Politische Theorie aus dem Netz der Sprachen

Literatur – Theorie – Rhetorik

Politische Theorie aus dem Netz der Sprachen

Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum

Hat Hannah Arendt Ausstellungen besucht? Hatte sie eine Haltung zum Format der Ausstellung? Da ich zugeben muss, kein Experte für Hannah Arendt zu sein, kenne ich keine Formulierung von ihr zum Format Ausstellung. „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“ als Bonmot, Aufforderung zum Widerstand und rhetorische Figur könnte aktuell allerdings auch falsch verstanden werden. Die von Monika Boll kuratierte ebenso materialreiche wie herausragende und wichtige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum wählt einen multimedialen Ansatz, um Hannah Arendt anhand 16 zeithistorischer Themenpunkte vorzustellen. Die Bereiche der Ausstellung – u.a. Jüdisches Selbstverständnis, Totale Herrschaft, Die Nachkriegszeit, Die Vereinigten Staaten, Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Protestbewegung und Politisches Denken – werden als Parcours im Pei-Bau durchaus chronologisch-biographisch über zwei Etagen von unten nach oben angelegt. 

Historische Ausstellungen werden meistens als eine Art Parcours der Texte, Bilder, Fotos, Videos, Audios, Schriftstücke, Reproduktionen, Modelle und Artefakte eingerichtet. Zu sehen und zu lesen gibt es viel wie die Originale von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem: A Report on the banality of evil als A Reporter at Large in fünf Ausgaben des Magazins The New Yorker zwischen dem 16. Februar und 16. März 1963. Die Covers des New Yorker legen amerikanische Idyllen in Aquarellen zwischen Korallen mit Seepferdchen und einer Straßensilhouette mit Wolkenkratzerplan in Blautönen vor. Nichts deutet auf den schnell skandalisierten Bericht. Neben den Magazinen können die Besucher*innen den Artikel per Touchscreen nachlesen oder auch nur durchblättern.[1] Ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Hannah Arendt und Günter Gaus wird über dem raumgreifenden, weißen Modell des Krematoriums II Ausschwitz-Birkenau (1995) von Mieczyslaw Stobierski projiziert. Fast am Ausgang Hannah Arendts Aktentasche mit Monogramm – „H. A. B.“ (Hannah Arendt Blücher) – und ihr Zigarettenetui.

Im Katalog beginnen die Herausgeber*innen mit dem Hinweis auf Hannah Arendts Formulierung des „»Denkens ohne Geländer«“.[2] Die 19 Essays sind hochkarätig und unterstreichen, dass das Format Ausstellung mit seinen Praktiken der Visualisierung und Verräumlichung für die politische Denkerin, Schriftstellerin und Dichterin Hannah Arendt durch längere Texte eben doch sehr gewinnt. Hannah Arendts „Jüdisches Selbstverständnis“ eröffnet die Ausstellung wie den Katalog. Sie entdeckt Rahel Varnhagen für sich als gesellschaftlich durch ihren Berliner Salon stark vernetzte jüdische Frau. Nachdem sie mit ihrem ersten Ehemann Günther Stern, der als Journalist mit dem Namen Günther Anders für Berliner Zeitungen schreibt, nach Berlin gekommen ist, arbeitet sie um 1930 an ihrem Buch zu Rahel Varnhagen, die postum durch die von ihrem Ehemann Karl August Varnhagen von Ense herausgegebenen Briefe unter dem Titel Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1834) in drei Bänden noch berühmter geworden war. Wie Liliane Weissberg für den Katalog recherchiert hat, reicht der Verkehr mit dem Rahel-Buch lange zurück, weil Hannah Arendt es schon als 15jährige 1921 in Königsberg an ihre „drei Jahre ältere Freundin Anne Mendelsohn“ verschenkt hatte.[3]

Das Rahel-Buch kursiert und zirkuliert also bereits seit acht Jahren zwischen Hannah und Anne, als es die erstere nach ihrer Promotion bei Karl Jaspers 1929 zum Forschungsthema über „Rahels Judentum“ machen möchte.[4] „Arendts Briefwechsel mit Jaspers von 1929 bis 1933 konzentrierte sich allerdings nicht nur auf Rahels Judentum, sondern auch auf eine Bestimmung der »fatale[n] Sache« des »deutschen Wesen[s]« und auf Arendts Verständnis ihrer eigenen Identität.“[5] Hannah liest Rahel, wie sie von Karl August herausgegeben worden war. Und sie liest die Briefe aus dem Nachlass, wie sie zu der Zeit in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden. Zu gleicher Zeit lässt sie sich erstmals mit einer Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger fotografieren. Der Berichterstatter stellt sich vor, wie Hannah Arendt durch das Portal der Staatsbibliothek Unter den Linden in den Ehrenhof geht, die schwere Tür öffnet, die Stufen hinaufsteigt und sich im damaligen Handschriftenlesesaal die Konvolute vorlegen lässt. Sie liest die Handschriften, macht sich wohl doch Notizen, obwohl sie 1964 im Gespräch mit Günter Gaus gesagt haben wird, sie mache sich niemals Notizen[6] und sie legt bis zum Sommer 1933 ein „Rahel-Manuskript“ an, das sich unterdessen mit anderen Recherchen überschneidet.
„In Berlin engagierte sich Arendt in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) unter der Leitung Kurt Blumenfelds, sie dokumentierte für diese antisemitische Propaganda. Durch diese Arbeit fiel sie der Gestapo auf und wurde im Sommer 1933 festgenommen. Nach acht Tagen Haft entschied sich Arendt sogleich, das Land zu verlassen.“[7]

In der Ausstellung können sich die Besucher*innen in eine Hörbox setzen – aber bitte nur einzeln wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der CoVid-19-Pandemie -, um als Audiomontage z.B. Walter Benjamins Ermutigung zu hören, das „Rahel-Manuskript fertigzustellen“ im Pariser Exil.[8] Die Arbeit am Rahel-Buch wird insofern vielfach überschrieben und im Kontext einer Dokumentation „antisemitische(r) Propaganda“ sowie der Flucht nach Paris durchkreuzt. Während Varnhagen in seiner Herausgabe der Briefe den Begriff Antisemitismus nicht ein einziges Mal gebraucht, wird doch von Rahel in ihren Briefen gelegentlich, aber eher selten sprichwörtliches von „Juden“ zitierend verwendet. In dem längeren Brief von Rahel aus Paris an Rose in Amsterdam vom 14. März 1801 klingt einmal ihr Verständnis des Judentums in Berlin im Unterschied zu Amsterdam und Paris an.
„Und du würdest mir gewiß eben so unpartheiisch und unbefangen einen Ort beschreiben können, als ich euch Paris. Also mit den Juden steht’s hier so schlecht?! Es liegt doch an ihnen. Denn ich versichre dich, ich sage hier allen Leuten, daß ich eine bin; ch bien! le même empressement. Aber nur ein Berliner Jude kann die gehörige Verachtung und Lebensart im Leibe haben; ich sage nicht: hat sie. Ich versichre dich, ordentlich eine Art contenance giebt’s einem auch hier, aus Berlin zu sein und Jude, wenigstens mir; ich weiß darüber Anekdoten. Lebt wohl, die Dame kann nicht ewig lesen.“[9]

„(A)us Berlin zu sein und Jude“ wird für die Jüdin Rahel Levin während einer Reise in Paris wichtig, wo sie nicht gerade solidarisch ihre Glaubensgenoss*innen schilt, zu jammern und nicht selbst emanzipiert zu werden. Weissberg hat die auch prekäre Einwirkung Karl Jaspers‘ auf das von ihm als Forschungsarbeit dennoch unterstütze „Rahel-Buch“ genauer skizziert. Wie lässt sich nun für die engagierte Dr. phil. über Rahel schreiben? Philosophisch? Soziologisch? Literarisch? Karl Jaspers war für Hannah Arendt nicht nur ein Doktorvater, vielmehr noch eine Vaterfigur, wie sie es in Zur Person 1964 freimütig aussprechen wird. Während ihr jüdischer Vater früh verstorben war, fand sie zumindest retrospektiv in Karl Jaspers einen Vaterersatz, der nicht nur seit 1910 mit Gertrud Mayer, der Schwester seines Studienfreundes Ernst Mayer, der aus einer orthodoxen deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie stammte, verheiratet war, vielmehr leugnete er noch um 1930 das Jüdischsein. So bekommt Jaspers einen starken Einfluss auf das „Rahel-Buch“ seiner ehemaligen Doktorandin und deren Juden-Konzept wie Weissberg schreibt.
„Für Arendt waren Juden Parias, Außenseiter also, und es war der Fehler vieler deutscher Jüdinnen und Juden, in ihrer nach sozialer Anerkennung und Aufstieg ihr Judentum aufzugeben und »Parvenüs«, so Arendts abwertende Bezeichnung, zu werden. (…) Mit Rahel fand Arendt eine Jüdin, die zwar zum Christentum konvertiert war und in den Adel eingeheiratet hatte, die sich aber letztendlich, so Arendt, der Assimilation verweigerte, Rahel wurde zu einem »bewussten Paria« und zog aus dieser Position ihre Stärke.“[10]   

Im Raum Jüdisches Selbstverständnis werden nicht nur Texte, vielmehr noch Bilder und das Interieur eines Biedermeier-Salons mit Goethe-Büste arrangiert. Doch war ein Salon nur oder vor allem ein Ensemble aus Möbeln und großen Namen wie Bettina von Arnim, von der eine Zeichnung im Lehnstuhl vor einer Goethe-Büste zur Illustration aufgehängt wird? Der Biedermeier-Salon fällt in der Ausstellung mit der Büste und den Möbeln ein wenig fatal aus, obgleich mittlerweile eine reichhaltigere Forschung zum Berliner Salon existiert.[11] Während sich das „Buch des Andenkens“ als eine Briefsammlung entfaltet, war der Salon eine Gesprächspraxis des Flüchtigen. Die Gespräche ließen sich gerade nicht im Buch festhalten.[12] Sie ließen sich in Briefen kaum nacherzählen und lebten nicht nur von Worten und Sätzen, sondern ebenso von Gesten, Gerüchen, Raumtemperaturen, Beleuchtungen, Tonfällen und Idiomen. So unterlag der Salon denn all jenen Eigentümlichkeiten und Eigensinnigkeiten, die sich der Darstellung entziehen. Er fand nicht immer mit gleicher Intensität, geschweige denn Regelmäßigkeit statt. Doch genau in diesem Feld des Eigensinns reüssierte Rahel Levin als Gastgeberin oder Salonière, von der nicht zuletzt übermittelt wird, dass sie ihren Namen mehrfach wechselte.

Erst nach dem Krieg kann Hannah Arendt zur Arbeit am Rahel-Buch zurückkehren, das nun stärker zwischen Belletristik, gar Roman und Forschungsliteratur angesiedelt wird. Einerseits gelten die Autographen aus der Staatsbibliothek als Kriegsverlust, so dass die Forschungspraxis nicht wieder aufgenommen werden kann. Andererseits waren ihre Forschungsansätze zum Antisemitismus bereits 1955 in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eingegangen, so dass Weissberg schreibt, dass „(d)ie Arbeit an Rahels Lebensgeschichte (…) zu einer Vorarbeit für jenes Buch“ wurde.[13] Nicht nur das Zeitgeschehen durchkreuzt das Rahel-Buch, mehr noch das sich überschneidende literarische wie wissenschaftliche Schreibverfahren, ihr „literarisches Experiment verwandelte sich in eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit“[14], um nach dem Krieg wieder in schöne Literatur transformiert zu werden. Als 1959 Hannah Arendts Rahel-Buch unter dem Titel Rahel Varnhagen. Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik im Münchner Piper Verlag erscheint, ist das der Autorin wichtige Wort „Jüdin“ ohne Rücksprache auf dem Schutzumschlag gelöscht.

Die Löschung der „Jüdin“ lässt sich heute als eine mutwillige lesen. Hans Rößner dürfte als Cheflektor des Piper Verlags über den Schutzumschlag zumindest mitentschieden haben. Arendt und die Menschen außerhalb seines SS-Netzwerkes, das nicht nur in München existierte, konnten nicht ahnen, dass die Löschung der „Jüdin“ kein Versehen war. Der Germanist Hans Rößner „war 1934 Mitglied der SS geworden, 1937 der Nationalsozialistischen Partei“ beigetreten und machte ab 1938 Karriere im Reichssicherheitsdienst (SD). Ab 1939 leitete er bis zum Zusammenbruch 1945 „im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Abteilung »Volkskultur und Kunst«“.[15] Rößner hatte demnach an höchster, administrativer Stelle, darüber zu entscheiden, was »Volkskultur und Kunst« nach der nationalsozialistischen Doktrin inklusive des institutionalisierten Antisemitismus war und was nicht. Die Jüdin Rahel Levin, die sich 1814 für die Heirat mit dem Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense, der in den Adelsstand erhoben worden war, taufen ließ, durfte nicht zur sogenannten deutschen „Volkskultur“ gehören. Der Antisemitismus überlebte und maskierte sich sozusagen in allernächster Nähe zu Hannah Arendt.

Hannah Arendts politische Theorie zum Antisemitismus als „Band I“ von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entspringt dem „literarischen Experiment“ eines Buches und einer Relektüre des Buches Rahel. Die Überlappung von Literatur und Theorie ist keine zufällige, vielmehr eine strategische. Karl Jaspers schrieb 1958 das „Geleitwort“ zum „Buch“ und pries es als „Geschichtsschreibung großen Stils“.[16] In der „Geschichtsschreibung großen Stils“ geht es nicht immer nur um Fakten, vielmehr um eine Generierung von Sinn durch verfügbare Fakten. Als ein wichtiges Scharnier ihrer „Geschichtsschreibung“ kommt Arendt auf „jüdische Salons“ und Rahels „»Dachstübchen«“ zu sprechen.[17] Anders als die Saloninszenierung in der Ausstellung mit der bürgerlichen Geste sozusagen in und aus der Mitte der Gesellschaft legt Arndt wert darauf, dass „das Dachstübchen der Rahel am Rande, ja außerhalb der Gesellschaft und ihrer Konventionen“ angesiedelt war.
„Hatte Henriette (Herz, T.F.) durch Gelehrsamkeit geglänzt und war durch die »tugendhaften« Grafen Dohna gesellschaftsfähig geworden, so war Rahel stolz auf ihre »Ignoranz« und berühmt durch ihre originale Klugheit und gesellschaftliche Begabung; das Dachstübchen verdankte sein Renommee dem Prinzen Louis Ferdinand, dem man viel Gutes, aber nicht übertriebene Rücksichtnahme auf »Tugend« nachsagen kann. Der Salon der Rahel, der nach ihrem eigenen Zeugnis 1806 in der preußischen Niederlage unterging »wie ein Schiff, den höchsten Lebensgenuß enthaltend«, ist ein in der Geschichte von Assimilation und Ausnahmejuden absolut einzigartiges und einmaliges Gebilde gewesen. […] Hier galt wirklich jeder nur genau so viel, wie er darzustellen vermochte, hier ward jeder nach nichts anderem beurteilt als seiner Persönlichkeit. […] Er war naiv paritätisch und entsprach einer kurzen Blütezeit deutsch-jüdischer Geselligkeit, die mehr Mischehen aufzuweisen hatte als irgendeine spätere.“[18]

Rahels Salon im Dachstübchen wird bei Hannah Arendt zur deutsch-jüdischen Gesellschaftsutopie. Das „Dachstübchen“ ist nicht nur der bescheidene Ort eines kleinen Zimmers im Dach eines Hauses, vielmehr wird es auch metonymisch für den Ort des Denkens, das Gehirn gebraucht.[19] Diese Überlappung von bescheidenem, schmucklosen Ort im Dach als Lokalität des Salons bekommt auch einen konspirativen Beiklang, wenn sich ausgerechnet dort der Hohenzollernprinz Louis Ferdinand nicht ganz nach den Regeln der Tugend verhalten haben soll. Louis Ferdinand verhielt sich nicht nur höchst libertinär, vielmehr spielte er ebenso Klavier, komponierte und lud Ludwig van Beethoven bei seinem einzigen Aufenthalt in Berlin 1796 ein. Als Louis Ferdinand am 16. Oktober 1806 in der Schlacht bei Saalfeld von Napoleons Soldaten tödlich verwundet wird und er mit 33 Jahren stirbt, wird er vollends zum nationalen Mythos. Rahel wollte ihn ab Mai 1800 „(o)rdentliche Dachstuben-Wahrheit … hören“ lassen.[20] Anders gesagt: Arndts Transformation der „Dachstube“ zum Deminutiv „Dachstübchen“ in einer entscheidenden Passage über den „Antisemitismus“ als „profane Ideologie des 19. Jahrhunderts“[21] gibt einen Wink auf die Rhetorik ihrer Geschichtsschreibung zwischen Belletristik, „literarischem Experiment“ und Politischer Theorie.

In die von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann als Denktagebuch[22] veröffentlichten Hefte schreibt Hannah Arendt zwischen 1950 und 1973 nicht nur „eigene“ Gedanken, vielmehr finden sich in ihnen ebenso Exzerpte, Gedichtzitate und für Hermann Broch im Juni 1951 gar ein Gedicht zu dessen Tod am 30. Mai 1951 in New Haven.[23] Das Gedicht hat den Titel Überleben.[24] Hefte in unterschiedlichen Größen gehören seit dem 19. Jahrhundert z.B. bei Karl Marx, Alexander von Humboldt oder Marcel Proust, aber auch die vertrackten Schwarzen Hefte Martin Heideggers zu den Medien bisweilen plötzlichen Denkens und Memorierens. Zum Denken in den Heften gehört demnach das Dichten, durch das sich Sinn und Sinnlichkeit auf vielfache Weise überlappen. Das Gedicht aus dem Umfeld der Todesnachricht von Hermann Broch geht durch seine formale Schreibweise über einen plötzlichen Einfall hinaus.
„Überleben.

Wie aber lebt man mit den Toten? Sag
wo ist der Laut, der ihren Umgang schwichtet,
wie die Gebärde, wenn durch sie gerichtet
wir wünschen, dass die Nähe selbst sich uns versag?

Wer weiss die Klage, die sie uns entfernt
und zieht den Schleier vor das leere Blicken?
Was hilft, dass wir uns in ihr Fortsein schicken,
und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt.

Das umgedrehte Fühlen ist doch wie der Dolch, den man im Herzen umdreht.“[25]

Barbara Hahn hat in ihrem Essay für den Katalog darauf aufmerksam gemacht, dass Hannah Arendt in mehreren Sprachen – Altgriechisch, Französisch, Lateinisch, Englisch, Deutsch, Hebräisch – las, dachte und schrieb. In Englisch und Deutsch habe sie eine „Meisterschaft“ entwickelt. Und: „Hannah Arendt hat sehr genau darüber nachgedacht, warum Einsprachigkeit – »die künstlich gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen« – zeitgemäßem Denken nicht angemessen ist.“[26] Die Mehrsprachigkeit generiert nicht zuletzt idiomatische Überlappungen oder, wie Hahn schreibt, „Sprachen prägen und färben das Denken; Sprachen nehmen Erfahrungen und Erkenntnisse auf und tragen sie weiter“.[27] So verwendet Arendt für Überleben gar ein Reimschema, das in den vierzeiligen Strophen am Ende mit ab und ba – Sag/schwichtet | gerichtet/versag – eine Spiegelung erzeugt, dergleichen entfernt/Blicken | schicken/lernt. Zwar lässt sich das Gedicht auf Hermann Broch beziehen, aber durch die rhetorischen Mittel insbesondere der Interrogativpronomen wie, wo, wer, was, der Syntax und dem Wechsel von Frage zur antwortenden Aussage wird Überleben zu einer existentiellen Frage. So wird „das Überleben“ zum Subjekt, während die Syntax zugleich vorschlägt „das Überleben lernt“ als Relativsatz zu „Fühlen“ zu lesenhören: „das überleben lernt“. Im Nachsatz, von dem sich nicht eindeutig sagen lässt, ob er noch zum Gedicht gehört, wird das „Fühlen“ auf eine Weise paraphrasiert, die fast schon eine Antimetabole ist.

Die rhetorische Kunst der Dichtung, wie sie insbesondere aus dem Barock herüber winkt, gehörte zu Hannah Arendts Praxis des Denkens. So wird im letzten Raum der Ausstellung ein Schleier mit dem Portrait und rudimentären Angaben zu Wystan Hugh Auden gezeigt. Hannah Arendt habe Audens The Age of Anxiety, das 1948 den Pulitzer Prize for Poetry erhielt, gelesen und daraufhin einen begeisterten Brief an ihn geschrieben, so dass eine Freundschaft zustande kam. Auden hatte sein Zeitalter der Angst allerdings als „A Baroque Eclogue“ in angelsächsischen alliterierenden Versen geschrieben.[28] Die barocke Ekloge knüpft mit der Alliteration für die Erzählung von der Angst im, wie Hannah Arendt sagen würde, Zeitalter des Totalitarismus an die Rhetorik des Barock an, was einerseits als unzeitgemäße Darstellungsweise in der Moderne aufgefasst werden kann. Andererseits wird durch den Modus der Ekloge als Auswahl eben auch angezeigt, dass kein generalisierender Anspruch erhoben wird. Gleichzeitig werden in der Eröffnung von The Age of Anxiety die geschlechtliche Mehrdeutigkeit und die Ambivalenz auf die Spitze getrieben:
„So, fully conscious of the attraction of his uniform to both sexes, he looked round him, slightly contemptuous when he caught an admiring glance, and slightly piqued when he did not.
It was the night of All Souls.

Q U A N T was thinking:
My deuce, my double, my dear image,
Is it lively there, that land of glass
Where song is a grimace, sound logic
A suite of gestures? You seem amused.
How well and witty when you wake up,
How glad and good when you go to bed,
Do you feel, my friend? What flavor has
…“[29]

Nicht nur W. H. Auden setzte sich für The Age of Anxiety mit der Metrik als Form des Denkens auseinander[30], auch Hannah Arendt fühlte sich vertraut mit der Form wie der thematischen Ambivalenz. 1967 fotografierte sie ihn leicht „out of focus“.[31] In der Pluralität des Personals wird auf ebenso poetische wie erschütternde Weise vom Zeitalter der Angst erzählt, wenn etwa Rosetta sagt: „Violent winds / Tear us apart. Terror scatters us / To the four coigns. Faintly our sounds / Echo each other, unrelated / Groams of grief at a great distance.“[32] – Es ist hier nicht der Ort näher auf The Age of Anxiety einzugehen. Doch Audens Praxis der barocken Form generiert eine Art Queerness, die, selbst wenn sie das Wort nicht gekannt haben wird, Arndt nicht verborgen geblieben sein konnte. In der Ausstellung gibt es auch eines jener Hefte, die als Denktagebuch veröffentlicht sind. Aufgeschlagen ist eine Doppelseite mit handschriftlichen Notaten und dem Ausschnitt eines eingeklebten maschinenschriftlichen Textes, von dem sich erst einmal nicht sagen lässt, ob es ein Zitat aus einem Roman, einem Gedichtepos vielleicht oder von ihr selbst stammt. Er endet:
„O Leben, Leben: Draussensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt …“

Torsten Flüh

Deutsches Historisches Museum
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Pei-Bau
bis 18. Oktober 2020
Sonntag bis Mittwoch 10:00 bis 18:00 Uhr

Katalog
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Herausgeber: D. Blume, M. Boll und R. Gross für das Deutsche Historische Museum
€ 22,-


[1] Siehe auch das Archiv von The New Yorker online.

[2] Die Arendt-Formulierung „Denken ohne Geländer“ wird aktuell auch als Werbespruch in Plakatgröße auf der Liegeplatzbrücke des Redaktionsschiffes media pioneer im Nordhafen von Michael Bröcker benutzt, ohne auf Hannah Arendt hinzuweisen. Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Piper: 2020, S. 9.

[3] Liliane Weissberg: Hannah Arendt und ihre »wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist«. In: Ebenda. S. 28.

[4] Ebenda S. 30.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung. Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2020.

[7] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 31.

[8] Ebenda.

[9] Rahel Varnhagen von Ense: Rahel. Bd. 1. Berlin: Duncker und Humblot, 1834, S. 237. (Digitalisat)

[10] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 30.

[11] Siehe u.a. Hannah Lotte Lund: Der Berliner ‚jüdische Salon’ um 1800. Emanzipation in der Debatte? Berlin/Boston: de Gruyter, 2012.

[12] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Gespräche – Bettina von Arnim. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 80-101, insbesondere S. 80-83.

[13] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 31.

[14] Ebenda S. 36.

[15] Ebenda S. 33.

[16] Karl Jaspers: Geleitwort. In: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band I: Antisemitismus. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ullstein, 1975 (zuerst 1958 Piper), S. 6.

[17] Ebenda S. 108-109.

[18] Ebenda S. 109-110.

[19] Siehe: Dachstübchen (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache).

[20] Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. Rahels „Dachstube“ als historische Fiktion. In Hartwig Schulz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. S. 213 ff.

[21] Hannah Arendt: Elemente … [wie Anm. 16] S. 11.

[22] Hannah Arendt: Denktagebuch. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München: Piper, 2016.

[23] Ebenda Anmerkungen. Zweiter Band. S. 941.

[24] Ebenda Erster Band, S. 92.

[25] Ebenda.

[26] Barbara Hahn: Die »eigene« und andere Sprachen. In: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah … [wie Anm. 2] S. 153.

[27] Ebenda S. 147-148.

[28] Zu Wystan Hugh Audens Dichtung vgl. auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[29] W. H. Auden: The Age of Anxiety. A Baroque Eclogue. Edited by Alan Jacobs. Princeton: Princeton University Press, 2011, S. 6.

[30] Ebenda S. 109-111.

[31] Siehe: Hannah Arendt fotografiert Verwandte und Freunde. In: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah … [wie Anm. 2] S. 220.

[32] W. H. Auden: The … [wie Anm. 29] S. 78.

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