Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung

Philosophie – Zigarettenrauch – Theorie

Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung

Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus

Auf dem Plakat zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum raucht sie eine Zigarette. Der Zigarettenrauch kräuselt sich in Kringeln von der Zigarette. Hannah Arendt schaut nach oben. Zwischen ihren Lippen entweicht ein feiner Rauchstrahl. Das Zigarettenrauchen, das aktuell wegen des Sars-Cov-19-Virus als besonders schädlich für die Lunge gilt – eine Wissensformation –, gehörte zur Haltung der Politischen Theorie. Im Gespräch mit Günter Gaus aus der ZDF-Reihe Zur Person vom 28. Oktober 1964 rauchen beide mehrere Zigaretten auf durchaus unterschiedliche Weise. Als Titelmusik für die Reihe diente beziehungsreich Ludwig van Beethovens Musik zu einem Ritterballett. Im Nachhinein sprach Günter Gaus davon, dass es „das beste Gespräch“ gewesen sei, dass er je geführt habe.

Hannah Arendts Politische Theorie wird im Gespräch von ihr in Abgrenzung zur (männlichen) Philosophie formuliert. Günter Gaus führte zwischen dem 10. April 1963 und dem 8. März 2004 dreiundfünfzig Gespräche mit Politiker*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen. Hannah Arendt war der 17. Gast und die erste Frau. 1929 geboren war für den jungen, doch nicht unerfahrenen Journalisten Gaus Hannah Arendt eine intellektuelle Herausforderung. 1963 geht es für Gaus zunächst um eine Einordnung seiner Gesprächspartnerin als Philosophin und Frau. Die geschlechtliche Einordnung misslingt Gaus nicht zuletzt mit seiner Eröffnungsfrage bei einer Art Raucher*induell. Das Zigarettenrauchen während des Interviews lässt sich in der Retrospektive als eine Art Signatur des 20. Jahrhunderts lesen. Was verrät das Rauchen über Hannah Arendt und die Politische Theorie?

Für die Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert ist zunächst einmal festzustellen, dass sie im Verhältnis zur John Heartfield-Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz und zur Beethoven-Ausstellung der Staatsbibliothek im Standort Unter den Linden online rudimentär ausfällt. Hannah Arendt hätten die Möglichkeiten der Darstellung im Internet gewiss interessiert, obwohl oder auch weil sie im Zeitalter der mechanischen Schreibmaschine und des Zigarettenrauchs publizierte. Ihre Offenheit gegenüber den technischen Publikationsmöglichkeit ihrer Zeit lässt sich durchaus im legendären Gespräch mit Günter Gaus aufspüren. Auf YouTube gibt es immerhin einen ArendtKanal, dessen Ausgangsmaterial wiederum Zur Person ist. Das Gespräch ist transkribiert worden und auf rbb-online verfügbar. Doch der Zigarettenrauch lässt sich nicht transkribieren.

Rauchen und Denken gehörten nach Monika Boll als Kuratorin zusammen, weshalb das Zigarettenetui in der Ausstellung gezeigt wird. „Bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten durften Zigaretten nicht fehlen. In der Ausstellung ist ihr silbernes Zigarettenetui zu sehen, das sie immer in ihrer Handtasche dabei oder auf dem Schreibtisch liegen hatte. »Das war für sie wie die Aktentasche auch ein Arbeitsutensil. Das Rauchen, das Inhalieren und Ausrauchen gehört zum Fassen der Gedanken dazu«, erklärt Kuratorin Dr. Monika Boll.“[1] Wie lässt sich das Rauchen im Interview mit Günter Gaus genauer beschreiben? Auch in dem Film Hannah Arendt (2012) von Margarethe von Trotta raucht Barbara Sukowa in der Titelrolle häufig. Doch in keinem Dokument raucht sie so engagiert und politisch wie in Zur Person.

Wird der Intellekt durch das Rauchen und den Zigarettenrauch dargestellt? War rauchen eine intellektuelle Tätigkeit des 20. Jahrhundert? Nach einer Studie der University of Tel Aviv und des israelischen Krankenhauses Chaim Sheba Medical Center von 2010 haben junge Raucher „offenbar einen niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ) als nichtrauchende Geschlechts- und Altersgenossen“ vermeldete die Ärzte Zeitung.[2] Das dürfte in einer historischen Perspektive für das 20. Jahrhundert als überraschend gelten. Denn nicht nur Günter Gaus und Hannah Arendt, deren Intelligenz unbestreitbar war, rauchten um die Mitte des 20. Jahrhunderts gesellig um die Wette. Noch zwischen 2007 und 2018 trafen sich Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt „auf eine Zigarette“, um geistvolle, oft ironisch gefärbte Gespräche über das Weltgeschehen zu führen.[3] Erst recht trug sich in der Revolution der 68er unter starkem Einfluss von Zigaretten- und anderem Rauch manche systemverändernde Diskussion zu. Noch im Februar 2019 bedauerte Nils Markwardt im Philosophie Magazin der ZEIT, dass „mit dem Rauchen (…) eine philosophische Alltagsübung verloren“ gehe.[4] Markwardt führt nicht zuletzt den Philosophen des Existenzialismus, Jean-Pau Sartre, als Kronzeugen an. Die Wahrnehmung als „Weltaneignung“ eines „unerwartete(n) Ereignis(ses)“ sollte unter Rauch geschehen:
„Wie Jean-Paul Sartre bemerkte, ist sie (die Weltaneignung, T.F.) nämlich auch ein Mittel der Weltaneignung. „Jedes unerwartete Ereignis“, schrieb der französische Denker in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts, „das meine Augen träfe, war, so schien mir, grundlegend verarmt, sobald ich ihm nicht mehr rauchend entgegentreten konnte. Rauchend-von-mir-aufgenommen-werden-können: diese konkrete Qualität hatte sich universell auf den Dingen ausgebreitet.“ Und jeder, der selbst einmal geraucht hat, weiß tatsächlich allzu gut, dass Bilder, Musik oder Gefühle sich während des kontemplativen Rauchens, vielleicht die konzentrierteste Form der inneren Einkehr, stärker ins Gedächtnis einbrennen können als unter bloßer Frischluftzufuhr.“[5]

Das Rauchen als Praxis der „Weltaneignung“ durch Anreicherung oder Intensivierung des unerwarteten Ereignisses wird zur Selbstvergewisserung der Existenz. Eine bessere Werbung für das Rauchen für intellektuelle Köpfe hätte es kaum geben können. „Mir raucht der Kopf“, beschreibt umgangssprachlich eine hohe Intensität und gewisse Eigendynamik des Denkens im Deutschen. Als Schriftstellerin mit dem Männerpseudonym Georges Sand karikierte sich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil in einer Tintenzeichnung selbst, obwohl sie auf keinem Portrait mit einer Zigarette gemalt wurde. Rauchen war wenigstens bis in das 19. Jahrhundert eine den Männern vorbehaltene Tätigkeit. In der Novelle Carmen von Prosper Mérimée raucht Titelheldin als Arbeiterin einer andalusischen Tabakfabrik seit 1847. Doch das waren Ausnahmen. Erst im 20. Jahrhundert wird das Rauchen für die Frau zu einer verbreiten Selbstpraxis. Das Deutsche Historische Museum gibt im Bereich Die neue Frau nicht nur einen Hinweis auf „Bubikopf, Zigaretten aufgesteckt im Spitz und knielange Röcke“ als eine „neuartige() Massenkultur“, stellvertretend wird auch die Zigarettenwerbung „Leichte Regatta“ aus der Zeit um 1930 abgebildet.[6] Das 20. Jahrhundert war eines voller Zigarettenrauch. Die letzte Zigarette, die Zigarette danach, auf eine Zigarettenlänge, die Zigarettenpause etc. waren nur einige, sagen wir ruhig, biopolitische Formulierungen. Unter der Biopolitik der Gesundheitsratgeber und Gesundheitskassen droht eine ganze Zigarettenwelt zu verschwinden. Denken und miteinander sprechen wird ohne Zigarette ein anderes werden.

Wir wissen nicht, wann Hannah Arendt begann, Zigaretten zu rauchen. Wir wissen auch nicht, ob Hannah Arendt von George Sand gelesen oder gehört hatte. Vielleicht hatte sie einfach irgendwann die Selbstpraxis des Zigarettenrauchens übernommen. Rein historisch zieht das Bild der „neuen Frau“ der Zwanziger bis frühen Dreißiger Jahre als Zigarettenrauchfahne durch den Raum. Rauchte sie eine bestimmte Zigarettenmarke? Hat sie eine Sprache des Rauchens entwickelt? In Zur Person raucht sie auf sehr verschiedene Arten. Sie nimmt Haltungen ein, die man wahlweise als nonchalant oder lässig bezeichnen könnte. Phasenweise raucht sie kaum und hält die Zigarette nur zwischen Zeige- und Mittelfinger. Dann gibt es ein oder zwei hastige Züge, als müsste eine Verärgerung abgeleitet werden. Zweimal stößt sie den Zigarettenrauch durch beide Nasenlöcher aus, als setze sie zu einer Art Gegenangriff auf eine Frage von Gaus an. Sie denkt, was sie als nächstes sagen wird. Wieweit waren Gaus‘ Fragen vorher abgestimmt? Kamen seine wohlformulierten Fragen vom Zettel? Wie zündet sich Hannah Arendt eine Zigarette an, während Günter Gaus seine Frage stellt?   

Hannah Arendt hat wiederholt Gedanken zum Verhältnis von Intellektualität und Denken formuliert. Im Gespräch mit Günter Gaus spricht sie von einem Erfahrungswissen mit der Intellektualität, das sich in kürzester Zeit gleichschalten lasse. Dieser, wie sie es nennt, „Beruf“ der Intellektualität wird als eine Wissenspraxis von ihr beschrieben und verworfen. Intellektualität nutzt und benutzt Wissensformationen, um, sagen wir ruhig, ohne Nachdenken gleiches Wissen anzunehmen. Das was eine Mehrheit meint zu wissen, wird als eigenes, oft Karriere förderndes Wissen angenommen. Sie distanziert sich im höchsten Maße von Intellektualität als einem Wissen des Richtigen und Erfolgversprechenden. Denn es ging ab 1933 nicht zuletzt um intellektuelle Karrieren im Staatsapparat, Akademien und Universitäten.
„… Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, daß deutsche Juden und deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen. Ich spreche in der Vergangenheit. Ich weiß heute mehr darüber …“[7]

Schon zuvor hatte Gaus sie nach dem Bewusstwerden ihrer „intellektuellen Begabung“ statt der Intelligenz gefragt. Die „intellektuelle Begabung“ wird von Arendt mit ihrer Herkunft beantwortet, in der es eine Bibliothek gab. Arendt verwirft auch das Intellektuelle wie die Begabung. Sie habe das „nie mit der Begabung gekoppelt“. Wurde es denn zu ihrer Zeit verkoppelt? Und wenn, dann wie? Gerade in den Wissensbereichen von Intelligenz und Begabung, wie sie seit der Zeit um 1900 in der Psychologie und Pädagogik z.B. von William Stern mit „Höheren Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher“ in dem Buch Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese 1918 entwickelt worden waren[8], hält Hannah Arendt dagegen, weil sie auf eine Nachträglichkeit des Wissens bestehe. Erst im Nachhinein sei ihr bewusst geworden, dass eine Bibliothek wie die ihrer Familie bzw. des Großvaters keine Normalität war. Begabung und Intelligenz wurden dagegen in der Psychologie, Pädagogik und der Arbeitsorganisation bereits frühzeitig gekoppelt worden. Gaus formuliert seine Frage mit großer Höflichkeit im kursierenden Wissen um die Begabung. Doch genau diese Form des Wissens lässt Arendt nicht zu. Wie Sterns bereits schwieriger Begriff der „Begabtenauslese“ anzeigt, führt die Begabung ein Wissen um Selektionsprozesse mit sich.

Hannah Arendt präferiert für sich die Begriffe Denken und Nachdenken. „Alles Denken ist Nachdenken. Der Sache nachdenken.“[9] Das macht einen Unterschied, weil das von ihr z.B. in den Heften oder „Denktagebücher(n)“ schon im Juli 1950 bedachte Verhältnis von Handeln und Denken anders funktioniert als die (messbare) Intelligenz oder die Intellektualität. Sie knüpft dafür an Heidegger an. In den Heften notiert sie nicht ihre Gedanken, vielmehr schreibt sie ihr Nachdenken. Sie exzerpiert kein Wissen, um es festzuhalten. Vielmehr wird das Wissen auch mit einem poetischen Zitat konterkariert.
„Handeln und Denken: Heidegger kann nur meinen, dass es auf der Selbigkeit von Seyn und Denken beruht, und zwar dann, wenn Denken als das Sein des Menschen verstanden wird im Sinne des Seyns von Sein. Denken wäre dann das im Menschen zum Handeln befreite Seyn. Denken ist hier weder Spekulation noch Kontemplation noch »cogitare«. Es ist eher die vollendete Konzentration oder das, wodurch und worin sich alle anderen »Fähigkeiten« konzentrieren, die absolute Wachheit.
»Why did I wake since waking I shall never sleep again?«“[10]

Dass das Denken, das sei, „wodurch und worin sich alle anderen »Fähigkeiten« konzentrieren“, gibt einen Wink auf das Andenken. Angedacht wird von Hannah Arendt ein ebenso performatives wie praxeologisches Denken. Beim Schreibendenken stellt sich „die absolute Wachheit“ ein, die sogleich das englischsprachige Zitat vom Erwachen folgen lässt – „»Why did I wake since waking I shall never sleep again?«“ -. „Wachheit“ wird zum im Englischen mehrdeutigen „wake“, das daran erinnert, dass man niemals wieder wird schlafen können, wenn man einmal erwacht ist. „Denken als das Sein des Menschen“ spricht die Existenz an. Und es ist im Gespräch mit Günter Gaus als werde diese Art des Denken (mit Zigarette) vorgeführt. Günter Gaus bläst in zwei Einstellungen und Passagen den Zigarettenrauch gleich einem Strahl an Hannah Arendt vorbei. Sollte man das ein zielgerichtetes, telologisches Denken nennen? Doch der Rauchstrahl erfolgt nicht im Voraus, sondern quasi nachträglich. Sie macht das nie. In einigen Momenten könnte man daran denken, dass nicht sie die Zigarette hält, sondern sie sich an dieser festhält.

Die geschlechtliche Ordnung – Mann/Frau, Philosophie/Theorie – wird durch das Rauchen und die Gesten, durch die Performance von Hannah Arendt angegriffen. Sie benutzt wiederholt den Zeigefinger, um eine Pointe zu setzen, oder schaut auf ihre Fingernägel der rechten Hand, um widersprüchliche Erinnerungen anzudeuten. Der Blick auf die Fingernägel unterstreicht ein individuelles Erfahrungswissen, das mit einem Regelverstoß pointiert wird. Denn sie erzählt von der Emigration von Jugendlichen aus Deutschland über Frankreich nach Palästina Anfang der dreißiger Jahre. Doch um das geschlechtliche Wissen von der Nationalität zu unterlaufen, „schmuggelte“ Arendt polnische Kinder unter die deutschen. Was als kecke Anekdote formuliert und mit einer eigentümlichen Geste vorgeführt wird, gibt einen Wink auf eine theoretisch durchdachte Haltung zu Ordnungs- und Geschlechtermodellen. Es ist auch eine pointierte Herausforderung an das Denken und Nachdenken der Zuhörer*innen wie Zuschauer*innen, von denen Arendt sich nicht nur durch die mehr oder weniger verfehlenden Fragen des Journalisten Gaus ein Bild gemacht hat.
„Aus einer sehr frühen Zeit; ich habe damals einen sehr großen Respekt davor gehabt. Die Kinder empfingen eine Berufsausbildung, Umschulausbildung. Hier und da habe ich auch polnische Kinder untergeschmuggelt. Es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit.“[11]  

Das Gespräch ist nicht nur, weil die Kameras sich auf Arendt konzentrieren, eine große Performance. Aufgeführt wird kein Lebenslauf oder eine Geselligkeit, sondern ein Denken, das in Deutschland und im Deutschen Fernsehen bzw. dem Zweiten Deutschen Fernsehen aus Mainz wenigstens einzigartig, wenn nicht konträr war. Ludwig Erhard war am 16. Oktober nach der Ära Adenauer Bundeskanzler geworden. Erst am 10. April war in Lugano der ehemalige SS-Obersturmbannführer und KZ-Mitarbeiter von Adolf Eichmann Erich Rajakowitsch verhaftet worden. Das Wiener Landgericht verurteilte ihn 1965 zu einer skandalös geringen Haftstrafe von zweieinhalb Jahren. Der Bericht vom Eichmann Prozess in Jerusalem 1961, den Arndt geschrieben hatte, hatte zu heftigen Angriffen auf sie geführt, die sie noch immer sehr erregen. Die Frage nach den Reaktionen auf den Bericht vom Eichmann Prozess ruft bei Arndt heftige Reaktionen hervor, die sie zur Zigarette greifen und das Feuerzeug mit beiden Händen halten lässt, während sie die Zigarette mit einem tiefen Zug anzündet.

Sind Gefühle Denken? Wir wissen nicht, was Hannah Arendt fühlt und denkt, als sie im Kontext der Eichmann-Fragen zu einer weiteren Zigarette greift. In dem, was sie im Fernsehstudio mit Scheinwerfern von der Decke und Fernsehkameras sagt, bleibt sie kontrolliert, schlagfertig und politisch eigensinnig. Die beiden zeitgenössischen Wohnzimmersessel mit Synthetikbezug und schmalen, geschwungenen Armlehnen inszenieren eine funktionale Intimität und Behaglichkeit, die es nicht gibt. Später wird Arndt darauf Bezug nehmen, dass ihr Lehrer und Doktorvater Karl Jaspers vor dem Fernsehn sitzen könnte. Sie hat durchaus ein Gespür für die Medialität, in die sie sich mit dem Gespräch begeben hat. Denn bereits im März 1964 hatte sie mit Rolf Hochhuth für das Columbia Broadcasting System und das Creative Arts Television über dessen Stück Der Stellvertreter/The Deputy zum ersten Mal ein Gespräch im Fernsehen geführt. Sie war die Interviewerin und rauchte nicht. Dass Karl Jaspers sie im Fernsehn sehen und hören könnte, ist ihr auch ein wenig peinlich, obwohl erwünscht. – „Wo Jaspers hinkommt und spricht – ich hoffe er hört diese Sendung“[12] – Eine Peinlichkeit, die am Schluss nicht zuletzt an die Medialität und die Performativität des Sprechens erinnern soll und gleichzeitig daran erinnert, dass Arendt und Gaus eben nicht in einem Wohnzimmer zu zweit sitzen. Vielmehr möchte Gaus im Fernsehn den Skandal um das Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht der Banalität des Bösen, das im Piper-Verlag unter seinem Verlagsleiter, dem ehemaligen, zweifellos unerkannten SS-Obersturmbannführer aus der Abteilung Kultur und Kunst im verbrecherischen Reichssicherheitshauptamt Hans Rößner, erschienen und ab dem 17. September 1964 gewiss auf der 16. Internationalen Frankfurter Buchmesse präsentiert worden war, durch einige Informationen über dessen Autorin im Gespräch rahmen. Im Studio befinden sich mehrere Menschen, die z.B. das Glas mit Wasser nachschenken. Hannah Arendt erfuhr nie, mit wem sie es als Verlagsleiter zu tun hatte. Sie winkt im Gespräch der unsichtbaren Person freundlich zu. Denken und Rauchen werden durch ein Glas ergänzt. Da Günter Gaus freundlich und ruhig seine Fragen mit einem Hannoverischen Akzent auf St stellt, entsteht häufig eine Schere zwischen der journalistischen Schärfe seiner Fragen und der gelassenen Wohnzimmeratmosphäre. Doch Hannah Arendt macht das journalistische Ereignis zu einem kleinen Colloquium mit Gaus und den Deutschen, wenigstens den Zuschauern des ZDF.

Die Aufzeichnung von Zur Person wird heute oft in Einzelteile thematisch zerschnitten. Doch Hannah Arendts Antworten formulieren auf unterschiedlichen Ebenen kein abgeschlossenes Wissen, mit dem man sozusagen nach Hause gehen könnte. Sie ist nicht zuletzt rhetorisch geübt, so dass sie ein gewisses Repertoire rhetorischer Figuren abrufen kann. Sie verweist nicht umsonst auf „einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte“, der sich „immer irgendwie im Hinterkopf“ bewege. Was beiläufig als Illustration ihres Verhältnisses zur deutschen Sprache formuliert wird, gibt zugleich einen Wink auf das Denken und wie es von Arndt gesagt wird. Ihre Formulierungen haben immer auch ein poetologisches Reservoir. Und wo wäre die Sprache vieldeutiger als in der Poesie? Das vereitelt indessen eine begriffliche Festlegung. Da Arndt ausgerechnet bei dieser Antwort auf eine englische Redewendung – „in the back of my mind“ – verfällt, gelten die Gedichte auch für ihr Schreiben in Englisch.
„Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nicht erlauben würde. Das heißt, manchmal erlaube ich sie mir jetzt auch schon im Englischen, weil ich halt frech geworden bin, aber im allgemeinen habe ich diese Distanz behalten. Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, was geblieben ist, und was ich auch bewußt immer gehalten habe.“[13]

Hannah Arendt verlässt sich auf keinen akademischen Konsens, vielmehr ist sie „frech geworden“ und bringt ihm wie der Intellektualität allergrößte Kritik durch rhetorische Figuren entgegen. Das Frechsein hat Folgen für den Konsens als vorherrschenden Diskurs. Sie gebraucht Begriffe wie schmuggeln, Pappenstiel, Propagandagewäsch oder frech, die in keinen akademischen Rahmen oder Akademismus passen. Sie hält die Zigaretten auf verschiedene Arten, so dass sie sie sogar einmal zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger an die Lippen führt. Sie pafft. Sie inhaliert. Sie schnaubt. Sie saugt. Sie schmaucht und zieht. Das sind nicht unbedingt gebildete, prätentiöse Arten des Rauchens. Sie geben ihr schon fast einen proletarischen, allemal aber subversiven Hauch. Während sich die deutschen Akademikerfrauen auf die Lockenwickler und Dauerwelle sozusagen eingeschossen haben, ist ihre Frisur schwer zu beschreiben. Sie trägt für den großen Auftritt im Fernsehen gerade keine ondulierte Frisur wie Barbara Sukowa als Hannah Arendt. Die fast schon helmartige Haartracht kleidet eine eigensinnige Kämpferin mit Haltung in einem Kostüm mit Bluse.

Torsten Flüh   

Deutsches Historisches Museum
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Pei-Bau
bis 18. Oktober 2020
Sonntag bis Mittwoch 10:00 bis 18:00 Uhr


[1] Siehe: Heike Mund: Rauchen und Denken gehörten für Hannah Arendt zusammen: Ihr Zigarettenetui. In: Deutsche Welle 11.05.2020.

[2] Suchtkrankheiten: Zusammenhang zwischen Rauchen und IQ. In: ÄrzteZeitung 07.04.2010, 15:17 Uhr.

[3] Siehe: Serie Auf eine Zigarette. In: Die Zeit.

[4] Nils Markwardt: Die letzte Zigarette. In: Die Zeit 11. Februar 2019, 20:44 Uhr.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Die neue Frau. In: Lemo (Lebendiges Museum Online).

[7] Zitiert nach: Zur Person. Günter Gaus im Gespräch: Arendt, Hannah: In: rbb online.

[8] William Stern: Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher. In: ders.: Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig: Quelle & Meyer, 1918.

[9] Zur Person: … [wie Anm. 7].

[10] Hannah Arendt: Denktagebuch. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München/Berlin/Zürich: Piper, 2016, S. 12.

[11] Zur Person: … [wie Anm. 7].

[12] Hannah Arendt betont das „spricht“ mit scharfem spr nach norddeutscher, um nicht zu sagen, Oldenburger Aussprache. In der Transkription ist der Einschub nicht enthalten. Siehe Video.

[13] Zur Peson: … [wie Anm. 7]

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