch, das Gerald Hüther bisher veröffentlicht hat. Es erklärt nicht nur, weshalb so viele Menschen nichts tun, um das Überleben unserer Spezies auf diesem Planeten angesichts der vielen, real existierenden Bedrohungen zu sichern. Es macht auch verständlich, weshalb bereits die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht.“[21]

Michel Friedmann hatte im März noch mit Hüther über die Funktion von Vertrauen in die Politik und die Politiker gesprochen. Einige Monate später geht es um eine Wissensformation, die als falsch und interessengeleitet denunziert wird, weil „die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht“. Mit Angst und Schrecken zu regieren, heißt Terror, weshalb Corona-Leugner von „Corona-Terror“ sprechen. Doch damit wird Zahlen-Wissen per se zu Terror erklärt. Die Leugnung des Virus setzt auf diese Weise einen vermeintlich berechtigten Widerstand, eine Art staatsbürgerlichen Ungehorsam frei. Leider ist dieser Ungehorsam seit einigen Wochen so letal, dass die Intensivbetten in den Kliniken nahezu überbelegt sind. In der Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, Spanien und den Niederlanden ist die Intensivversorgung an ihre Grenzen gestoßen, so dass das „Virus“ nicht nur gefährlich, sondern tödlich ist. Auf eine grundlegende Analyse der Angsttexte von Gerald Hüther kann hier verzichtet werden, weil sich schon an den zitierten Passagen abzeichnet, dass es hier nicht um Wissenschaft oder Neurobiologie geht, wohl aber um Narrative, die bereits Leo Löwenthal und Norbert Guterman als Repertoire der, wie sie es nannten, Agitatoren analysieren konnten.

Torsten Flüh


[1] Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. In: ders.: Untergang der Dämonologien. Studien über Judentum, Antisemitismus und faschistischen Geist. Leipzig: Reclam 1990, S. 144.

[2] Thomas Assheuer: Hier walten geheime Kräfte. In: DIE ZEIT Nr. 41/2020, 1. Oktober 2020 (Online 4. Oktober 2020, 12:57)

[3] Charles H. Clavey: Donald Trump, Our Prophet of Deceit. In: Boston Review. A Political and Literary Forum October 20, 2020.

[4] Siehe: destatis – Statistisches Bundesamt: Über uns: Geschichte.

[5] Ebenda Inhalt.

[6] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[7] destatis – Statistisches Bundesamt: Corona-Statistiken.

[8] Charles H. Clavey: Donald … [wie Anm. 3].

[9] Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2016.

[10] Charles H. Clavey: Donald … [wie Anm. 3].

[11] Ebenda.

[12] Slavoj Zizek: Self-Deceptions. On Being Tolerant and Smug. Zuerst in: Die Gazette. Israel, 27 August 2001. In: Lacan.com.

[13] Ebenda.

[14] Leo Löwenthal: Falsche … [wie Anm. 1] S. 145.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda S. 168.

[17] Gerald Hüther: Mediathek: Buchmanuskript.

[18]  MICHEL FRIEDMAN CORONA-SPEZIAL: Neurobiologen Gerald Hüther zu ANGST in der Covid-19-Isolation. YouTube: WELT Nachrichtensender 28.03.2020.

[19] Eigene Transkription nach ebenda.

[20] Gerald Hüther: Mediathek … [wie Anm. 17].

[21] Ebenda.

Beethoven gefeiert zwischen Kombination und Ionisation

Montage – Eroica – Bildnis

Beethoven gefeiert zwischen Kombination und Ionisation

Zu Hans Otto Löwensteins restauriertem Film Beethoven (1927) und Gene Pritskers EroicAnization (2020)

Bereits zu Lebzeiten wurden Bildnisse von Ludwig van Beethoven angefertigt. Einige waren als Lithographien während der Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin im Humboldt-Saal des Hauses Unter den Linden im Juli zu sehen.[1] Es sind überwiegend kleinformatige Darstellungen bis zu Miniaturen. Bildnisse des Komponisten nach Zeichnungen oder Schattenrissen, sogar eine Lebendmaske, gehörten nicht zuletzt zum neuartigen Verkaufskonzept der Musikverleger um 1800.[2] Ein Bildnis des jungen Komponisten verkaufte die Noten besser. So zeichnete Gandolph Stainhauser von Treuberg 1801 den dreißigjährigen Komponisten. Für den Druck übersetzte Johann Joseph Neidl die Zeichnung in einen Kupferstich, der von Karl Traugott Riedel noch einmal in einen Stich transformiert wurde. Der Wunsch nach einem Bild wuchs im 19. Jahrhundert mit seinem Ruhm, so dass in Kombination mit Biographien Beethoven zunächst zum Stummfilm- und bald zum Tonfilmsujet wurde. Zum 100. Todestag verlieh 1927 Fritz Kortner dem Komponisten ein Gesicht.

Zur Uraufführung von Gene Pritskers Beethoven-Stück EroicAnization als Auftragswerk des ensemble KONTRASTE und BTHVN2020 unter der Leitung von Hans Rotmann in der Tafelhalle Nürnberg am 1. Januar 2020 hatte Frieder Weiss eine Videoinstallation mit bearbeiteten Beethoven-Filmen montiert. Die Visualisierung ist genau auf die Musikbearbeitung der Eroica bzw. 3. Symphonie abgestimmt. Gut 200 Jahre Beethoven-Rezeption und -Medialisierung lassen sich nicht mehr von der Musik trennen. Die Medialisierung Beethovens und seiner Kompositionen hat ein Wissen von der Musik generiert, das von Pritsker verarbeitet und hinterfragt wird. Zugleich erscheint in diesen Tagen Hans Otto Löwensteins Beethoven-Film mit Fritz Kortner in einer restaurierten Fassung. Er wurde mit neuer Musik von Malte Giesen versehen, die ihrerseits nicht nur die Musik, sondern ebenso die Medien ihrer Verbreitung zwischen Symphonie und Stummfilmmusik reflektiert.

Die frühe Bild-Politik des Leipziger Musikverlegers Franz Anton Hoffmeister ließ 1801 das erste Bild des Klaviervirtuosen und Komponisten als junger Mann mit dessen gedruckten Noten zirkulieren.[3] Das hübsche, gepflegte Bildnis eines schwiegersohntauglichen Mannes nach einer verschollenen Zeichnung des Wiener Portraitisten Gandolph Stainhauser von Treuberg kollidiert allerdings mit Beschreibungen seiner Zeitgenossen. Sein Schüler Carl Czerny fühlte sich beim „Anblick seines Lehrers“ an eine literarische Figur aus dem Jahr 1719 erinnert, nämlich die des Abenteurers, Gestrandeten und von der Welt abgeschnittenen Romanhelden Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Czerny beschrieb Beethoven damit, dass „das pechschwarze Haar (…) sich zottig um seinen Kopf (sträubte)“.[4] Häufig wird für die Beethoven-Bildnisse ein Schattenriss von Joseph Neesen Beethovens als 15jährigen mit Zopf als „früheste(s) überlieferte(s) Bildnis des Komponisten“ angeführt.[5] Doch Schattenriss und Zeichnung oder Lithographie sind sehr unterschiedliche Medien des Portraits.

Die Bildnisse Ludwig van Beethovens, die seit dem Stummfilm eine neuartige Qualität und Funktion für die Musik erhalten haben, unterliegen visuellen Medienwechseln, die geflissentlich übersehen werden. Das Beethoven-Haus in Bonn unterscheidet zwar zwischen Bildnissen, die zu Lebzeiten bis 1827 entstanden sind, und solchen, die als „Angebliche Beethoven-Porträts“ oder gar „Fälschung“ ermittelt werden konnten. So wurde beispielsweise ein Schattenriss oder „Silhouetten-Fälschung von Josef Kundera“ von der Beethoven-Forschung gefunden. Das vermeintlich besonders authentische Bildmedium des Schattenrisses generierte eine Fälschung, die vom Sammler gern als Bild genommen und wertgeschätzt wurde. Zur Kulisse des Beethoven-Films mit Fritz Kortner gehören übrigens Schattenrisse an der Wand in der Wohnstube. Noch einen stärkeren Eindruck macht die Lebendmaske als Bildmedium von 1812, die durch die Photographie licht- und einstellungstechnisch zum Leben erweckt wurde. Die Totenmaske hat weit weniger Verbreitung gefunden. In den Portraits und Masken wird eine Spur des Denkens und Komponierens gesucht, die sich zugleich einer Präsenz entzieht.

Mit der Produktion der Beethoven-Bildnisse um 1800 geht es um eine neuartige semiologische Wissensformation: die Physiognomie. Auf dem Gesicht lässt sich seit Johann Caspar Lavaters konzeptuellen Physiognomischen Fragmenten, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe ab 1775 der Charakter und das Denken ablesen. Lavater konstruiert, liest und ordnet die Zeichen des Gesichts zu einem Wissen über den Menschen und sein Denken. Er formuliert in der Eröffnungssequenz seiner Physiognomischen Fragmente allerdings ein medienpraktisches Problem. Denn die „Zeichner und Kupferstecher“, durch die Lavater durch Vergleich sein Wissen über die Menschen generieren will, machen „Fehler“, d.h., sie generieren nach Schemata Zeichen, die Lavater im Vergleich nicht sieht.
„Ich ließ rechts und links Versuche von Zeichnungen aller Art machen; Ich betrachtete und verglich unzählige Menschen und allerley Arten menschlicher Bildnisse. Ich bat Freunde, mir behülflich zu seyn. Die häufigen täglichen Fehler meiner Zeichner und Kupferstecher waren die kräftigsten Beförderungsmittel meiner Kenntnisse. Ich mußte mich über vieles ausdrücken, vieles tadeln, vieles vergleichen lernen, was ich vorher noch zu sehr nur überhaupt bemerkt hatte. —“[6]

Die Lebendmaske Beethovens bleibt auf bedenkenswerte Weise trotz des großen Aufwandes zeichenlos oder leer. Das entspannte, flächige Gesicht mit geschlossenen Augen wirkt auf verstörend Weise wie tot. Erst durch das nachträgliche Photographieren entsteht eine zeichenhafte Dynamik aus Licht und Schatten. En face und im Profil wird die Maske photographiert immer wieder z.B. mit einem Lorbeerkranz oder Draperien abgewandelt, um Zeichen zu generieren. Beethovens Zeit ist beispielsweise für die neuartige Lithographie seit 1798 auf eine Lösung des von Lavater mit dem Kupferstich formulierten Problems auf eine Generierung von Zeichen, um nicht zu sagen eindeutigen Zeichen versessen. Es müssen sich Zeichen finden lassen. Beim Komponisten Ludwig van Beethoven wird die Suche nach den Zeichen besonders schwierig. So wird etwa überliefert: „Am 27.3.1827 wurde der Leichnam unter besonderer Berücksichtigung der Gehörorgane obduziert.“[7] Das Hören und das Nicht-Hören bzw. die Ertaubung werden u.a. im Stummfilm Beethoven (1927) mit seiner neuen Vertonung ausführlich behandelt.[8]

© ZDF/ARTE

Hans Otto Löwenstein stellt seinem Beethoven-Film ein dramatisch ausgeleuchtetes, seitenverkehrtes Photo von G. L. Manuel der künstlerischen Bearbeitung der Lebendmaske von Antoine Bourdelle voran. Die Plastik mit dynamischem Haarbusch im Stil Rodins entstand 1902. Da es sich bei der restaurierten Fassung des Films um eine Kopie für das französische Kino handelt, könnte diese Aufnahme auch nachträglich hineingeschnitten worden sein. Sie markiert allerdings jene Schnittstelle von Lebendmaske und biographischem Spielfilm, an der Beethoven mit einer gewissen Ähnlichkeit des flächigen Gesichts von Fritz Kortner sozusagen zum Leben erweckt werden soll. Die Bildnisse von Beethoven wandeln und verselbständigen sich im Maße ihrer künstlerischen Transformationen. Die Frage der Haartracht oder Frisur wird mit dem Film z.B. dadurch bedeutend, dass Joseph Haydn eine gepuderte Perücke mit Zopf nach der Mode des 18. Jahrhundert trägt, während Beethoven nie mit einer Perücke beschrieben oder dargestellt worden ist. Auf diese Weise werden Beethovens Haare zu einem Zeichen für den Bruch mit der Tradition sowie einer Praxis der Freiheit und des Genies.

© ZDF/ARTE

In der neuen Vertonung des Stummfilms durch Malte Giesen bricht der Ton ab und lässt eine Art Pfeifen durch Elektronik hören, wenn Beethoven (Fritz Kortner) seiner Taubheit gewahr wird. Dramaturgisch wird die Tragik des fortschreitenden Hörverlusts dargestellt, indem Beethoven auf einer Wanderungen mit einem Freund das „Lied der Schalmei“ eines Hirten nicht hört. Dem Hörverlust wird von Hans Otto Löwenstein 1927 ein größerer Raum eingeräumt, als er in vielen zeitgenössischen Biographien einnimmt. In der folgenden Einstellung hört Beethoven das Klopfen seiner Haushälterin an der Tür nicht. So wird das Komponieren der Musik als ein intellektueller Prozess in die Aufmerksamkeit gerückt. In der Schlusssequenz wird eine Wiederaufführung der 9. Symphonie angesetzt, die Beethoven selbst dirigieren soll. Doch auf der Probe stellt sich heraus, dass Beethoven nicht mehr dirigieren kann, weil er die Fehler im Orchester nicht hört. Man könnte allerdings mit gleichem Recht fragen, ob Beethoven das Orchester genau hören musste, um es zu dirigieren.  

© ZDF/ARTE

Beethovens Taubheit lässt sich als Frage nach dem Hören zuspitzen. Was heißt hören? Der überlieferte Obduktionsbericht vom 27. März 1827 zeichnet sich dadurch aus, dass dem Innenohr besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zur Feststellung der Todesursache hätte es einer genauen Untersuchung und Extraktion des Hörorgans nicht bedurft. Im Obduktionsbericht werden die Hörorgane sorgfältig mit „Ohrknorpel“, „Gehörgang“, „Trommelfell“, „Eustachische Ohrtrompete“, „Substanz des Felsenbeins“ und „Gegend der Ohrschnecke“ „ausgesägt“, freigelegt, untersucht und beschrieben.[9] Es ist, als wollten die sezierenden Ärzte nicht die Ursache des Todes, sondern des Hörens und der Taubheit herausfinden. Doch es gibt keine Diagnose. Das Hörorgan geht sogar verloren. Nachträglich schreibt G. v. Breunig.
„Zur genaueren Untersuchung der seit so lange schon verödeten Gehörorgane des Titanen im Reiche der Töne wurden beiderseits die Felsenteile der Schläfenknochen ausgesägt und mitgenommen. Wie Hofrat Hyrtl mir kürzlich erzählte, hatte er diese Gehörorgane damals, als er selbst noch Student war, in einem zugebundenen Glas geraume Zeit hindurch bei dem langjährigen Sektionsdiener Anton Dotter stehen gesehen; später seien sie verschollen.“[10]

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Die Komposition der Symphonie Nr. 3 bzw. der Eroica spielt als eines der „bekanntesten Werke()“ in Beethoven eine entscheidende Rolle.[11] 1949 wird Walter Kolm-Veltée seinen Beethoven-Film mit Ewald Balser in der Hauptrolle gar um die Eroica herum erzählen und sie zum Titel machen. Schon 1918 hatte Fritz Kortner Beethoven in dem „Lebensroman“ Der Märtyrer seines Herzens unter der Regie von Emil Justitz gespielt.[12] Das Drehbuch hatte ebenfalls Emil Kolberg geschrieben. Im Unterschied zum späteren Stummfilm wird im ersten eine fiktive Liebes- und Leidensgeschichte der Annerl nach der Stummfilmästhetik stärker ausgespielt. Das Hörproblem wird weniger stark beleuchtet. Allerdings wird der Schalmei-Spieler im Fenster einer Burgruine von 1918 neun Jahre später von anderen Gegenschnitten gerahmt wieder in den Film montiert. Der Film war 1917 in Wien gedreht worden. Die Ausstattung des Films wirkt aufwendiger.

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Emil Kolberg knüpft in seinem neuen Drehbuch 1927 an Vie de Beethoven von Romain Rolland von 1903 an, das 1918 erstmals in der Übersetzung von L. Langnese-Hug in Deutsch erschienen war.[13] Somit hatten sich die Dreharbeiten mit der Veröffentlichung von Rollands Biographie überschnitten. Romain Rolland schenkt vor allem Beethovens Sympathien für Frankreich und Napoleon einen größeren Raum, so dass auch die Eroica-Erzählung als Interpretation der Komposition an Bedeutung gewinnt. Er stellt über eine Montage der Physiognomie – „Das Gesicht war breit, ziegelrot, erst gegen sein Lebensende wurde die Gesichtsfarbe kränklich gelb, besonders im Winter (…) Die Stirn war mächtig und zeigte seltsame Höcker …“[14] – mit dem Bildnis von Gandolph Stainhauser von Treuberg geradezu eine Ähnlichkeit mit Napoleon Bonaparte her:
„Eine Zeichnung, die Stainhauser um jene Zeit von ihm machte, umreißt ziemlich scharf das, was er damals war. Im Vergleich zu den spätern Beethoven-Bildern ist es ungefähr das, was Guérins Bild von Bonaparte mit dem scharfen, vom Fieber des Ehrgeizes gezeichneten Zügen, im Vergleich zu den spätern Napoleon-Bildern bedeutet. Auf jener Zeichnung scheint Beethoven jünger als er damals war, mager, aufrecht, steif in seiner hohen Krawatte steckend, mit mißtrauischem, gespanntem Blick. Er weiß, was er wert ist, er glaubt an die ihm innewohnenden Kräfte.“[15]

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Beethoven (1927) montiert auf eine lange Sequenz, die die Mondscheinsonate als unglückliche Liebesgeschichte zu Julie Guiccardi inszeniert, um zugleich eine Reihe von Landschaftsgemälden mit Mond aus der Romantik als Inbegriff der melancholischen Stimmung zu visualisieren, mit der Eroica über den Zwischentitel: „Begeistert von Napoleons Siegen, vollendete Beethoven seine 3. Sinfonie und widmete sie dem großen Feldherrn.“ In der Vertonung von Malte Giesen erklingt daraufhin der eröffnende Eroica-Akkord. Bemerkenswert ist an dem visuellen Verfahren von Hans Otto Löwenstein, dass die Liebeserzählungen mit einer gleichsam kunsthistorischen Montage von Landschaftsgemälden montiert wird. Während sich in den Bildfindungen der sogenannten Romantik das Individuum einsam in der Nacht einer Landschaft im Mondschein gegenüber findet, wird in der Gefühlserzählung der Liebe ein Verlust inszeniert. Die Klaviersonate Nr. 14 op. 27 Nr. 2 in cis-Moll kann indessen auch anders gespielt werden, wie Igor Levit erst vor kurzem gezeigt hat.[16]    

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Malte Giesen hat mit Fabio Matino (Klavier) und einem kleinen Orchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach unter der Leitung von Aurélien Bello sowie Elektronik eine qualitativ ebenso hochwertige wie zeitgenössisch reflektierte Stummfilmmusik eingespielt. Sie bringt den Stummfilm quasi zum Sprechen und bedenkt zugleich die Funktionen von Musik im Medium Film. Giesen hatte die „Idee“, „aus Beethoven-Werken eine Art ‚komponierte Interpretation‘ zu entwickeln, die den Film musikalisch in immer wieder unterschiedlicher Funktion begleitet“. Er verwendet aktuelle Techniken der Musikbearbeitung.
„Dabei möchte ich mit Techniken arbeiten, die unmittelbar an die zeitgenössische Ästhetik und Philosophie meiner Generation anknüpfen: Remix, Sampling, Shuffling, auch gerade der Mix Orchester/Elektronik soll hier zu Einsatz kommen. Auf diese Weise stelle ich mir die hypothetische Frage: Wie hätte Beethoven komponiert, wenn es schon Elektronik gegeben hätte? Elektronik kommt also in unterschiedlicher Funktion zum Einsatz, einerseits als zusätzliche Klangfarbe mit eigener Ästhetik und andererseits als bewusstes Spielen mit der „Medienfarbe“ und Historizität von elektronischen Klängen (wie durch Grammophon, Schallplatte, Spielen mit klischeebehafteter Stummfilmmusikästhetik).“[17]

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Das Verhältnis der Musik zum visuellen Medium Film hat sich bei Malte Giesens Komposition regelrecht umgedreht. Denn schon der erste Stummfilm 1909 mit dem Titel Beethoven von Victorin Jasset, der am 6. Dezember 1909 in Paris ins Kino kam, sollte die Musik über das visuelle Medium Stummfilm zugänglich machen.[18] Die Titelrolle spielte übrigens der 29jährige Harry Bauer, der damit zur französischen Verkörperung des Komponisten wurde und 1936 für Abel Gance in Un grand amour de Beethoven ihn noch einmal im Tonfilm „plus vrai que la nature“ spielen sollte.[19] Die Darstellung Beethovens im Film konstruiert ein biographisches Wissen als Zugang oder gar Entschlüsselung der Musik. Malte Giesen dagegen erprobt und kombiniert unterschiedliche akustische Medien, um dem Stummfilm eine eigene Komposition zu unterlegen. Er orientiert sich dabei sehr wohl am Filmmaterial, um es kreativ zu interpretieren.

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Der New Yorker Komponist, Di.J. und E-Gitarrist Gene Pritsker hat mit EroicAnization und der Visualisierung durch Frieder Weiss den wahrscheinlich ambitioniertesten Beitrag zum Beethoven-Jahr 2020 als Music on demand veröffentlicht. Ohne Visualisierung geht es heute in der populären Beethoven-Rezeption kaum noch. Andererseits hat Maurizo Kagel vor 50 Jahren zum 200. Geburtstag mit dem Film Ludwig van und dessen Musik einen nachhaltigen Bruch mit der Visualisierung von Beethoven und seiner Musik vollzogen. Helmut Loos schrieb dazu 1986, dass der Film „eine aggressive Kritik an allem, was sich bis dahin an Beethovenkult entwickelt hat“ sei. Der Film hatte mit 91 Minuten Spielfilmlänge. Derzeit kursieren auf YouTube mehrere kurze Sequenzen. Nicht nur die musikalische Bearbeitung und Verzerrung der Kompositionen von Beethoven spielt eine Rolle, vielmehr fand sich das Publikum visuell verletzt.
„Dabei nimmt der Film weder auf Empfindlichkeiten des Publikums Rücksicht noch auf dessen Ermüdungstoleranz: wenn etwa in Dieter Rots ‚Badezimmer‘ eine zerbröckelnde Fettbüste Beethovens nach der anderen aus der Badewanne geholt und der Kamera vorgehalten wird … Mag manche Kritik an ‚Ludwig van‘ durchaus berechtigt sein, so bestätigt eine Äußerung wie die von Hilde Spiel in der FAZ ‚zwei- bis dreitausend Jahre mühsamen Aufstiegs in eine Begriffswelt, der Beethovens Musik Ausdruck gegeben hat, werden geleugnet‘ genau jenen Beethovenkult, den Kagel angreift.“[20]

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Der Beethovenkult war vermutlich 1969/70 größer und konservativer als heute. Denn er basierte auf einem Mythos vom Genie und romantischen Komponisten, wie er seit der postumen Biographie von Anton Schindler aus dem Jahr 1840 entwickelt und immer wieder beispielsweise von Romain Rolland sowie in ca. 30 Beethoven-Filmen und Beethoven als Filmmusik modifiziert worden war. Eine genaue Textanalyse des Briefes an die „Unsterbliche Geliebte“[21] oder Erforschung der Kompositionen wurde dabei teilweise regelrecht verdrängt. Was heißt Komponieren? Hörte Beethoven die Musik, bevor er sie in Notenschrift zu Papier brachte? Das zumindest behaupten und inszenieren viele Beethoven-Filme. Oder geht es um ein Kombinieren und Improvisieren, wie es beispielsweise die 32 Klaviersonaten nahelegen könnten? Die Sonatenform wird bei Joseph Haydn aufgegriffen und immer weiter aus- und umgebaut, gar zerlegt.[22] – Wir wissen es nicht.

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Was ist Ionisation? Gene Pritsker komponiert und montiert mit E-Gitarre, D.J.ing und Elektronik sowie Kammermusikensemble nicht nur die Eroica neu, vielmehr führt er an den Titeln der 6 Stücke von EroicAnization bereits eine Art Sprachspiel vor: Eroica Erupted, Eroica Extracted, Erotic Eroica, Eulogy Eroica, Erroneous Eroica, Eka Tala Eroica. Das Heroische wird transformiert und nach Edgar Varèses Komposition Ionization von 1931 gleichsam verarbeitet. Die bahnbrechende Komposition von Varèse für 13 Schlagzeuger spielt mit ihrem Titel auf den physikalischen Vorgang der Ionisierung an. Damit wird ein physikalisches Wissen modellhaft auf die akustische Produktion angewendet. Der britische Physiker John Joseph Thomson beschrieb am 27. Februar 1896 zum ersten Mal eine elektrische Aufladung der Luft durch Röntgenstrahlen mit der Formulierung „the air is ionised“.[23] Aus dieser Formulierung generierte sich das physikalische Wissen der Ionisierung oder Ionisation. Von einem Atom oder Molekül werden Elektronen entfernt, so dass positiv aufgeladene Molekülreste oder Ionen zurückbleiben. Anders gesagt: ein Prozess der Zerlegung generiert durch Reste eine Energie und Dynamik. Edgar Varèse überträgt diesen Prozess in ein ca. sechseinhalb Minuten langes Musikstück, das unter den 43 Instrumenten auch eine Sirene vorsieht.[24]

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Komponieren heißt für Gene Pritsker zerlegen, forschen, bearbeiten und neu kombinieren, würde ich sagen. In Eroica Erupted spielt er den die 3. Symphonie eröffnenden, markanten Eb Akkord vom Laptop als Digital Jockey mit zusätzlichen Effekten wie Verzögerungen und Nachhall ein sowie vom Orchester. Zum Komponieren gehört für ihn auch die Internetrecherche, die ihn die chronologische Studie zu den Eröffnungsakkorden der Eroica von Erik Carlson auf YouTube finden ließ. Er stellte die Aufnahmen der Eröffnungsakkorde von 1924 mit der Staatskapelle Berlin unter Oskar Fried bis 2011 mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Riccardo Chailly zusammen.[25] Die Eroica beginnt insofern mit einem Ausbruch oder einer Eruption, die sich durch die technischen Mittel heute beliebig oft wiederholen lässt. Es wäre wohl ein wenig redundant jetzt jedes Stück genauer zu beschreiben. Doch Erotic Eroica nimmt nicht zuletzt auf die Rezeption der Romantik Bezug, wie sie im Film vielfach bemüht worden ist. Pritsker kombiniert dafür die Hauptmelodie aus dem ersten Satz der Symphonie mit Musik aus Pornofilmen der 70er Jahre und dem Stöhnen aus Sexfilmen. Frieder Weiss montiert dazu die bearbeiteten Liebesszenen aus dem Beethoven-Film mit Fritz Kortner von 1918.[26]

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Anders als bei der Aufführung von Eulogy Eroica des VKKO lässt sich in der Aufnahme der Uraufführung von EroicAnization der von Chanda Rule gesungene Text gut verstehen.[27] Eulogy Eroica erinnert mich an Summertime aus Porgy and Bess von George Gershwin. Pritsker hat die Hauptmelodie des zweiten Satzes in einen „pop song“ transformiert. Auf durchaus subtile Weise dreht Pritsker die „Trauermarsch“ genannte Melodie in einen jazzigen Popsong und damit in eine romantische Stimmung. Mit aktuellen technischen Verfahren wie Di.J.ing lässt sich in der Musik ein genau gegensätzlicher Effekt zum Ausgangsmaterial erreichen. Das könnte eine ungeheure Neuerung in der Musik und ihren Kompositionsverfahren sein. Oder es könnte genau das als Komponieren vorführen, was Ludwig van Beethoven auf virtuose Weise sogar ertaubt beherrschte.

Torsten Flüh

Beethoven (1927)
Regie: Hans Otto Löwenstein
Länge: 71
Bild: PAL, S/W, 4:3
Ton: Dolby Stereo
Sprache: Deutsch
Regionalcode: codefree
Label: ARTE edition
€ 9,90

Gene Pritsker
EroicAnization
ensemble KONTRASTE
Gene Pritsker – guitar, Di.J., rap
Naxos, Spotify, Apple 


[1] Siehe zur Ausstellung: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[2] Vgl. dazu Ludwig van Beethoven – Stich von Karl Traugott Riedel nach einem Stich von Johann Joseph Neidl, der nach der Zeichnung von Gandolph Stainhauser von Treuberg von 1801 entstand, Leipzig, 1801. In: Beethoven-Haus Bonn Beethoven Darstellungen. Beethoven-Haus Bonn, B 23.

[3] Ebenda.

[4] Zitiert nach ebenda.

[5] Siehe Zeittafel in: Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger (Hrsg): »Diesen Kuß der ganzen Welt!« Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Berlin: Michael Imhof Verlag, 2020, S. 204.

[6] Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 11. In: Deutsches Textarchiv.

[7] Totenmaske Ludwig van Beethovens – Fotografie von Dietrich Andrear nach der von Josef Danhauser im Jahr 1827 angefertigten Maske. Beethoven-Haus, B 2529.

[8] Siehe auch ausführliches Datenblatt zu Beethoven (1927) auf absolutMEDIEN.

[9] Deutsche Übersetzung zitiert nach: Reinhard Ludewig unter Mitarbeit von Susanna Seufert: Beethoven und das Gift im Wein. In: Ärzteblatt Sachsen 11/2002, S. 546.

[10] Ebenda.

[11] Siehe auch: Beethoven (1927) absolutMEDIEN.

[12] Der vorangestellte Zwischentitel des Österreichischen Filmarchivs lautet: „Der nachfolgende Film ist keine Beethoven-Biographie im Sinner eines Dokumentarspiels, sondern ein verfilmter „Lebensroman“ in Episodenform mit zum Teil fiktiven Figuren.“ Siehe: Beethoven, el mártir de su corazón (1918 Austria) auf YouTube.

[13] Romain Rolland: Ludwig van Beethoven. (Deutsch von L. Langnese-Hug) Zürich: Max Rascher, 1918. (PDF)

[14] Die Formulierung „seltsame Höcker“ bei Rolland könnte dem Umstand geschuldet sein, dass er ein Photo oder die Plastik selbst von Antoine Bourdelle nach der Lebendmaske, nicht aber diese selbst gesehen hatte. Ebenda S. 11.

[15] Ebenda S. 20 – 21.

[16] Siehe dazu: Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[17] Zitiert nach Datenblatt zu Beethoven (1927) wie Anm. 8.

[18] Wikipédia: Beethoven (film, 1909). Registerkarte. Und: Stummfilm-Magazin: Beethoven Jubiläumsjahr. (Artikel)

[19] Wikipédia: Un grand amour de Beethoven. (1937) Registerkarte.

[20] Zitiert nach nach Datenblatt zu Beethoven (1927) wie Anm. 8.

[21] Siehe zum Brief: Torsten Flüh: Beethovens … (wie Anm. 1).

[22] Siehe auch: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll  op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[23] Ionisierende Strahlung. In: Wikipedia.

[24] Varèse: Ionisation (Pascal Rophé, Franz Michel (piano) et les percussionnistes de l’Orchestre philharmonique de Radio France) France Music.

[25] Beethoven’s Eroica: opening chords. 30.05.2013. (YouTube)

[26] Frieder Weiss für Gene Pritsker und ensemble KONTRASTE auf Vimeo.

[27] Vgl. zu Eulogy Eroica im Konzert Orbiting: Torsten Flüh: Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno. Zum Orbiting – Enter the Void-Konzert von VKKO im Prince Charles Club beim Impuls Festival 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. November 2020.

Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno

Club – Kammerorchester – Leere

Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno

Zum Orbiting – Enter the Void-Konzert von VKKO im Prince Charles Club beim Impuls Festival 2020

Auf der Schwelle schon zum Shutdown fand am 24. Oktober im Prince Charles Club in der Prinzenstraße am Moritzplatz ein außergewöhnliches Konzert im Rahmen des Impuls-Musikfestivals statt. Das zwanzigköpfige Verworner Krause Kammerorchester hatte schon nach und nach eine Art Bühne wie am Rande eine Schwimmbeckens betreten, eine Stimmkünstlerin hatte sich bereits vor einem Mikrophon eingefunden, als die Komponisten und Dirigenten Christopher Verworner und Claas Krause energiegeladen an das Pult mit der Partitur springen. Verworner greift zur E-Gitarre, Krause gibt den Einsatz und das Kammerorchester legt los mit einem Soundorkan, der durch fette Club-Boxen verstärkt wird. Das Konzert des VKKO – Verworner Krause Kammerorchester – donnert als eine Art Naturereignis aus Kammerorchester und Elektronik durch den Club.

Verworner und Krause haben mit ihrem Kammerorchester ein neuartiges Konzertformat mit dem Titel Orbiting designed. Wegen der Pandemie hat eigentlich der Prince Charles Club seit dem 1. Juni nicht nur geschlossen, sondern „nach 8 großartigen Jahren“ dicht gemacht. Die trendigen Räume zwischen Tiefgarage, Schwimmbad und Chillout Lounge hinter einer schweren Betonwand sind erhalten geblieben. Zum Sound des VKKOs aus München könnte ich auch tanzen. Stattdessen stehen ein paar Klappbänke zum Sitzen, wo bis März getanzt wurde. Orbiting im Club wird auch zu einer Art Requiem auf die Club-Kultur nicht nur in Berlin, sondern weltweit. Sozusagen postum wird mit 3 Uraufführungen im Rahmen des Impuls Musikfestivals noch einmal der Club gefeiert. Impuls, das festival für neue musik sachsen-anhalt, hätte noch bis 20. November unter dem Festivalmotto Enter The Void an verschiedenen Orten wie Kalbe, Halberstadt, Quedlinburg und Magdeburg stattfinden sollen.

Der Titel Orbiting klingt geheimnisvoll und bedenkenswert. Einlass nach strikten „hygiene measures“ ist ab 19:00 Uhr. Das Personal begleitet die Gäste einzeln oder in kleinsten Gruppen bis zu 3 Personen auf ihre Plätze. Ich behalte meine LIEBE-TUT-DER-SEELE-GUT.-Maske auf. „No dancing event“ wird auf einem DIN a5-Zettel mit drei Ausrufezeichen – „!!!“ – Nachdruck verliehen. Es gibt Barbetrieb, aber „consumption only while seating“. Auf meiner Bank angekommen nehme ich die minimalistische, immersive Installation „Orbit“ von Clemens K. Thomas (Komponist) und Cornelius Reitmayr (visual artist) wahr. Es piept, rauscht und blinkt ein wenig aus seltsam antiquierten Geräten wie im SciFi-Film, aber wie es Juri Gagarin während seiner ersten Umrundung der Erde nicht gehört und nicht gesehen hat. Christopher Riley hat in seinem Film The first Orbit 2011 vor allem die Stille und Leere inszeniert. Das menschliche Wesen im Orbit einsam in einer Kapsel in den berechenbaren, aber kaum begreifbaren Weiten. Gagarin ließ sich dafür feiern, dass er den Mut besessen hatte, sich allein in die Umlaufbahn um die Erde schießen zu lassen.[1]

Doch der Begriff Orbiting hat im Kontext digitaler Realitäten, Club und Social Media schon vor der Coivid-19-Pandemie eine weitere Bedeutungsmöglichkeit erhalten. Er benennt ein Verhalten auf Dating-Apps, bei dem eine Person ständig eine andere virtuell umkreist oder verfolgt, aber keinen direkten Kontakt zulässt und mehrdeutige Antworten sendet.[2] Orbiting wird als ein psychologisches Problem im Bereich der Beziehungsratgeber behandelt. Der oder die Orbiter ist durch Signale immer ganz nah, um auf unendlicher Distanz zu bleiben. Das lässt sich schwer aushalten. Anders gesagt: Ein semiotisches Problem der Mehrdeutigkeit von Zeichen, Bildern und Worten, das in der romantischen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausführlich thematisiert wird, kehrt in den digitalen Medien als ein paarpsychologisches wieder. Doch in einer Zeit der epidemiologischen Kontaktbeschränkungen wird Orbiting möglicherweise zu einer anhaltenden Praxis von Paarbeziehungen. Die Kontaktbeschränkungen fordern gar neuartige Praktiken der Nähe ein, um zugleich den Kontakt zu verhindern. Das findet gerade im Kulturleben statt. Die Nähe im Theater etc. wird in digitale Programme wie Zoom verlagert.

In der „Konzertarchitektur“ von Orbiting wechseln zwei Stimmkünstlerinnen – Mia Knop Jakobsen und Salome Kummer – am Mikrophon. Da sich das Konzert mehr an Popkonzerten als an klassischen orientiert, gehen die Stücke fast ineinander über. Das VKKO, also Verworner und Krause haben Bloodthirsty Tribes für die Stimmkünstlerin Salome Kammer komponiert. Es gibt Text, der sich allerdings in „massiven Akkordwelten mit technoidem Imperativ und resoluten Grooves als Betonung einer dennoch subversiven Fragilität“[3] nicht ganz so leicht verstehen lässt. Verworner und Krause wechseln einander am Pult ab. Das Orchester wird zu einem „offene(n) Organismus im Raum verteilt und teilweise „begehbar““. Auf einer Leinwand vor dem Schwimmbad-Mosaik erscheinen digitale Welten, die genau mit der Musik synchronisiert werden. Philip Seybold, visual artist, am Laptop gibt Einsätze mit einem Taktstock für seine visuellen Kompositionen. Dazu viel Trockeneisnebel und Laserscheinwerfer. Während Kammermusik die hohe Kunst des subtilen Spiels miteinander genannt werden könnte, wird sie beim VKKO zur konzertierten medialen Flutung, die zur Ekstase führen könnte, wenn sie den unter den „hygiene measures“ erlaubt wäre. Doch wir befinden uns gerade in einer ekstasefeindlichen Zeit.

Orbiting und Ekstase begünstigen einander. Wenigstens dirigieren Verworner und Krause ekstatisch. Das ist auch eine grandiose Show. Die Hornistin tanzt und bleibt doch auf Distanz eingestellt. Auf der Screen erscheint ein Film mit einer Taucherin und Riesenhaien. Nervenkitzel und Harmoniefantasie. Es sind Bildfetzen, die überblendet werden. Dann ein Palmenwedel im Gegenlicht. Unterwasser-Filme gelten im Lounge-Bereich als entspannend. Ein Joint wäre förderlich. Unterwasser-Bilder dieser Art versprechen Ekstase und Mamafikation, wie es sich aus dem Englischen transferieren ließe: ein Außer-sich-sein, indem die Rückkehr in den Mutterleib imaginiert wird. In der Musikliteratur lässt sich Parsifals Begegnung mit Kundry zum Beginn der 2. Aufzugs bei Richard Wagner als eine ekstatische Mamafikation bedenken, die Erkenntnis verspricht. Kundry macht sich zu Parsifals Mutter Herzeleide, um ihn zu verführen. Kundrys Verführungsversprechen wird nicht zuletzt als ein inzestuöses formuliert.
„Bekenntnis
wird Schuld in Reue enden, 
Erkenntnis
in Sinn die Torheit wenden:
die Liebe lerne kennen,
die Gamuret umschloß,
als Herzeleids Entbrennen
ihn sengend überfloß!
Die Leib und Leben
einst dir gegeben,
der Tod und Torheit weichen muß,
sie beut‘
dir heut‘ –
als Muttersegens letzten Gruß
der Liebe – ersten Kuß.“ (Richard Wagner: Parsifal, 2. Aufzug)

Außer sich ganz bei sich selbst sein wird auch mit Orbiting vom VKKO vom getunten Kammerorchesterklang versprochen. Der narrative Gesang wird zur Stimmkunst von Salome Kammer. Beethoven und Wagner stehen nicht nur Pate beim ausgesteuerten Klang des VKKO. Er geht bis an die Schmerzgrenze, ist aber grandios. Widerstand wird zwecklos, erfordert das Verlassen des Konzerts. Mit Ohrstöpseln wird der massive Kammerorchesterklang nur vermeintlich gedämpft. Die Kompositionen von Verworner und Krause, Vasiliki Krimitza und Gene Pritsker setzen entschieden auf Überwältigung durch Klang. Die Teilnehmerin der IMPULS-Meisterklasse Vasiliki Krimitza knüpft mit ihrer Komposition Άυλη. (griech. immateriell) entfernt an Wangers Tristan an, wenn ihr Stück als „mit der Idee der körperlich ‑metaphorischen- Paralyse verbunden und auf psychische oder geistige Prozesse gegründet“ beschrieben wird. Bei Wagners „Liebestod“ wird es jene rauschhaft immaterielle Vereinigung, die sich sprachlich, stimmlich und musikalisch vollzieht. Anders und doch sehr ähnlich heißt es bei Krimitza, dass ihre Komposition Ansätzen enthalte, „sich vom Irdischen zu distanzieren und zurückzutreten und in der Seele zu vertiefen. Das eigene Übersteigen wird thematisiert, offen bleibt jedoch, ob das eine positive Erfahrung ist oder nicht. Denn das Ganze ist mit der Wirkung des Todes auf die Psyche und dem Wissen um die Vergänglichkeit des Menschen eng verbunden.“[4]

Gene Pritsker verarbeitet in Beethoven’s Erotic Eulogy für das VKKO die Eroica bzw. die 3. Sinfonie. Es ist sozusagen eine Auskopplung aus der sechsteiligen Eroicanization für Kammerorchester und DJ-Set, einem Auftragswerk des Ensemble KONTRASTE Nürnberg. Das VKKO spielte zwei Stücke, Erotic Eroica und Eulogy Eroica aus der Eroicanization. Der Berichterstatter war sich während des Konzerts nicht ganz sicher, ob er Anspielungen auf die Eroica hörte. Verworener setzt in Erotic Eroica mit seiner E-Gitarre und Wha-Wha-Effekt ein. Bei Takt 288 wird die Wha-Wha-Gitarre heruntergefahren, bis sie verschwindet und der DJ lässt die „sex samples“ los.[5] Für Eulogy Eroica setzen die beiden Streicher*innen im Flautando (flötenartig) ein und es gibt eine Stimme, die an der Schwelle zur Verständlichkeit artikuliert:
“This is a eulogy
for my fear-less-ness
used to be so brave
now I fear love
that I can – not save
can – not save
but I sol – dier
on and try to be the best
that I can so
that life can spare
Our Love our love
This is a eulogy
that I prepared in case we fall
Love it is so much gamble
never know if we survive
the dices final role.”[6]   

Vor allem Gene Pritskers Eulogy Eroica fällt hoch poetisch und narrativ auf das Heroische aus. Damit knüpft Pritsker an eine populäre Interpretation der 3. Sinfonie von Ludwig van Beethoven an. Während sie Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin am 27. Januar 2020 sehr viel individueller interpretiert hatte.[7] Allerdings thematisiert Pritsker nicht den Napoleon-Mythos zur 3. Sinfonie, sondern macht sie zu einer Selbstreflektion und Lobrede auf die Angstlosigkeit, die sich in eine Angst vor der Liebe verkehrt. Schließlich wird das Überleben vom zufälligen Fall der Würfel abhängen. Als äußerste produktiver Crossover-Komponist bringt Pritsker mit Eulogy Eroica einen eher ruhigen, nachdenklichen Aspekt in die Club-Kultur.

Das IMPULS Festival für Neue Musik hatte das zeitlose Motto Enter the Void, was soviel heißen könnte wie, nehmt die Leere in Besitz, aber auch trete in die Leere ein oder halte die Leere aus. Seit dem Beginn der Pandemie in Europa und Deutschland im Frühjahr hat das Festivalmotto einen neuen Zeitbezug, „Aktualität und Brisanz“ erhalten. „Neben der landespolitischen Dimension wird das Thema nun zu einem existentiellen Aufruf. Wir wollen nicht durch Funkstille den Mangel unterstreichen, vielmehr soll das künstlerische Kreieren von Neuem unsere Systemrelevanz immer wieder neu reflektieren.“[8] Nun ist gerade das IMPULS Festival durch den neuerlichen Shutdown ausgebremst worden. Doch vieles ist anders als im Frühjahr. Die Leere ist nicht gleich der Mangel. Für den Mangel muss ontologisch eine Fülle vor der Leere dagewesen sein. Doch wir werden durch Kontakt-Beschränkungen in der dunklen Phase des Jahres stärker mit der Leere konfrontiert als im Frühjahr. Im November wird in der deutschen Kultur zudem mit den Gedenktagen, an die Toten und den Tod als Endlichkeit des Lebens erinnert. Das macht es für viele Menschen schwieriger, die Leere auszuhalten. Sie fordert allerdings dazu auf, dass wir uns unser ganz privates Leben schön und mit Liebe einrichten.

Torsten Flüh

VKKO
Verworner Krause Kammerorchester

LIEBE TUT DER SEELE GUT.
Kampagne und Masken


[1] Siehe: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56.

[2] Focus: Warmhalte-Strategie In der Umlaufbahn, ohne Kontakt: Wie Sie auf die Dating-Masche Orbiting reagieren sollten. 02.12.2018, 10:45.

[3] Impuls: orbiting – Konzert & Lounge 24. Okt. 2020.

[4] Ebenda.

[5] Gene Pritzker: Eroinanization. Score (PDF).

[6] Ebenda S. 64-78.

[7] Vgl. auch: Torsten Flüh: Gedenken als fortschreitender Prozess. Über das Benefizkonzert Zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in der Staatsoper Unter den Linden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Januar 2020.

[8] Impuls: Über Impuls.

Rückkehr eines aus dem Kanon Gefallenen

Kanon – Schriftsteller – Verrat

Rückkehr eines aus dem Kanon Gefallenen

Zum doppelten Jahrestag des Franz Freiherr Gaudy und der Neuedition seiner Ausgewählten Werke

Im Rahmen der Kleist-Festtage im Kleist-Museum in Frankfurt/Oder fand am 11. Oktober die Präsentation des ersten Bandes der Ausgewählten Werke Franz von Gaudys mit einem Vortrag der Herausgeberin Doris Fouquet-Plümacher und eingestreuten Lesungen von Gedichten und Textpassagen durch Henning Westphal statt. Die Veranstaltung konnte am 19. April zum exakt 220. Geburtstag des in Frankfurt im „Haus zum roten Polacken“ in der Oderstraße 13 geborenen Schriftstellers aus Gründen der Covid-19-Pandemie nicht stattfinden, so dass sie nun unter den bekannten Hygieneregeln mit verringerter Teilnehmer*innenzahl abgehalten wurde. Als sei abermals das Lebenslotto, so der Titel eines ironischen Gedichts des Jubilars, selbst im Nachleben ungünstig ausgefallen, hatte sich die Vorstellung der textkritischen Werkausgabe abermals verzögert. Doris Fouquet-Plümacher hat ihn mit großem persönlichem Engagement in einer über achtjährigen Forschungsarbeit „wachgeküsst“, wie es eine Freundin formulierte.

Franz Freiherr Gaudy, wie er sich programmatisch als Autor nannte, gehörte im 19. Jahrhundert und durch zahlreiche Neuausgaben seiner Venetianischen Novellen bis in die 20er Jahre zum Kanon der deutschen Literatur. Am 5. Februar 1840 verstarb der Schriftsteller jung und unverheiratet in Berlin an einem Schlaganfall. Fouquet-Plümacher wies in ihrem Vortrag auf die prekären Lebensumstände des preußischen Armeeadels hin, denn sie waren alles andere als glamourös. Franz wird in Frankfurt als Sohn eines Majors in die soziale Klasse der Armee hineingeboren. Seine Paten sind die Vorgesetzten des Vaters General Franz Kasimir von Kleist und der Generalmajor August von Zenge. Heinrich von Kleist, der berühmte Schriftsteller, erschießt sich am Kleinen Wannsee, als Franz 11 Jahre alt ist. Er geht gar auf das Elite-Gymnasium Schulpforta, um dann zu einer Karriere in der Armee gedrängt zu werden, die durch Langeweile, Duelle und wiederholte Festungshaft über 15 Jahre scheitert. Die Freiheitsfantasie trotz Zensur in Preußen hieß für ihn, „Dichter“, Schriftsteller werden.

Claudia Czok hatte für die Veranstaltung eine Pop-up-Ausstellung eingerichtet, um den Schriftsteller auch visuell im Kleist-Museum präsent werden zu lassen. Denn das Kleist-Museum unter der Leitung von Dr. Hannah Lotte Lund hat nun Gaudy als einen weiteren Schriftsteller und Sohn Frankfurts in den Bestand aufgenommen. Für das Museum hatte Claudia Czok bereits mit Anette Handke pünktlich zum Geburtstag im April den Blog franzvongaudy.wordpress.com entwickelt, designed und hochgeladen. Rot als Hintergrund mit schwarzer Type ist allerdings immer ein wenig gefährlich, selbst dann, wenn damit Bezug auf den Geburtsort „Haus zum roten Polacken“ und ein rotlackiertes Namensschild an der Tür genommen wird. Czok macht Texte und Bilder von Gaudy zugänglich wie den programmatischen als auch selbstironischen Besuch bei einem Dichter vom 21. Oktober 1837 in der Berliner Markgrafenstraße 87. Literarisch macht der Text einige rhetorische Figurensprünge, die es schwierig werden lassen, ihn rein autobiographisch zu lesen. Das beginnt bereits beim Namen des Dichters.
„Dieser Herr Franz Freiherr Gaudy — weshalb mag er wohl niemals von und immer nur Freiherr schlechtweg schreiben? Vielleicht macht er sich nichts aus den drei ominösen Buchstaben, und will den Leuten blos zeigen, daß er ein freier Herr sei und sich um Niemanden scheere. Wer kann’s wissen — also dieser Herr Gaudy, welcher einer schlauen Kritik des Herrn O. Gruppe zufolge, durch einige gelungene Dichtungen bekannt seyn soll, wohnt in der Markgrafenstraße Nr. 87 auf gleicher Erde, wie ich dies auch im Berliner Wohnungsanzeiger ausnahmsweise richtig bemerkt fand. Sein Name steht auf einem rothlakirten Blech an der äußersten Stubenthür — das Zimmer hat nämlich Doppelthüren.“[1]

Der Erzähler, Gaudy, besucht im Text einen Dichter, „Franz Freiherr Gaudy“, indem er sich rhetorisch ab- oder aufspaltet. Mit der rhetorischen Figur der Parenthese, fragt der Erzähler sich, „weshalb (…) er wohl niemals von und nur Freiherr schlechtweg schreib(e)“. Diese nicht nur rhetorische Frage wird nicht beantwortet, zumindest nicht direkt. Eine mögliche Antwort wird im Konjunktiv I mit dem eine Unsicherheit oder Vermutung[2] anzeigenden Adverb vielleicht formuliert. Doch die Vermutung wird noch dadurch zugespitzt, dass die den Adelstitel anzeigende Präposition[3] von zu „drei ominösen Buchstaben“ entleert wird. Sie werden gleichsam bedeutungslos. Stattdessen löst sich die Vermutung rhetorisch in einem Konzetto auf. Denn der Adelstitel Freiherr wird geistreich zu einem „freie(n) Herr(n)“, der „sich um Niemanden“ schert. Doch die mögliche Antwort wird noch in der Parenthese mit der Floskel „Wer kann’s wissen“ konterkariert.

Letztlich beantworten weder der Erzähler noch der Dichter die Frage nach dem Grund, weshalb sich „(d)ieser Herr Franz Freiherr Gaudy … schreib(t)“. Es gibt für Gaudy keinen anderen Grund als das Schreiben, könnte man fast sagen. Was als unterhaltsame Eröffnung des Besuches erzählt wird und an eine narzisstische Spiegelung denken lässt, erweist sich als eine rhetorisch ausgefeilte Konstruktion. Womöglich gehörte klassische Rhetorik zum Lehrplan in Schulpforta, so dass Gaudy damit früh vertraut war. Gaudy wollte in Göttingen Jura studieren, was vor allem heißt: Gesetzestexte zu lesen, zu analysieren und auf Einzelfälle anzuwenden. Der Besuch bei einem Dichter bekommt durch die Rhetorik einen humoristischen Zug. En passant wird der „Berliner Wohnungsanzeiger“ als ein nicht immer zuverlässiges Verzeichnis kritisiert. Statt einer geräumigen Wohnung lebt der Dichter in einem Zimmer mit Doppeltüren. Die Rede- oder Formulierungskunst wird in diesem Text und Gaudys Werk ebenso wie im Gedicht Lebenslotto bis zur Phantastik der Venetianischen Novellen zu einem wichtigen, wenn nicht hervorstechenden Strang. Kritik an der Zensur in Preußen wird durch eine Metonymie möglich.
„Und milde lächelnd sprach Fortuna jetzt:
„Muth! Muth! Noch wird die Ziehung fortgesetzt!“
Zum Dritten zog ich nun – ein Saitenspiel!
Ich schlug es an, erst blöd‘, allmählig dreister;
Stehn blieb so Mancher, dem mein Ton gefiel,
Ermuth’gend lächelten die hohen Meister.
Da hieß es: „Still! Das Staatsgesetz erlaubt
Charaden nur und patriot’sche Lieder!“ –
Für mich zu hoch. Ich schüttelte das Haupt,
Und legte seufzend auch die Zither nieder.“

1834 gehört Gaudy noch nicht zum Kanon der Literatur, verkehrte aber schon in der „Mittwochsgesellschaft“, „dem wichtigen Literaturzirkel der preußischen Hauptstadt, in dem er Willibald Alexis, Joseph von Eichendorff, Emanuel Geibel, Julius Hitzig, Karl von Holtei, August Kopisch, Franz Kugler und Karl Streckfuß traf“.[4] Fouquet-Plümacher knüpft hier an Anna Buschs Untersuchung Hitzig und Berlin. Zur Organisation von Literatur (2014) an.[5] Denn die „Mittwochsgesellschaft“ der 1830er Jahre in Berlin wurde von dem Juristen und Kriminaldirektor, Verleger, Schriftsteller und Literaturmanager Julius Eduard Hitzig (1780-1849) organisiert. Sie ist nicht zu verwechseln mit der „Geheimen Mittwochsgesellschaft“, die zwischen 1783 und 1798 in Berlin u.a. mit Moses Mendelssohn existierte.[6] Doch knüpft Hitzig als Schriftsteller und Organisator an die aufklärerische Geste der älteren Mittwochsgesellschaft an. Adelbert von Chamisso gehörte ebenfalls zu dieser Gesellschaft, so dass Hitzig auf Wunsch des „Vorausgegangenen“[7] 1839 dessen Leben und Briefe als Biographie geschrieben und herausgegeben hat.[8] Eine offizielle Kanonisierung erfährt Gaudy mit den Venetianischen Novellen kurzzeitig „Ende der 1920er Jahre als Schullektüre“.[9]

Die Freundschaft von Franz von Gaudy zu Adelbert von Chamisso wird von Fouquet-Plümacher mit dem „Nachruf-Gedicht Chamisso ist todt“ als „in der Tat der einzige Freund, den Gaudy jemals nennt“, hervorgehoben.[10] Hitzig berichtet in seiner Chamisso-Biographie, dass „im Juli (…) die Freunde mit ihm in seinem Garten einige der heitersten Abende, und Gaudy, Kugler, Rauschenbusch und Eberhard Friedländer aus Dorpat,“ zugebracht hätten.[11] Gaudy hatte sich zu einer Italienreise verabschiedet. Am 21. August 1838 stirbt Adelbert von Chamisso an einer von Hitzig detailliert beschriebenen Lungenentzündung.[12] Gaudy erhält die Nachricht vom Tod seines Freundes in Italien, wo sie in eine Idylle am Golf von Neapel unter dem Vesuv einbricht oder zumindest als dort einbrechend imaginiert wird.
„Zu Füßen rauschte wild des Volks Gedränge
In roher Lust, in Klag‘, in gellndem Zank;
Zerrissen wehten Mandolinenklänge,
Nachtfaltern gleich, den stillen Golf entlang;
Um des Vesuvs in Schlaf gewiegten Krater
Verschwamm das lezte müde Abendroth –
Ich weinte still: Mein einz’ger Freund, mein Vater,
Mein Chamisso, mein Chamisso ist todt! –“[13]

Gaudy und Chamisso teilten das Trauma einer fast tödlichen Cholera-Erkrankung. Er war wie Franz von Gaudy 1831 während der Cholera-Epidemie in Berlin und Posen an der Seuche erkrankt. Am 30. August 1831 hatte Chamisso eine „letztwillige() Verfügung“ mit den Worten aufgesetzt: „Hitzig solle, wenn er ihn überlebe, eine Auswahl aus seinen nachgelassenen Papieren herausgeben und eine biographische Notiz vorausschicken.“[14] So weit kam es nicht, aber Hitzig nahm 1838 diese als Auftrag, um nun Leben und Briefe zu veröffentlichen. Gleichwohl gibt Chamissos letzter Wille an den Juristen einen Wink auf die Ängste während der Erkrankung und Epidemie. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, dass Hitzig „ihn überlebe“. „Gaudy erkrankte vom 20.7.-3.8.1831: »Fest überzeugt, daß ich draufgehn muß«, heißt es am 26.7.1831 in seinem Tagebuch“.[15] Die Erfahrung an der Cholera während der Epidemie lebensgefährlich erkrankt gewesen zu sein, erhält auf bedenkenswerte Weise bei beiden Schriftstellern keine narrative oder poetische Verarbeitung.[16] Gaudys Gedankensprünge eines der Cholera Entronnenen (1832) springen munter erzählend vom Trauma davon, indem der Begriff im Titel genannt, aber nicht be- oder verarbeitet wird.

Die Herausgabe des Deutschen Musenalmanachs durch Adelbert von Chamisso und Gustav Schwab eröffnete Gaudy nicht nur eine Möglichkeit zur Publikation, vielmehr wird er selbst zum Herausgeber und Organisator von Literatur. Als assoziierter und offizieller Herausgeber entschied Gaudy, welche Dichter mit welchen Gedichten im namhaften Musenalmanach veröffentlicht werden sollten. Wer dort veröffentlicht wurde, hatte quasi eine erste Stufe zur Kanonisierung erreicht. Die Regeln und Themen für den Prozess der Kanonisierung wurden allerdings kaum formuliert. Für das Jahr 1832 finden sich im Musenalmanach keine Spuren der Cholera. Im Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1833 veröffentlicht „Gaudy, Freih. v.“ vier Gedichte – Zu spät, Die Winterrose, Hoffnung und Der Sabbatmorgen.[17] Für das Jahr 1839 wird er zusammen mit Chamisso einmal als Herausgeber des Deutschen Musenalmanachs genannt und u.a. sein Gedicht Lebenslotto abgedruckt.[18] Ab 1840 wird der Deutsche Musenalmanach in einer neuen Zählung von Ernst Theodor Echtermeyer und Arnold Ruge herausgegeben.

Auffällig an der von Gaudy mit Chamisso gezeichneten Herausgabe des Deutschen Musenalmanachs für das Jahr 1839 ist, dass „Graf von Platen’s Bildnis“ vorangestellt wird. Doch der Band enthält keine Gedichte August Graf von Platens, über den Gaudy in einem Briefwechsel mit Heinrich Heine korrespondiert hatte.[19] Platen war bereits Ende 1835 in Syrakus verstorben. Seit der durch Heine angestoßenen, homophoben Platen-Affäre von 1826 war der diskreditierte Dichter nicht dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt. Nachdem im Musenalmanach als Bildnisse Adelbert von Chamisso (1833), Friedrich Rückert (1834), Gustav Schwab (1835), Anastasius Grün (1836), Heinrich Heine (1837) und Ludwig Uhland (1838) erschienen waren, nimmt sich das Bildnis Platens in dieser Abfolge kurios aus, weil er anders als die andern umstritten war. Es lässt sich als Versuch einer Rehabilitierung lesen. Fouquet-Plümacher weist einerseits auf Ähnlichkeiten in der missglückten Armeekarriere bei Gaudy und Platen hin.[20] Andererseits wird die Ehelosigkeit Gaudys damit begründet, dass „vielleicht, weil jede wirtschaftliche Grundlage für eine Heirat fehlte, vielleicht aus anderen Gründen“.[21] Wir wissen es nicht.  

Doris Fouquet-Plümacher widmet sich nach ihrer beruflichen Tätigkeit als Bibliotheksdirektorin an der Universitätsbibliothek der Freien Universität zu Berlin der Gaudy-Forschung. Sie möchte den glücklosen Dichter aus Frankfurt dem Vergessen entreißen. Zu ihren zahlreichen Aktivitäten gehören Vorträge, Verlagssuche, das Sammeln von Gaudy-Ausgaben und -Kuriosa. Als Bibliotheksdirektorin im (Un)Ruhestand gilt ihr besonderes Augenmerk der bibliophilen Sammlung und Edition von Büchern zu Gaudy. Ihr Anliegen ist, Franz von Gaudy mit seinem Werk wieder zugänglich zu machen und ihn als guten Schriftsteller und als liberalen Bürger im Vormärz-Preußen wieder ins kulturelle Gedächtnis zurückzurufen. Doch zunächst trat sie 2018 mit der Spende zur Wiederherstellung der Grabstätte Franz von Gaudys am Familienbegräbnis auf dem Friedhof der Jerusalem-Kirchengemeinde vor dem Halleschen Tor an die Öffentlichkeit. Da Gaudy im Juli 1839 in die Markgrafenstraße 17 aus Italien zurückgekehrt war, gehörte er zur Gemeinde der alten Jerusalem-Kirche, die noch aus dem 15. Jahrhundert am Ende der Markgrafenstraße gelegen war. Chamisso war ebenfalls auf dem Friedhof der Jerusalem-Kirchengemeinde bestattet worden, so dass sich heute noch bzw. wieder auf dem Friedhof mit E. T. A. Hoffmann etc. mehrere Berliner Dichter aus der Zeit nach 1800 finden lassen. Franz von Gaudy hatte zunächst keinen eigenen Stein mit Inschrift erhalten. Erst zum 100. Geburtstag am 19. April 1900 wurde ihm von seinem Neffen, dem Generalleutnant Arthur von Gaudy, ein Kissenstein gestiftet, der im Zweiten Weltkrieg verlorenging.

Im panoramatischen Schaukasten des Foyers der Universitätsbibliothek der Freien Universität in der Garystraße 39 hat die Herausgeberin nun eine kleine Ausstellung anlässlich der Jahrestage eingerichtet. Der Schwerpunkt liegt auf der textkritischen Neuausgabe und antiquarischen Editionen der Venetianischen Novellen und italienischen Erzählungen. Um 1900 zum 100. Geburtstag erfuhr Gaudy einen Schub in seiner Kanonisierung aus einem ganzen Ensemble an Publikationen, namentlichem Grabstein und Artikeln in Zeitungen wie der Münchner Allgemeinen Zeitung.[22] Gaudy ließ sich gar in den 20er Jahren mit der Phantastik einiger Novellen als ein Vorreiter moderner Literatur- und Erzählformen lesen. Gleichzeitig fand eine prekäre Popularisierung der Novellen statt, so dass der verstümmelte und normalisierte Gianettino l’Ingrese als Gianettino l’Inglese, also mit l statt r, in der „Hausbücherei der frischen Resi“ für die „bayrische Kernmagarine Resi“ werben durfte.[23]  
„Die gefürchteteste Brigantenhorde war die des Gianettino l’Ingrese. Der Name ihres Anführers verbreitete Schrecken bis an die Schwelle des Quirinals, paralysierte die kecksten, in der napoleonischen Schule gebildeten Gensdarmen, und war hinreichend die Ausflüge der Reisenden und Maler wochenlang zu verzögern, wenigstens solang bis die seinigen eine entgegengesetzte Richtung genommen hatten. Sein Wohnsitz war in seiner der wildesten Gebirgsschluchten zwischen Riofreddo und Carzoli, just auf der päbstlichen und neapolitanischen Grenze. Das Volk beschwur es mit tausend Eiden, daß Gianettino ein Zauberer sei, sich an zwei Orten zugleich befinden, sich auch nach Umständen unsichtbar machen könne, und jederzeit auf einen Bajocco wisse, wieviel Pachtgeld der Pächter abzuliefern habe.“[24]   

Fouquet-Plümacher macht in ihrer Einführung zu den Novellen kurz auf deren Narratologie aufmerksam. Gaudy entwickelt eine eigene Art Geschichten und Geschichte zu erzählen. „Beispielhaft“ sei das in der Novelle Der Stumme zu lesen. „Eine breite Rahmenerzählung stellt die Beziehung Italien – Deutschland bzw. Rom – Berlin besonders heraus. (…) Die eigentliche Novelle ist die Lebensbeichte eines stummen, alten Römers, der, als Waisenkind klösterlich zum Abbate erzogen, bei einem Fürsten arbeitet, (…) Kulminationspunkt ist der römische Karneval mit dem Umbruch der Geschichte.“[25] Die Verschränkung von Novellen- und Geschichtserzählung führt zu einem neuartigen Geschichtsbild, das u. a. mit dem Gemälde Italia und Germania (1811-1828) von Friedrich Overbeck (1789-1869) als vermeintliche Allegorie auf die deutsch-italienische Beziehung gesehen wurde. Die Anlehnung suchende Darstellung der Germania kann dabei an Albrecht Dürers Melancholia erinnern.[26] Friedrich Overbeck kannte selbstverständlich Dürers Melancholia. Insofern entsteht das Geschichtsbild durch eine Montage als spezifisch moderne Darstellungsform. Reiseerlebnis, Befreiungsgeschichte und Heiligenlegende werden von Gaudy in Der Stumme zur Novelle montiert.

Das durch den Titel sinnfällige Bild zweier Nationalgöttinnen ohne Nationalstaaten ist bedenkenswert. Die Nationalstaaten Italien und Deutschland werden erst 1861 bzw. 1871 durch Kriege als König- bzw. Kaiserreich gegründet. Nora Eckert schreibt in ihrer Rezension der Ausgewählten Werke, dass „auch andere Erzählungen (…) vom tragischen Missverständnis (wissen), das der deutschen Sehnsucht nach dem Süden eingeschrieben scheint“.[27] Das Gemälde Italia und Germania beginnt schnell zu kursieren. 1840 wird ein Stich des Gemäldes zum Signet der italienischen Zeitschrift La Rivista Viennese aus Wien, wo gleichzeitig Der Stumme in italienischer Übersetzung veröffentlicht wird. Das Bild als Signet illustriert nicht die Novelle Der Stumme. Aber es kontextualisiert Gaudys Erzählung in einer Geschichtserzählungen. Während englische Adlige bereits im 17. und 18. Jahrhundert ihre Grand Tour nach Italien und Rom antraten, um sich ein quasi überzeitliches Geschichtswissen der sogenannten Ewigen Stadt anzueignen, reisen die deutschen Künstler, Schriftsteller, Maler und Archäologen mit Verspätung, um sich mit Italien zu identifizieren. Es spielt ein, sagen wir, verpasstes Bild in der Novelle eine entscheidende Rolle.
„Ich breitete die Arme nach dem bezaubernden Bilde aus, ich stimmte in den Jubelruf der Menge: Quanto è bella! mit ein. Benedetta wandte sich um und warf mir mit dem holdseligsten Lächeln einen vollen, duftenden Veilchenstrauß zu. Ich fing die Blüten auf, preßte sie an meine Lippen, riß mich von meinem Begleiter los und taumelte neben dem Wagen: Benedetta dal cielo! jauchzend, bis mich ein neuer Maskenschwarm abdrängte und die Geliebte in dem Gewühl meinen Blicken entschwand. Sie hatte mich erkannt, sie hatte mir vergeben!“[28]

Franz von Gaudy wie der Ich-Erzähler in Der Stumme begehrt und identifiziert sich mit Benedetta, mit dem Bild, von dem er bezaubert ist. Sie ist nicht nur ein Bild der angebeteten, vielmehr ruft er ihr zu: „Benedetta dal cielo!“ Die quasi religiöse Verzückung durch die Veilchensträuße werfende „Benedetta aus dem Himmel“ setzt vielmehr jene Überschneidung von Wunschbild und für Gaudy z.B. durch mangelnde finanzielle Mittel harte Realität der Romreise in Szene. Gaudy ist in dieser Schwärmerei nicht allein wie auch der Stumme sich in der „Menge“ bewegt, bis er von einem „neue(n) Maskenschwarm abgedrängt()“ wird. Die Karnevalszene gibt einen Wink auf ein verehrtes und begehrtes Bild von Italia und/oder Roma, das sich für die wenigsten Reisenden erfüllen kann. Benedetta ist nicht nur eine Geliebte, sie wird zur Gesegneten und damit Adressatin aller Sehnsüchte und Schmerzen. Das Heiligenbild wird durch die Reise und Teilnahme am Karneval vermeintlich erreichbar. Es wird profaniert, um zugleich unerreichbar zu bleiben. Denn erzählen heißt immer auch verraten:
„Ich schauderte, wenn ich mir die möglichen Folgen meines Leichtsinns vergegenwärtigte. Jener geistige Rausch, der mich zum Schwätzer gemacht hatte, war verflogen. Ich verstummte; keins der Schmeichelworte Carlo’s wollte mehr verfangen. In einer entsetzlichen Beklemmung schied ich, gedachte mit Beben des Augenblicks, wo ich Benedetta und ihren Vater, den schmählich Verratenen, unter die Augen treten sollte, und durchwachte die Nacht, gefoltert von den finsteren Ahnungen.“[29]

Gaudy schmückt die Geschichte vom Erzählen als ein Verraten höchst kunstvoll aus. Man könnte sich fast fragen, was er denn nun Carlo verraten hat außer die Gefühle des Grafen gegen die Franzosen. Doch es ist nicht entscheidend, was der Stumme ideenreich verrät. Es ist auch nicht wichtig, dass sich Carlo seinerseits als Spion und Verräter erweist. Es geht vielmehr um den „geistige(n) Rausch“ des Erzählens als Tätigkeit des erzählenden Schriftstellers. Erzählerfiguren spielen mehrfach in den Novellen eine wichtige Rolle. Was dem Schriftsteller, ob als Novellist, Poet oder Dramatiker eigen wird, ist der Verrat, den er nicht will und gleichzeitig ausüben muss. Die Leser*innen kaufen auch Literaturen, um zu lesen, was verraten wird. In seinen Gedichten und Novellen scheint Franz von Gaudy viel von sich und seinem Leben zu verraten. Nicht zuletzt Literaturwissenschaftler*innen suchen immer wieder nach Spuren, wo der Schriftsteller etwas über sein Leben, seine Lebenspraxis oder gar sich selbst verrät. – Doch kann man einem langjährigen Armeeangehörigen, der die Konsequenzen des Verrats kennt, und zugleich leidenschaftlichen Schriftsteller glauben, der mit dem Aufwand einer farbenfrohen, aber dramatischen Novelle so genau vom Verraten und Verstummen schreibt?  

Torsten Flüh

Franz von Gaudy:
Ausgewählte Werke
Herausgegeben von Doris Fouquet-Plümacher
Band 1. Venetianische Novellen und italienische Erzählungen.
Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 2020
426 S., Hardcover
ISBN: 978-3-487-15849-5
Subskriptionspreis bis zum 31.12.2020 :  29,80 EUR
Preis ab dem 01.01.2021 :  49,80 EUR

Franz von Gaudy
Venetianische Novellen und italienische Erzählungen.
Eine Ausstellung zum Erscheinen der kritischen Studienausgabe
bis 11. November 2020
Mo bis Fr von 10.00 bis 16.00 Uhr
im Foyer der Universitätsbibliothek
Garystraße 39
14195 Berlin-Dahlem

Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in Berlin-Brandenburg:
http://stiftung-historische-friedhoefe.de/wiederherrichtung-der-grabstaette-von-franz-freiherr-gaudy/


[1] Franz Freiherr Gaudy: Besuch bei einem Dichter. Zitiert nach Claudia Czok https://franzvongaudy.wordpress.com.

[2] Siehe Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: „Bedeutungsübersicht“ vielleicht 1.

[3] Ebenda „Bedeutungsübersicht“ von VI.

[4] Doris Fouquet-Plümacher: Franz Freiherr Gaudy. In: Franz von Gaudy: Ausgewählte Werke, Band 1. Venetianische Novellen und italienische Erzählungen. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 2020, S. 21.

[5] Ebenda Fußnote 34.

[6] Berliner Klassik: Mittwochsgesellschaft auch: Geheime Mittwochsgesellschaft, Berlinische Mittwochsgesellschaft, Gesellschaft von Freunden der Aufklärung. Berliner Klassik 2007.

[7] Julius Eduard Hitzig: Adalbert von Chamisso: Leben und Briefe. Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1839, ohne Seitenzahl (S. V). (Digitalisat)

[8] Ebenda S. VII.

[9] Doris Fouquet-Plümacher: Venetianische Novellen. In: Franz von Gaudy: Ausgewählte … [wie Anm. 4] S. 36.

[10] Ebenda S. 22.

[11] Julius Eduard Hitzig: Adalbert … [wie Anm. 7] S. 100.

[12] Ebenda S. 104-105.

[13] Franz von Gaudy: Chamisso ist todt.

[14] Ebenda S. VII.

[15] In der Fußnote 25 heißt es allerdings: „Tagebuch von 1831, nicht überliefert. Nach Dreecken, Gaudy, S. 23“. Doris Fouquet-Plümacher: Franz … [wie Anm. 4] S. 19.

[16] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Verpassen des Traumas. Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juni 2020.

[17] Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1833. (Herausgegeben von A. v. Chamisso und G. Schwab.) Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1833. (Digitalisat)

[18] Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1839. (Herausgegeben von A. v. Chamisso und Franz Freih. Gaudy.) Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1839. (Digitalisat)

[19] Doris Fouquet-Plümacher: Franz … [wie Anm. 4] S. 19.

[20] Ebenda S. 17.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Vgl. dazu Fußnote 13 in Doris Fouquet-Plümacher: Venetianische … [wie Anm. 4] S. 36.

[23] Ebenda.

[24] Franz von Gaudy: Gianettino l’Ingrese. In: ders.: Venetiansche … [wie Anm. 4] S. 216.

[25] Doris Fouquet-Plümacher: Venetianische … [wie Anm. 4] S. 35.

[26] Siehe zur Melancholie als Stimmungswissen: Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.

[27] Nora Eckert: Märchenhaftes Allerlei. Venetianische Novellen und italienische Erzählungen im ersten Band der „Ausgewählten Werke“ von Franz von Gaudy, herausgegeben von Doris Fouquet-Plümacher. In: literaturkritik 25.09.2020.

[28] Franz von Gaudy: Der Stumme. In: ders.: Venetiansche … [wie Anm. 4] S. 310.

[29] Ebenda S. 312.

Macht Euch sichtbar! Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020

Geschlecht – lesbisch – Sichtbarkeit

Macht Euch sichtbar!

Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020 Begegnungen und Verbindungen – sichtbar werden – sichtbar bleiben in der P120

Lila Wunder gibt es immer wieder – und viele. Google kennt das Lila Wunder vor allem als stark duftende Teehybridrose, die sicherlich nicht zu verschmähen ist. Doch eigentlich ist das Lila Wunder in der P120 mit dem lila Samtvorhang und lila Teppich Dem lila Lied von 1920 viel näher als der Teehybridrose.[1] Das Lila Wunder, das sich hier entfaltet, sind die weiblichen Künstler*innen zwischen Josephine Baker, Else Lasker-Schüler und Renée Sintenis, die in Berlin in den 20er Jahren neuartige Frauenrollen kreierten, zu denen auch die Liebe zum gleichen Geschlecht und das Spiel mit Geschlechterrollen gehörte. Vor allem drängten sie in die Domäne der schreibenden, malenden und tanzenden Männer. Denn die Kunstproduktion war männlich. Josephine Baker tanzte ihren selbstkreierten Tanz und wurde nach Harry Graf Kesslers Tagebuch am 13. Februar 1926 in „jeux saphiques“ mit der Schriftstellerin Ruth Landshoff im Anzug beobachtet.[2]

Jan Feddersen von der Initiative Queer Nations und dem Projektraum Kunst & Kultur/Queeres Kulturhaus (E2H) verlas ein ausführliches Grußwort des Senators für Kultur und Europa Dr. Klaus Lederer, der aus pandemischen Termingründen am 9. Oktober nicht zur Ausstellungseröffnung erscheinen konnte. Berlin will tanzen, was seit Monaten und im Moment wieder ganz besonders schwierig geworden ist. Klaus Lederer führte mit seiner Rede vor allem zurück in die 20er Jahre, als lesbische Künstlerinnen in Berlin in einem zuvor ungekannten Maße sichtbar wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg und der zweiten Welle der Spanischen Grippe im Herbst 1918, kam im Herbst 1919 Richard Oswalds Dokudrama und Magnus Hirschfelds „(s)ozialhygienische(s) Filmwerk()“ Anders als die Andern heraus. Ab 1920 verbreitete sich das Lila Lied von Mischa Spoliansky ebenso rasant in Berlin, wie Claire Waldoff mit ihrer Lebensgefährtin Olga von Roeder zum Mittelpunkt des Berliner Kabaretts und des lesbischen Nachtlebens bis 1933 wurde.

Das lesbische Berlin der 1920er Jahre wird von der Kuratorin Mesaoo Wrede und dem LAZ – Lesbisches Aktionszentrum Westberlin, das sich 1972 gründete – aktuellen Künstlerinnen wie Kerstin Drechsel, Stef. Engel, Claudia Balsters & Hannah Goldstein, Traude Bührmann u.a. in einem „dialogischen Prinzip“ gegenübergestellt. Künstlerinnenpaare wie Heidi von Plato, Schriftstellerin, und Kerstin Drechsel, Malerin, werden allerdings nicht eingehender thematisiert. Da wäre kuratorische Luft nach oben, zumal Heidi von Plato zu den Autorinnen der radikal-feministischen Zeitschrift Die Schwarze Botin (1976-1987) gehörte. Mesaoo Wrede möchte „queere Themen wie Identität und Selbstfindung, Inspiration, Ikone und Vorbild“ aufgreifen. Zumindest hinsichtlich der von Wrede bewunderten Josephine Baker muss frau wohl weniger von einer ontologischen „Selbstfindung“ als einer Erfindung des Selbst sprechen, wie Hannah Durkin kürzlich mit ihrem Buch Josephine Baker & Katherine Dunham – Dances in Literature and Cinema[3] gezeigt hat.

Harry Graf Kesslers Tagebuchnotiz vom 13. Februar 1926 mit Josephine Baker und Ruth Landshoff in einer Sapphischen Szene oder Sapphischen Spielen war nicht der erste Auftritt der Tänzerin in Berlin, mit denen das Revue-Girl Geschlechterrollen wenigstens überschritt. Um die gleiche Zeit ließ sich Josephine Baker auf dem Pariser Platz wahrscheinlich von Karl Vollmoeller in einem Sulky fotografieren, der von einem afrikanischen Strauß gezogen wurde.[4] Das Fuhrwerk für Pferderennen wurde so ziemlich ausschließlich von Männern gefahren. Straußenfedern verwendeten Revuestars für ihre Kostüme und als Fächer zur zeitweiligen Verdeckung ihrer nackten Körper. Selbst wenn das Foto vom Pariser Platz wahrscheinlich von Vollmoeller für die Presse inszeniert war, ist es heute weitgehend als ikonisch für Bakers Selbstinszenierung in den 20er Jahren vergessen. Die Revue-Tänzerin hält in einer ebenso sportlichen wie männlichen Geste die Zügel in der Hand. Baker war sich anscheinend dem Spiel mit dem Sichtbaren bewusst. Sie wechselt durchaus die Geschlechter wie ihre Freundin Landshoff, die für Kessler „wirklich wie ein bildhübscher Junge aussieht“.[5]

Dass Harry Graf Kessler in Ruth Landshoff eher einen Jungen erblickte als in der kaum bekleideten, doch ebenfalls fast knabenhaften Baker spricht für visuelle Geschlechterüberschneidungen. Wann wird das Mädchen sichtbar zum Jungen? Mit Josephine Baker und den von Mesaoo Wrede auf der Tafel zitierten Formulierungen „Ich war nicht wirklich nackt, ich hatte nur keine Kleider an“ und „Ein Geiger hat seine Geiger, ein Maler hat seine Palette, aber ich habe nur mich, ich bin das Instrument, das ich pfleglich behandeln muss“ wird die Frage der Sichtbarkeit angesprochen. Was als sichtbar inszeniert wird, unterliegt der rhetorischen Figur des Aprosdoketon, die das Zu-sehen-geglaubte, auf überraschende Weise zurecht oder verrückt. Doch Baker operiert wie zeitgenössische Künstler z.B. John Heartfield ebenso mit einer visuellen Rhetorik insofern ihre Nacktheit auf der Revue-Bühne keine vorführen will. Kessler sah bei Karl Vollmoeller, mit dem Ruth Landshoff eine Affäre hatte, Baker tanzen. Und Vollmoeller fotografierte 1926 Josephine Baker allein und mit Ruth Landshoff mehrfach auf experimentelle Weise[6], was mit der Tagebuchnotiz von Kessler korrespondiert.
„Die Baker tanzte mit äusserster Grotesk Kunst und Stilreinheit; wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik treibt, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. So müssen die Tänzerinnen Salomos und Tutankhamons getanzt haben.“[7]       

Die kunsthistorische Assoziation Kesslers ist schon ein wenig zu weit einordnend, denn „ihr() Stil“, ihre Choreographie ist einzigartig. Hannah Durkin sieht Baker wenigstens als „coauthor“ ihrer Tanzszenen auch im Film, obwohl sie nicht als solche genannt werde.[8] Im Kontext und der Darstellung einer „Black womanhood“ im Film erscheine sie „unrestricted; her rapid gestures seemed to resist on ordered pattern and appeared spontaneous rather than choreographed“.[9] Doch Choreographie kann eben genau diese Spontaneität enthalten, die Harry Graf Kessler nur schwer und mit einem gewissen Maß der kunsthistorischen Verkennung beschreiben kann. Wenig später, 1927, erschien Josephine Baker in Paris in ihrem ersten Film La Sirène de tropique und arbeitete zugleich mit ihrem Sekretär Marcel Sauvage an ihrem ersten Buch, Les Mémoires de Joséphine Baker. Durkin hat eine vielsagende „thirty-second sequence“, die als Werbung für die Memoiren gedacht war, recherchiert und analysiert. Obwohl die Männer später behaupteten, aus ihr einen Star gemacht zu haben, sieht Durkin in der Szene eine Farce, die nicht zuletzt auktoriale Männerphantasien aufdeckt:
„Her overstated movements reduce the scene to farce and point up the fantasies on which men’s depictions are based.“[10]

Mesaoo Wredes Vorschlag, Josephine Baker zu einer lesbischen Ikone zu machen, könnte ein reizvoller Anstoß sein. Denn der Revuestar lässt sich, wie Durkin ausführt, offenbar auf andere Weise im Kontext von „Black womanhood“ und Frauenpraxis lesen. Josephine Baker schaffte es anscheinend über das Revuetheater hinaus, mit Künstlerinnen und Künstlern zu kollaborieren, um neuartige Lebens- und Darstellungsformen an der Schnittstelle von Frauen- und Männerbildern zu entwickeln. In ihren wiederholten autobiographischen Erzählungen montiert Baker mit ihren Co-Autoren auch die Geschichten des Rassismus gekonnt um. Mémoires (1927), Voyages et aventures de Joséphine Baker (1931), Une vie de toutes les couleurs (1935) und Joséphine (1976)[11] formulieren die dem Genre eigene Enthüllung anders, um ein anderes Bild der Schwarzen Frau zu beschreiben.
„In Joséphine, she even takes revenge on a white suitor for crimes against her forebears: „I ordered the young man to his knees and planted him by my bedside. Then I left for the theater. Unkind? Perhaps. But looking back on it now, I wonder if the ghost of an African ancestor humiliated by an arrogant plantation owner hadn’t been lurking someplace under my well-oiled-scalp“.“[12]

Das wiederholt mit ihr nahestehenden männlichen Co-Autoren ausgearbeitete Genre der Autobiographie wird nicht nur zu einer Selbstlebensbeschreibung wie bei Jean Paul, vielmehr sucht die junge Josephine Baker zugleich nach einem Selbst, das sich beschreiben ließe. Die drei ersten Autobiographien gehen mit Filmproduktionen einher und könnten so als Werbung verstanden werden. Doch sie sind nicht nur Erinnerungen, vielmehr wechseln sie im Titel zum Genre der Reise- und Abenteuerromane – Voyages et aventures … –, um nach 1933 mit Une vie de toutes les couleurs während des nicht nur in Deutschland voranschreitenden Rassenwahns ein Statement für Diversität zu formulieren. In Un vie enthüllt der Revuestar nicht nur seinen Körper, sondern die rassistisch-patriarchalen Strukturen des Mittleren Westen. Die Sichtbarkeit der Hautfarbe generiert Machtverhältnisse.
Une vie’s knowledge of skin tone politics in a Midwestern Black household once again evidences Baker’s authorship and highlights correlations between skin tone and one’s perceived place in U.S. society, serving as a pointed critique of the social restrictions imposed on early-twentieth-century African American women. Such a narrative evokes the “tragic mulatta’s” Otherness.“[13]  

Das Jahr 1920 als Beginn der Zwanziger Jahre, in denen lesbische Liebe wenigstens zu einer neuen Sichtbarkeit mit Künstlerinnen wie Else Lasker-Schüler, Hannah Höch, Lotte Laserstein, Renée Sintenis, Jeanne Mommen, Gertrude Sandmann und Josephine Baker gelangte, wird von Mesaoo Wrede und LAZ etwas plakativ gefeiert, um mit aktuellen Künstlerinnen quer durch den Ausstellungsraum in Korrespondenzen zu treten. Während gerade die neuen 20er Jahre mit einer Pandemie und erheblichen politischen Verwerfungen beginnen, geht ein erster Blick zurück, auf lesbische Künstlerinnen, die geradezu kanonisiert worden sind. Kerstin Drechsel setzt sich im Bereich der Unschärfe mit ihren Darstellungen von Besuchen in Clubs mit der Sichtbarkeit auseinander. Sie zeigt in ihren Bildern alles, was zwischen Köpern und Personen passieren kann. Das hat auch sehr viel mit der Berliner Clubszene zu tun, die gerade wegen der Pandemie pausieren muss. Statt gespreizter Beine geht es im Moment um eine gnadenlose Sperrstunde.

Es ist dann doch ein Wink auf die Frage der Sichtbarkeit in geschlechtlicher wie traumatisch-pandemischer Hinsicht, wie Kerstin Drechsel die Unschärfe als visuelle Strategie einsetzt. In der medialen Überfülle der Bilder vom Virus Sars-Cov-2 – übrigens haben sich die Grafiken des Virus immer weiter ausdifferenziert, was im März mit der deiktischen Geste der Fotografie als Bild vom Virus präsentiert wurde, hat zwischenzeitlich diverse ähnliche Bilder vom Virus generiert und auch zerstreut. In der Überfülle der Bilder vom Virus und der Pandemie fehlt es unterdessen an künstlerischen Arbeiten, die sich mit den neuartigen Bildern auseinandersetzen. Die vermeintliche Sichtbarkeit der Pandemie im globalen Tragen von „Masken“ bzw. MNB (Mund-Nasen-Bedeckungen) wird versucht, z.B. mit Fotoprojekten als neuartiges Bild vom Menschen aufzugreifen. Der nackte Mensch trägt MNB. Doch eine wirklich kreative Visualisierung von Virus und Pandemie bleibt aufgeschoben.

In der Ausstellung gibt es viele visuelle Arbeiten, die konzeptuell z.B. mit Miniportraits ein Netzwerk aus lesbischen Frauen von Martina Minette Dreier sichtbar werden lassen. Heike Schader montiert aus Covers von Lesbenzeitschriften der 20er Jahre wie Die Freundin oder Frauenliebe oder Garconne und eigenen Zeichnungen von lesbischen Paaren an der Wand ein Herz, wie es in Social Media verwendet wird, um Zustimmung und Liebe zu zeigen. Stef. Engel durchkreuzt mit eher unübersichtlichen, kleinformatigen Montagen die Sichtbarkeit. Ein ikonisches Foto von Louise Bourgeois mit Penisplastik wird in einer Art Bildschachtel mit einer goldenen Penisplastik und einem Stück schwarzen Stoff kombiniert. Das Stück Stoff verdeckt das Foto auch teilweise. Das ikonische Foto wird gefeiert, transformiert und doch durch die Montagepraxis aus seiner Ikonologie herausgelöst. Stef. Engel montiert in der ausgestellten Serie unterschiedliche Bilder mit Stoffstücken oder Mini-Kostümstücken, die zwischen Fetisch und Verhüllung oszillieren.

Katharina Oguntoye las mehrere Gedichte von Audre Lorde, die sich selbst als „black, lesbian feminist mother poet warrior“ bezeichnetet. Sie hat von einer unabhängigen Jury 2020 den Preis für Lesbische Sichtbarkeit des Senators für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Dr. Dirk Behrendt schon im Sommer verliehen bekommen. Die Preisverleihung soll(te) Ende Oktober stattfinden. Audre Lorde ist seit den 80er Jahre eine entscheidende Stimme für Schwarze lesbische Frauen. 1984 erschien ihr erstes Buch auf Deutsch im sub rosa Frauenverlag mit dem Titel Auf Leben und Tod: Krebstagebuch. Im August 1992 wurde Audre Lorde durch einen öffentlichen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl bekannt, nachdem es in Rostock und Hoyerswerda zu rassistischen Anschlägen gekommen war. Im Februar 2020 wurde ein Beteiligungsverfahren eröffnet, um eine Straße in Friedrichshain-Kreuzberg nach ihr zu benennen.
„Rostock und Hoyerswerda und Übergriffe und Morde an schwarzen Deutschen, Afrikanerinnen, türkischen und asiatischen Menschen in den letzten drei Jahren werfen nicht lediglich die Frage auf, wie viele Ausländerinnen in Deutschland zugelassen werden können oder wie viele ausgeschlossen werden müssen. Ausschlaggebend sind die fundamentalen Fragen von Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie, Probleme der deutschen Psyche, die in den letzten 50 Jahren nicht wirklich untersucht und angesprochen wurden und die das gegenwärtig ausgedrückte Bewußtsein der breiteren deutschen Gesellschaft durchdringen.“[14]

Lila Wunder eröffnet einen breiten Debattenraum zu queeren Sichtbarkeiten und Visualität. Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie sind keine isolierten Narrative, sondern werden in der Regel mit Lesben-, Homo-, Trans- und Interphobie kombiniert. Audre Lorde und Katharina Oguntoye mussten insofern schmerzlich die Kehrseiten von Sichtbarkeit erfahren. Denn Sichtbarkeit und was sichtbar wird, hat immer mit Wissensformationen zu tun. Deshalb müssen Sichtbarkeiten immer schon mit einem Anspruch auf Subversion angelegt werden. Beobachten lässt sich an Audre Lordes Protestbrief, dass die aktuellen Debatten um „Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie“ erstens nicht neu sind und zweitens in einer bestürzenden Hartnäckigkeit wiederkehren, ohne dass es Flüchtende bräuchte. Es geht um eine nahezu ununterbrochene Wiederkehr von Narrativen, die entschieden bekämpft werden muss. Bisweilen gibt es selbst bei Schwulen hartnäckige Narrative von Lesben, die nicht nur nicht originell, sondern stereotyp und phobisch angelegt sind.

Torsten Flüh

Lila Wunder
1920 Begegnungen und Verbindungen
2020 sichtbar werden – sichtbar bleiben
bis 15. November 2020
weitere Termine mit Lesungen und Diskussionen
Potsdamer Straße 120 über Woolworth


[1] Zum Lila Lied vgl. auch: Torsten Flüh: Wechselstimmung im Grünen Salon. Boris Steinbergs letzter Chanson Salon 2016 in der Volksbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 1, 2017 16:28.

[2] Zitiert nach: Catel & Bocquet: Joséphine Baker. Tournai: Casterman, 2017, S. 503.

[3] Hannah Durkin: Josephine Baker & Katherine Dunham – Dances in Literature and Cinema. Urbana, Chicago, Springfied: University of Illinois Press, 2019.

[4] Siehe das Foto in Stiftung Brandenburger Tor (Hg.): Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne. Berlin: Nicolai, 2016, S. 20. Siehe auch Twitter: VisitBerlin.

[5] Harry Graf Kessler: Tagebuch vom 13. Februar 1926.

[6] Vgl. Marbacher Magazin: Jan Bürger: Im Schattenreich der wilden Zwanziger. Fotografien von Karl Vollmoeller aus dem Nachlass von Ruth Landshoff-Yorck. Mit Beiträgen von Thomas Blubacher und Chris Korner. 68 Seiten, zahlreiche Abb. Fadengeheftete Broschur. (PM 4/2008 18.01.2018) und Max Reichwein: Der Harem vom Pariser Platz. In: Welt Kultur 14.01.2018.

[7] Harry Graf Kessler: Tagebuch … [wie Anm. 5].

[8] Hannah Durkin: Josephine … [wie Anm. 3] S. 9.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 19.

[11] Ebenda S. 25.

[12] Ebenda S. 26.

[13] Ebenda S. 35.

[14] Zitiert nach Corinna von Bodisco: Welche Straße für Audre Lorde? Vorschläge sind willkommen. In: Tagesspiegel Leute Friedrichshain-Kreuzberg 20.02.2020.

Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne

Bilderatlas – Wissenschaft – Zettelkasten  

Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne

Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt

Am 3. September 2020 war es soweit: Auf der Pressekonferenz zur Ausstellung „Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original“ im Foyer des HKW wurde erstmals der Bilderatlas als Folio-Band aus dem Verlag Hatje Cantz aufgeschlagen. Zugleich wurden alle 63 rekonstruierbaren Bildertafeln im großen Ausstellungssaal in sechs halbkreisförmigen Installationen zum ersten Mal überhaupt gleichzeitig aufgehängt. Die Hängung orientiert sich an der Form einer Ellipse und der Größe des Lesesaals in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) in Hamburg, über deren Eingangstür noch heute ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ eingemeißelt ist. Aby Warburg hatte Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts dort nacheinander die Bildertafeln aufgehängt. Roberto Ohrt erzählte auf der Pressekonferenz freimütig, dass er noch gar nicht wusste, was er im Warburg Institute in London finden sollte, als Bernd Scherer ihm 2018 zusagte, das Projekt zu unterstützen.

Nun existiert der legendäre, unabgeschlossene Bilderatlas medial zweimal: als Buch und als Ausstellung. In der Welt der Kunsthistoriker*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Bildforscher*innen handelt es sich um ein epochales Ereignis, das Roberto Ohrt und Axel Heil medien- und institutionenübergreifend mit dem Warburg Institute London unter der Leitung von Bill Sherman, HKW und dem Verlag zustande gebracht haben. Alle Bildtafeln jemals an einem Ort zur gleichen Zeit in brillanter Bildqualität sehen oder gar in einem großformatigen Bildband in allerneuster Hochauflösung mit der Lupe studieren zu können, muss selbst Aby Warburg und seinen Mitarbeiter*innen utopisch erschienen sein. Der Bilderatlas als Utopie hat sich nun (fast) plötzlich materialisiert. Bernd Scherer sieht in ihm „eine(n) wichtige(n) methodische(n) Bezugspunkt für die Generierung von Wissen in unserer Zeit“.[1] In der Ausstellung lässt sich auf einem großen Bildschirm im digitalen Folio-Band blättern.

Ein originaler Zettelkasten aus dem Warburg Institute darf gleich zu Beginn der Ausstellung bestaunt werden. Der ganze Karteikasten „als raumgreifendes Möbel, das die Schrift material-medial neu konditioniert“[2], wird in Originalgröße als Fotografie gezeigt. Axel Heil sagt auf der Pressekonferenz, er sei „das Gehirn der Ausstellung“. Zettel- und Karteikästen archivieren, speichern und generieren Wissen. Auf bedenkenswerte Weise verändern sich mit dem Zettelkasten die Schrift und das Wissen um 1900, wie es nicht zuletzt Walter Benjamin in seinem Buch Einbahnstraße 1928 formuliert hat. Benjamin benutzt den Begriff der „Kartothek“, vergleicht sie mit der „Rune oder Knochenschrift“ und kontextualisiert sie mit der „Bilderschrift“. Für die Frage des Wissens Ende der Zwanziger Jahre gibt dieser Kontext einen Wink auf die Intelligibilität des Bilderatlas’.
„Aber es ist ganz außer Zweifel, daß die Entwicklung der Schrift nicht ins Unabsehbare an die Machtansprüche eines chaotischen Betriebes in Wissenschaft und Wirtschaft gebunden bleibt, vielmehr der Augenblick kommt, da Quantität in Qualität umschlägt und die Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft wird. An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu machen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms. Mit der Begründung einer internationalen Wandelschrift werden sie ihre Autorität im Leben der Völker erneuern und eine Rolle vorfinden, im Vergleich zu der alle Aspirationen auf Erneuerung der Rhetorik sich als altfränkische Träumereien erweisen werden.“[3]

Walter Benjamin schreibt in seinem ebenso wissenschaftlichen wie belletristischen Montagebuch[4] Einbahnstraße von einer „Eroberung der Dreidimensionalität der Schrift“ durch Zettelkasten, Karteikasten oder Kartothek in Bezug auf „Wissenschaft“ und „Poeten“. In der Kartothek lässt sich u.a. die Karte und Landkarte als Atlas mitlesen. Die „Dreidimensionalität der Schrift“ wird als eine Befreiung von der Linearität oder Zweidimensionalität formuliert. Deshalb bezieht sich die Dreidimensionalität nicht nur auf eine Verräumlichung hinsichtlich eines Möbels oder einer visuellen 3-D-Konstruktion wie etwa die Darstellung des menschlichen Gehirns mit seinen „Knotenpunkten als neuronale Netze“ im Kontext der Debatte um Künstliche Intelligenz, vielmehr wird die Schrift vervielfacht und mehrdeutig. Natürlich können in Zettelkästen alphabetische oder nummerische Ordnungen eingezogen werden, doch „(j)ede Karte steht mit jeder anderen in einer potenziellen Beziehung, die vom Benutzer aktualisiert werden“ muss.[5] Karin Krauthausen weist zugleich auf den Gebrauch der Karteikästen im 20. Jahrhundert in der Verwaltung als „Benutzeroberfläche“ hin, „insofern sie die archivierten Bücher und andere Quellen über Verfassername, Titel, Signatur oder Schlagworte (auf-)findbar machen“.[6] Doch die Analogie Verwaltung und Karteikasten unterschlägt die Ambiguität der Schrift, wie sie von Benjamin angeschrieben wird.

Die Dreidimensionalität der Schrift wird von Benjamin am Zettelkasten als Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft, Rhetorik und Poetik über die „Wandelschrift“ mit dem Träumen in Verbindung gebracht. Das Gehirn kennt nicht nur das Wachen, vielmehr noch das Träumen. Doch das Träumen ist von vornherein vieldeutig aufgeladen. Insofern wird der Zettelkasten hinsichtlich des Bilderatlasses Mnemosyne zu einem Möbel zum Träumen. Das Projekt der „Wiederherstellung“ von Roberto Ohrt und Axel Heil, wie es als „Original“ mit „Klemmhaken“ in der Ausstellungshalle des HKW re-materialisiert worden ist, erschlägt zunächst in seiner Komplexität und Diversität von „971 Objekte(n)“ bzw. Fotografien von „fotografische(n) Reproduktionen, Zeitungsausschnitte(n), Ansichtskarten, Reklamen, Briefmarken, Broschüren, einzelne(n) Buchseiten, von Warburgs Ehefrau Mary angefertige(n) Skizzen und zwei Originaldrucke(n)“.[7] Der Bilderatlas machte und macht mit dem Medium der Fotografie und neuartigen Druckverfahren wie den „Halbtondrucken nach dem Rasterverfahren“[8] Bilder für die Wissenschaft und eine breitere Öffentlichkeit zugänglich.

Im Folio-Band ist neben dem Text von Claudia Wedepohl nicht nur eine Seite aus dem Kunsthistorischen Bilderbogen für den Gebrauch bei öffentlichen Vorlesungen … von Ernst Arthur Seemann aus dem Jahr 1881 als Beispiel für die Verbreitung und Geschichte des Bilderatlas‘ abgedruckt, vielmehr wird auch ein Foto vom Fotostudio mit dem von Aby Warburg verwendeten Rectigraph der Marke „Photo Clark“ in der KBW von 1926 gezeigt.[9] Wedepohls Ausführungen zum „Making of“ des Bilderatlasses werden insoweit mit Fotos aus dem Warburg Institute London als Dokumente belegt, was eine deiktische Praxis des Gebrauchs von Fotografien in Bildbänden wäre.[10] Ohrt und Heil weichen von diesem Ansatz ab und gehen der Verwendung der „Begriffe „Bilderatlas“ und „Tafel“ … seinerzeit im Verlagswesen“ nach. Doch die Erklärung, dass „Bilderatlas […] den Abbildungsband, der als Ergänzung zum Textband noch in einer anderen Technik und auf anderem Papier gedruckt werden musste, [bezeichnete]“[11], kann mit dem Sexualwissenschaftliche(n) Bilderatlas der Geschlechtskunde[12] von Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1930 faktisch widerlegt werden. Der Begriff Bilderatlas wird um 1930 auf verschiedene Weise im Feld der Wissenschaft verwendet.

Magnus Hirschfeld prägt seinen Bilderatlas-Begriff als eine Wissenschaft durch Bilder mit dem vorangestellten Motto „Bilder sollen bilden“.[13] Das Motto kündigt mit den Initialen „M. H.“ als Hirschfelds (eigene) Methode an. Wenn es heutzutage um die Sichtbarkeit von LGBTI* geht, dann knüpft dieser Anspruch auf eine Sichtbarkeit und Repräsentanz in gewisser Weise an Hirschfeld an. Der Sexualwissenschaftliche() Bilderatlas der Geschlechtskunde verwendet wie bei Aby Warburg diverses Bildmaterial von ethnologischen Bildern, Portraits aus der Kunstgeschichte wie von Friedrich II. und seinem Bruder Heinrich, Privatfotos von König Ludwig II. von Bayern mit seiner Mutter[14], medizinisch beschrifteten Zeichnungen der Klitoris[15], Fotos aus der Boulevardpresse, Filmstills, Zeichnungen von der „Sexualnot der Gefangenen“[16], Fotos von Kongressen mit Magnus Hirschfeld etc.. Der Bilderatlas hat über 830 Seiten, auf denen Text und entweder einzelne oder mehrere Bilder abgedruckt werden. Friedrich II., Prinz Heinrich und König Ludwig II. werden trotz unterschiedlicher Medialität (Reproduktionen von Gemälden und ein Foto) auf einer Seite im Kapitel Neunzehn mit dem Titel „Vererbungsgesetze“ gedruckt.[17] Die Homosexualität der drei historischen Adeligen wird somit in den Wissensbereich eines generationellen Übertragungsprozessen gestellt, obwohl Friedrich II. und Heinrich Brüder waren und somit die Homosexualität nicht untereinander vererben konnten.

Der Bilderatlas befreit sich zumindest bei Hirschfeld Ende der fraglichen Zwanziger Jahre aus einem stringenten Wissenschaftsverständnis, um an politischen Debatten teilzuhaben. Denn Magnus Hirschfeld ging es um eine weitreichende und vielfältige Reform des Sexualstrafrechts zwischen Abtreibung, Homosexualität, Prostitution und Sexualität im Justizvollzug. Die Wissenschaftspolitik des Bilderatlasses löst Bilder aus ihren Wissenschaften wie Ethnologie, Kunstgeschichte, Geschichte, Medizin, Vererbungslehre und Kriminalistik heraus, um sie anders zu montieren, so dass die historische Figur des Großen mit Friedrich dem Großen zum Zeugen für die Rechtmäßigkeit homosexueller Praktiken angeordnet wird. Zwischen dem ersten Kapitel „Das Menschenpaar“ und dem zweiunddreißigsten „Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage“ entfaltet sich zwar ein chronologischer Bogen, aber dieser funktioniert in seiner Diversität des Bildmaterials längst nicht mehr als Geschichtswissenschaft.

Der Wunsch nach bwz. das Problem der Vollständigkeit führt bei Aby Warburg zu Lücken und Ergänzungen, die die Fassung des „Originals“ nach einer „dritten Version“ von 1929 weiterhin als „Fragment, noch unfertig im Prozess der Entwicklung“[18] vorführen.[19] Doch das methodologische Problem der Ordnung und Vollständigkeit könnte mit dem Bild statt Text selbst zu tun haben. Denn Magnus Hirschfeld formuliert das Problem der Vollständigkeit für seinen Bilderatlas ebenfalls. „Der Umfang dieses Werkes“ sei „bedeutend größer geworden, als ursprünglich beabsichtigt“, schreibt er in seiner Einleitung, und er sei „(v)on dem Wunsche getragen, möglichst vollständig zu sein,“ gewesen.[20] Das Medium Bilderatlas siedelt sich bei Hirschfeld zwischen Lexikon, Bilderbuch, wissenschaftlichem Kompendium und Streitschrift an. Dabei funktioniert der Bilderatlas nicht zuletzt als eine Montage aus Text und Bild. Obwohl er eingangs davon schreibt, dass „(d)as Bild […] den Text in den Hintergrund gedrängt, vielleicht sogar vernichtet“ habe, wünscht er sich von seinen Leser*innen, dass die „Bilder nur eine Begleiterscheinung des Textes“ genutzt werden mögen.[21] Ende der 1920er wird insofern mit dem Bilderatlas eine Krise des Textes formuliert und ihr begegnet, die heute als aktuell empfunden wird. Oder geht es um eine generelle Wissenskrise?

Claudia Wedepohl macht in ihrem „Making of“ auf verschiedene Methoden aufmerksam, die Aby Warburg für sein Wissen von den Bildern zwischen Engrammen, „die ins Nervensystem eingeschrieben und dort weder einer Entwicklung ausgesetzt noch durch historische Umstände veränderbar seien“,[22] und dem „Typus“ als „eine stofflich konkretisierte Abstraktion“[23], ausprobierte. Insofern die Rede von den Engrammen einen neurowissenschaftlichen Ansatz formuliert, wird mit ihm nicht nur die Frage nach einem Denkmodell angeschrieben, vielmehr wird der Bilderatlas zur Frage der Intelligenz und ihrer Konzeptualisierung. Der zwischenzeitlich „Typenatlas“ genannte Bilderatlas gibt einen Wink auf den Diskurs der Fotografie und der Wissenschaft wie sie z.B. der Fotograf August Sander in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickeln wollte. Sander wollte seine Portraitfotos von Deutschen nach „Archetypen“ und einer „Typologie“ ordnen.[24] Auch bei Sander geht es um ein Anlegen von „Mappen“[25], allerdings in einer hierarchischen Ordnung. Der Bilderatlas soll aus sich selbst heraus intelligibel werden. Doch wie bei Warburg so wird das Versprechen der Fotografie auch bei August Sander zum Problem, so dass das „Mappenwerk“[26] erst postum als Foliant re-konstruiert veröffentlicht wird.

Das physiologische Engramm, das Aby Warburg aus Richard Semons Schrift Mneme in die Kunst- und Kulturwissenschaft überträgt, bildet sich an der Schnittstelle von Gedächtnis- und Gehirnforschung heraus. Nach Wedepohl war Warburg davon überzeugt, „dass sich der Gebrauch dieser Pathosformeln mit unterbewussten Erinnerungen, genauer mit Eindrücken aus dem kollektiven Reservoir leiblicher und emotionaler Erfahrungen, […], erklären ließ“.[27] Richard Sermon hat 1904 dafür eine Physiologie des Gedächtnisses konzipiert, die sich aus einem neuartigen „Reizbegriff“ als „eine energetische Einwirkung auf den Organismus von der Beschaffenheit, daß sie Reihen komplizierter Veränderungen in der reizbaren Substanz des Organismus hervorruft“,[28] entwickelte. Semon verknüpft die Gedächtnisforschung mit der Evolutiontheorie über Engramme und beschreibt das Gehirn als „Organismus“. Anders gesagt, Engramme werden vererbt, woran Warburg mit seiner „Pathosformel“ zumindest im europäischen Kulturraum andocken konnte. Engramme sind selbst „historisch“:
„Bei den uns jetzt beschäftigenden historisch gegebenen Engrammen fällt das Eintreten des engraphischen Reizes in die Vergangenheit, der Organismus, wie wir ihn zur Untersuchung erhalten, befindet sich bereits im sekundären Indifferenzzustand. Nur die Latenzphase und die Manifestationsphase sind also unserer Untersuchung zugänglich. Der Schluß, daß hier auch wirklich ein Engramm vorliegt, kann sich demgemäß bei dieser Art der Beweisführung nur auf zwei Momente stützen: Erstens auf den Umstand, daß es sich um Eigenschaften der organischen Substanz handelt, die bald latent, bald manifest sind. Zweitens auf die Art und Weise, wie der Übergang aus der Latenzphase in die Manifestationsphase ausgelöst wird, d. h. auf den Nachweis, daß diese Auslösung den Charakter einer Ekphorie trägt.“[29]

Die Engramme werden auf diese Weise zu einem Problem der Semiologie. Bleiben die Engramme immer gleich oder verändern sie sich? Aby Warburg befindet sich in seinen kulturhistorischen Studien nicht zuletzt über Mnemotechniken in einer methodologisch schwierigen Situation. Nach seinen Erfahrungen in der Psychiatrie steht sowohl das Individuum auf dem Spiel wie das Leiden unter Engrammen durch „Ekphorie(n)“. Anders gesagt: es kehren aus dem Gedächtnis Einschreibungen immer wieder hervor, die unerwünscht sind. Der Bilderatlas reflektiert insofern ein Problem der Reproduktion und Wiederholung insbesondere der Antike oder antiker Formen, das zur Identifikation einlädt, indem es in ein Wissen transformiert wird, doch zugleich wie mit dem „Hosenkampf“ zur Satire eines historischen Wissens unter den Geschlechtern werden kann.[30] Die assyrischen Tonlebern auf Tafel 1 des Bilderatlasses präsentieren nicht zuletzt Engramme. Sie enthalten eine ganze Engraphie, um diese auf Lebern der Opferschafe applizieren zu können. Wenn die Engramme in der Opfertierleber vorzufinden sind, dann lässt sich um die Zukunft wissen.[31]

Auf der Tafel 1 werden vor allen Bildern der Antike materielle Wissenspraktiken miteinander konstelliert. Assyrische Opfertierlebern werden durch die Tonlebern genauso intelligibel wie einige tausend Jahre später der Himmel mit Sonne und Mond auf dem babylonischen Kudurru, einem Grenzstein des Königs Meli-Sipak II.[32] Bernd Scherer stellt die Ausstellung dezidiert in den Kontext von „Wissenssyteme(n)“: „Vor dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Krisen und Transformationsprozesse, die durch die Kategorien der bestehenden Wissenssysteme nicht mehr erfasst werden, ist die Erinnerung an die im Mnemosyne-Projekt vorgeführte kulturelle Technik von größter Bedeutung.“[33] Dabei lässt sich bedenken, dass diese Formulierung vor dem Eintritt der Covid-19-Pandemie geschrieben worden ist. Denn im Frühjahr 2020 haben wir mit der Existenz und der epidemiologischen Dynamik des Sars-Cov-2-Viruses eine Wissenserschütterung erlebt, die tiefgreifender als der Anthropozän-Diskurs zur Umweltbelastung und Ressourcenausbeutung nicht nur „bestehende() Wissenssysteme“ angegriffen hat, sondern in Deutschland für wenige Woche gleichsam in Schreckstarre eingefroren hat.[34]

Der Bilderatlas Mnemosyne von Abi Warburg entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Zeit größter Wissenserschütterungen z.B,. von Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) ereignete sich ohne Zutun eines Philosophen nicht nur in der Kultur von Literatur, Malerei, Musik und Moral, vielmehr brachte der Erste Weltkrieg bereits eine deutsche und europäische Vorherrschaft der kulturellen Werte in der Welt ins Wanken. Roberto Orth und Axel Heil argumentieren mit ihrer „Wiederherstellung“ vor allem gegen Ernst Gombrich, der „Warburg als einen Wissenschaftler“ charakterisiert habe, der nicht das notwendige organisatorische Geschick und die methodische Stringenz besaß, um sein letztes Werk zum Abschluss zu bringen“.[35] Seit der Erstveröffentlichung von Ernst Gombrichs Biographie zu Aby Warburg 1983 erregt seine Sichtweise heftigen Widerspruch. Dagegen wollen Orth und Heil nun die „Ebene der Montage“ näher rücken und den „Reiz, in Quellen etwas neues herauszustellen,“ zugestehen.[36]

Um nur einige wenige gegensätzliche Haltungen zur Lektüre des Bilderatlas‘ zu nennen, seien George Didi-Huberman mit Atlas ou le gai savoir inquiet, L’œil de l’histoire (2001) und Sigrid Weigel mit ihrer Grammatologie der Bilder (2015) genannt. Didi-Huberman schreibt, dass der „Atlas […] seit Aby Warburg nicht nur die Formen – und also die Inhalte – sämtlicher »Kulturwissenschaften« oder Humanwissenschaften  von Grund auf verändert“ habe, „sondern er hat auch zahlreiche Künstler angeregt, die Art und Weise, wie in den visuellen Künsten heute gearbeitet wird und wie sie präsentiert werden, in Form der Sammlung oder der Remontage völlig neu zu denken“.[37] Sigrid Weigel sieht Warburgs „Beitrag und Anregung (…) für die gegenwärtige Bildwissenschaft (…) weniger in der Klärung bildtheoretischer Fragen, wie sie in einer Grammatologie der Bilder interessieren, als in der Analyse der psychisch-intellektuellen Leistung symbolischen und bildnerischen Verhaltens in unterschiedlichen kulturellen Praktiken, die er als Möglichkeiten der Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Mythos und Logik, Bild und Zahl, Magie und Mathematik etc. interpretiert“.[38]    

Der Bilderatlas Mnemosyne bleibt selbst als „Original“ ein Abenteuer der Wissensproduktion durch Formen und Gesten, Wiederholung und Transformation, Geschichtswissen und Einschreibungen, „Dreidimensionalität der Schrift“ und Konstellationen. Die Forschung am „Original“, wie es nun materiell zugänglich geworden ist, beginnt gerade erst. Methodologisch ist allerdings sehr zu wünschen, dass der kunsthistorisch-rekonstruierende Ansatz nur im Auftakt vorherrscht. Ernst Gombrichs diskreditierende Biografie bleibt nicht zuletzt einem positivistischen, angelsächsischen Wissenschaftsdiskurs geschuldet. Forschen aber heißt lernen und immer wieder das Wissen zu hinterfragen. Es bilden sich dann jene Praktiken als Konsens heraus, die sich zumindest vorübergehend als die besten erweisen. So wie sich das Virus Sars-Cov-2 mehr oder weniger permanent wandeln und nicht einfach aus der Welt schaffen lassen wird, werden auch immer wieder Praktiken an den Umgang mit ihm justiert werden müssen. Es wird nie einen bis ins Detail entschlüsselten Bilderatlas Mnemosyne geben.

Torsten Flüh

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
Das Original
bis 30.11.2020
Haus der Kulturen der Welt
Ticket mit Zeitfenster

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
The Original
Hrsg. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil, Text(e) von Roberto Ohrt, Axel Heil, Bernd M. Scherer, Bill Sherman, Claudia Wedepohl, Gestaltung von Axel Heil, Christian Ertel, fluid editions
Englisch
2020. 184 Seiten, 83 Abb.
gebunden mit Schutzkarton
44,00 x 60,00 cm
ISBN 978-3-7757-4693-9
200,00 €

ZWISCHEN KOSMOS UND PATHOS
Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
bis 1. November 2020
Gemäldegalerie, Kulturforum
Ticket mit Zeitfenster

NEU: VIRTUELLE TOUREN

Virtual Tour – Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne exhibition at Haus der Kulturen der Welt


[1] Bernd Scherer: Der Bilderatlas im 21. Jahrhundert. In: Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original. Hg. v. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil. Berlin: Hatje Cantz, 2020. (Zitiert nach Pressemitteilung ohne Seitenzahl)

[2] Karin Krauthausen: Zettelkasten. In: Susanne Scholz, Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin/Boston: De Gruyter, 2018, S. 454.

[3] Walter Benjamin: Einbahnstraße [1928]. In: Gesammelte Schriften. Band IV.1. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1991: 83−148.

[4] Vgl. zum Buch „Einbahnstraße“ Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168.

[5] Auf Krauthausens Formulierung ist zu entgegnen, dass die „Beziehung“ nicht nur „aktualisiert werden kann“, vielmehr muss sie allererst vom „Benutzer“ werden. Karin Krauthausen: Zettelkasten … [wie Anm. 2].

[6] Ebenda.

[7] Claudia Wedepohl: Über die Entstehung von Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. In: Aby Warburg: Bilderatlas … [wie Anm. 1]. Original in Englisch: The Making of Warburg’s Bilderatlas Mnemosyne. S. 14.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. dazu auch die „pur langage déïctique“ in Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, 16.

[11] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum Nachleben der Mnemosyne. In: Ebenda S. 11.

[12] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas der Geschlechtskunde. Stuttgart: Julius Püttmann, 1930.

[13] Siehe dazu: Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 18, 2018 16:46.

[14] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher … [wie Anm. 11] S. 328.

[15] Ebenda S. 138.

[16] Ebenda S. 724.

[17] Ebenda S. 319-338.

[18] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum … [wie Anm. 10] S. 13.

[19] Zum Unfertigen als Semesterthema der Mosse Lectures vgl. Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 27, 2017 22:18.

[20] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher … [wie Anm. 11] S. 2.

[21] Ebenda.

[22] Claudia Wedepohl: Über … [wie Anm. 7] S. 15.

[23] Ebenda.

[24] Vgl. dazu Torsten Flüh: Photographie als Schrift. Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zu einem vielfältigen Medium. Saarbrücken: VDM, 2007, S. 45-65.

[25] Ebenda S. 63-64.

[26] Ebenda S. 65.

[27] Claudia Wedepohl: Über … [wie Anm. 7] S. 15.

[28] Richard Semon: Mneme. Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1904, S. 12.

[29] Ebenda S. 88-89.

[30] Zum Hosenkampf vgl. Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.

[31] Vgl. zum Zukunftswissen der Tonlebern: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.

[32] Aby Warburg: Bilderatlas … [wie Anm. 1] S. 30 und 31.

[33] Bernd Scherer: Der … [wie Anm. 1].

[34] Zur Wissenserschütterung siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020

[35] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum … [wie Anm. 10] S. 13.

[36] Ebenda.

[37] George Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 17.

[38] Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2015, S. 399.

Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in c-Moll op. 111

Sonate – Männlichkeit – Roman

Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll  op. 111

Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus

Am 20. September setzte sich Igor Levit gegen 21:00 Uhr in der Philharmonie Berlin wieder an den Flügel, um die legendäre, letzte Sonate von Ludwig van Beethoven als Abschluss seiner Konzertreihe zu spielen. Nachdem am Nachmittag des Vortages das 7. Konzert mit einer ebenso hinreißend wie verstörend interpretierten Sonate Nr. 29 geendet war, brachte das Spiel des Opus 111 am Sonntagabend das Publikum fast zum Rasen. Standing Ovations. Bravo-Rufe. Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim beehrte Igor Levit mit seiner Anwesenheit. Er hat die Sonaten Nr. 29 bis 32 ebenfalls interpretiert und 2005 eine Meisterklasse zu den Beethoven Sonaten z.B. mit Lang Lang in der Symphony Hall Chicago unterrichtet, worauf zurückzukommen sein wird.

Opus 111 ist nicht nur eine der meistgespielten Sonaten Beethovens, vielmehr wurde ihre Besprechung und Verarbeitung in Thomas Manns Montageroman Doktor Faustus deswegen legendär, weil sie eine entscheidende Funktion für die deutsche Musikentwicklung nach Theodor W. Adorno einnimmt. Über Musik, über Beethovens Sonaten zu schreiben, stellt seit jeher eine Herausforderung dar. Wie lassen sich Formulierungen finden für eine Sprache ohne Worte? Opus 111 wurde nicht nur mehrfach vom Komponisten selbst umgewidmet, es wurde zugleich zum die Form der Sonate sprengenden wie sie bestätigenden, widersprüchlichen Werk. Thomas Mann schreibt dem Opus 111 mit Adornos Beratung bis zum Plagiat für „Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde“ eine paradoxe Funktion betreffs der Musik des 20. Jahrhunderts zu.

Ereignet sich mit der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 ein provokanter Bruch hinsichtlich der Sonatenform[1], so nimmt die 32 diesen teilweise zurück, um ihn auf eine andere Weise zu wenden, die bis in Färbungen des Jazz oder des Impressionismus bei Igor Levit angespielt wird. Levits Spiel wie Manns Montage sollen einmal genauer besprochen werden, denn vor allem die letztere ist vielfach im musikästhetischen, historischen wie literarischen Kontext international diskutiert worden.[2] Vor allem das fünfzigjährige Jubiläum der Veröffentlichung von Doktor Faustus 1997 hat zu einer internationalen Diskussion geführt, bei der der Bezug zur Musik, zu Beethoven und dem Opus 111 eine wichtige Rolle spielte.[3] Auf der dOCUMENTA (13) hat Enrique Vila-Matas das Verhältnis von Thomas Mann und Theodor W. Adorno in einer Installation, An Exchange / Ein Austausch, mit einer Einführung thematisiert.[4]

Zu den bedenkenswerten Umständen der Genese von Thomas Manns Kultur- und Komponisten- ebenso wie Musikroman gehört, dass der Autor zwar mit Die Entstehung des Doktor Faustus – Roman eines Romans schon zwei Jahre nach dessen Erscheinen 1949 diesen selbst zum Gegenstand einer erläuternden Erzählung macht. Allerdings hat er Opus 111 von keinem anderen Pianisten als Theodor W. Adorno gespielt gehört. Stattdessen hörte er „Opus 132“ mit dem Busch-Quartett und machte Beethovens Streichquartett Nr. 15 in a-Moll zum Begleiter seiner Arbeit am Doktor Faustus. Er referenziert für den Roman auf dieses „höchste() Werk“. Der Roman wird dadurch nicht nur thematisch zu einem Beethoven-Roman, vielmehr legt Mann nah, dass sein Roman zu lesen sei wie das Streichquartett zu hören. Unterdessen wird die ironische Kritik an Beethovens Sonate Nr. 32 auf diese Weise im Nachhinein zurückgenommen.
„Eine herrliche >Matinee< (nachmittags) des Busch-Quartetts in Town Hall sei nicht vergessen, – mit vollendeter Wiedergabe von Beethovens opus 132, diesem höchsten Werk, das ich, wie durch Fügung, in den Jahren des >Faustus< ein übers andere Mal, gewiß fünfmal, zu hören bekommen habe.“[5]   

Ludwig van Beethovens Klaviersonaten geben einen Wink auf den Mythos der Männlichkeit in der Musik. Das wird so eher selten formuliert, wird allerdings von Eleonore Büning im Interview mit Igor Levit en passant angesprochen, ohne dafür eine nähere Expertise auszustellen. Sie bleibt bei einer modischen Anknüpfung stecken. Wie männlich Beethoven selbst war und ob beispielsweise die harten Brüche in den Sonaten bisweilen einem spezifisch männlichen Stimmungswechsel geschuldet sind, mag einmal dahingestellt bleiben. Das Prometheische und Titantische als Form der Männlichkeit tauchen allerdings um 1800 beispielsweise mit der Musik für das Ballett Die Geschöpfe des Prometheus von 1801 auf. Beethoven wird schließlich um 1900 als Komponist des Männlichen imaginiert und dargestellt. Das wird u.a. mit dem Beethoven-Haydn-Mozart-Denkmal von Rudolf und Wolfgang Siemering von 1904 im Berliner Tiergarten am Venus-Bassin deutlich. Mozart und Hadyn sind symbolistische, tanzende Frauengestalten in einer Art Neo-Renaissance als Musen beigegeben, während Beethoven mit einem nackten, jungen, kämpfenden Mann an einem Felsen assoziiert wird.[6] Die zeitgenössische Musikgeschichte mit Mozart und Haydn z. B. hinsichtlich der Sonaten als Lehrer und Vorläufer wird mit dem „männlichen“ Beethoven als Gipfel dargestellt.

Thomas Manns ebenso historischer wie geschlechtlich nahezu misogyner Teufelspakt im Roman stellt die Virilität Adrian Leverkühns aus, indem sie mit der Infektion der um 1900 noch unbehandelbaren Lues oder Syphillis gebrochen wird. Dass der „deutsche“ Komponist Leverkühn sich bei einer Prostituierten mit dem Bakterium Treponema pallidum bzw. der Syphilis von griechisch σῦς sŷs, deutsch ‚Schwein‘, φιλεῖν phileîn, deutsch ‚lieben‘ oder „Franzosenkrankheit“ infiziert, spricht einerseits für seine Manneskraft, andererseits führt diese als Geschlechtskrankheit mit Spätfolgen zur Isolation und Verlust der Sexualität und Zeugungskraft. Insofern wird Leverkühns Virilität von einer gewerblichen Frau bestätigt und zerstört. Doch schon in Wendell Kretzschmars Vortrag darüber „»warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe«“[7] spielt ein männlich geprägtes Verhältnis von „Größe und Tod“, das biographisch konstruiert wird, eine Rolle. Der „herrischste() Subjektivismus“ wird durchaus als ein spezifisch männlicher formuliert:
„Wo Größe und Tod zusammenträten, erklärte er, da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse, weil darin das Nur-Persönliche, das doch schon die Überhöhung einer zum Gipfel geführten Tradition gewesen sei, sich noch einmal selbst überwachse, indem es ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete.“[8]   

Zum Mythos der Männlichkeit in der Musik gehört mit dem herrischen „Subjektivismus“ insofern immer ein Regelverstoß, wie er sich an der mythologischen Figur des Prometheus durchaus seit Johann Wolfgang Goethes gleichnamigem Hymnus mit der Eingangsformulierung „Bedecke Deinen Himmel Zeus“ artikuliert.[9] Überschreitung und Befreiung werden seit den 1770er Jahren zur Signatur von Männlichkeit und Moderne sowie der Männlichkeit in der Moderne. Obwohl wir über Beethoven heute viel wissen, galt Thomas Mann zu Beginn der 1940er „Schindlers Beethoven-Biographie, ein geistig spießbürgerliches, aber anekdotisch anregendes und sachlich lehrreiches Buch“ viel.[10] Bis auf Adornos Expertise übernimmt Mann viel von Anton Schindler, der heute in der Beethoven-Forschung als eher suspekt angesehen wird.[11] Zum Komplex der Männlichkeit gehört bei Beethoven auch der von Schindler aufgefundene, versteckte „Brief“ an die Unsterbliche Geliebte, ohne dass die Beethoven-Forschung den Geliebten des Mannes recht habhaft geworden ist.[12] Ulrich Grothus hat darauf hingewiesen, dass Doktor Faustus insbesondere hinsichtlich der Kompositionen Adrian Leverkühns ein Roman sei, „that makes you believe to hear music that actually has never been composed“.[13]  

Doch die Sonate Nr. 32 opus 111 wurde komponiert und wird vielfach gespielt, während Mann sie mit Adornos Hilfe auf eine außergewöhnliche Weise hörbar machte. Bei Erscheinen des Romans konnte allerdings noch niemand die „drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote“ mit „»Wie-sengrund«“ als „Dankbarkeitsdemonstration“[14] lesen und hören. Offenbar bereitete Manns montierende Verarbeitung der Musikbeschreibungen seiner Nachbarn im kalifornischen Exil, Schönberg und Adorno, derart Probleme, dass er die Komplexität und Dankbarkeit mit der Romanergänzung explizieren und demonstrieren musste. Seither wird für die Leser*innen des Doktor Faustus bei jeder Aufführung des Opus 111 „Wie-sengrund“ hörbar, was einerseits stören und andererseits als Musikwissen begrüßt werden könnte.
„Das Arietta-Thema, zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint, ist ja sogleich auf dem Plan und spricht sich in sechzehn Takten aus, auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluß seiner ersten Hälfte, einem kurzen, seelenvollen Rufe gleich, hervortritt, – drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders skandiert als etwa: »Him-melsblau« oder: »Lie-besleid« oder: »Leb‘-mir wohl« oder: »Der-maleinst« oder: »Wie-sengrund«, – und das ist alles.“[15]  

Der Berichterstatter hatte vor der Sonate Nr. 32 op. 111 gespielt von Igor Levit den Roman noch nicht gelesen. Überhaupt erfuhr er erst nach dem Konzert von dem Doktor Faustus als Beethoven-Roman. Dabei hatte er sehr wohl gehört, dass Beethoven in dieser Komposition gleichsam sein Sonatenschaffen reflektiert. Auf paradoxe Weise wird das Kompositionsschema der Sonate bestätigt und zugleich in den Variationen des zweiten Satzes aufgelöst. Thomas Mann macht den zweiten Satz – „Arietta. Adagio molto semplice e cantabile – L’Istesso tempo“ – indessen zu einem dramatischen Ereignis, bei dem man sich nicht ganz sicher sein kann, ob er die Musik hörbar macht oder sie übertönend verschwinden lässt.
„…; und Kretzschmar spielte uns mit arbeitenden Händen all diese ungeheueren Wandlungen, indem er aufs heftigste mitsang: »Dim-dada«, und laut hineinredete: »Die Trillerketten!« schrie er. »Die Fiorituren und Kadenzen! Hören Sie die stehengelassene Konvention? Da – wird – die Sprache – nicht mehr von der Floskel – gereinigt, sondern die Floskel – vom Schein – ihrer subjektiven – Beherrschtheit – der Schein – der Kunst wird abgeworfen – zuletzt – wirft immer die Kunst – den Schein der Kunst ab. Dim – dada! Bitte zu hören, wie hier – die Melodie vom Fugengewicht – der Akkorde überwogen wird! Sie wird statisch, sie wird monoton – zweimal d, dreimal d hintereinander – die Akkorde machen es – Dim – dada! Bitte achtzugeben, was hier passiert –«
Es war außerordentlich schwer, zugleich auf sein Geschrei und auf die hochverwickelte Musik zu hören, in die er es mischte.“[16]

Serenus Zeitbloms ironische Erzählung vom kommentierten Vorspiel Kretzschmars erinnert an die Praxis der Meisterklasse, wie sie Daniel Barenboim im Januar 2007 in Chicago zu den Sonaten abgehalten hat. Barenboim sitzt an einem zweiten Flügel neben den Meisterschülern am Flügel, spielt die betreffenden Takte und gibt lautmalerisch Anweisungen, wie die Stelle, die Takte zu spielen seien. Die Meisterklasse ist vom BBC aufgezeichnet worden und auf YouTube verfügbar. Barenboim insistiert mehrfach darauf, wie genau Beethovens Tempi und Wechsel zu verstehen sind. Allerdings kommentiert er die Passagen weniger, hinsichtlich ihrer musikhistorischen Bedeutung, wie es Adorno zu einem musiktheoretischen Verfahren in Bezug auf die „Zwölftontechnik“ von Arnold Schönberg gemacht hat. Thomas Manns literarische Transformation zieht indessen mit der Figur des stotternden Kretzschmar von vorneherein eine ironische Ebene ein.

Doktor Faustus erzählt Musik als Roman bis an die Grenze ihrer Hörbarkeit. Ob sich der Erzählerfreund Serenus Zeitblom mit dem Autor Thomas Mann identifizieren lässt, ja, wie weit Thomas Mann überhaupt noch die Rolle des Romanautors als „Gott“ einer Welt einzunehmen gelingt, kann einmal offen bleiben. Allerdings gibt Zeitbloms Kommentar zur Szene einer, sagen wir, restlos kommentierten und verstandenen Musik einen Umschlag zu bedenken. Das Verständnis macht es nämlich auch schwer, „die hochverwickelte Musik zu hören“. Gehört wird dann nämlich nur noch das Verstandene. Die Beherrschung der Musik wird auch zu einer „herrischen Subjektivität“. Was bei Mann/Adorno in ihrer Beethoven-Imagination durchschimmert, lässt sich als ein Männlichkeitsphantasma beschreiben. In ihrer ekstatischen Beschreibung verstehen sie mehr oder gar anderes, als Beethoven möglicherweise von seiner Musik verstanden hat. Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno beschuldigten jedenfalls Thomas Mann des Plagiats. Im XXII. Kapitel zieht Adrian Leverkühn als Komponist diese Art des Hörens in Zweifel:
„… Wenn du unter >Hören< die genaue Realisierung der Mittel im einzelnen verstehst, durch die die höchste und strengste Ordnung, eine sternsystemhafte, eine kosmische Ordnung und Gesestzlichkeit zustande kommt, nein, so wird man’s nicht hören. Aber diese Ordnung wird oder würde man hören, und ihre Wahrnehmung würde eine ungekannte ästhetische Genugtuung gewähren.“ (S. 257)

Ulrich Grothus‘ Faszination durch den Roman, der eine Musik beim Lesen zu hören glauben macht, die niemals komponiert und gespielt worden ist, gibt einen Wink auf das Verhältnis von Musik, Musikliteratur, Komposition und Musikbesprechung. – Thomas Mann benutzt für seine Erzählerfigur Zeitblom übrigens recht häufig den Begriff besprechen wie z.B. in der Wendung „Ich werde an ihrem Ort die Tatsache besprechen“. (S. 542) – Zeitblom bespricht die Musik. Mit allen der Musikbesprechung zur Verfügung stehenden Ebenen und Praktiken bespricht Zeitblom z.B. das Violinenkonzert für Rudi Schwerdtfeger im achtunddreißigsten Kapitel, das zu einem Publikumserfolg Adrian Leverkühns wird. Die literarischen Praktiken der Musikbesprechung, anders gesagt, der Musikkritik, die Zeitblom nicht üben will, macht in gewisser Weise eine Geistermusik lesbar und hörbar. Es wird hörbar, was nie gehört wurde! Thomas Mann gelingt durch eine Montage eine Musik aus Worten, was durchaus unheimlich ist. Gleichzeitig wird damit die Musikbesprechung ironisiert, weil sie von etwas spricht, was die Musik notwendiger Weise verfehlen muss. Von der Praxis der Widmung über die Tonalitäten bis zum Beethoven-Vergleich werden alle Praktiken quasi umgekehrt eingesetzt. Besprochen wird nicht, was gehört wurde, sondern was gehört werden soll:
„Es ist ein Besonderes mit dem Stück: In drei Sätzen geschrieben, führt es kein Vorzeichen, doch sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, drei Tonalitäten darin eingebaut, B-Dur, C-Dur und D-Dur, – von denen, wie der Musiker sieht, das D-Dur eine Art von Dominante zweiten Grades, das B-Dur eine Subdominante bildet, während das C-Dur die genaue Mitte hält. (…) … – eine deutliche Reminiszenz an das Rezitativ der Primgeige im letzten Satz von Beethovens a-Moll-Quartett, – nur daß auf die großartige Phrase dort etwas anderes folgt als eine melodische Festivität, in der die Parodie des Hinreißenden ganz ernst gemeinte und darum irgendwie beschämend wirkende Leidenschaft wird.“ (S. 543-544)

Der Schriftsteller Enrique Villa-Matas hat sich in einer Einführung zu seiner Installation mit Briefen und Manuskripten von Thomas Mann und Theodor W. Adorno mit der Frage des Plagiats in der Literatur beschäftigt. Dabei ist zu bedenken, dass die Praxis der Montage in der Musik wie der Literatur immer schon den Verdacht des Plagiats weckt. Wem gehört welcher Gedanke? Wo setzt beim Zitat und der Montage die Eigenleistung ein? Beethoven hat beispielsweise in seinen Kompositionen Passagen über Genre hinaus neu montiert. Der „modernen“ künstlerischen Praxis der Montage ist immer schon das Problem des Plagiats eingeschrieben. Das gilt für die Musik immer wieder wie für die Literatur. Arnold Schönberg sah vor allem im Kapitel XXII des Doktor Faustus ein Plagiat seiner Theorie der Zwölftontechnik. Doch er verstarb, bevor sein Vorwurf weiter diskutiert werden konnte. Villa-Matas sieht da Problem indessen im Autorphantasma bei Thomas Mann.
„Manchmal denke ich über diese alte Geschichte nach, diese Kontroverse über das zulässige aber zumindest bedenkliche Plagiat, und dann glaube ich zu bemerken, dass Thomas Mann selbst, obwohl er vorhatte, in seinem Roman den Moment aufzuspüren, in dem der Bruch zwischen Kunst und Schönheit aufkeimte (oder besser das Ender der ganz großen Kunst mit dem Einbrechen des populären Geschmacks oder auch, was allerdings das Gleiche wäre, das Ende einer Welt, die zu Gott und nicht zum Menschen schaut), durch die schmerzliche Kampfperiode mit seinem kalifornischen Nachbarn Schönberg in perfekter Weise das Ende jener allmächtigen Romanschriftsteller veranschaulicht – und zwar im wirklichen Leben, was das Erstaunlichste daran ist –, die in einer schon vergangenen Zeit glaubten, dass ihnen alles gehörte, wie Gott, sogar die von ihren Dienern zusammengefassten Partituren des Nachbarn.“[17]

Der „allmächtige Romanschriftsteller“, der über Musik schreibt, als komponiere er seinen Roman nach musikalischen Praktiken, scheitert in dem Maße wie die Montage selbst zum „Roman eines Romans“ wird. Mit dem „Roman eines Romans“ überschreibt Thomas Mann die Montage zum autobiographischen Roman. Zeitblom indessen reflektiert bereits in der Eröffnungssequenz des ersten Kapitels seine Erzählung als „Symphonie“, deren „Thema (Adrian nicht, T.F.) vorzeitig auftreten – hätte es höchstens auf eine fein versteckte und kaum schon greifbare Art von ferne sich anmelden lassen“.[18] Der Musikwissenschaftler Hermann Danuser nennt die „Erzählte Musik“ in Doktor Faustus eine „fiktive musikalische Poetik“, die hinsichtlich Beethovens an eine „Literarisierung des Komponierens im 19. Jahrhundert“ anknüpft.[19] Er kritisiert damit auch Manns Musikwissen, das dieser im „Roman eines Romans“ z.B. wie bei Anton Schindlers Beethoven-Biographie als Erzählmaterial nutzt.
„Beethoven – im Roman als vereinsamter Kranker gezeichnet, dessen Hang zu exzessiver „Grübelei und Spekulation“ einen Vorschein Leverkühns bildet – wird als Kronzeuge dafür beschworen, daß musikalische Komposition im Akt der Genese auf der ihr scheinbar fremden Ebene des Wortes angesiedelt sein kann. Ein verbal geleiteter musikalischer Schaffensprozeß erlaubt es, zwischen dem Gegenstand – der Musikpoetik – und seiner Fiktion – dem Prosatext des Romans – eine Kompatibilität herzustellen, die ein Gefühl des quid pro quo, davon also, daß die fiktive Poetik ihren eigentlichen Gegenstand verfehlte, gar nicht erst aufkommen läßt. Musikhistorisch wird damit eine Linie zur Ideenkomposition, Programmmusik, Weltanschauungsmusik, einer Literarisierung des Komponierens im 19. Jahrhundert seit Beethoven gezogen“.[20]

Dafür dass Beethoven einer der bekanntesten, wohl auch häufig gespielten und äußerst umtriebigen Komponisten seiner Zeit in Wien war, wo er ein wie auch immer funktionierendes Netzwerk aus Auftraggeber*innen und Adressat*innen mit Widmungen unterhielt – die Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111 ist Erzherzog Rudolph von Österreich gewidmet -, wird ihm eine merkwürdige Vereinsamung zugeschrieben. Die Erzählweisen widersprechen einander von Anfang an. Hört man die 32 Sonaten in der Interpretation von Igor Levit, kann die „Grübelei“ zum Ausprobieren neuer Formen, zu einer Lust am Experiment werden. Verrät „Dim-dada“ diese Lust nicht auf etwas unschöne Weise? Es kommt auf die Intensität an. Igor Levit spielte den zweiten Satz der Sonate Nr. 30 E-Dur am 20. September nicht „Prestissimo“. Natürlich könnte er „Prestissimo“ noch schneller spielen. Wie sehr muss sich ein Klaviervirtuose einer Tempoangabe des Komponisten unterwerfen? Alle 32 Sonaten von „Ludwig van“, wie er im Tweet auftaucht, mit Igor Levit gehört haben zu dürfen, ist ein Geschenk fürs Leben.

Torsten Flüh   

Musikfest Berlin on Demand


[1] Vgl. Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[2] U.a. Ulrich Grothus: Sixty Years of Thoma Mann’s Doktor Faustus. In: Logos. A journal of modern society & culture, 7,1 winter 2008.

[3] Siehe: Werner Röcke: Thomas Mann Doktor Faustus 1947-1997. Bern: Peter Lang, 2001.

[4] dOCUMENTA (13): 100 Notes – 100 Thoughts No050: Enrique Vila-Matas: Thomas Mann & Theodor W. Adorno: An Exchange / Ein Autausch. Ostfilden: Hatje Cantz, 2012.

[5] Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1981 (zuerst 1949) S. 721.

[6] Siehe die Fotos vom 30. September 2020 mit Details des Denkmals von Siemering in dieser Besprechung.

[7] Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von seinem Freunde. [wie Anm, 5] S. 71.

[8] Ebenda S. 74.

[ix] Siehe zur Figur des Prometheus auch Torsten Flüh: Große Mythen anders und witzig durchtanzt. Zu Nick Powers Between Tiny Ciities und Euripides Laskaridis’/Osmosis‘ Titans bei Tanz im August. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 27, 2018 20:56.

[10] Thomas Mann: Die … [wie Anm. 5] S. 713.

[11] Vgl. zu Anton Schindlers Beethoven-Biographie: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[12] Ebenda.

[13] Ulrich Grothus: Sixty … [wie Anm. 2].

[14] Thomas Mann: Die … [wie Anm. 5] S. 712.

[15] Thomas Mann: Doktor … [wie Anm. 7] S. 75.

[16] Ebenda S. 75-76.

[17] Enrique Villa-Matas: Thomas … [wie Anm. 4] S. 9.

[18] Thomas Mann: Doktor … [wie Anm. 7] S. 11.

[19] Hermann Danuser: Erzählte Musik. Fiktive musikalische Poetik in Thomas Manns „Doktor Faustus“. In: Werner Röcke: Thomas … [wie Anm. 3] S. 299.

[20] Ebenda.

Von dem Gesang der Bratsche

Trauer – Lied – Leiden

Von dem Gesang der Bratsche

Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater

Das Musikfest Berlin war in diesem Jahr mehr als ein Experiment auf die Musik. Es wurde ein Widerstand gegen das Regime der Covid-19-Pandemie. Komponist*innen, Musiker*innen, Organisator*innen und das Publikum setzten ihm ein Trotzdem entgegen. Ein wohl überlegtes und ausgeklügeltes System der Vorkehrungen gegen eine Infektion mit Sars-Cov2 hat sich in allen Konzerten bewährt. Anders als bei der Saisoneröffnung im Teatro Real in Madrid mit Giuseppe Verdis Ein Maskenball am letzten Sonntag kam es in der Philharmonie zu keinen Protesten des Publikums, weil zwar im Parkett auf den teuren Plätzen ein Abstand, aber auf den Rängen keiner vorgesehen war. In der Philharmonie gab und gibt es für die Vorkehrungen keine sozialen Unterschiede. Der Künstlerische Leiter des Musikfestes, Winrich Hopp, indessen bedankte sich beim Publikum, dass es überhaupt so zahlreich zu den Konzerten erschienen war.

Das Abschlusskonzert mit Werken von Wolfgang Rihm um 17:00 Uhr war nahezu ausverkauft. Für 21:00 Uhr wurde gar eine Wiederholung angesetzt. Nach 7 Monaten traten 9 Musiker*innen der Berliner Philharmoniker zum ersten Mal wieder gemeinsam mit Solist*innen unter der Leitung von Stanley Dodds auf, während der internationale Konzert- und Opernbetrieb weiterhin weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Die Uraufführung der Stabat Mater für die mit Rihm seit geraumer Zeit befreundeten Bratschistin Tabea Zimmermann und den von ihm ebenfalls geschätzten Bariton Christian Gerhaer wurde zweifelsohne zum Höhepunkt des Konzertes. Wolfgang Rihm konnte zur Uraufführung, wie es Hopp formulierte, leider „nicht da sein“. Rihm leidet seit 2017 an einer Krebserkrankung, die ihn offenbar auch bei der Wahl der Kompositionsthemen beeinflusst, so dass beim Musikfest 2019 sein „Gryphius Stück“ Vermischter Traum mit dem Gedicht Thränen in schwerer Krankheit für den Bariton Georg Nigl von diesem uraufgeführt wurde.[1]

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Uraufführungen der Lieder Stabat Mater in diesem und Vermischter Traum im letzten Jahr lassen sich aufeinander beziehen. Wolfgang Rihm wendet sich auf sehr unterschiedliche Weise dem Lied zu. Während die recht abgelegenen Gedichte des Barockdichters Andreas Gryphius zu Krankheit und Zeitlichkeit zum Lied Vermischter Traum erstmals montiert werden, wurde das mittelalterliche Gedicht Stabat Mater recht häufig von Komponist*innen auf unterschiedlichste Weise bis in die Gegenwart zum Lied oder gar für Oratorien „vertont“. Es gibt mehr als 150 Kompositionen der Stabat Mater[2] seit 1480 von Orlando di Lasso über Rossini, Verdi und Liszt bis Poulenc und Penderecki sowie eine von Wolfgang Rihm aus dem Jahr 2000 „für Mezzosopran, Alt, Streicher und Harfe“. Zwischen der Motette von Josquin Desprez, Chorversionen von Palestrina und Sopran, Alt, Tenor und Streicher-Trio von Arvo Pärt entfaltet sich eine breite Liedkultur der Stabat Mater.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Kompositionsform Lied kehrt sich nun nahezu in der Kombination von Viola und Bariton um. Denn Tabea Zimmermann begleitet mit dem Soloinstrument nicht nur den Gesang, vielmehr bringt sie ihre Viola selbst zum Singen. Zwischen den Strophen gibt es Soli für die Viola, die hoch anspruchsvolle Passagen bis zur Virtuosität vorsehen. Während die Viola im Symphonieorchester meistens nur den – gerade schwierig zu erzeugenden – Streicherklang bis zum Klangteppich herstellen, hat Tabea Zimmermann in den letzten Jahren die Viola als Soloinstrument verstärkt ins Interesse gerückt. 2019 führte sie mit François Xavier Roth und Les siècles Harold en Italie von Hector Berlioz als eine Art Wiederentdeckung beim Musikfest Berlin auf.[3] Tabea Zimmermann hat insofern überhaupt zu einer Neuentdeckung der Bratsche als Soloinstrument beigetragen, was seit einigen Jahren insbesondere in Berlin verfolgt werden konnte. In Berlioz‘ Symphonie Harold en Italie nach dem Gedichtepos Childe Harold’s pilgramage von Lord Byron übernimmt die Bratsche quasi die Solostimme des lyrischen Ich.   

Christian Gerhaer singt die Stabat Mater in Latein, was insofern erwähnenswert ist, als im 19. Jahrhundert der durchaus stark formalisierte, gereimte Gedichttext ins Deutsche übersetzt wurde wie z.B. von Theodor Fröhlich 1820. Die mehrfache und wiederholte Übersetzung aus dem Lateinischen als katholische Kirchensprache im 19. Jahrhundert gibt einen Wink auf die Frage der Verständlichkeit von Liedtexten um 1800. Der liturgisierte Gedichttext mit seinem auch ambigen, fast magischen Potential will und soll in der Zielsprache verstanden werden. Das veränderte viel hinsichtlich der Liedpraxis. Da im 21. Jahrhundert nicht nur immer weniger Latein gelehrt und gebraucht wird, womit sich nicht zuletzt ein seit dem 19. Jahrhundert verbindliches, bürgerliches Bildungswissen verflüchtigt oder zumindest fachsprachlich transformiert, zeigt Wolfgang Rihm mit seiner nicht zuletzt musikalischen Entscheidung seine Haltung zum Lied.
Stabat mater dolorosa
Iuxta crucem lacrimosa,
Dum pendebat filius;
Cuius animam gementem.
Contristantem et dolentem
Pertransivit gladius.

Die 10 Strophen des Stabat Mater und seine schon mittelalterliche Übertragung ins Deutsche, Englische und Niederländische hat Andreas Kraß 1998 in seiner Schrift Stabat mater dolorosa: lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter untersucht, um eingangs auf die reiche musikalische Überlieferung hinzuweisen. Im Unterschied zu Lord Byrons epischem Gedicht der Reise nach Italien aus der Perspektive des Harold hat Kraß mit dem lateinischen Text des Stabat mater und seiner ebenso zahlreichen wie vielfältigen „volkssprachlichen Übertragungen“ gezeigt, dass es sich um ein wichtiges, wenn nicht konstitutives „Terrain der deutschen Literatur“ handelt.[4] Im 19. Jahrhundert findet einerseits eine wissenschaftliche Reflexion und Übertragung statt, andererseits wird das Gedicht in seiner lateinischen wie in seiner deutschen Version kompositorisch be- und verarbeitet, während es seinen liturgischen Gebrauch einbüßt. In der Marienverehrung als Praxis des Mitleidens, des Leidens und der Trauer nimmt die Stabat-mater-Literatur weiterhin eine verbreitete Funktion ein.

Wolfgang Rihm greift mit seinem Stabat Mater eine in den westlichen, christlichen Literaturen weit verbreitete Leidenspraxis auf. Der lateinische Text übt programmatisch eine hohe Identifikation des Betenden mit dem Leiden aus. Gesten und Visualisierung wie Medialisierung werden durch das Aussprechen des Textes in der ersten Person Singularis eingeübt und zur Wiederholung vorbereitet. Das Gedicht als literarische Form wird insofern zur kulturellen Praxis, die bis in die Geste des Kniebeugens auf Demonstrationen von Black Lifes Mattters fortlebt. Zugleich wird das Mitleiden seit dem 17. Jahrhundert zu einer Praxis des Genießens.
Fac me plagis vulnerari,          Laß, wenn meine Wunden fließen,
Cruce hac inebriari                   liebestrunken mich genießen
Ob amorem filii.                        Dieses tröstenden Gesichts!
Inflammatus et accensus,        Flammend noch vom heilgen Feuer,
Per te virgo, sim defessus        deck, o Jungfrau, mich dein Schleyer
In die indici.                                Einst am Tage des Gerichts![5]

Wie in der Übertragung ins Deutsche durch Christoph Martin Wieland von 1779 erweist sich der lateinische Originaltext auf vielfältige Weise als anschlussfähig. Im Spätbarock wird das Genießen zur Selbstpraxis des Subjekts.[6] Das lyrische Ich des lateinischen Originals bleibt derart unbestimmt, dass es sich auf vielfältige Weise in der Übertragung grammatisch aktivieren lässt. Heinrich Bone übersetzte die gleiche Strophe 1847 auf entschieden andere Weise. Die Übertragungen ins Deutsche und andere Sprachen wie dem Polnischen generieren insofern seit dem Mittelalter höchst eigensinnige Anknüpfungen an den lateinischen Quelltext mit weitreichenden Folgen für Selbstpraktiken. Anders als bei Wieland findet sich das katholische Ich bei Bone nicht im Genießen wieder, vielmehr tritt nicht nur zufällig eine Ökonomie der Identifikation mit dem gekreuzigten Christus an Stelle seiner Mutter statt. Die mitleidende Identifikation wird nun als „mein Gewinn“ im Katholischen Gesangbuch für die „Fastenzeit“ vor Beginn der Karwoche formuliert.  
Alle Wunden, ihm geschlagen,
Schmach und Kreuz mit ihm zu tragen,
das sei fortan mein Gewinn!
Dass mein Herz, von Lieb entzündet,
Gnade im Gerichte findet,
sei du meine Schützerin![7]

Foto: Monika Karczmarczyk

Bei Heinrich Bone nimmt das Stabat Mater für die „Fastenzeit“ eine bedenkenswerte Position im Ablauf des Kirchenjahres als zeitlich vorausgeschickte Trauer ein. Es lässt sich für ihn offenbar nicht so recht in die Karwoche oder gar in die Osterliturgie integrieren. Das Stabat mater dolorosa wäre dem Karfreitag zuzuordnen, um in die Auferstehung ins Paradies zu Ostern zu münden. Das geistliche Gedicht schwenkt mit der Figur der weinenden Mutter indessen auf einen Nebenschauplatz der Leidensgeschichte und des Todes Christi aus. In der Literatur des Neuen Testaments ist kein eigener Zeitpunkt für die hingebungsvolle Trauer der Mutter und der im allgemeinen vorgesehen. Insofern bricht das folgenreiche, anschlussfähige Gedicht in ein orthodoxes Kirchenjahr ein. Das Stabat Mater lässt sich schwer integrieren oder gar kanonisieren, um zugleich zu einem besonders begehrten Text für Übertragungen und Kompositionen zu werden. Artikuliert wird mit dem Stabat Mater eine Trauerpraxis, die für die Katholische Kirche letztlich inkommensurabel bleibt.    

Foto: Monika Karczmarczyk

In diesem Kontext wird die Uraufführung der (zweiten) Stabat Mater von Wolfgang Rihm zu einem Novum in der Musikliteratur. Rihm lässt die Position des Ich mit dem lateinischen Text offen. Die Stimme der Bratsche setzt in einer magischen Tiefe der Vieldeutigkeit an. In Zwischenspielen gräbt sie sich in den Text ein, der von Christian Gerhaer an der Grenze zur Verständlichkeit des fast formelhaften Gedichts gesungen wird. Eine geschlossene Form wird durch die Eigensinnigkeit der Bratsche im Verhältnis zum Gedicht auch aufgelöst. Nach der letzten Strophe bleibt der Bratsche Zeit für eine Art gesanglichen Kommentar. Doch das „Paradisi gloriae“ wird nicht durch einen triumphierenden Jubel kommentiert, vielmehr verklingt die hochemotionale Violastimme von Tabea Zimmermann plötzlich in einem Abbruch. Geht es noch um eine menschliche Stimme im Gebet? Gibt es ein fernes humanistisches Echo?

Foto: Monika Karczmarczyk

Wolfgang Rihm hat sich in den beiden Instrumentalstücken Sphäre nach Studie (1993/2002) und Male über Male 2 (2000/2008) anderen Fragen nach der Musik gewidmet. Male über Male für Jörg Widmann und von ihm gespielt, erforscht nicht zuletzt alle klanglichen Möglichkeiten des Instrumentes. Musik wird bei Wolfgang Rihm gerade in den Instrumentalstücken immer auch zur Klangforschung. Mit Jörg Widmann erforscht er die Klarinette nicht nur in den Bereichen ausgeweiteter Spielpraktiken, vielmehr werden Klangschnitte insbesondere mit dem Schlagwerk (Jan Schlichte, Franz Schindbeck) und dem Klavier (Tamara Stefanovich) ausprobiert. Obwohl die Werke auskomponiert sind, bleibt ihnen doch eine Offenheit erhalten. Für Male über Male 2, das auch einen gewissen Modus der Wiederholung anzeigen kann, lässt sich eine satzartige Architektur in 5 Teilen hören. Dabei stellen sich nach tänzerischen Passagen u. a. Anklänge an den Jazz ein. Das Stück endet in einem tonlosen Verhallen.

Torsten Flüh


[1] Siehe die Besprechung der Uraufführung: Torsten Flüh:  Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.

[2] Siehe: Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa: lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München: Fink, 1998, S. 11. (Digitalisat)

[3] Siehe: Torsten Flüh: Belletristik, Poesie und Begehren als Musikkomposition. François-Xavier Roth mit Les Siècles und Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Oktober 2019.

[4] Andreas Kraß: Stabat … [wie Anm. 2] S. 355.

[5] Zitiert nach lateinischem Originaltext und der Übertragung durch Christoph Martin Wieland 1779 auf dem Programmzettel.

[6] Zur Funktion des Genießens bzw. der Jouissance vgl. Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.

[7] Heinrich Bone (Hg.): Katholisches Gesangbuch nebst einem vollständigen Gebets- und Andachtsbuche. Paderborn: F. Schöningh, 1851, S. 67-68.

Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken

Virtuose – Klaviersonate – Freiheit

Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken

Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin

Sieben von acht Konzerten mit jeweils zwischen 3 und 5 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven hat Igor Levit bereits in der Philharmonie gespielt. Jetzt kann der Berichterstatter nicht länger warten, noch einmal vom musikalischen Großereignis im Kleinen zu berichten. Igor Levit spielt Beethoven, wie er ihn als Virtuose denkt und fühlt. Er spielt seinen Beethoven aus einer achtzehnjährigen Beschäftigung mit den Klaviersonaten. Es ist in jedem Konzert seit dem ersten am 25. August 2020 das gleiche Ritual. Igor Levit betritt das Podium, wird vom Publikum mit Applaus begrüßt, verbeugt sich und setzt sich an den Konzertflügel. Er hält meistens einen Moment inne, bevor er zu spielen beginnt. Die Partitur ist nicht nur im Kopf, vielmehr in den Fingern, den Händen, dem ganzen Körper. Keine Pause. Applaus. Verbeugungen. Kommentarlos setzt sich der Pianist für die nächste Klaviersonate an die Tastatur. Nach dreien, vieren oder fünfen Schlussapplaus und Bravos und nach zwei Applausauftritten spielt Igor Levit eine Zugabe.

Die Einzigartigkeit jeder Klaviersonate und ihre Beziehungen untereinander werden von Igor Levit herausgearbeitet. Keine klingt wie eine andere. Die Vielfalt wird zum Ereignis. Die Konzertreihe wird für mich eine Entdeckungsreise des Hörens in die immer wieder neuen Kombinationen und Kompositionen. Verästelungen, Verzweigungen, Abbrüche und Angriffen. Levit spielt mit äußerster Konzentration, Farbigkeit und atemberaubend schnellen Tempi, die z.B. auf Twitter kommentiert werden. Er zitiert scherzhaft in einem Post den Kommentar: „Wenn Igor Levit so schnell spielen kann, warum spielt er dann keine E-Gitarre?“ Er hat Humor und spielt das Adagio cantabile der Sonate Nr. 8 c-Moll op. 13 so berückend intensiv, dass mir beim letzten Ton des Themas die Tränen in die Augen schießen. Nicht nur einmal. Warum? Das passiert im vierten der 8 Konzerte bei der letzten Sonate und sonst bislang nicht wieder. Lässt sich das erklären? Liegt es an einem unerhörten Timing und dem Nachdruck des Anschlags?

Igor Levit ist seit der Veröffentlichung der Einspielung der 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven im September 2019 ein Medienstar. Nicht, dass er vorher nicht gespielt und Alben herausgebracht hätte, aber die ca. 12 Stunden Musik der Klaviersonaten wurden sein Durchbruch. Im Oktober 2015 veröffentlichte er bereits bei Sony Classical die Goldberg Variationen von Bach, die Diabelli Variationen von Beethoven und von Frederic Rzewski The People United Will Never Be Defeated. Vielleicht hat er damit sogar das Rzewski-Revival angestoßen, das am 22. März 2019 mit dem Auftritt des 80jährigen Pianisten und Komponisten beim Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK seinen Höhepunkt fand.[1] Doch Levit blieb unter dem Medienradar. Zwischenzeitlich und insbesondere durch die 52 Hauskonzerte auf Twitter, die am 11. September teilweise auf der neuen CD Encounter erschienen sind, ist Levit so bekannt, dass er am gleichen Abend in die NDR Talkshow 3nach9 zum Interview mit Barbara Schöneberger eingeladen wurde. Er ist eloquent, witzig und engagiert. Doch wenn er auf dem Konzertpodium am Flügel sitzt, betreibt er seine „Arbeit“, wie er es nennt, mit höchster Konzentration allein.

Was passiert mit mir, wenn ich Igor Levit die Sonaten für Klavier spielen höre? Da ich sie nicht selbst spielen kann und auch nicht die Partitur auf dem Schoß während des Vortrags lese, muss ich mich im Hören sozusagen seinem Spiel und seiner Interpretation anvertrauen. Vielleicht ist dieses Vertrauen viel wichtiger als jede Kennerschaft von Partitur, Beethoven-Biographien, musikwissenschaftlichen Einordnungen und Vergleichen mit anderen Interpreten. Es geht um ca. 12 Stunden Vertrauen. Es wäre schon eine größere Aufgabe mehrere Interpreten im Vergleich zu hören, um sie zu bewerten. Viel geübte Praxis im Musikjournalismus, wie es Eleonore Büning im Gespräch mit Igor Levit selbst anspricht, um ihm dann doch einen mitzugeben, indem sie sagt, sie habe seine Version nicht im Radio gespielt. Zu einer gewissen Zeit habe ich das mit einem Geliebten zu Wagner Einspielungen verschiedener Opern mit unterschiedlichen Dirigenten und Sänger*innen gemacht. Die unterschiedlichen Aufnahmen wurden aus dem Schallplattenregal geholt. Es lief damals darauf hinaus, zu entscheiden, welcher Interpret der Intention Richard Wagners am gerechtesten geworden sei. Als Maßstab wurde nach der Werktreue gesucht.

Was heißt Werktreue bei Beethoven, der seine Kompositionen als Virtuose selbst vortrug? Gibt es eine Werktreue bei den Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven? Werktreue hieße, zu behaupten, dass der Interpret wüsste, was Beethoven beim Spielen und Komponieren dachte. Das wäre eine Fiktion, die einer totalitären Geste gleichkommt. Sie ist weiterhin im Umlauf. Ende der 80er Jahre organisierte der Politikwissenschaftler Udo Bermbach an der Universität Hamburg eine Ringvorlesung zum Ring des Nibelungen von Richard Wagner. Der Dirigent Gerd Albrecht brachte Pierre Boulez gegen Wilhelm Furtwängler mit Klangbeispielen in Stellung. Zumindest gehörte der damals noch von Wagnerianern hoch verehrte Furtwängler nicht zu Gerd Albrechts Favoriten. Igor Levit maßt sich nicht an zu wissen, was Beethoven gedacht haben könnte. Auch das Abmessen der Tempi mit dem Metronom wird nicht zu seiner Arbeits- und Spielpraxis gehören.[2] Levit geht es um Glaubwürdigkeit bei seinem Spiel, wie er es in einem Interview formuliert hat, um den von ihm abgelehnten Begriff „Seelenfaschist“ zu erläutern:
„Ich habe eine Information in den Noten, und ich versuche, sie zu verstehen. Ich versuche, die notierte Information zu erfüllen – nach bestem Wissen und Gewissen, wie man in Berlin sagt. Aber ich bin es, der versucht, sie zu erfüllen. Ich weiß nicht, wie Beethoven klang. Glaubwürdig kann ich nur von mir erzählen und meinen Zustand da hineintun. Und der war gestern ein anderer als heute und wird morgen wieder ein anderer sein.“[3]

Das Musikwissen spielt eine prekäre Rolle beim Hören. Im Unterschied zu den Kämpfen der 80er Jahre in Interpretationsfragen nehmen diese heute nur noch bei Philistern eine wichtige Funktion ein. Das lange 19. Jahrhundert insbesondere in der Musik und dem Musikverständnis, das bisweilen an normativen Interpretationen der Sonaten sich anschickt wiederzukehren, spielt für Igor Levit offenbar keine entscheidende Rolle. Levit spielte nicht zuletzt die Sonate Nr. 8 mit einem gänzlich anderen Gestus, als es 1923 Richard Hohenemser in der Zeitschrift Die Musik mit der „»Sonate pathétique« … als ein Gipfel gerade hinsichtlich des Pathos, d. h. in diesem Falle der leidenschaftlichen Erregtheit, die namentlich aus ihrem ersten Satz spricht,“ hören wollte.[4] Er hörte das Pathos vor allem im ersten Satz und stellte ihm das aus Luigi Cherubinis Oper Medea mit einem Notenauszug gegenüber. Beweisen konnte er nicht, dass Beethoven die Noten von Cherubini gekannt hatte. Und für den Zweiten Satz urteilte er gar, dass er „mit »Medea« nichts tun“ habe.[5] Gibt es also kein Pathos im Zweiten Satz? Was macht es dann, dass ich gerade im Zweiten Satz ergriffen werde. Das Ergriffenwerden hat sich anscheinend nach dem griechischen πάθος páthos „Erlebnis, Leiden(schaft)“ verändert.    

Igor Levit spricht letztlich von einer Einmaligkeit des Klavierspielens im Konzert. Diese lässt sich schlecht mit Worten festlegen. Entgegen der Regel spielte Levit im zweiten Konzert 5 Sonaten mit Widmungen an Gräfin Therese von Brunswik, Gräfin Babette von Keglevics, Baronin Josephine von Braun und Erzherzog Rudolph von Österreich. Die Sonaten Nr. 24 und Nr. 26 rahmen quasi die früheren Nr. 4 , Nr. 9 und Nr. 10. Insofern die Sonate Nr. 24 von 1809 und die Nr. 26 von 1809/1810 stammen liegt zwischen den früheren und den späteren Sonaten das einschneidende Ereignis des Heiligenstädter Testaments von 1802, in dem Ludwig van Beethoven seinem Bruder von seiner zunehmenden Ertaubung berichtet.[6] 1809 kann Beethoven insofern weitaus weniger den Klang seiner Sonaten hören. Die Komposition der Musik erfolgt als schriftliche und imaginäre. – Als Zugabe spielte Igor Levit am 30. August das sehr poetische August Rosenbrunnen, das Malakoff Kowalski ihm gewidmet und zugeschickt hatte. Doch Levit sagte auch zur Einleitung, dass man den Titel gleich wieder vergessen könne. Levit will sich nicht auf narrative Titel, die gerade wie bei der sogenannten „Les Adieux“-Sonate (Nr. 26) erzählen, was für ihn beim Spielen nicht entscheidend ist.

Am Nachmittag des 19. September ab ca. 15:35 Uhr hatte sich Igor Levit soweit emporgearbeitet, dass er die Virtuosität und Verstörung der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 von 1817/1818 spielte. Die sogenannte „Hammerklaviersonate“ gehört zu den Gipfeln und Bruchstellen der Musikliteratur. Da diese Sonate als einzige metronomisiert ist, darf sie auch als ein Experiment mit neuen Techniken, die um 1815 in Wien und Paris entwickelt werden, gelten. 1816 eröffnete der deutsche Erfinder und Mechaniker Johann Nepomuk Mälzel in Paris eine Manufaktur für sein Metronom, das er sich 1815 hatte patentieren lassen. Für den ersten Satz Allegro gibt Beethoven in der Partitur eine Taktfrequenz von 138 nach Mälzels Metronom an, was für die Komposition als kaum spielbar gilt. Natürlich habe ich mit keinem Metronom in der Philharmonie gesessen, was ja auch gestört hätte. Doch Igor Levit spielte den Ersten Satz berauschend schnell. Kaum hat er begonnen, ist er auch schon zuende. Eine Art akustischer Blitz zerreißt die Stille im Konzertsaal. Der Vierte Satz – LargoAllegro risoluto – geht zeitlich und proportionell weit über die ersten drei Sätze hinaus. Levit spielt entschiedene Fermaten, die den vierten Satz auch verstörend machen. Es sind Abbrüche, Einbrüche, lassen den musikalischen Gedanken immer wieder neu ansetzen. Die rechte Hand zittert, wenn er das Spiel pausieren lassen muss. Zu einem neuen Ansatz wird angelegt.

Der fast vollständig ertaubte Beethoven spielt in der Partitur alle Möglichkeiten der Kombinationen aus. Virtuosität. Musikpraxis an der Schwelle zur Musiktheorie. Hat er sie selbst gespielt, obwohl er sie selbst mit seinen Ohren nicht, aber vielleicht mit seinem Körper hören konnte? Die Sonate Nr. 29 wird zu einer nicht nur kompositorischen Herausforderung, vielmehr eine psychische. Igor Levit baut hier eine ungeheure Spannung auf. Eine Bruchstelle in der Musikliteratur, die sich nicht wieder heilen lassen wird, weil Beethoven immer wieder auf die Fuge bei Bach anspielt. Levit liebt die Herausforderung und nennt die 29 seine Lieblingssonate, als er seine Zugabe ankündigt. Mit Eleonore Büning hat sich Levit über die Klaviersonaten von Beethoven im Rahmen des Musikfestes vorab unterhalten. Die vier Videos sind bis 23. September noch auf der On-Demand-Seite des Musikfestes verfügbar. Beethoven spiele in der Nr. 29 mit seinen „Muskeln“. – Wir wissen nicht, wie welche „Muskeln“ bei Beethoven ausgebildet waren. Da er selbst als Klavier-Virtuose auftrat, wird seine Hand- und Armmuskulatur sicher entsprechend ausgebildet gewesen sein. Igor Levits Vortrag der „Hammerklaviersonate“ wurde jedenfalls mit Bravos und Standing Ovations gefeiert.

Männlichkeit bzw. Muskeln und Melancholie verraten im Gespräch von Eleonore Büning mit Igor Levit mehr über die kursierenden Diskurse als über die Musik des Komponisten. Das ist eine wichtige Beobachtung, die sich aus dem Interview der Musikjournalistin mit dem Pianisten resümieren lässt. War der Begriff der Melancholie für den Genie-Diskurs im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert unverzichtbar, um über Beethovens Musik zu sprechen und zu urteilen(!), so fällt dieser heute im musikjournalistischen Gespräch zugunsten der „Muskeln“ weg. Einfach ist nichts in keiner der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. Die Sonate Nr. 17, die sogenannte „Sturmsonate“ von 1802, die Levit am 8. September in der Philharmonie spielte, gehört wie die „Pathetique“ oder die „Mondschein“ zu jenen, die nicht nur eine Hitlistenbekanntheit der Musikradios erlangt, sondern auch häufig als Filmmusik verwendet werden. Levit beginnt mit einem sehr leisen Anschlag, aus dem, sozusagen, die musikalische Erlebniswelt von Gewitter und Gefühl entsteht. Mir kommt beim Hören in den Sinn, dass die Nr. 17 Wagners Nibelungen-Welt vorwegnimmt bzw. jener an Beethoven anknüpft. Die Sprache von Natur und Gefühl ist in der Musik indessen nicht Nachahmung, sondern Invention durch Kombination mit der Beethoven einen neuen Weg bahnt.

Von Anfang an gibt es in den Klaviersonaten bei Beethoven wie Levit einen Widerstand gegen die Melodie. Selbst die vermeintliche Mondscheinsonate spielt Igor Levit eher gegen als zur Melodie. Der anfängliche Widerstand, der Melodien zwar als Themen einführt, um sie sogleich durch heftige Zäsuren zu unterbrechen, zieht sich durch alle Klaviersonaten. Vielleicht ist das eine der wichtigsten Beobachtungen durch Igor Levit als Interpreten. Komponieren wird bei Beethoven zu einer Herausforderung an die Sonatenform. Mit der Nr. 29 wird sie am deutlichsten, ja, radikal in Richtung Variation überschritten. Das Wesen der Virtuosität liegt in der Überschreitung. Das kann als Melancholie oder als Muskeln gehört und aufgefasst werden. Dass erst 1836 Franz Liszt als ein neuer Typus der Virtuosität die Nr. 29 öffentlich spielte, sie sozusagen uraufführte, gibt auch einen Wink darauf, dass sich ihr Verständnis verändert hatte.[7] Die Überschreitung wird indessen durch die historische Figur Napoleon zu einer neuartigen Figur der Aneignung und des Bürgerlichen. Denn Napoleon ist ein neuartiger Bürgerkaiser, was ihn von den europäischen Herrscherdynastien wie den Habsburgern in Wien unterscheidet.

Der Widerstand gegen das Ordnungsprinzip der Melodie wird zu einem Versprechen der Freiheit. Ludwig van Beethoven nimmt sich anders als Haydn und Mozart von Anfang an die Freiheit, das Schema der Sonatenform durch einen zusätzlichen Satz nicht nur zu erweitern, sondern zu überschreiten. Das Musikwissen entwickelt sich nicht geschichtlich, vielmehr wird seit Beethoven mit einer Geschichtlichkeit gebrochen z. B. indem die Fuge zwar zitiert, aber ebenso wie die Sonatenform überschritten wird. Die Überschreitungen werden in den Kompositionen Ludwig van Beethovens zu einer Praxis des Komponierens. Sie ermöglichen vor allem, einen Fortschritt zur Freiheit in der Musik zu formulieren. Die vielfältigen Bezugnahmen auf Ludwig van Beethoven im 19. Jahrhundert lassen erahnen, dass er trotz der hartnäckigen Rede von der Melancholie mit den Überschreitungen als Praxis der Freiheit einen Nerv der Zeit getroffen hatte. In der Metronomisierung als neuartige Technik und Praxis kündigt sich, in der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 „Hammerklaviersonate“ nicht zuletzt die Industrialisierung als Freiheitsversprechen an.

Torsten Flüh        

Igor Levit spielt Beethoven
Musikfest Berlin digital 


[1] Vgl. Torsten Flüh: „Hören Sie das Geräusch?!“ Zum Programm und Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK festival für zeitfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 27, 2019 22:23.

[2] Zur Metronomisierung der Musik im 19. Jahrhundert siehe: Torsten Flüh: Texturen in der Musik. Das Sonderkonzert der Deutschen Oper und das Emerson String Quartet mit Barbara Hannigan beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 16, 2015 20:52.

[3] Christina Bylow und Christian Seidl: Igor Levit: „Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie zu fühlen haben“. In: Berliner Zeitung vom 6.9.2020 – 11:25.

[4] Richard Hohenemser: Zu Beethovens „Sonate pathétique. In: Die Musik, Jg. 15.2 (Juni 1923), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 655.

[5] Ebenda 657.

[6] Zur Taubheit bei Beethoven: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[7] Zu Franz Liszt in Paris siehe auch: Torsten Flüh: Ein europäischer Klangroman. Zu Volker Hagedorns furiosem Roman Der Klang von Paris. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Mai 2019.

Geisterkunst aus tiefem Grau zu intensiver Farbigkeit

Kino – Algorithmus – Geister  

Geisterkunst aus tiefem Grau zu intensiver Farbigkeit

Zur gefeierten Weltpremiere von Gerhard Richters und Corinna Belz‘ Moving Picture 946-3 mit Live-Musik von Rebecca Saunders

Die Weltpremiere von Gerhard Richters und Corinna Belz‘ Moving Picture 946-3 mit Live-Musik von Rebecca Saunders in der Reithalle der Karlskaserne am 12. Juni 2020 bei den Schloss Festspielen Ludwigsburg musste wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt werden. Nun fand sie am 14. September im Zoo Palast im Rahmen des Musikfestes Berlin statt. Vom 31. August bis 8. September 2019 war die erste Version der zusammen erarbeiteten audiovisuellen Collage im Kiyomizu-dera – 清水寺 – Tempel in Kyoto gezeigt worden. Aus unzähligen Farbstreifen wurde nach sechsjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit, einem von Gerhard Richter erprobten mathematischen Prinzip folgend[1], ein Bewegungsbild mit Mustern gezeigt, das Rebecca Saunders mit und für den Trompeter Marco Blaauw als Material dient.

Bevor die visuellen wie akustischen Farbexplosionen einsetzen, wurde ganz in Grau Ghost Trio (1975/1976) von Samuel Beckett in der Produktion des Süddeutschen Rundfunks gezeigt. Samuel Beckett führte selbst Regie und experimentierte nicht zuletzt mit dem Grau des Schwarz/Weiß-Fernsehens. Aus dem einheitlichen Grau werden nach und nach in einem Raum geisterhaft eine Liege, eine Tür, ein Fenster, ein Hocker mit einer Gestalt per Kamerafahrten herangezoomt. Fetzen des zum Teil beim Heran- und Herauszoomen bearbeiteten Klaviertrios D-Dur von Ludwig van Beethoven, genannt nach Carl Czerny „Geistertrio“, werden hörbar. Obwohl das restaurierte Kino Zoo Palast von 1956/1957 erbaut wurde, gab eines der Hauptkinos der Berlinale mit seinem roten Samtvorhang den perfekten Rahmen für Samuel Beckett, Gerhard Richter, Corinna Belz, Rebecca Saunders und den in Rot gekleideten Trompeter Marco Blaauw. Stürmischer Schlussapplaus!

Die Geister und das Geistige werden von Samuel Beckett anders in Szene gesetzt, als es Carl Czerny 1842 in Anknüpfung an die Erscheinung des Geistes in William Shakespeares Hamlet imaginierte und in der Musik mit Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke normierend hören wollte: „Der Charakter dieses sehr langsam vorzutragenden Largo ist geisterhaft schauerlich, gleich einer Erscheinung aus der Unterwelt“.[2] In der deutschen Version des Stückes von Samuel Beckett kommen alle Erscheinungen aus einem gleichmachenden Grau hervor. Die Stimme im Off spricht zunächst vom Grau und der Liege, der Tür rechts und dem Fenster am Ende des Raumes, bevor diese überhaupt sichtbar werden. Das unterscheidet die im Netz kursierende Version von Ghost Trio des BBC von 1977, bei der Donald McWinnie unter der Anleitung von Beckett Regie geführt hatte.[3] Insofern wurde mit Ghost Trio in der SDR-Fassung eine echte Rarität, die das Internet noch nicht kennt, gezeigt.

Die Geistertrio-Version vom Mai 1977 wird insofern bedenkenswert, als sie das Medium Fernsehen technisch sehr viel ausgefeilter nutzt und abstrakter wirkt. Der Mann, der wartet und eine Zeitung liest, wie es in einer ersten Skizze heißt, wird nunmehr eine Gestalt mit überlangem, pelzigem Haar, die auf einem Hocker vornübergebeugt sitzt und ihren Kopf auf einen Gegenstand gelegt hat, der ein Buch oder ein Kasten sein könnte. Die Kamera muss sich mehrfach auf die Gestalt zubewegen, bei der erst im Bereich einer Naheinstellung Takte aus dem 2. Satz des Klaviertrios hörbar, doch nie ganz präsent werden. Erst als die Gestalt am Kopfende einer grauen Liege oder Pritsche an die Wand schaut, erscheint im Gegenschnitt das fleischige Gesicht eine Mannes. Der Schauspieler Klaus Herm war bei den Aufnahmen ca. 52 Jahre alt, wurde aber auf ein unschätzbares Alter geschminkt. Er bewegt sich auf sehr langsame Weise, so dass er ebenfalls ein Geist sein könnte.
„A man is waiting, reading a newspaper, looking out of the window, etc., seen first at distance, then again in close-up, and the close-up forces a very intense kind of intimacy. His face, gestures, little sounds. Tired of waiting he ends up getting into bed. The close-up enters into the bed. No words or very few. Perhaps just a few murmurs.“[4]

Der graue Raum wird nicht nur zu einem der Geistererscheinungen, vielmehr nannte Samuel Beckett erst kurz vor Produktionsbeginn von Tryst um in Ghost Trio.[5] Tryst wird im Englischen auch für Rendezvous oder als ein Ort des Wartens auf einen Spuk gebraucht.[6] Dementsprechend wird fraglich, ob Beckett während des Schreibens bereits an das Klaviertrio D-Dur von Beethoven dachte oder diese Bezugnahme erst während der Produktion im Studio entstand. Die SDR-Produktion nutzt die technischen Möglichkeiten des Fernsehens, der Unschärfe, Kamerafahrten und Klangregie auf virtuose Weise. Denn erst durch diese werden die Fetzen aus dem Klaviertrio geisterhaft und überschneiden sich zugleich mit einem Musikwissen, das einen gespenstischen Zug bekommt. Die besondere und durchaus filmische Intimität mit dem Wesen stellt sich umso mehr ein, als von ihm die Musik ausgeht. Klingt sie in ihm? Hört sie die Musik? Oder kommt sie aus ihm? –  Beckett lässt diese Fragen auf gespenstische Weise offen.     

Foto: Monika Karczmarczyk

Gespenstisch hatte der Abend bereits mit Not I von Samuel Beckett begonnen. In extremer Naheinstellung spricht die Schauspielerin Billie Whitelaw in der Regie von Anthony Page hektisch den Beckett-Text. Not I von 1973 ist auf YouTube mit einer Einführung der Schauspielerin vorhanden. Der Mund und das Sprechen wirken von einer Person, einem Subjekt abgetrennt. Der Mund spricht von selbst und wird zum Gespenst. Die Fernsehproduktion von BBC London und RM Productions London erlaubt allererst die Inszenierung von Not I, der auf dem Theater nicht mit vergleichbarer Irritation gesprochen werden könnte. Indem der gespenstische Mund auf ein Mädchen einredet, könnte die Imagination einer inneren Stimme entstehen. Inszeniert wird darüberhinaus die Sprache ohne Subjekt, die ein Mädchen atemlos zwingt, in die Welt zu gehen.
„MOUTH: . . . . out . . . into this world . . . this world . . . tiny little thing . . . before its time . . . in a godfor– . . . what? . . girl? . . yes . . . tiny little girl . . . into this . . . out into this . . . before her time . . . godforsaken hole called . . . called . . . no matter . . . parents unknown . . . unheard of . . . he having vanished . . . thin air . . . no sooner buttoned up his breeches . . . she similarly . . . eight months later . . . almost to the tick . . . so no love . . . spared that . . . no love such as normally vented on the . . . speechless infant . . . in the home . . . no . . . nor indeed for that matter any of any kind . . . no love of any kind . . . at any subsequent stage . . . so typical affair . . . nothing of any note till coming up to sixty when– . . . what? . . seventy?. . good God! . .“

Foto: Monika Karczmarczyk

Rebecca Saunders Musik für Moving Picture 946-3 ist nicht zuletzt 2019 im Kiyomizu-dera-Tempel in Kyoto entstanden. Der weltberühmte, buddhistische Tempel des Reinen Wassers ist dem Geist bzw. der buddhistischen Gottheit Kannon in den Bergen über Kyoto gewidmet.[7] In den Darstellungen des Tempels bleibt die Gottheit indessen unsichtbar, während ein Eremit und der Tempelgründer auf Bildrollen dargestellt wurden. Wahrscheinlich bekommt Kannon eine eher animistische Gegenwart in der den Tempel umgebenden Natur, womit eine japanische Transformation des buddhistischen Gottes in einen animistischen Kami 神 vorliegen dürfte.[8] Doch so detailliert erklärt es nicht einmal der Tempelorden auf seiner Website. Die Kyoto-Version Moving Picture 946-3 nimmt insofern Bezug auf ein japanisch-buddhistisches Geist- und Geisternarrativ. Der Film nimmt mit seinen Farben, die zu Beginn an gemischte, übereinander geordnete Spektralfarben erinnern können, Bezug auf die buddhistische Lehre von den Erscheinungen und der Leere.

Foto: Monika Karczmarczyk

Marco Blaauw gibt links vor der riesigen Leinwand des großen Kinos im Zoo Palast das Zeichen, dass der Film gestartet wird. Die Farbstreifen erscheinen waagerecht auf der Leinwand, zeitlich genau abgestimmt bläst Blaauw seinen ersten Ton auf seiner gestopften Doppel-Trichter-Trompete. Durch den zweiten Trichter bekommt der Ton zugleich eine weitere Färbung. Sebastian Schottke regelt am Regiepult den Klang, der sich zugleich einer Einordnung entzieht. Die Farbstreifen haben sich in die Senkrechte zu sich permanent bewegenden Farbmustern transformiert. Rebecca Saunders Musik ist an den 30.000 Einzelbildern des 37-minütigen Films orientiert. Ein Bild pro Sekunde wären 2.220, bei 30.000 kommt man auf 13,5 Bilder pro Sekunde. Die Farbmuster können für den Blick als Tier- oder Menschengestalten für Bruchteile von Sekunden zwischen indisch-hinduistischer Malerei und europäischem Symbolismus sichtbar werden. – Es sind übrigens jene Muster, wie sie Gerhard Richter für die drei Chorfenster des Kloster Troley im Saarland ausgewählt hat. – Doch dann sind sie schon wieder im Farbmuster verschwunden. Aus den Farben steigen Geister und Geistiges, Gottheiten indisch auf. Überschneidungen, Wiederholungen, Überblendungen. In der Musik entstehen Echos und Überlagerungen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Kinematographie als Kombination des Films mit der Live-Musik vermag zu berauschen und zu begeistern. Die Musik trägt zweifellos dazu bei, was sichtbar wird. Sie basiert auf einem von Gerhard Richter erprobten mathematischen Prinzip. Ce Christina Jian hat beispielsweise formuliert, dass „gerade die für ihre agnostische Leere bekannten Abstrakten Bilder (von Gerhard Richter, T.F.), die auf vielen Ebenen ein Resonanzverhältnis zu wissenschaftlichen Visualisierungstechniken aufweisen, ohne direkten Bezug auf sie zu nehmen“. „Maßgeblich“ sei „für diese Analogie (…) Richters Konzept der Bildschöpfung und die daraus erwachsenden Qualitäten der Bildstruktur, die wiederum besondere Anforderungen an Wahrnehmung und Deutung dieser Werke stellen.“[9] Anders gesagt: Richter verwendet ein mathematisches Prinzip, das einem Algorithmus gleichkommt, um (k)ein Wissen anzusprechen und Leere herzustellen. Rebecca Saunders knüpft auditiv mit Marco Blaauw daran an.

Torsten Flüh

Rebecca Saunders beim
Musikfest Berlin 2020
Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker
Enno Poppe, Leitung
Saunders | Djordjević | Poppe
22.09.2020 20:00 Uhr


[1] Siehe: Schlossfestspiele: Moving Picture 946-3. 12. Juni 2020.

[2] Carl Czerny: Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke. Wien, 1842. (Reprint hrsg. von Paul Badura-Skoda, 1963) S. 99.

[3] Siehe YouTube: Samuel Beckett „Ghost Trio“. (YouTube)

[4] Französisch von Josette Hayden (7 January 1968) übersetzt von James Knowlson und zitiert in James Knowlson: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett. London: Bloomsbury, 1996, S. 555.

[5] Michael Maier: Geistertrio: Beethoven’s Music in Samuel Beckett’s Ghost Trio. In: Samuel Beckett Today/Aujourd’hui, Samuel Beckett in the Year 2000. S. 268-269.

[6] Wiktionary: tryst.

[7] Kiyomizu-dera: Kannon Reijo: Why the temple is sacred. https://www.kiyomizudera.or.jp/en/learn/

[8] Zum Diskurs des Kamis siehe auch: Torsten Flüh: Berberi. Robert Kochs Reise um die Welt. Kindle, 2012.

[9] Ce Christina Jian: Erkenntnis als Zweifel. Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter. In: all-over. Magazin für Kunst und Ästhetik. October 2012.