Schweigen? – Aushalten.

Ansteckung – Impfung – Altruismus

Schweigen? – Aushalten.

Indigo und die Kleist-Preis-Rede von Clemens J. Setz im Deutschen Theater

Anlässlich der Kleist-Preis-Verleihung für das Jahr 2020 sollte der Preisträger und als Epidemie-Autor gefeierte, in Wien lebende Steiermärker Clemens J. Setz am Sonntagvormittag im Deutschen Theater seine mit Spannung erwartete Rede halten. Als der Dramaturg des Hauses, Claus Caesar, vor Beginn der Veranstaltung die Bühne betrat, zugab, dass belesene Theaterbesucher wüssten, dass sein Auftritt nichts Gutes erwarten lasse, und bekannt gab, dass der Preisträger „aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig“ nicht habe von Wien nach Berlin kommen können. Das Team des Deutschen Theaters habe unterdessen alles versucht, dem Preisträger die Live-Präsentation seiner Rede technisch zu ermöglichen. An Heinrich von Kleists 110. Suizid-Todestag, dem 21. November 2021, ermöglicht Streaming Clemens J. Setz in körperlicher Abwesenheit per Lichtsignale die Rede zu halten.

Insbesondere in seinem Roman Indigo (2012) hat Clemens J. Setz von Ansteckung geschrieben. Der Vorgang der Ansteckung, der sich als ein kommunikativer Prozess beschreiben lässt und damit begrifflich in das Feld der Kommunikations- wie Literaturforschung fällt, benennt zugleich das epidemiologische Geschehen, das in Österreich und Deutschland während der sogenannten „Vierten Welle“ der Covid-19-Pandemie aktuell dramatische Folgen zeitigt.[1] Gegen Ansteckung hilft die Praxis der Impfung, was sich mit Impfungen gegen Pocken in Wien seit 1768 nicht zuletzt unter den zahlreichen, an europäischen Höfen verstreuten Kindern der Kaiserin Maria-Theresia als wirksam gegen einen äußerlich entstellenden oder gar tödlichen Krankheitsverlauf gezeigt hatte. Heinrich von Kleist dürfte insofern nach Hörensagen um 1800 von einer Diskussion der Impfpraxis gewusst haben. Er bearbeitet in seiner Erzählung Der Findling (1811) die Ansteckung literarisch, was Setz in seiner Rede prominent zitiert.  

Was hat die Ansteckung mit dem Erzählen zu tun? Clemens J. Setz zitiert in der gestreamten Kleist-Preis-Rede eine ganze Reihe von Texten unterschiedlicher Autoren, bei denen es um Ansteckung und den daraus entstehenden Erzählungen geht. Mehrfach zitiert er Uncanny Valley von Thomas Melle, der im Januar 2020 als Inszenierung von Rimini Protokoll in den Berliner Festspielen zu sehen und zu hören war.[2] Der Berichterstatter hatte Freund*innen anlässlich seines Geburtstages zu einem gemeinsamen Besuch mit anschließendem Sushi eingeladen. Später erzählte ihm ein befreundeter Schriftsteller von Begegnungen mit Thomas Melle an der Heilig Kreuz Kirche in Kreuzberg. Der Stadtteil Kreuzberg ist allerdings nicht nach der Kirche benannt, sondern nach dem gleichnamigen Berg, der seinen Namen durch das Denkmal für die Preußischen Befreiungskriege mit dem Eisernen Kreuz auf dessen Spitze von Karl Friedrich Schinkel von Tempelhofer Berg gewechselt hatte. Anders gesagt: in den beiden letzten Sätzen geht es um eine Ersetzung des Signifikanten durch das Kreuz. Es sind verschiedene Kreuze, die wiederholt ausgewechselt werden, verwechselt werden könnten und doch einen Treffpunkt zweier Schriftsteller markieren.

Für diese Besprechung der Kleist-Preis-Rede gilt das gesprochene, respektive gestreamte Wort. Denn die Rede ist noch nicht veröffentlicht und der Stream wurde nicht für YouTube aufgezeichnet. Gehörte Stichworte wurden auf dem Programmzettel notiert. Im seit der Präsidentschaft des Kölner Kultur- und Literaturwissenschaftlers Günter Blamberger herausgebildeten Format der Verleihung des Kleist-Preises geht es mit einem Wort von Günter Grass um das „Redenreden“.[3] Erst lesen Schauspieler*innen Texte von Heinrich von Kleist und der Preisträger*in, diesmal Birgit Unterweger und Jeremy Mockridge. Dann las der Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft e.V. das „Grußwort“. Die Vertrauensperson der Jury, diesmal die Wiener Literaturkritikerin Daniela Strigl einen elfteiligen „Setz-Kasten“, hielt eine Laudatio auf die Preisträger. Eröffnend und in den Pausen erklang sphärische Musik von Carsten Brocker, Katelyn King, Spela Mastnak, Thomsen Merkel und Nico van Wersch. Und schließlich folgte die „Preisrede“. Es gab schon Preisträger*innen, denen in ihrer Rede nicht viel zu Heinrich von Kleists Texten einfiel oder die allzu sehr den Suizid zum Thema machten. Nicht so Clemens J. Setz. Er dockt an die Texte Erdbeben von Chili, Der Findling, Amphytrion und Über das Marionettentheater an, was sich mit der Praxis einer Ansteckung beschreiben ließe. – Oder war es doch eher eine Vereinnahmung, ein Reden durch einen Kleist-Text hindurch?   

Das Format meiner Besprechung müsste gesprengt oder gesenkt werden, wollte ich auf alle drei Reden eingehen, die wie durch Röhren summend miteinander korrespondieren. Aus dem Redenreden, dem Gehörten, dem Flüchtigen des Streams da vorne auf der Bühne und doch nicht dort, sondern im Arbeitszimmer von Clemens J. Setz selbst vor einem etwas unordentlichen Bücherregal, vor dem der Autorpreisträger vor einem Bildschirm mit „Dateien“ und einem Studiomikrofon sitzt, steigen „Mysterium der Selbstlosigkeit“ und „Ansteckung“ an die Hirnoberfläche. Die Veranstaltung, die Inszenierung der Gegenwart in einer Abwesenheit des Körpers des Autors, ist dazu gemacht, dass die Rede als Höflichkeit einfach vorbeirauschen könnte. Und da Setz sich ausdrücklich bei den Mitgliedern der Heinrich von Kleist-Gesellschaft für die Pflege der Erinnerung an ihn bedankt, fühlen sich derer viele im Zuschauerraum wahrgenommen, wenn nicht geschmeichelt. Wegen der Covid-19-Pandemie und der in Berlin herrschenden 2G-Regeln ist der sonst oft vollbesetzte Zuschauerraum des Deutschen Theaters indessen fast leer. Die Akteur*innen auf der Bühne tragen FFP2-Masken, bis ihnen das Wort erteilt wird und sie zu sprechen beginnen. Für das Publikum gilt Maskenpflicht nicht nur im Zuschauerraum, sondern im ganzen Gebäude.

Am 6. November 2021 hielt Clemens J. Setz seine Dankesrede auf die „Verleihung des Büchnerpreises“ der Akademie für Sprache und Dichtung im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt.[4] Denn Setz hat mit dem Büchnerpreis 2021 nun binnen 3 Jahren so ziemlich alle namhaften Literaturpreise des deutschen Sprachraums verliehen bekommen. Seine Dankesreden bilden nach der für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015 unter dem Titel Drehungen – „Als ich meinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre schrieb, drehte ich mich, so zumindest bin ich im Nachhinein überzeugt, langsam in Richtung Auflösung.“[5] – und der Klagenfurter Rede zur Literatur 2019 zu Kayfabe und Literatur – „Im Herzen der Wrestlingwelt wohnt ein Begriff, der uns, dem Literaturvolk, paradoxerweise mehr über das zu erzählen vermag, worum es in den nächsten vier Tagen hier gehen wird, als alle anderen Begriffe, die ich mir denken kann, mehr über das Geschichtenerzählen an sich und dessen Verhältnis zum persönlichen Alltag und zur politischen Realität und sogar mehr über die Rollenbilder, in die wir vielleicht von übergeordneten Instanzen, schon seit der Geburt gezwungen wurden. (…) Kayfabe.“[6] – eine eigene Literaturform voller Eloquenz, Twists und Eigensinn.

In seinen Dankesreden entführt Clemens J. Setz das „Literaturvolk“ in die „Wrestlingwelt“, um nicht zuletzt einen Literaturbegriff einzuführen oder sich als Autor durch sprachliche Drehungen aufzulösen. Anders als in der zumindest chronologisch verschobenen Kleist-Preis-Rede zur „Selbstlosigkeit“, „Ansteckung“ und „Altruismus“ stellt er in der Büchnerpreisrede Ulklären die „von uns erfundenen sogenannten „literarischen Figuren““ in den Drehpunkt. Er komponiert seine Dankesreden auf unterschiedliche Weise. Die sich auf eine Pferde-Szene aus Georg Büchners Text Woyzeck eröffnend beziehende Dankesrede bringt das Erlernen der Sprache und des Sprechens durch Pferde in den Kontext einer pazifistischen Geste und den „literarischen Figuren“. Die „Zählpferde“ und die intelligenzwissenschaftlichen Versuche Karl Kralls vor 1914, sie zum Sprechen zu bringen, erzählen nicht zuletzt von dem „ulklären“ wie dem Verhältnis von Mensch und Tier in Gestalt des Pferdes. Über ein Raster hatte der Araber-Hengst Zarif widererwarten „ulklären“ buchstabiert.
„Jeder Mensch, der Geschichten erzählen will, muss auch an Außerirdische predigen können. Er muss sich, trotz aller von ihm selbst zufällig mitgebrachten Universalität, eine kompetente und furchtlose Vertrauensperson außerhalb unserer Zeit oder unserer Spezies ersinnen können, eine Art Muse, eine in unserem Namen in ein aphasisches, menschenfeindliches Jenseits ausgeschickte sprachfähige Sonde, die möglicherweise irgendwann, randvoll mit Erkenntnis, zu uns zurückkehren darf. Er muss sprechen lernen in einer Art des ständigen und beherzten Verfehlens von Seelen, oder, wie es der autistische Autor Birger Sellin so perfekt ausdrückte: „in nichtfinderischer Liebe“. Im Grunde kann dich niemand je verstehen. Also erklär dich. Verwalte das Unübertragbare gut. Es ist dein einziger Besitz.“[7]

Ijona Mangold hatte in seiner Laudatio zum Georg Büchner-Preis gleich in seiner Eröffnungspassage Setz‘ Roman Indigo und die Isolation der „I-Kinder“ in Beziehung zu „Corona“ und den „Social Distancing-Maßnahmen“ gestellt. –  „Sie sehen: Mag die Welt auch ein schlimmer Ort sein, voll Unglück, Leiden und Ungerechtigkeiten aller Art – die fiesesten Krankheiten denken sich noch immer die Schriftsteller aus. Verglichen mit der Art seelisch-körperlicher Einzelhaft, zu der die Indigo-Kinder verdammt sind, erscheinen einem die Social Distancing-Maßnahmen, die wir seit Corona kennen, harmlos und sanft.“[8] – Doch er ging nicht näher auf die Ansteckung ein. Erzählt Indigo gar nicht von Ansteckung? – „Verwalte das Unübertragbare gut“, ruft uns Clemens J. Setz in seiner Dankesrede zu. Geht es in seinem Roman Indigo nicht ständig um Übertragung durch Ansteckung? Und wie verhalten sich die beiden Preisreden zueinander, die nun innerhalb von zwei Wochen aufeinander folgten? Indigo ist der Begriff der Ansteckung u.a. mit dem ungarischen „Heim für ansteckende Kinder[9] – Otthon fertőző gyermekek számára –, das im Roman „Fertőző gyerekek otthona“ heißt, eingeschrieben. Fertőző heißt im Ungarischen ansteckend oder infektiös. Und die fiktive „Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret“[10] diskutiert in ihrem Buch eine „evolutionäre Wahrheit“ und eine „menschliche Wahrheit“, „die nur in wenigen Punkten mit der evolutionären Logik zusammenfällt (z.B. Isolation von Menschen mit hochansteckenden Krankheiten, Seucheneindämmung etc.).[11]

Die Wissenschaftlerin, die der „Mathematik-Lehrer Clemens Setz, Hauptfigur von „Indigo“, bitte nicht verwechseln mit unserem Preisträger,“ so Ijoma Mangold, für ein Interview über Indigo-Kinder aufsucht, ist nicht etwa eine Mikrobiologin, Virologin, Epidemiologin oder Infektiologin, sondern Kinderpsychologin und Pädagogin. Damit wird die Frage der Ansteckung auch verschoben innerhalb der Wissenschaften. Es geht nicht zuletzt mit dem Namen der Krankheit – Indigo – um eine blaue Aura, die in der Regel unsichtbar ist. Somit spielt die Esoterik als Grenzwissenschaft in das Wissen von der Krankheit hinein, wobei dieses in einer „Talkshow“ durch ein „Medium“ wahrgenommene Wissen als „irgendwie gelungen(es)“ Experiment fragwürdig bleibt.(S. 55-56) Die Ansteckung geschieht im Roman unterdessen nicht zuletzt sprachlich, wenn der Sohn von Frau Rabl den Nachbarn Robert das „D-Wort“ hinterhergerufen hat und seine Mutter sich dafür entschuldigen will. Doch diese Entschuldigung geht sprachlich schief.
„- Das D-Wort.
– Dingo?
Die Nachbarin nickte.
– Okay, das ist …
Robert suchte nach dem richtigen Wort. Ihm fiel keines ein.
– U-und… s… septische Sau …
Die Stimme der Nachbarin war kaum noch hörbar. Aber Robert hatte verstanden.
– Fuck, sagte er und trat einen Schritt zu ihr ins Treppenhaus hinaus.
– Oh Gott, das hätte ich nicht sagen … ich meine wiederholen sollen, Herr Tätzel, es tut mir leid, bitte, mein Sohn hat ja keine Ahnung, was diese Wörter bedeuten. Sie verwenden sie einfach so!
– Ja, sagte Robert. Sie sollten sehen, was sie mit dem Mongloiden aus dem Nachbargarten machen!
Die Frau zuckte zusammen.“[12]

Clemens J. Setz hat mit Indigo einen zweifellos hochkomplexen Roman über Sprachprozesse und Wissen geschrieben. „Robert Tätzel, 29,“ arbeitet in einer Einrichtung mit „Indigo-Kindern“, wird quasi selbst infiziert und benutzt selbst falsche Wörter, wenn er von „dem Mongloiden“ spricht. Frau Rabl rückt das falsche Wort mit „Kind mit Down-Syndrom“ zurecht. Welche Ursachen die Erkrankung hat, wird nicht geklärt. „Indigo-Kinder leiden an einer grausamen Disposition: Wer sich ihnen nähert, wird von Übelkeit, Schwindel und Kopfweh befallen. Sie haben eine ungesunde Aura, eine kontaminierende Ausstrahlung“, fasst Ijoma Mangold in seiner Laudatio zusammen. In der sprachlichen Unschärfe von „Corona“ und nonchalanten Zusammenfassung wird Indigo in die Nähe einer hellsichtigen Pandemie-Erzählung gerückt, um gleichzeitig als solche verworfen zu werden. Auf die sprachlichen Prozesse geht er nicht näher ein. Doch gerade darin liegt Setz‘ akrobatische Erzählkunst, wenn er mit Tätzel die Ersetzung des Signifikanten als Wortkorrektur darstellt. Im Gebrauch von Wörtern wird das Wissen korrigiert.
„- Ja, sicher kennen Sie den, sagte er. Fragen Sie Ihren Sohn. Er wird Ihnen auch von seiner Entdeckung erzählen, von der er mir vor Kurzem berichtet hat. Total krankes Zeug, aber auch faszinierend. Wenn man einem M… Menschen mit Down-Syndrom die Faust ins Gesicht schlägt, dann entschuldigt er sich bei dir, als hätte er was falsch gemacht! Der arme von allen verspottete Kerl.
Robert deutete einen Schlag an.“[13]

Erzählungen übertragen Handlungen. – Ist Ihnen als Leser*in aufgefallen, dass Setz in der wörtlichen Rede, im Dialog wie in einem Brief die Anrede groß schreibt? – Ein Lapsus? Eine Geste der Höflichkeit? – Indigo ist auch ein Montageroman unterschiedlicher Textsorten – Briefe – „Lieber Clemens Setz“ (S. 11) – , Bucheinführungen, konkurrierende Vorworte – „Das Wesen der Ferne“ (S. 19) -, Patientenanamnese – „Landeskrankenhaus – Universitätsklinikum Graz“ (S. 15) -, Interviews mit eigensinnigen Notizen – „V UNTERSUCHTE WOHNUNGEN : ERG = ф“ (S. 27) -, Dialoge, Fotos, Zitate als Motti – „Im Anfang war die Wiederholung. Jacques Derrida“ (S. 151) – etc. Im dialogischen Sprechenschreiben wurde Robert Tätzel quasi von dem „(t)otal() kranken Zeu(g)“ infiziert. Das empirisch vom Sohn erzeugte Wissen, lässt Robert einen Schlag andeuten. Die Macht und Gewalt des Wissens setzt einen Affekt frei, der sogleich kontrolliert wird. Doch dieses Wissen bringt Robert auch derart in Rage, dass er sich in Racheerzählungen hineinsteigert, die Sprache hakt und an sich selbst einen „Indigo-Delay“ diagnostiziert.
„Eine Naturkatastrophe, dachte er. Man müsste eine Naturkatastrophe auslösen. Eine Muräne. Oder Moräne? Das eine war so ein Schlangending, das andere … Wie hieß es, Mu oder Mo … Verdammter Gap. Indigo-Delay. Das Beste wäre, sagte sich Robert und spürte mit einer gewissen Befriedigung, wie er mit diesem Gedanken die Grenzmarkierung zum Irrsinn überschritt,“[14]   

In seiner Kleist-Preis-Rede knüpfte Clemens J. Setz am Sonntagmittag in Wien/Berlin an Heinrich von Kleist Erzählung Der Findling an, in der es in der Eröffnungssequenz ebenfalls um Kinder, Ansteckung und eine „pestartige Krankheit“ geht. Kinder als Wort und Begriff sind nicht nur in Indigo ein narrativer Dreh- und Angelpunkt, sie bilden auch in der Pandemie ein eigenes Diskurscluster. Das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern und Großeltern und vice versa usw. wird plötzlich von neuartigem Wissen und Maßnahmen infiziert, wenn etwa die Schulbehörde 15jährige zur Impfung ohne Rücksprache mit Mutter und Vater einlädt. Es ließen sich Geschichten ohne Zahl zum Kind als Kristallisationspunkt von Diskursen in der Pandemie herausfiltern. Für Setz ist es in seiner Rede wichtig, dass ein Kind, das ansteckend sein könnte, nicht isoliert wird, sondern „an seines Sohnes Statt“ schließlich angenommen wird. Doch wie lautet diese Szene bei Kleist? Was wusste Kleist von Ansteckungen? Um 1800 verändert sich das medizinische Wissen grundsätzlich. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts werden durch Robert Koch und andere Mikrobiologen Bakterien mit Hilfe der Fotografie und neuer Mikroskope entdeckt. Um 1800 gehen Infektionskrankheiten von Miasmen im Boden aus.[15] Die seit den wiederholten Pockenepidemien in Wien ab 1753 im Jahr 1768 entwickelte Impfung[16], kennt den Krankheitserreger als Virus[17] nicht. Denn die Krankheit wird lediglich nach den sichtbaren Blasen auf der Haut genannt.

Bei Kleist heißt es in dem Text Der Findling:
„A n t o n i o  P i a c h i, ein wohlhabender Gueterhaendler in Rom, war genoethigt, in seinen Handelsgeschaeften zuweilen große Reisen zu machen. Er pflegte dann gewoehnlich E l v i r e, seine junge Frau, unter dem Schutz ihrer Verwandten, daselbst zurueckzulassen. Eine dieser Reisen fuehrte ihn mit seinem Sohn P a o l o, einem eilfjaehrigen Knaben, den ihm seine erste Frau gebohren hatte, nach Ragusa. Es traf sich, daß hier eben eine pestartige Krankheit ausgebrochen war, welche die Stadt und Gegend umher in großes Schrecken setzte. Piachi, dem die Nachricht davon erst auf der Reise zu Ohren gekommen war, hielt in der Vorstadt an, um sich nach der Natur derselben zu erkundigen. Doch da er hoerte, daß das Uebel von Tage zu Tage bedenklicher werde, und daß man damit umgehe, die Thore zu sperren; so ueberwand die Sorge fuer seinen Sohn alle kaufmaennischen Interessen: er nahm Pferde und reisete wieder ab. Er bemerkte, da er im Freien war, einen Knaben neben seinem Wagen, der, nach Art der Flehenden, die Haende zu ihm ausstreckte und in großer Gemuethsbewegung zu sein schien. Piachi ließ halten; und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in seiner Unschuld: er sei angesteckt; die Haescher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter schon gestorben waeren; er bitte um aller Heiligen willen, ihn mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu lassen. Dabei faßte er des Alten Hand, drueckte und kueßte sie und weinte darauf nieder. Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in eben diesem Augenblick, seine Farbe veraenderte und ohnmaechtig auf den Boden niedersank, so regte sich des guten Alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wußte, was er mit demselben anfangen sollte. Er unterhandelte noch, in der ersten Station, mit den Wirthsleuten, ueber die Art und Weise, wie er seiner wieder los werden koenne: als er schon auf Befehl der Polizei, welche davon Wind bekommen hatte, arretirt und unter einer Bedeckung, er, sein Sohn und Nicolo, so hieß der kranke Knabe, wieder nach Ragusa zurueck transportirt ward. Alle Vorstellungen von Seiten Piachis, ueber die Grausamkeit dieser Maaßregel, halfen zu nichts; in Ragusa angekommen, wurden nunmehr alle drei, unter Aufsicht eines Haeschers, nach dem Krankenhause abgefuehrt, wo er zwar, Piachi, gesund blieb, und Nicolo, der Knabe, sich von dem Uebel wieder erholte: sein Sohn aber, der eilfjaehrige Paolo, von demselben angesteckt ward, und in drei Tagen starb.“[18]

Marianne Schuller hat vor allem das Lesen und mit Jacques Lacan die Tauschlogik in der Eröffnungssequenz der Erzählung vom Findling herausgearbeitet. Der Findling sei nicht zuletzt der gefundene oder von der Straße aufgelesene, zunächst namenlose „Knabe()“.[19] Denn der „horror vacui“ spiele „eine entscheidende Rolle“. Der „leere Platz, den der Tod des Sohnes Paolo hinterläßt, ist es, der die Substitution erwirkt“.[20] Die Angst vor der Leere, die ein Nichtwissen impliziert, zwingt zur Ersetzung. Ich weiß um die Leere, die ich nicht aushalten kann. Der „horror vacui“ zwingt das Subjekt als Individuum oder auch als Kollektiv in Form des Staates, ein Wissen zu formulieren, das mein/unser Überleben verspricht. Die Covid-19-Pandemie hat mit der Wissenserschütterung eine Leere aufgerissen, die durch Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und einer vergleichsweise rasenden, nie zuvor gekannten Entwicklung von neuartigen mRNA-Impfstoffen – Comirnaty von Biontech/Pfizer und Moderna – geführt hat. Beide Impfstoffe haben sich abermillionenfach als äußerst wirksam erwiesen. Doch der „horror vacui“ wirkt in einer Impfskepsis, einem Zweifel nach bzw. neben. Der Zweifel lässt sich als eine generelle Nebenwirkung einer Antwort auf den „horror vacui“ beschreiben. Es geht in dieser Pandemie durchaus darum, ein Nichtwissen auszuhalten und danach zu handeln. Impfskeptiker wollen auf keinen Fall dieses Nichtwissen aushalten und stopfen die gewiss noch vorhandenen Wissenslücken mit Angsterzählungen. Die Angsterzählungen drehen sich um einen Kontrollverlust über das eigene Leben, die sich in als Maschinenangst oder bei Kleist nach seiner Erzählung Über das Marionettentheater als Marionettenangst beschreiben lassen. In dieser Lesart der Erzählung wird vor allem eine phobische Sinnproduktion in Gang gesetzt, die ebenso Verschwörungstheorien generiert.

Die literaturwissenschaftliche Diskussion um den Signifikanten anhand der Anfangsformulierungen und Schreibweisen von Der Findling fordert ein Aushalten ein. Denn die „logogriphische Eigenschaft“ der Namen, auf die schon Marianne Schuller hingewiesen hatte, hat später Sigrid Weigel mit Jacques Derrida noch einmal als wesentlichen Zug dieser Eröffnung bedacht. Das Schrifträtsel und das Rätsel der Schrift wird von Heinrich von Kleist wiederholt nicht nur als barocke Rätselform verwendet, bearbeitet und in Szene gesetzt. Es bildet vielmehr die Struktur der Eröffnungssequenz vom Findling und wird in dessen Umfeld wie abermals in der Eröffnungssequenz des Zeitungsprojektes Berliner Abendblätter mit dem 5. Blatt am 5. Oktober 1810 mit dem Text Der Griffel Gottes wiederholt und für die Leser*innen vorausgeschickt. In der, sagen wir, Anekdote, bleibt „nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen“ werden können, aber nicht müssen. Ob sie einen Sinn, einen Fingerzeig ergeben oder nicht, hängt von dem „zusammen gelesen“ werden ab. An den Namen in Der Findling führt Kleist nach Sigrid Weigel das Spiel der Signifikanten und des Wissens durch Benennung auf auch witzige Weise vor.
„Während deren zweite Hälfte olo sich gleich bleibt, ist die erste Hälfte Pa durch Nic ersetzt. Der Anfangsbuchstabe seines Namens symbolisiert den Findling als Fremdling in der ansonsten reinen P-Genealogie der Familie, die aus Antonio Piachi, der Tochter des Philippo Parquet, Elvire, die er in zweiter Ehe geheiratet hatte, und dem Sohn Paolo bestand. Daß Nicolo, wie betont wird, die »logogriphische Eigenschaft seines Namens fremd war«, verweist zudem darauf, daß der Findling einer anderen Ordnung entstammt, in der die Sprache nicht über diese Bedeutung der Signifikanten im Spiel von Ähnlichkeit und Differenz funktioniert.“[21]

Lässt sich „die Grausamkeit dieser Maaßregel“ aus einer unbestimmten literarischen Zeit auf die Impfpolitik und die 2G-Regeln im November 2021 übertragen? Clemens J. Setz liest die Eröffnungssequenz der Erzählung Der Findling als ein „Mysterium der Selbstlosigkeit“ und des „Altruismus“. Keine Angst vor Ansteckung? Seitdem 15. November 2021 gelten in Berlin 2G-Regeln in vielen öffentlichen Bereichen vom Schwimmbad bis zur Staatsoper. Im Deutschen Theater galt am 21. November 2021 ebenfalls die 2G-Regel. Ungeimpfte erhielten bei Überprüfung des CovPass keinen Zutritt. Wer geimpft oder genesen war, durfte Foyer und Zuschauerraum betreten. Am 20. November hatte sich der Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft noch darüber gefreut, dass die Preisverleihung öffentlich stattfinden werde. Und dann gab es plötzlich „gesundheitliche Gründe“, dass der Preisträger am Sonntag nicht körperlich erscheinen konnte. Neben Kleist zitierte Clemens J. Setz weitere Autoren und deren Texte wie Célines Reise ans Ende der Nacht, Elias Canetti und Marcel Proust, die das Thema der Ansteckung mit der Selbstlosigkeit verknüpfen. Man müsste das einen zumindest fatalistischen Zug nennen. Ob es gar zu einem Skandal wie mit Joshua Kimmich im Nationalmannschaftsfußball reichen wird, hängt vom „zusammen ()lesen“ ab. In der Literatur schützt bisweilen die Ambiguität.

Torsten Flüh


[1] Seit dem 6. April 2020 wird der Begriff der Ansteckung auf NIGHT OUT @ BERLIN durch 5 Besprechungen in verschiedenen Konstellationen von Literaturen – theatralischen, romanesken, juristischen und medizinischen – verwendet und bearbeitet. Er gelangte unterdessen nicht bis zur Wertigkeit eines Tags. D.h. zweierlei der Übertragungsvorgang der Ansteckung blieb diskret, obwohl oder weil er zuerst im Kontext des Transhumanismus durch die Lecture-Performance Die Mondmaschine von Brigitte Helbling gebraucht wird. Ansteckung oder Infektion betrifft insofern nicht nur einen menschlichen Körper, vielmehr lauern im World Wide Web bzw. Internet unzählige Gefahren der Ansteckung von Computern und damit dem, was wir Künstliche Intelligenz nennen.
Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[2] Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[3] Vgl. Torsten Flüh: Die Schnecke, der Maulwurf und die Hauskatze. Verleihung des August-Bebel-Preises 2011 an Oskar Negt. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 27, 2011 22:44.

[4] Büchnerpreis für Clemens J. Setz: Seine Rede im Wortlaut. In: Süddeutsche Zeitung 6. November 2021, 18:49 Uhr. Und: Clemens J. Setz: Ulklären. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Dankrede.

[5] Clemens J. Setz: Drehungen. Dankesrede. In: Hubert Winkels (Hg.): Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Göttingen: Wallstein, S. 30.

[6] Clemens J. Setz: Kayfabe und Literatur. Klagenfurter Rede zur Literatur 2019. Klagenfurt: Johannes Heyn, 2019, S. 6-7.

[7] Clemens J. Setz: Ulklären … [wie Anm. 4].

[8] Ijoma Mangold: Das literarische Metaversum. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Laudatio.

[9] Clemens J. Setz: Indigo. Berlin: Suhrkamp, 3. Auflage 2020, S. 55. (Zuerst 2012).

[10] Ebenda S. 19.

[11] Ebenda S. 63.

[12] Ebenda S. 47.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 49.

[15] Zu Miasmen vgl.: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[16] Wien Geschichte Wiki: Pocken. Ebenfalls ganz aktuell erhellend: Hans Kratzer: Als Bayern drakonische Strafen für Impfgegner verhing. In: Die Süddeutsche 24. November 2021, 18:51 Uhr.

[17] Robert Koch Institut: Pocken.

[18] Heinrich von Kleist: Der Findling. (kleist-digital.de)

[19] Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 17.

[20] Ebenda S. 18.

[21] Sigrid Weigel: Der ›Findling‹ als ›gefährliches Supplement‹. Der Schrecken der Bilder und die physikalische Affekttheorie in Kleists Inszenierung diskursiver Übergänge um 1800. In: Günter Blamberger, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2001. Stuttgart: Metzler, 2001, S. 120-121.

Gegenwart, Farbexplosionen und Holzwäscheklammern in Beton

Heimat – Schuh – GEDOK

Gegenwart, Farbexplosionen und Holzwäscheklammern in Beton

Zum Künstlerinnengespräch in der Galerie Kunstflügel der GEDOK Brandenburg

Ines Schaikowski spricht vom Laptop über eine Soundbox, einem vermutlich wasserdichten, tragbaren, runden Lautsprecher, via Zoom o.ä. aus ihrem Atelier in Vilafranca del Penèdes oder Wriezen mit den Besucher*innen in der Galerie Kunstflügel auf der Seebadallee in Rangsdorf. Künstlerinnergespräch. Das passt zu ihrer Werkfolge hybride heimat, die von Projektleiterin Johanna Huthmacher mit den malerischen Farbkompositionen von Monika Meiser in der Galerie der GEDOK, der Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstförderer e.V., im brandenburgischen Rangsdorf kombiniert worden ist. Ines Schaikowski lebt und arbeitet in Wriezen im Märkischen Oderland und in Vilafranca del Penèdes bei Barcelona. Vom Laptop aus ist sie nun mitten in der Galerie Kunstflügel im Landkreis Teltow-Fläming. Monika Meiser winkt ihr zum Abschied in die Laptop-Kamera zu.

Die GEDOK feiert bundesweit ihr 95. Jubiläum. Der brandenburgische Künstlerinnenverband wurde 1994 im „Kunstdorf“ Rangsdorf von der Kunstwissenschaftlerin Dr. Gerlinde Förster zusammen mit Künstlerinnen gegründet. Zum 90. Jubiläum der GEDOK 2016 wurde die Villa von Richard und Ida Dehmel in Blankenese bei Hamburg wieder in Stand gesetzt. Denn Ida Dehmel hatte nach dem Tod ihres Mannes, dem Jahrhundertwende-Dichter Richard Dehmel, 1926 dort die „Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen“ (GEDOK) als Mäzenin ins Leben gerufen, um Frauen in den Künsten zu fördern. Natürlich gab es nach 1933 einen Bruch mit dem Kosmopoliten wie „Weltgeist“- undWonnewellen“-Dichter Richard Dehmel. Seine Nachlasspflegerin wie Frauenaktivistin Ida wurde als „Jüdin“ von den Nationalsozialisten durch die drohende Deportation 1942 in den Tod getrieben.[1] Erst 2016 wurde die Instandsetzung des Dehmelhauses durch die Hermann Reemtsma Stiftung abgeschlossen.[2]

Noch bis zum 19. Dezember 2021 sind die Arbeiten der beiden neu aufgenommenen Künstlerinnen in der Ausstellung Achtung: Aufnahme! auf der geologischen Teltower Hochfläche zu besichtigen. Rangsdorf hat neben der Seebadallee auch eine Hochwaldpromenade sowie Waldhöhe und liegt jetzt bei Regionalzuganbindung wenige Kilometer südlich der Einflugschneise des Flughafens Berlin-Brandenburg „Willy Brandt“. Der Ausstellungstitel spielt mit der Ambiguität der Aufnahme der Künstlerinnen in die GEDOK und der Warnanzeige bei Aufnahmen in Radio- und Fernsehstudios. Die Galerie der GEDOK benennt als Kunstflügel nicht nur einen Gebäudeteil, vielmehr soll sie den Frauen sicher auch Flügel, also Freiheit verleihen, was 1926 für die in Berlin und Hamburg weit vernetzte Künstlerin und Witwe Ida Dehmel, die auch dem Werkbund angehörte, eine epochale Initiative bedeutete. Nach 1945 wurde die GEDOK als Verein neu gegründet und ist heute „das älteste und europaweit größte Netzwerk für Künstlerinnen“.[3]

Um Freiheit geht es in der Malerei von Monika Meiser, während Ines Schaikowski den Begriff der Heimat mit Betonskulpturen und Scanns erforscht und bearbeitet. Die farbintensive Freiheit Meisers zeigt sich in breiten, geschichteten Pinselschwüngen, die sich vor allem von einem Zwang zur Repräsentation in der Malerei befreit haben. Das Projekt Freiheit in der Malerei wendet sich ebenso gegen eine Wahrheit in der Malerei und der Restitution wie sie Jacques Derrida mit zwei Texten von Martin Heidegger und Meyer Schapiro an gemalten Schuhen von Vincent van Gogh diskutiert und dekonstruiert hat.[4] Auf die Schuhe in der Malerei wird zurückzukommen sein. Die gemalte Freiheit muss indessen wahr sein. Sonst wäre das, sagen wir ruhig, Gemälde für Monika Meiser misslungen und könnte in ihrer Malpraxis verworfen und für Collagen zerschnitten werden, wie sie im Künstlerinnengespräch erzählte. In ihrer künstlerischen Biographie kommt die Malerei nach einer Phase der Fotografie und den akribischen Aquatintaradierungen.[5]

Ines Schaikowski beschäftigt sich in der Werkfolge hybride heimat. objekte & modelle mit dem ambigen Begriff Heimat und seiner visuellen wie haptischen Gegenwart im Alltag und dessen Gegenständen.[6] Doch die Gegenwart des Alltäglichen ist auch flüchtig. Zu Heimat wird bei ihr, was landläufig im massenweisen Vorhandensein wie bunten Plastiktrinkhalmen und Holzwäscheklammern aus dem Supermarkt übersehen wird. Wobei die Plastikstrohhalme 2020 subtil im Moment ihres Verschwindens aus dem Alltag in gebildete Kunst transformiert werden. Durch das EU-Plastikverbot zur Nachhaltigkeit seit dem 3. Juli 2021 dürfen sie nicht mehr produziert und verkauft werden.[7] Gegenüber der Frage nach den Schuhen in der Malerei von Vincent van Gogh, mit denen in Heideggers Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes 1935 die Frage nach der Heimat in Form eines „Paar Bauernschuhe“ gestellt wurde[8], hat sich bei Schaikowski nicht nur medial viel verändert. Sie arbeitet mit Beton und digitalen Scannern.

Der Heimatbegriff wird von Schaikowski auf ganz andere Weise als bei Heidegger und Schapiro nach dem Gebrauch der Objekte und ihrem Gebrauchswert erforscht. Sie bewegt sich mit dieser Verschiebung von einer ästhetisch-visuellen Dimension zur Frage des Gebrauchs durchaus in der Nähe der Korrespondenz „zweier berühmter abendländischer Professoren“.[9] Heidegger nennt die Objekte, Schuhe, „Zeug“ und beschreibt sie nach ihrer „Dienlichkeit“.[10] Jacques Derrida verschiebt die Frage nach der Restitution, der Rückgabe der Schuhe als „Stadtschuhe“ an Vincent von Gogh durch Meyer Schapiro auf einen „Sprachort“.[11] In der Malerei als Genre der Bildenden Kunst spielt das Sprechen der Künstlerin über ihre Arbeit durchaus eine Rolle. Ines Schaikowski schreibt/sagt zu ihrer Werkgruppe:
„Erfahrungen und Interaktionen mit der direkten Umgebung, wie mit Alltagsroutinen und Alltagsobjekten bilden wichtige visuelle Referenzen / sie verweisen auf die Bedeutung der Grenzen zwischen äußeren und inneren Räumen sowie auf die Mehrdeutigkeit der Orte, an denen sich der Mensch erfährt und ausdrückt / die materiellen Bedingungen sowie die zweckdienliche Bestimmung von Alltagsobjekten, wie massenweise produzierte Wegwerfartikel, rufen den Menschen als Akteur direkt auf / ich frage nach der Funktion der Form dieser Objekte angesichts ihrer ästhetischen Wertlosigkeit und reflektiere über das Verhältnis vom Menschen zu seiner kulturellen und natürlichen Umgebung“[12]

Die bunten Plastikstrohhalme und die Holzwäscheklammern in graue Betonklötze gegossen werden dem Gebrauch entzogen, um in Monumente von Heimat verwandelt zu werden. Sie sind Readymades, um in eine andere Form gegossen zu werden. Die „ästhetische() Wertlosigkeit“ und 2020 noch massenhafte Vorhandenheit hat sich per Gesetz seit Juli 2021 in ein Relikt aus einer vergangenen Zeit verwandelt. In der Europäischen Union wird es bald keine Plastiktrinkhalme geben. Übrigens haben die Arbeiten zumindest dieser Werkfolge keine Titel. Die Arbeiten werden von der Künstlerin nicht benannt. Das liegt womöglich an der Vertrautheit der Objekte. Neben dem Trinkhalm ist der Strohhalm im Deutschen synonym gebräuchlich. Doch das Kompositum Strohhalm ruft immer auch eine ländliche Natur auf. Der Plastikstrohhalm ist eigentlich ein Paradox, weil die Halme gar nicht mehr aus dem Naturmaterial Stroh, sondern aus Plastik sind. Ines Schaikowskis Betonplastikskulptur erinnert mit dem Rest an eine Plastikkultur, die leicht zur Hand war und im Begriff ist zu verschwinden.

Das Material Holz der kaum beachteten Wäscheklammern, erinnert auf ganz andere Weise an Holz als Medium in der Bildenden Kunst. Über Holz hat sich der Mensch seit Jahrtausenden „aus(ge)drückt“, um die Künstlerin zu zitieren. Holzwäscheklammern sind maschinell und doch von Menschen geformtes Holz mit einer Eisenspirale. Gleichzeitig geben die Holzklammern einen Wink auf das Wäschewaschen als eine Tätigkeit, die immer noch überwiegend von Frauen ausgeübt wird. Als Skulptur in Beton werden die Holzwäscheklammern in ein Bild nicht zuletzt von Heimat verwandelt. In der Malerei wurden Frauen als Wäscherinnen seit dem 18. Jahrhundert zu einem eigenen Genre. In der Werkfolge korrespondieren die Holzwäscheklammern mit den Plastiktrinkhalmen, um in den Materialien eine Diskussion um Nachhaltigkeit anzustoßen. Der Beton übernimmt die Funktion des Rahmens der „Wegwerfartikel“ auf besondere Weise. Zum Nachdenken sind die plastischen Gebrauchsgegenstände nun ganz besonders zu gebrauchen. Darin liegt die künstlerische Operation vom Plastiktrinkhalm zur sozialen Skulptur in Beton. Heimat als Skulptur, könnte man sagen.

In der Ausstellung Achtung: Aufnahme! werden ebenfalls Scaneotypien von Ines Schaikowski gezeigt. Die großflächigen Scanns von „Papierhandtücher oder auch Schleifpapier“ eröffnen nach Johanna Huthmacher „völlig neue() Perspektive(n)“.[13] Die Körnung des gelben Schleifpapiers wird durch das technisch-digitale Medium Scanner im Hochformat zum Bild, als sei es ein monochromes Gemälde. Ines Schwaikowski verzichtet auch hier auf einen Titel. Der Scanner hat die Faltkanten des Schleifpapiers deutlich abgebildet. Und doch wird der vertraute, industriell hergestellte Gegenstand Schleifpapier durch das, man könnte sagen, fotografische Medium zu einem un/gegenständlichen Bild transformiert. Der Witz des Bildes ohne Gegenstand liegt gerade darin, dass es der Gegenstand für das Auge selbst ist. Wüssten die Betrachter*innen durch die bildende Künstlerin, die gesprochen hat, nicht, wie das Bild hergestellt worden ist, würde es schwierig werden, dem Bild auf die Spur zu kommen, obwohl es ein „Rest“ ist, von dem Derrida schreibt:
„— Der Rest: diese bloßen Schuhe, diese Dinge mit ungewissen Gebrauch, die zurückgekehrt sind auf ihre Abgeschiedenheit als nichtsnutzige Dinge.“[14]   

Monika Meiser verleiht als Malerin ihren mit Passepartout gerahmten Bildern Titel. Die Rahmung darf nicht übersehen werden, obwohl genau dies geschieht. Beim Künstlerinnengespräch am 14. November 2021 wird mit dem Mobilefoto „20211114_153226“ die Frage nach dem „Auge des Betrachters“ und dem Titel zum Gesprächsthema. Monika Meiser spricht von der Schwierigkeit der Benennung ihrer Gemälde. Sie nimmt dafür gern eine mediale Operation vor, indem sie einem Gemälde den Titel „Großer Wirbel, 2011“ oder „Rhythmus & Blau, 2015“ oder „Verflochten, 2020“ verleiht. Auf die Frage einer Besucherin, ob sie bei „Rhythmus & Blau“ Musik gehört habe oder Musik darstellen wolle, antwortet Monika Meiser ausweichend und bringt zufällig einen „Schuh“ ins Spiel des Gesprächs. Ein Betrachter habe einmal einen „Schuh“ in einem ihrer Gemälde gesehen. Das Gespräch entspinnt sich weiter, bis eine Betrachterin in Rhythmus & Blau einen „Schuh“ erkennt – „Da ist ein Schuh“ – und auf ihn zeigt. Anders formuliert:
„Der Sprechakt (l’acte de parole) – das Versprechen (promesse) – gibt sich bereits für wahr aus, auf jeden Fall für wahrhaftig und aufrichtig, und es verspricht wahrhaftig (véritablement), die Wahrheit wahrlich (vraiment) zu sagen. In der Malerei, vergessen wir das nicht.“[15]

Die Geste der Freiheit in der Malerei Monika Meisers kann in einem Gespräch durch einen Sprechakt plötzlich in der nachgerade gespenstischen Wiederkehr eines Schuhs kollabieren. Scherzhaft gesagt: Die freien Füße werden in Schuhe gezwängt. Durch ein flottierendes Gespräch, durch einen „Schuh“ als Zitat erscheint einer im Gemalten. Die Geste des Zeigens verkoppelt die Sprache mit dem Gemälde und vice versa. Der Schuh kehrt als Gespenst im Gemälde wieder, weil die Geste der Freiheit eine Leere zur Deponierung des Blicks bietet. Die Leere offen zu halten, eine Kunst. Der Titel Rhythmus & Blau besitzt und besetzt das Bild nicht. Dagegen wird das Gemälde mit dem Zeigen des Schuhs in Besitz genommen: Ich sehe da einen Schuh. Eine Halluzination? Derrida schreibt über die Korrespondenz der beiden Texte von Heidegger und Schapiro:
„— Das, was jetzt diese unglaubliche Wiederherstellung (reconstitution) macht. Es ist eine delirante Dramaturgie, die ihrerseits: eine kollektive Halluzination projiziert. Diese Schuhe sind halluzinogen.“[16]  

Titel regeln juristisch gesehen Besitzverhältnisse. Die Gebrauchsfrequenz von Titel hat sich seit den 1950er Jahren erheblich verstärkt.[17] Das liegt nicht nur am Gebrauch von Titeln in den Künsten, die auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen gebildet werden können. Vielmehr regelt ein Titel allgemeine Rechts- und Besitzverhältnisse durch eine juristische Entscheidung oder z.B. durch Wettbewerbe in Sport und Kultur. Man könnte wohl sagen, dass der ansteigende Gebrauch und die Verleihung von Titeln in einem Wunsch nach Hierarchie, Differenzierung und Verortung gesehen werden kann. Monika Meisers Titel bleiben vage, wenn sie beispielsweise den Titel Verflochten verleiht. Mit den Pinselschwüngen und der Farbwahl wird nicht etwa ein Geflecht dargestellt, vielmehr wird die Textur des Gemäldes aus Gesten, Farben, Materialien, Pigment/Acryl und Papier etc. angesprochen. Das Gemälde selbst bleibt unhintergehbar. Es re-präsentiert nicht mehr und nicht weniger als den Prozess des Malens selbst und
„Man könnte dieses Bild betiteln: Der Ursprung der Malerei./Es setzt das Bild ins Bild und lädt Sie dazu ein, nicht zu vergessen; gerade das, was es Sie vergessen macht: Sie haben Malerei vor Augen und keine Schuhe“[18]  

Johanna Huthmacher spricht in ihrer Einführung zur Malerei Monika Meisers von „Farbfeuerwerk“, ich möchte es Farbexplosionen nennen. Denn die Explosion sprengt auch die Grenzen der Repräsentation in der Malerei hinweg. Denn die kurz angerissene Debatte zum Titel und zum Schuh gibt einen Wink auf die Gewalt des Blicks, der in der komponierten, aber kaum kontrollierten Farbexplosion den Schuh als Gespinst und Gespenst wiederkehren lässt. Die Freiheit – „Das ist in meinem Kopf“, sagte Monika Meiser – zu malen, aber keinesfalls zu repräsentieren oder abzubilden, bleibt weiterhin eine Aufgabe in der Malerei. Die Freiheit hat nicht zuletzt mit den Pigmenten zu tun in ihrer Malerei. Erst in jüngerer Zeit verwendet sie schwarzes Pigment, das sogleich an eine Tuscheschrift erinnern kann. Der Titel Schwarzer Schweif erinnert Huthmacher sogleich an „japanische Kalligraphie“. Das ist richtig und falsch zugleich. Denn die Faszination der chinesischen und japanischen Kalligraphie liegt nicht in der Lesbarkeit eines schön geschriebenen Schriftzeichens, sondern in der Einzigartigkeit des Geschriebenen. Vielleicht ist Meiser auch deshalb erst später zu Schwarzweiß-Kompositionen in ihrer Malerei gekommen, weil sie als weniger frei aufgefasst werden könnten.

Monika Meiser präsentiert ihre Malerei in Passepartouts und Glasrahmen, als müsste die Geste der Freiheit gebändigt und zugleich ausgestellt werden. Die doppelte Rahmung durch Passepartout und Rahmen stellt die Malerei als Bild erst her. Sie machen die Malerei als Bild passend, ließe sich sagen, weil die Malerei k/ein Bild ist. Die Malerei ist eine Tätigkeit, die sich nur schwer fassen lässt. Denn über ihren Ursprung ist sich z.B. diese Malerin selbst nicht sicher. Was da in ihrem „Kopf“ passiert, kann sie nicht sagen. Dann müsste sie auch nicht malen. Doch gerade mit dem Wunsch nach Freiheit im Malen bewegt sich Monika Meiser an der Schnittstelle von Fragen der Kunst in der Moderne, die auf auch schwierige Weise in der aktuellen Kunstpraxis des Kuratierens wie etwa beim Preis der Nationalgalerie 2021 zu bändigen versucht werden.[19] Das Ungebändigte lässt sich in der Malerei von Monika Meiser nun in Rangsdorf sehen. Die Galerie Kunstflügel ist Donnerstag bis Sonntag von 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr geöffnet.

Torsten Flüh

GEDOK Brandenburg
Achtung Aufnahme!
Neue Künstlerinnen der GEDOK Brandenburg 2021
Galerie Kunstflügel
Seebadallee 45
15834 Rangsdorf
bis 19. Dezember 2021


[1] Siehe: Dehmelhaus Stiftung: Ida Dehmel.

[2] Dehmelhaus Stiftung: Sanierung.

[3] Ebenda GEDOK.

[4] Jacques Derrida: Restitution von der Wahrheit nach Maß. In: ders.: Die Wahrheit in der Malerei. Herausgegeben von Peter Engelmann. Wien: Passagen Verlag, 1992, 300-442.

[5] Siehe Torsten Flüh: Trauma und Bildfindungen der Teilung. Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2019.

[6] Zum Thema Heimat siehe: Torsten Flüh: Heimat-Fetisch und queerer Sex. Zu Just Love und Eure Heimat ist unser Albtraum im Zentrum für Aktuelle Kunst der Zitadelle Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Oktober 2019.

[7] Bundesregierung: Einweg-Plastik wird verboten. Sonntag, 4. Juli 2021.

[8] Jacques Derrida: Restitution … [wie Anm. 4] S. 306.

[9] Ebenda S. 307.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda S. 310.

[12] Ines Schaikowski: hybride heimat. objekte & modelle. 2020. (Website).

[13] Johanna Huthmacher: Achtung Aufnahme! Neue Künstlerinnen der GEDOK Brandenburg 2021. Monika Meiser und Ines Schaikowski. Zur Eröffnung 31.10.2021.

[14] Jacques Derrida: Restitution … [wie Anm. 4] S. 351.

[15] Jacques Derrida: PASSE-PARTOUT. In: ders.: Die Wahrheit der Malerei. Ebenda S. 23.

[16] Jacques Derrida: Restitution … [wie Anm. 4] S. 322.

[17] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: DWDS: Titel.

[18] Jacques Derrida: Restitution … [wie Anm. 4] S. 398.

[19] Zur Kunstpraxis des Kuratierens siehe: Torsten Flüh: Einsicht gewonnen. Zur Shortlist und Preisträgerin des Preises der Nationalgalerie 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Oktober 2021.

James Bonds Kampf gegen eine Pandemie

Maschine – Mann – Virus

James Bonds Kampf gegen eine Pandemie

Zum Angstszenarium des 25. James Bond-Films NO TIME TO DIE

Jeder James Bond-Film hat Zukunftswissen aufgerufen, das von einem Kriminellen und seiner Organisation missbraucht wird. Die Welt wird vom missbrauchten Wissen mit apokalyptischen Szenarien bedroht. Es drohte seit je die Auslöschung der Menschheit. So auch im neuesten und letzten James Bond mit Daniel Craig in der Titelrolle mit dem kryptischen Titel NO TIME TO DIE. Das galt während der Zeit des Eisernen Vorhangs From Russia with Love (1962), als sich das Böse schematisch auf die UdSSR projizieren ließ. Das Zukunftswissen spielte auch für den Medienmogul Elliot Carver als Bösewicht 1997 in Tomorrow Never Dies eine Rolle. Er wollte die Medien global unter seine Kontrolle bringen. Für den 25. Film wurde ab September 2018 das Drehbuch überarbeitet. Anfang 2020 sollte der über Jahre hinweg entwickelte Film mit einem Pandemie-, Infektions- und globalen Vergiftungsszenario in die Kinos kommen. Am 28. September 2021 feierte er schließlich in der Royal Albert Hall in London seine Weltpremiere. Kürzlich sah der Berichterstatter das Kinoereignis im delphi LUX.

Die trick- und bildtechnisch maximal ausgesteuerte Action der James Bond-Filme überdeckte und bearbeitete die jeweils tief im globalen Diskurs kursierenden Angstszenarien.[1] Schöne Frauenkörper wurden vom weißen, gutaussehenden Serienhelden erobert – und verbraucht. In NO TIME TO DIE ist, abgestimmt auf einen globalen Konsum- und MeToo-Diskurs, alles anders und näher an den kursierenden Wissensmodellen als je zuvor. Virale Nanobots bedrohen als Geheimwaffe die Menschheit. James Bond (Daniel Craig) wird ganz nach dem Lebensmodell Berlin-Prenzlauer Berg Vater. Seine Freundin mehr denn Gespielin Madeleine Swann (Léa Seydoux) bleibt, begleitet von der farbigen, stabilen Frau und Doppel-Null-Agentin Nomi (Lashana Lynch) als alleinerziehende Mutter zurück. Nie zuvor war die Erzählung von James Bond und den globalen Ängsten so real wie dieses Mal.

Mit welchen Medien werden die Ängste als Wissensformation visuell, strategisch und auditiv abgewehrt und bekämpft? Jede Filmversion von James Bond kombiniert neueste visuelle und auditive Filmtechnik mit Narrativen aus der Wissenschaft, den sozialen Umgangsformen, den Medien und einer aktuellen Popkultur. Die aktuelle Popkultur wird mit dem Titelsong durch Billie Eilish verkörpert. Sie hat megaerfolgreich seit geraumer Zeit eine Angstkultur der jüngsten Generation entwickelt. Billie Eilish verdichtet als Singer-Songwriterin Beziehungsängste, Umwelt- und Klimaängste zu einem Diskurs der Hypersensibilität, der die totale Handlungsunfähigkeit sanktioniert und zur Selbsteinweisung in die Psychiatrie als ultimativen (Nicht-)Ausweg ermuntert.
“…
That I’d fallen for a lie
You were never on my side
Fool me once, fool me twice
Are you death or paradise?
Now you’ll never see me cry
There’s just no time to die“

Das Wissen von den globalen Gefahren hat sich mit der bekennenden Veganerin Billie Eilish derart verdichtet, dass der Titelsong die familiale wie soziale Verlassenheit und Machtlosigkeit zelebriert. Er ist ein wenig banal, komplett unsexy und steigert den privaten Liebeskummer zum überwältigenden Weltschmerz. Die suizidale Stimmung nach einem Liebesbetrug wird lediglich mit dem Mangel an Zeit für einen Suizid quittiert: „There’s just no time to die“. Wie anders klang da die moralisch aufgeladene Ballade von Mr. Goldfinger mit Shirley Bassey (1964) – „Golden words he will pour in your ear/But his lies can’t disguise what you fear/For a golden girl knows when he’s kissed her” – oder auch noch Adele`s apokalyptische Widerstandsballade Skyfall (2012) – „Let the sky fall/When it crumbles/We will stand tall/Face it all together”.[2] 2021 steht bei Billie Eilish niemand mehr zusammen, obwohl der Himmel einstürzt, sondern kann sich nur noch mit Opioiden wie Tilidin und Co. betäuben, um zu behaupten, keine Zeit für einen Suizid zu finden. Auf seine Art formuliert der Titelsong präzise eine erschütternde Wissenskrise und Wissenserschütterung, die sich nicht auf ein Moralwissen wie bei Bassey oder zwei Menschen wie bei Adele bezieht, sondern eine Selbstwahrnehmung und Eigendiagnose beschreibt: „Sind Sie hochsensibel oder hypersensibel?“[3]

Als wären der Titelsong und der Popstar Billie Eilish eine Erfindung von Michel Foucaults Psychiatriekritik, performt die Psychiatrie nun als globales, gesellschaftliches Symptom die Wissenskrise einer gut ausgebildeten, reflektierten, hoch- oder hypersensiblen Jugend. Treffender und vorausschauender für die Nöte pubertierender Jugendlicher in der Klimakrise, der Me-Too-Debatte, Hassrede auf Meta/Facebook & Co., der Pornosexualität aus dem Internet und der isolierenden Covid-19-Pandemie hätte das Casting nicht ausfallen können. Die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts malträtiert die Jugend auch. Billie Eilish verkörpert und performt die Psychologisierung und Selbstpsychiatrisierung in der Selbstfindung, als ginge es darum, den frühen Michel Foucault zu paraphrasieren. In seiner frühen historischen Studie Psychologie und Geisteskrankheit zur Genese des modernen Subjekts schreibt er 1954, dass die „psychologischen Dimensionen des Wahnsinns“ als ein „allgemeine(s) Verhältnis“ anzusehen sind, welches „vor fast zweihundert Jahren der Mensch des Okzidents zu sich selbst hergestellt“ habe.
„Dieses Verhältnis ist(, …,) eben die Psychologie, in die er ein wenig von seinem Staunen, viel von seinem Stolz und das Wesentliche seiner Fähigkeit zu vergessen gelegt hat; unter weiter geöffnetem Winkel ist es das Hervortreten – in den Formen des Wissens – eines homo psychologicus, dem es aufgegeben ist, die innere, fleischlose, ironische und positive Wahrheit allen Selbstbewußtseins und aller möglichen Erkenntnis in sich zu versammeln; in der weitesten Öffnung schließlich ist es dasjenige Verhältnis, durch welches der Mensch sein Verhältnis zur Wahrheit ersetzt hat, indem er diese in das grundlegende Postulat entfremdete: er selbst sei die Wahrheit der Wahrheit.“[4]

Anders als der Titelsong NO TIME TO DIE ankündigt, versinkt die Action-Figur James Bond nicht in Selbstzweifel und Hochsensibilität. Vielmehr verkehren sich seine Zweifel nicht nur an Madeleine Swann, sondern auch an seinem Geheimdienstchef Gareth Malroy „M“ (Ralph Fiennes) in eine Hyperaktivität. Mit der Aktivität wird unter zahlreichen Überschneidungen ein Verlust des Glaubens an die Wahrheit und Integrität des britischen Geheimdienstes MI6 als Wahrheitsorganisation verdrängt. Denn im Geheimprogramm „Herakles“ hatte M eine virale Geheimwaffe entwickeln lassen, die nun in die Hände von Kriminellen gelangt ist. Die Geheimwaffe situiert sich an der Schnittstelle eines biologisch-viralen und maschinellen Waffensystems. Auf die DNA von Zielpersonen werden sogenannte „Nanobots“ programmiert und losgelassen, so dass sie binnen Sekunden tödlich wirken. Die Übertragung geschieht durch Händedruck! – Der Händedruck wird in Zeiten der Covid-19-Pandemie und der AHA-Regeln, die vor dem Händeschütteln warnen, zum ultimativen Schrecken.

Graphisch vervielfältigt sich in der Titelsequenz die Bond-Pistole, eine Walther PPK, und bildet eine Art DNA-Helix. Diese kurze Sequenz, die so animiert wird, als schössen die Pistolen unter Wasser aufeinander, kündigt einerseits die DNA als Schlachtfeld der Zukunft an und gibt andererseits zugleich einen Wink auf die metonymisch mentale DNA des Serienhelden. Es geht um Denkmuster. Narratologisch wird Lyutsifer Safin (Rami Malek) als Bösewicht in einer Art Showdown im Giftgarten nahelegen, dass Bond und er die gleiche DNA hätten. Durch das Zerbrechen einer kontaminierten Ampulle vergiften/infizieren sie sich denn auch im Kampf. Insbesondere an dem Vornamen Lyutsifer und der Tatsache, dass er Madeleine Swann als Kind das Leben gerettet hatte, als er eine Eisfläche zerschoss, unter die sie geraten war, erzeugen eine neuartige Ambivalenz der Dichotomie von Gut und Böse. Denn der Name Lyutsifer erinnert nicht mehr und nicht weniger als an den gefallenen oder verstoßenen Engel Luzifer. Gleichzeitig entsteht mit dem Bild einer sich selbst beschießenden DNA-Helix aus Pistolen der Eindruck einer Art Selbstzerstörung, die sich auf die Menschheit ausweiten lässt.  

Die Ambivalenz der Titelsequenz mit der DNA-Helix kommt einer Auslöschung des James Bond-Narrativs gleich. Sie hatte sich bereits im 24. Teil 2015 mit dem Titel Spectre angekündigt, in dem das Gespenstische des Serienhelden, seiner Wiederkehr und seiner Geschichte dramatisch aufbereitet wurde.[5] Ganz am Schluss wird James Bond mit Hilfe der HMS Dragon, einem britischen Luftverteidigungszerstörers, samt der Giftlabor-Insel bombardiert und ausgelöscht. Wahrscheinlich ist No Time to Die unter der Regie des bislang kaum bekannten Cary Joji Fukunaga, der auch am Drehbuch mitwirkte, der ambivalenteste James Bond. Welcher Mann will und darf heute noch James Bond sein, der mit Sean Connery und Pierce Brosnan fast regelmäßig zum Sexiest Man Alive[6] oder 2006 mit Daniel Craig zumindest zum World’s Sexiest Man[7] gewählt wurde? Die Krise des weißen Mannes, wie wir ihn mit James Bond und seiner DNA kannten, hat diesen nun voll erwischt. Daniel Craig darf in No Time to Die viel behaarte Brust zeigen, aber Léa Seydoux behält im Bett das T-Shirt an.

Zwischen dem 24. und dem 25. Teil wurde der Brexit vollzogen. Der Weltakteur James Bond und sein Geheimdienst MI6 sind auch vom Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erwischt worden. Ganz zu schweigen davon, dass sich der CIA-Agent Logan Ash (Billy Magnussen) als Verräter entpuppt. Als Spectre in die Kinos kam, war der Brexit ein kaum wahrnehmbares Gespenst. Planmäßig hätte No Time to Die mit dem suizidgleichen Brexit in die Kinos kommen sollen. Nicht nur Harvey Weinstein und die MeToo-Debatte seit Oktober 2017 haben James Bond schwer mitgespielt. Dass James Bond in der Verkörperung von Daniel Craig vom Londoner international aufgestellten Kondomhersteller Durex zum World’s Sexiest Man gewählt wurde, der sich ebenso auf dem Gebiet von antiviraler Software im Internet engagiert, hat dem Selbstbild nicht geholfen. Die Eröffnungssequenz der Filmwelt beginnt im wahrhaft alten Europa einer malerischen Kleinstadt in Italien und endet in der felsigen Kargheit der entlegenen Kurilen auf dem 47. Breitengrad im Pazifik. Europa spielt für James Bond als Schauplatz keine Rolle mehr, als sollte der Brexit maximal verdrängt und zugleich bestätigt werden.

Doch selbst London gerät in der James Bond-Welt nur noch schemenhaft ins Bild. Spielte London und das MI6 Hauptquartier an der Themse nicht zuletzt wegen seiner Zerstörung eine zentrale Rolle, so wird „M“ nun zum Urheber des Bösen selbst, was 007 allerdings sichtbar verstimmt. London hat seinen Charme verloren. Das Öffentliche des Geheimdienstes wird ins Private verschoben. Denn Q entdeckt die Nanobots und ihre Zusammenführung mit Gendatenbanken ironischer Weise in seiner heimischen Küche und keinesfalls im hochtechnifizierten Geheimdienstlabor, das in Spectre ganz groß in Szene gesetzt worden war. Es sind Szenen einer zerfallenden Macht, wenn nicht gar Weltmacht, die No Time to Die durchziehen. Das Labor des Bösen in der Nazi-U-Bootbunker-Architektur aus Beton wirkt ungleich größer und mächtiger als das Hauptquartier in London. Voller Ironie zerstört die HMS Dragon als Schlachtschiff ihrer Majestät die Insel mit ihrem Geheimagenten. Man darf sich bei den James Bond-Filmen keinesfalls an einer vermeintlichen Handlung orientieren, vielmehr müssen die Szenen als Schauplätze in ihrer Ambiguität in Beziehung gesetzt werden.

Woher kommt nun das Schreckensszenario der Nanobots? Haben die Nanobots, die kaum sichtbar werden im Film, eine Geschichte? Einerseits spielt der Begriff Nanobots, wenn Q (Ben Whishaw) ihn gebraucht, eine Wissen verknüpfende Rolle. Nanotechnologie als Wissenschaftsfeld kursiert im populären Wissenschaftsdiskurs durchaus. Es geht um etwas sehr Kleines, das sich der Sichtbarkeit durch das menschliche Auge entzieht. Andererseits verweist der zweite Teil des Kompositums auf die Robotik, die durch die Covid-19-Pandemie größere Aufmerksamkeit erhalten hat. Was nur auf dem Computerbildschirm schemenhaft als Bild erscheint, um sogleich mit Datenbanken-Darstellungen kombiniert zu werden, wird zum ultimativen Schreckensszenario. Tatsächlich wird das Schreckensbild in seiner Wirkungsweise kaum entschlüsselt. Der Schrecken bleibt diffus. Es genügen Anspielungen auf ein verborgenes Wissen, das durch ein Eindringen in den menschlichen Körper tödlich wirkt. Nun ist es genau dieses Schauspiel eines hochtechnifizierten Wissens, welches sich der Sichtbarkeit entzieht, das seit Beginn der Covid-19-Pandemie eine prominente Rolle in den Narrativen der Verschwörungsdiskurse von QAnon mit der Implantierung von RFID-Mikrochips wie der Impfgegner nicht nur gespielt hat, sondern weiterhin spielt.[8] – Und zwar in einer Wirkmächtigkeit, die immer wieder neue und gewaltigere Wellen von Infektion und Tod erzeugt.

Die Fiktion und Wissenschaft der Nanotechnologie und der Nanobots wird auf die Short Story Autofac von Philip K. Dick aus dem Jahr 1955 in dem Science Fiction Serienheft Galaxy aus New York zurückgeführt.[9] Doch der Begriff fällt im Englischen Original so nicht. Vielmehr wird das Kompositum autofac als Name für Roboter gebraucht. Das Kompositum aus auto und fac als Kurzform von factory lässt an eine Selbstproduktion und -organisation von Robotern denken. Dick stellt seiner Kurzgeschichte ein als Frage formuliertes Motto voran: „Naturally, Man should want to stand on his own two feet … but how can he when his own machines cut the ground out from under him?”[10] Der Mensch (Man) wird insofern von seinen eigenen Maschinen bedroht. Die Autofacs sind nicht einmal besonders klein, vielmehr besteht ihr Schrecken darin, dass sie Netzwerke bilden und die Menschen in „semi-barbarism“ stürzen, wenn ein Netzwerk geschlossen wird.[11]
“Since the autofac network had closed down its supply and maintenance, the human settlements had fallen into semi-barbarism. The commodities that remained were broken and only partly usable. It had been over a year since the last mobile factory truck had appeared, loaded with food, tools, clothing and repair parts. (…)
Their wish had been granted — they were cut off, detached from the network.”[12]

Es ist einerseits erstaunlich, wie eine Geschichte der Nanobots oder „Molecular machines“[13] auf Autofac zurückgeführt werden kann. Andererseits sind es die Begriffswechsel über unterschiedliche Sprachen hinweg, die diese Geschichtserzählung ermöglichen. Der Berichterstatter sah die Originalversion und ist sich ziemlich sicher, dass Q den Begriff „Nanobots“ gebrauchte, obwohl im Englischen wohl molecular machines richtig wäre. Es entsteht durch die Transformationen ein gewisser, auch geheimnisvoller Spielraum des Wissens, was man sich unter der Wirkungsweise der Nanobots vorstellen sollte. Die englische Wikipedia-Seite zu No Time to Die gebraucht dagegen den Begriff neun Mal, als sei es ganz selbstverständlich, wovon gesprochen wird.[14] Die Verknüpfung von medizinischem Wissen über Viren mit dem Maschinen-Narrativ führt zwei Bedrohungsszenarien zusammen. Erstens geht es um die Übertragung von Viren durch Körperkontakt, eine Kontaktperson[15], und deren potenziell tödliche Vermehrung im menschlichen Körper. Zweitens geht es mit den Maschinen um einen Kontrollverlust, dessen, was der Mensch geschaffen hat. Genau dieser Kontrollverlust wird mit dem Raub der Nanobots aus dem „Herakles“-Labor in Szene gesetzt.

Das informationelle Model vom Virus wird im Nanobot als Bedrohung der Menschheit mit No Time to Die bearbeitet, transformiert und verpasst. Ein nahezu vorausschauendes Szenario für die Welt- und Menschheitsgeschichte wird im 25. 007-Film derart aufwendig und materialreich mit der jüngsten Generation eines Zerstörers, HMS Dragon, bekämpft, dass es zugleich komisch wird. Der Name des Geheimprojektes, „Herakles“, ruft nicht zuletzt jenen griechischen Mythos von Männlichkeit[16] und seinen 12 Aufgaben auf, der zwischen Hegemonie und Sieg über den Höllenhund Cerberus zum Leitbild der Männlichkeit in der Moderne wurde. Ironischerweise geht es mit der Geheimdienstaufgabe um kleinste Ungeheuer, die nicht einmal mit dem menschlichen Auge zu sehen sind. Im 25. James Bond wird nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen, sondern ein genetisches Informationsmodell soll mit Cruise Missles zerstört werden. Zieht man dieses Paradox in Betracht, wird No Time to Die zu einer sehr amüsanten Unterhaltung.

Torsten Flüh

In diversen Kinos:
No Time to Die


[1] Siehe: Torsten Flüh: Angst vor den Schatten. Über 007 und M in Skyfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 4, 2012 14:18.

[2] Ebenda.

[3] Wolfgang Albrecht: Psychotherapie bei Hochsensibilität oder Hypersensibilität in Berlin 2021 (0nline).

[4] Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1968 (zuerst 1954), S. 131.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Zeit der Gespenster. Zum 24. 007-James-Bond-Film Spectre in der Originalversion im CineStar. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 7, 2015 18:51.

[6] Wikipedia: Sexiest Man Alive.

[7] China Daily: Daniel Craig voted the world’s sexiest man. 2006-12-13 09:26.

[8] Zur Sichtbarkeit von Viren siehe: Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[9] Wikipedia: Nanobot.

[10] Philip K. Dick: Autofac. In: Galaxy Nov. 1955, S. 70. Archive org.

[11] Ebenda S. 87.

[12] Ebenda.

[13] Wikipedia: Molecular machine.

[14] Wikipedia: No Time to Die.

[15] Siehe zur Kontaktperson: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[16] Siehe zur Männlichkeit und Epidemie: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

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Das Rascheln der Kalenderblätter

325 Jahre Akademie der Künste, Archiveröffnung und Buchvorstellung von Emine Sevgi Özdamar am Pariser Platz

Aus den Seiten von Emine Sevgi Özdamars gerade erschienenem Roman Ein von Schatten begrenzter Raum raschelt Paris hervor. Die Autorin liest eine Passage, wie eine mittellose und quasi obdachlose junge Frau in Paris in einer Telefonzelle steht, telefoniert, Benno Besson sucht, beharrlich behauptet in keinem Land, sondern in einem Menschen oder einer Sprache, in Benno Besson – „»Ich lebe in Besson, ich wohne in Besson.«“[1] – und der französischen Sprache zu wohnen. „Ich schrie laut Wörter, als ob ich mich der französischen Sprache bekanntmachen wollte, damit sie mir sagt: ‚Du kannst in mir wohnen, hier ist deine Aufenthaltserlaubnis, votre carte de sejour.‘“[2] In der Akademie der Künste am Pariser Platz hat Emine Sevgi Özdamar erst, aber immerhin 2017 eine „Aufenthaltserlaubnis“ in der Sektion Literatur erhalten.

Überhaupt herrschte in der vor 325 Jahren am 11. Juli 1696 von Kurfürst Friedrich III., dem späteren König Friedrich I. von Preußen, in Berlin eröffneten Akademie der Künste eine gewisse Misogynie. Gegründet wurde die Akademie ohne Literatur. Was wohl nicht zuletzt daran lag, dass Mal-, Bild- und Baukunst stärkere Repräsentations- und Herrschaftsmedien waren. Der Bildhauer Andreas Schlüter gehörte zu den ersten Mitgliedern der noch kleinen Akademie zum, wie man heute sagen würde, informellen Austausch über die Künste, zur Ausbildung und zur Beratung u.a. bei der Ausgestaltung des Berliner Schlosses.[3] Denn Friedrich III. ließ den Barockflügel des Berliner Schlosses bauen, um seinen Anspruch auf das Königtum in Preußen darzustellen.[4] Die Pastellmalerin Jeanette Nohren wurde fast 100 Jahre später am 11. Oktober 1784 als erste Frau zum Akademiemitglied gewählt.[5] 

Die Kalenderblätter vom 11. Juli 1696 und 11. Oktober 1784 rascheln nach und nach auf die Webseite der Akademie zum Jubiläumsjahr. Das Rascheln hat immer etwas Geheimnisvolles und bisweilen Beunruhigendes. Manchmal soll das Rascheln beunruhigen, indem es Fragen aufwirbelt. Beispielsweise erinnert das Kalenderblatt vom 17. September 2021 an das Datum im Jahr 2014 als Schwindel der Wirklichkeit – Das metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen gestartet wurde.[6] Claudia Reiche und Hartmut Böhme nahmen am Vorbereitungsbüro zu Schwindel der Wirklichkeit über Transhumane Figurationen im Januar 2014 teil.[7] Die Akademie der Künste wandelte ihr Selbstverständnis zu „einem Labor ästhetischer Fragen, zum dynamischen Modell, zum Ort des Austauschs zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden, zum Verhandlungsraum von Diskursen zur Gegenwart“.[8]

Im Archiv der Akademie der Künste raschelt nun der Vorlass von Emine Sevgi Özdamar, um mit Zeichnungen und Notizen daran zu erinnern, wie sie als Regieassistentin mit Benno Besson und Matthias Langhoff an der Volksbühne in Ost-Berlin 1976 zusammenarbeitete. Die Leiterin des Archivs für Literatur, Gabriele Radecke, machte bei der Archiveröffnung auf die Notizen in Türkisch und Deutsch aufmerksam. Eine Wohngemeinschaft der Sprachen? Das Rascheln lässt sich wie die Literatur nicht fassen. Es passiert etwas. Und so raschelt es beispielhaft im Roman:
„Dann pfiffen sie eine merkwürdige Melodie. Dann hörte ich Papier rascheln. Es hörte sich an, als würden Papiere fallen und sich auf dem Boden verstreuen. Die erste und die zweite Stimme redeten weiter. Ihre Stimmen waren wie die Stimmen zweier Ärzte, die über eine Patientin, die vor ihnen lag, ihre Meinungen austauschten. »Nun?«, fragte die erste Stimme.“[9]

Die Archiveröffnung und Buchvorstellung feierten mit Özdamar Akademiemitglieder wie Katja Lange-Müller, Volker Braun und Angela Winkler aus der Sektion Darstellende Kunst. Archivnachbarin Ginka Steinwachs war ebenfalls erschienen. Der Direktor des Archivs, Werner Heegewaldt, und die Leiterin der Literaturabteilung schwärmten von der Vielfältigkeit der ihnen überlassenen Sammlung. Im Livestream und als Projektionen wurde sie im Plenarsaal neben einer barocken Büste Friedrich I. an der Stirnseite einsehbar. So werden in den Vitrinen im Foyer der Akademie „unbekannte Dokumente aus Özdamars Theaterarbeit“ zugänglich. Sie spielen „im druckfrischen Roman eine wesentliche Rolle“, wie es aus dem Archiv heißt.[10] Doch im Roman ist Dank der Literaturen eben auch alles anders.

Emine Sevgi Özdamar antwortet auf die Fragen von Helmut Böttiger über das Verhältnis der Archivmaterialien zum Roman widerwillig. Özdamars Schreiben ist nicht so leicht mit Archivmaterial beizukommen, weil ihr literarisches ein anderes ist. Ein wiederkehrendes Thema ist die Beziehung des literarischen Ichs zum türkischen Genozid an den Armeniern. Das ist nicht zuletzt eine politische Erinnerung. Entgegen der phantasmatischen Politik ethnischer Reinheit kommen im Roman armenische Nachbarn und Freundinnen immer wieder vor.
„Diese Bräute konnten lesen und schreiben. Sie lasen im Dorf unsere Briefe, schrieben auch für uns Briefe mit zartem Charakter an unsere Männer, die weit weg waren, noch weiter als die Orte in den Träumen, dort mit Gewehren, still in ihren Mantel gehüllt, mit den Kriegsläusen saßen. Sie saßen unter dem Sternenhimmel, den Sternen, die ihren kommenden Tod vor ihnen von oben aus sahen, aber nicht mit Sternenhänden diese jungen Männer, noch unschuldig, aufsammeln konnten vor dem Tod. Wir waren gute Nachbarn dieser armenischen Bräute.“[11]

Özdamars Schreiben des Romans geschieht gleichwohl aus Archiven. Die Liste der „Quellen“ mit 81 Titeln nach dem Ende des Romans gibt einen Wink, aus welchen Archiven sie schreibt.[12] Sie zitiert ebenso Bertolt Brecht wie Konstantin Kavafis, übersetzt Jean-Luc Goddard genauso wie Turgut Ayar oder zitiert aus dem legendären Fernsehgespräch von Günter Gaus mit Hannah Arendt vom 28. Oktober 1964 zur Muttersprache.[13] Eine Quellenliste ist für einen Roman durchaus ungewöhnlich. Emine Sevgi Özdamar verwebt in ihren Erzählungen z.B. Zitate von Turgut Ayar:
„Das bestickte Istanbuler Erinnerungstuch hing noch hinter ihm, neben dem Tuch hatte jemand mit Kreide drei Sätze an die Mauer geschrieben:
Ey, alter Sonnenvogel
Gib mir meine Erinnerungen
Ich kann mich dann erkennen, vielleicht6
Diese Mauer, vor der Efterpi den Straßenfotografen fotografiert hatte, kannte ich. Es war die Mauer des Istanbuler britischen Konsulats. Fünfundzwanzig Jahre später werden die Al-Qaida-Anhänger mit einem Auto da reinfahren, sich selbst, den britischen Konsul, der Türkisch konnte und Istanbul sehr liebte und nur noch da leben wollte, den Teemann und andere Menschen, die im Konsulat arbeiteten, mit Bomben töten. Der Vater eines Getöteten wird ein Stück seines Kindes zwischen den Glassplittern mit seinen Händen finden wollen, suchen, suchen, aber nur Glassplitter anfassen.“[14]

Das „bestickte Istanbuler Erinnerungstuch“ mit der Bitte um „Erinnerungen“ wird kunstvoll syntagmatisch mit einer Erinnerung an ein Attentat verwoben. Ein von Schatten begrenzter Raum lässt sich ein Erinnerungsroman lesen, in dem mehrere Erinnerungsschichten ineinander spielen. Das von Özdamar übersetze Zitat von Turgut Ayar stellt das erinnernde „Ich“ auch in Frage. Das „Ich“ wünscht, sich selbst in „Erinnerungen“ zu „erkennen“, und ist sich mit dem Vielleicht doch unsicher, ob es sich in seinen Erinnerungen erkennen wird. Zugleich wird von einer doppelten Szene des Fotografierens erzählt: Denn das Foto, das das erzählende Ich betrachtet, überschneidet sich mit der fotografischen Erinnerung an den Anschlag auf das Konsulat. Die Erinnerung springt sogleich um, indem der Vater „ein Stück seines Kindes“ „finden“ will, doch nur ihn verletzende Glassplitter zu „(…)fassen“ bekommt. Auf diese Weise wird die Frage der Erinnerung narrativ mehrfach gedreht. Mit der Erinnerung wird nicht erfasst, was zu finden gewünscht wurde.

Das Erzählen von der Erinnerung berührt auch die Frage nach dem Surrealismus als Schreibpraxis. Denn der Surrealismus wurde insbesondere von Ginka Steinwachs in ihrem Buch Mythologie des Surrealismus (1971) als ein strukturalistisches Verfahren beschrieben.[15] Zugleich wurde mit ihrer Analyse des Romans Nadja von André Breton eine feministische Schreibweise umrissen. Zitate spielen dafür eine entscheidende Rolle. Emine Sevgi Özdamar lässt an einer Stelle ein Zitat aus André Bretons erstem surrealistischen Manifest über das Träumen selbst in einer surrealen Szene verwirbeln. Denn „ein türkischer Künstler“ liest im Café La Coupole „synchron“ mit einem französischen Freund die Passage aus dem Manifest auf Türkisch und Französisch, während es in Deutsch zitiert und erzählt wird.

Das Zitieren als Praxis des Schreibens und Erzählens nimmt bei Özdamar eine wichtige Funktion ein. So beschreibt sie eine kleine Schlacht mit Zitaten, die surreale Effekte generiert. Das Zitieren wird zu einer Montage über das „richtige“ Denken. Zwischen Montage und Paris-Erzählung stellt sich bei Özdamar nicht mehr die Frage, was Traum und Wirklichkeit unterscheidet, vielmehr schafft sie als Hörerin eine Realität. Die Realität wird zu einer Frage des Lesens und der Montage.
„Keiner am Tisch hörte ihnen zu. Sie holten aus ihren Taschen Papiere, redeten durcheinander, einer sagte: »Lies doch ›Der Träumer – von Mauern umgeben‹.« Ein anderer sagte: »Lies ›Der Schatten des Erfinders‹, Aragon, Aragon.« Ein anderer sagte: »Lasst uns ›Unbewusste Gründe des Selbstmords‹ hören.« »Nein, von Fourier ›Polizei, Hände hoch!‹«
Ich hörte mal ihnen, mal den beiden zu, die immer noch den Breton-Text synchron sprachen: Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken?[16]  

Die Szene im Café La Coupole wird von Özdamar so kunstvoll montiert, dass sich gerade nicht die Frage stellt, ob sie sich so beim Paris-Besuch zugetragen hat oder haben könnte – es womöglich, wenn schon keine Tonbandaufnahme, so doch ein Foto im Archiv zu finden wäre. Özdamars beharrliches Schweigen zur Frage autobiographischer Spuren im Erzählerin-Ich, kann nicht anders als Geste der Höflichkeit verstanden werden. Es ist kein Geheimnis, dass Emine Sevgi Özdamar eine Meisterin der Autofiktion ist. Die Autofiktion unterscheidet nicht zwischen einer autobiographischen Spur und einem Zitat. Sie macht durch Montage das Zitat zur Selbst-Fiktion des erzählenden Ichs. Özdamar arbeitet, schreibt seit langem mit Zitaten, die sie ins Biographische wendet. – Tun wir das nicht alle mehr oder weniger, um von uns selbst zu erzählen? – Das wurde nicht zuletzt bei ihrer Mosse-Lecture zu Sprachen des Politischen in Literatur und Kunst mit dem Titel Die krank gewordenen Wörter am 2. Mai 2019 in der Humboldt-Universität deutlich.[17] In ihrer „Vorstellungsrede“ zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung montierte sie Kurt Weills Berliner Volkslied vom Klops zu „ihrer“ Geburtsszene.[18]

Sprachverlust und Mehrsprachigkeit sowie Ambiguität der Wörter prägen Özdamars „Roman“, wie es unter dem Titel als Genrebezeichnung heißt. Wir wissen nicht, ob die Freundin namens Efterpi, mit der das erzählte Ich spricht, eine „Istanbuler Griech(in)“ ist oder ob es sich bei dieser Romanfigur, wie man sagt, dem Namen nach um eine Popularisierung der altgriechischen Euterpe handelt. Die wäre nämlich die Muse der Lyrik selbst.[19] Das Verhältnis von Griechen, der „Orthodoxkirche“ und den „griechischen Türken“ durchzieht als Thema den Roman. Als Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wäre das allemal eine Replik auf das Lable „Erfinderin der migrantischen deutschen Literatur“[20], wenn akademisch gebildete Deutsche die Griechen doch so sehr lieben.
„Du siehst, Efterpi, meine französische Sprache ist eine blinde Sprache. Ich höre ständig französisches Radio. Dann bin ich wieder klein, nehme mein Tagebuch, fange an, auf Türkisch mir meine Kindheitsmomente zu erzählen. Ich führe in diesen Schriften mit meiner toten Großmutter, die ich sehr geliebt habe, eine direkte Rede. Nicht dass ich mich an meine Kindheit erinnern will, aber die Erinnerungen kommen von selbst hier in dieser belgischen Kleinstadt und wollen unbedingt in die Schrift, in das Geschriebene.
Wenn sie geschrieben sind, werden sie erst mal ruhig. Wenn ich sie zu Ende niedergeschrieben habe, schaue ich aus dem Fenster zu dem dunklen Tal und höre dem Wind, der hier besonders laut ist, zu – ich kann nicht schlafen.
Bin schlaflos.
Sprachlos.“[21]

Einerseits entfaltet Ein von Schatten begrenzter Raum das Szenario des Sprechens und der Sprachen in Europa. Andererseits wird eine politische Geschichte von Vertreibung, Exil, Europa, Migration und Konfessionen erzählt. Was ist „eine blinde Sprache“? Das Adjektiv blind wird bereits in der Eröffnungssequenz des Romans, dem „Prolog“ für eine Frau verwendet. Die Blindheit der Frau ist merkwürdig, weil die „Bilder, die sie zwölf Jahre gesehen hat, (…) nicht mit ihr blind geworden“ sind.[22] Ist diese Frau eine Art Seherin wie Teiresias in der griechischen Mythologie? Könnte die Frau die Bilder besser erinnern, weil sie blind geworden ist? Der Prolog ruft eine Art und Weise der Erinnerung auf, mit dem das Thema der Blindheit oder des Blindseins wie ein roter Faden in die Erzählung eingewebt worden ist. Insofern könnte das blinde Französisch kein Manko sein, sondern vielmehr einen kreativen Umgang erlauben.
„Über uns die Nacht hat aus den dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt und hat dieses Etwas zwischen der Orthodoxkirche, dem Esel, der blinden Frau und mir in der Luft leise verteilt.“[23]

Es wird im deutschsprachigen Roman Französisch, Griechisch, Türkisch, Armenisch sowie Englisch gesprochen und mit Hannah Arendt die Frage der Muttersprache gestellt. Der Militärputsch in der Türkei machte die „Muttersprache“ zur „Fremdsprache“. Doch Özdamar dreht die Frage der Muttersprache syntagmatisch noch ein wenig weiter, indem sie metonymisch zur körperlichen „Mutterzunge“ wird. Der Verlust der „Muttersprache“ wird erst durch die rhetorische Figur der Metonymie als „Mutterzunge“ zu einer körperlichen Beschädigung.
„Ich lief ziellos durch die Straßen, sah in einem Kiosk türkische Zeitungen hängen, die türkischen Wörter kamen mir nicht wie aus meiner Muttersprache vor, sondern wie aus einer von mir gut gelernten Fremdsprache, die Wörter berührten mich nicht. Ich war sehr unruhig. (…) Ich konnte an meinem Roman nicht weiterschreiben. Stattdessen schrieb ich, wirklich fast mit Feuer unter meinen Füßen, einen Text, dem ich den Titel  ›Mutterzunge‹ gab: Eine Frau hat in Berlin ihre Mutterzunge verloren.“[24]

Emine Sevgi Özdamar legt mit Ein von Schatten begrenzter Raum einen Roman vor, der sich kaum zwischen Surrealismus und „migrantischer deutscher Literatur“ oder orientalischer Erzählfreude verorten lässt. Mit dem Umfang von über 700 Seiten ist er nicht nur dick geworden, sondern schreibt die europäischen Literaturen mit Shakespeare, Heine, Kleist und Arendt, mit Sappho, Brecht und Can Yücel um. Immerschon und entgegen des Phantasmas der Reinheit, das sich leicht als Herrschaftsphantasie entlarven lässt, sind Narrative in Literaturen transformiert worden. Özdamars Roman ist ein europäischer Echoraum geworden, der sich nicht verkleinern oder bereinigen lässt. Das europäische 20. Jahrhundert erklingt traumwandlerisch mit seinen politischen Traumata. Irgendwo an einem türkisch-griechischen Strand, in den Wellen des Mittelmeeres ertrinken oder stranden mit etwas Glück an den Grenzen Europas heute Menschen vielfältiger Herkunft. Manchmal werden die Menschen in ihren Schwimmwesten vor Kälte oder vor Angst ohnmächtig und erwachen in einem Camp auf einer griechischen Insel in Europa. Auch daran erinnert Emine Sevgi Özdamar mit ihrem Roman.

Torsten Flüh

Emine Sevgi Özdamar
Ein von Schatten begrenzter Raum
Roman
Fester Einband mit Schutzumschlag, 763 Seiten
ISBN 978-3-518-43008-8
€ 28,00 


[1] Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Berlin: Suhrkamp, 2021, S. 103.

[2] Ebenda S. 104.

[3] Ulrike Möhlenbeck: Nicht allein zur Kunstübung, sondern zum Kunstverstand gestiftet. Die Gründung der Berliner Kunstakademie 1696. In: Akademie der Künste 325 11.7.2021, 09 Uhr.

[4] Siehe dazu: Torsten Flüh: Angenommen – Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2021.

[5] Anke Hervol: Ehre und Elend. Künstlerinnen der Neuzeit an der Akademie der Künste. In: Akademie der Künste 325 11.10.2021, 09 Uhr.

[6] Johannes Odenthal und Manos Tsangaris: Schwindel der Wirklichkeit – Das metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit. In: Akademie der Künste 325 17.09.2021. 09 Uhr.

[7] Torsten Flüh: Den Schwindel aushalten. Zum Vorbereitungsbüro „Schwindel der Wirklichkeit“ in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 19, 2014 22:23.

[8] Johannes Odenthal und Manos Tsangaris: Schwindel … [wie Anm. 6].

[9] Emine Sevgi Özdamar: Ein … [wie Anm. 1] S. 374-375.

[10] Akademie der Künste: Pressemitteilung: Archiveröffnung und Buchpräsentation mit Emine Sevgi Özdamar, Katja Lange-Müller, Angela Winkler und Helmut Böttiger. 11.10.2021.

[11] Emine Sevgi Özdamar: Ein … [wie Anm. 1] S. 31.

[12] Ebenda S. 759-763.

[13] Siehe auch: Torsten Flüh: Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung. Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2020.

[14] Emine Sevgi Özdamar: Ein … [wie Anm. 1] S. 112-113.

[15] Ginka Steinwachs: Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung der Kultur in Natur. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1984, S. 50.

[16] Emine Sevgi Özdamar: Ein … [wie Anm. 1] S. 183.

[17] Siehe Torsten Flüh: Das Politische so fern ganz nah. Emine Sevgi Özdamar eröffnet die Mosse-Lectures zu Sprachen des Politischen in Literatur und Kunst. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Mai 2019.

[18]

[19] Siehe u.a. firstname.de: Efterpi.

[20] Titelseite von ZEIT LITERATUR: Sie war die Erste. No 42 Oktober 2021.

[21] Emine Sevgi Özdamar: Ein … [wie Anm. 1] S. 221-222.

[22] Ebenda S. 7.

[23] Ebenda S. 10

[24] Ebenda S. 674.

Einsicht gewonnen – Zur Shortlist und Preisträgerin des Preises der Nationalgalerie 2021

Stadt – Mensch – Welt

Einsicht gewonnen

Zur Shortlist und Preisträgerin des Preises der Nationalgalerie 2021

Wer auf die Shortlist des Preises der Nationalgalerie gelangt, hat bereits einen Ausstellungsraum im 1. Obergeschoss des Hamburger Bahnhofs gewonnen. Im Februar 2021 entschied eine Jury, wer aus den Vorschlägen von 25 internationalen Kurator*innen und Theoretiker*innen, Mitgliedern der Freunde der Nationalgalerie und den Kurator*innen der Nationalgalerie selbst zu den 4 einzuladenden Künstler*innen gehören sollte, die für September 2021 einen Raum gestalten durften. Am 7. Oktober hat nun eine weitere Jury unter BLUES von Lamin Fofana, Exteriors von Calla Henkel & Max Pitegoff, Reworlding Remains von Sandra Mujinga und Workers Actual von Sung Tieu die Preisträgerin ausgewählt.

Die Shortlist für den Preis der Nationalgalerie lässt sich als ein Seismograf für die aktuellen Fragen, Diskurse, Themen und Gestaltungsverfahren in der Bildenden Kunst der Gegenwart auffassen. Mit welchen Themen befassen sich heute Kurator*innen und Theoretiker*innen, die sie bei Künstler*innen wiederfinden? Anthropozän, Stadtentwicklung, Schwarzes Leben, Nachhaltigkeit, Rassismus und Migration werden zumindest in den Installationen auf unterschiedliche Weise angeschlagen. Kurator*innen verwalten oder leiten heute nicht nur Ausstellungen, wie es das lateinische Tätigkeitswort curare nahelegt, vielmehr haben sie sich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts steil ansteigend zu Organisator*innen der Künste und Diskurse entwickelt.

Kurator*innen brauchen vor allem ein Gespür für das Informelle, Diskurse und Netzwerke. So schrieb die Junge Akademie in der Akademie der Künste mit Bezug auf die „Zeiten der Pandemie“ Ende Mai 2021 „ein 10-monatiges-Stipendium für junge freischaffende Kunstkoordinator*innen und Kurator*innen“ aus.[1] „Ziel des Stipendiums“ sollte „die Förderung des informellen Austauschs zwischen Koordinator*innen und Kurator*innen mit den Künstler*innen der JUNGEN AKADEMIE im Rahmen von Workshops, internen Präsentationen oder Open-Studios-Veranstaltungen“ sein. Einen Wink auf die zunehmende Bedeutung, wenn nicht Macht der Kurator*innen gibt schon die „Kuratorenreihe“ der Riemenschneider Stiftung an der Akademie der bildenden Künste Karlsruhe, die im Wintersemester 2012/13 gestartet wurde.[2] Deren „Idee“ ist es „regelmäßige Begegnung zwischen Künstlern und Kuratoren anzuregen und noch stärker in der Lehre zu verankern“.

Der Begriff des Kurators hat in den letzten Jahrzehnten im Englischen wie im Deutschen einen starken Gebrauchswandel erfahren. Aus der Fachsprache der Jurisprudenz hat sich der Kurator binnen eines halben Jahrhunderts in einen Organisator von Ausstellungen, Kooperationen und Symposien in den Künsten verwandelt. Das gilt nicht nur für die Bildende Kunst, sondern auch für die Musik wie etwa bei Berno Odo Polzer seit 2016 für das Format MaerzMusik als „Festival für Zeitfragen“ der Berliner Festspiele.[3]  In den 50er Jahren wurde der Kurator noch als Synonym für Berater, Vormund und Verwalter gebraucht. Wenn der Tagesspiegel am 28. Mai 1997 noch formulierte, dass „die Kuratoren bei ihrer Suche fest(stellten), wie wenig die lesbische Szene untereinander vernetzt“ sei, kündigt sich zwar ein Gebrauchswandel an, aber die Leser*innen stolpern heute über die maskuline Form. Müsste es nicht wenigstens heißen: die Kuratorinnen?[4] Und selbst die Riemenschneider Stiftung benutzt noch den Kurator im Plural ausschließlich im Maskulinum. Statt der Behördensprache prägt heute der Kunstdiskurs den Gebrauch der Kurator*in.  

Kurator*innen verstehen ihre Tätigkeit seit der jüngsten Zeit als Kritik der Institution Museum.[5] Das trifft nicht zuletzt für den Hamburger Bahnhof als Museum für Gegenwart zu und wird am Preis der Nationalgalerie deutlich. Saskia Riedel fasst 2018 in der Reihe Schriften und Materialien der Würzburger Museologie zusammen, dass Kurator*innen „nicht nur weiße Räume schaffen (wollen), in denen man andächtig vor den Kunstwerken ausharrt“.[6] Diese wollten vielmehr „Debatten, Austausch, Konflikte“. Denn die „heiligen Hallen sollen durch Gespräche belebt werden, die nur dadurch möglich werden, dass die Distanz gebrochen wird und Besucher*innen das Museum nicht als Ort des ästhetischen Seh-Erlebens wahrnehmen“. Kurator*innen stellen ein Wissen von der Kunst immer auch in Frage. Sie sind Wissenskritiker*innen geworden. Denn nach Riedel müssen sie „die Besucher*innen aktivieren, dadurch, dass sie öffentlich Position beziehen und kein allgemein gültiges Wissen vermitteln wollen“.[7]

Die Lichtgestaltung spielt für alle vier Künstler*innen eine entscheidende Rolle. Die Räume sind in ein grelles Grün, Violett, Rot oder ein gleißendes Weiß getaucht. Thematisch geht es um Lebensräume und die anthropozentrische Weltsicht, um Migration und Stadtentwicklung, um Sinn und Sinnlichkeit. Sung Tieu hat ihre Rauminstallation auf dem Boden mit weißem Filz ausgelegt, so dass die Kunsthallenbesucher*innen gebeten werden, ihre Schuhe auszuziehen. Lamin Fofana taucht seine Räume in Klanginstallationen und Düfte. Bildende Kunst wird multisensorisch. Überhaupt wird die Wahrnehmung herausgefordert, wenn beispielsweise bei Sung Tieu Schokoladen-Marienkäfer an die Wand geklebt werden, bei denen sich auf der Zunge der Betrachter*innen sogleich der Geschmack von billiger Schokolade einstellt. Die Lichtgestaltung in den 4 inszenierten Räumen korrespondiert mit der Kritik an den „weißen Räumen“. Wenn die Räume weiß genutzt werden, so werden sie zugleich künstlerisch transformiert.

Das Medium Fotografie wird von Calla Henkel & Max Pitegoff gleich auf mehrfache Weise in ihrer Rauminstallation Exteriors in „weißen Räumen“ gebrochen. Die plakativen Stadt- und Wohnszenen werden mit dem Verfall und Müll an den Plakaträndern kontrastiert. Links hat sich das Werbeplakat auf PVC an der Ecke von der Bretterwand einer Baustelle gelöst und fällt sich selbst ins Bild. Unter der massiven Tischplatte aus Edelholz mit geschwungener Glasschale sammeln sich am Plakatrand eine Plastikplane, Holzreste und Gehwegplatten aus abgenutztem Beton. Die farbarmen und schwarz-weiß Fotografien der Serie Collective Image von spiegelnden Wasserflächen verkehren sich auf paradoxe Weise in Aufnahmen aus dem Berliner Klärwerk Ruhleben, das bereits mehrfach für pittoreske Filmsets genutzt wurde.[8] Kuratorisch werden die Fotoarbeiten allerdings in eine Kritik der Stadtentwicklung und Gentrifizierung übergeleitet.
„In den letzten Jahren haben Calla Henkel und Max Pitegoff ihre fotografische Praxis zu einem breiteren sozialen Projekt weiterentwickelt, in dessen Zentrum gemeinschaftliche Räume für Kunst in Berlin stehen. Dabei verhandeln sie die feinen Grenzen zwischen Leben, Performance und Repräsentation und erhalten zugleich ein kritisches Bewusstsein davon aufrecht, welche Rolle diese Räume im Kontext der Stadtentwicklung spielen.“[9]

Sung Tieu arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Forschung. Ihre dreiteile Installation für den Preis der Nationalgalerie thematisiert vietnamesische Lebenswelten in der DDR. Die vietnamesisch-deutsche Künstler*in inszeniert in ihrer multimedialen Installation Song for VEB Stern-Radio Berlin 8 Stereo-Kassettenrekorder des Modells skr 700, die zwischen 1984 und 1989 im Werk Berlin-Weißensee in der Liebermannstraße unter anderem von vietnamesischen „Vertragsarbeitern“ hergestellt wurden.[10] Denn am 11. April 1980 schloss die DDR mit der Sozialistischen Republik Vietnam ein Abkommen, auf das bis 1989 ungefähr 60.000 vietnamesische Männer und Frauen direkt an unterbesetzte Betriebe in der DDR vermittelt wurden. Sie arbeiteten fortan im VEB Stern-Radio Berlin, Industriebau Fürstenwalde, Zwickauer Kammgarnspinnerei, VBSZ Zwirnerei Glauchau etc.

Die „Vertragsarbeiter“ wurden nicht zum Bleiben oder zur sozialistischen Integration in die DDR geholt. Ein Bleiberecht wurde bis 1997 nicht geregelt, so dass die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen 1989 entweder zurückreisen oder arbeitslos und illegal in Deutschland bleiben mussten. Sung Tieu hat im Bundesarchiv 67 Seiten mit den Listen des Datums der Anreise, der Flugnummern, der „bestellten“ Anzahl, dem Soll- und Ist-Stand der Arbeiter*innen recherchiert, kreativ abgestempelt und an den weißen Wänden ihres Raumes aufgereiht. Es sind gerahmte Textbilder aus der DDR geworden. Datum für Datum – 880622, 880623, 880626 … – werden die Zahlen und Betriebe erfasst, als ginge es um Materiallieferungen. Am Ende einer Liste über die „Anreise vietnames. Werktätiger“ kommt es – „**TOTAL**“ – zu einer Differenz von 1 gegenüber dem Soll von 4414.

Die Installation wird in der Farbe Weiß nach vietnamesischer Tradition auch als eine der Trauer verwendet. Dass Sung Tieu in ihrer Installation sich kulturelle Codes überschneiden lässt, wird mit dem weißen Filz am Boden deutlich. Trotz sozialistischer Staatsform haben sich in Vietnam offenbar Farbcodes und Höflichkeitsgesten des buddhistisch-chinesischen Kulturkreises erhalten. Dazu gehört auch das Ausziehen der Schuhe beim Betreten eines, wenn nicht heiligen, so doch besonders wertgeschätzten Raumes. Die roten Marienkäfer dagegen verheißen nach dem traditionellen Farbcode Glück und korrespondieren zugleich mit dem sozialistischen Farbcode. Die Künstlerin schafft auf diese Weise einen ästhetischen Gedenkort deutscher Geschichte an die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen. In dem Maße wie die „Vertragsarbeiter“ in der DDR in separaten Unterkünften der volkseigenen Betriebe untergebracht waren, wurden sie auf rassistische Weise vom Volk der Deutschen Demokratischen Republik abgegrenzt.    
„Die gleichnamige Sound-Installation Song for VEB Stern-Radio Berlin (2021), gemeinsam entwickelt mit dem Sound-Produzenten Alexis Chan, erfüllt den Raum mit industriellen, dissonanten Sounds, die in eine lange Melodie übergehen. Akustisch aktiviert sie den Raum und bindet die anderen Werke mit ein.“[11]

Lamin Fofanas Ausstellungsprojekt BLUES in der Mishkin Gallery am Baruch College der City University of New York fiel im März 2020 den „Auflagen zum Schutz vor der Verbreitung von COVID-19 bereits nach einem Öffnungstag“, wie es im Booklet zum Preis der Nationalgalerie 2021 heißt, zum Opfer.[12] Jetzt ist es im Hamburger Bahnhof zu sehen und wirft mit dem Booklet-Text die Frage auf, warum die Künstler*innen nicht auf die anhaltend weltweit größte Katastrophe der Menschheit seit dem 2. Weltkrieg reagieren. Gab es keinen, sagen wir einmal, COVID-BLUES? Waren die Lockdowns nur ein schwerer Traum? Ein Witz gar? Insbesondere die Texte der Kurator*innen überschreiben mit Diskursformationen ein Trauma, das beispielsweise bei der Finanzierung der Lockdowns in Deutschland wie in den USA einen Systemwechsel herbeigeführt hat. Plötzlich blieben die Flugzeuge des globalen Kunstmarktes am Boden und über Wochen waren keine Kondensstreifen am Himmel zu sehen. Gemeinschaftliche Erlebnisse wie der von Lamin Fofana entwickelte „Ambient-Sound“, der ein „aktives und offenes Hören, Träumen und Vorstellen neuer Seinsmöglichkeiten“ befördern soll, sind weltweit nur in privilegierten Staaten, wo es hohe Impfquoten gibt, möglich.

Sichtbar und fühlbar wird auf gewisse Weise eine exemplarische Trägheit der kuratorischen Kunstdiskurse. Die Spontaneität geht trotz der Wissenserschütterung der COVID-19-Pandemie verloren, weil stoisch an den Diskursen festgehalten wird. Die Arbeiten der Shortlist von 2020/2021 halten an den vorherrschenden Narrativen und Diskursen fest. Die Inzidenz der Neuinfektionen steigt rasant selbst in der Bundesrepublik Deutschland an, was noch vor Jahresfrist zu einem lang andauernden Lockdown z.B. in Berlin geführt hat. Doch die kreativen Expert*innen für das Sensitive, die Künstler*innen reagieren nicht. Ja, wir können in die multisensorische Installation BLUES eintauchen, was im Kunstdiskurs mit Immersion gelablet wird. Aber zeitgleich verpassen wir im Diskursgenuss die aktuelle Katastrophe. Lamin Fofana reflektiert in seinen hochästhetischen olfaktorischen, visuellen und auditiven Arbeiten „Schlüsseltexte zur Erfahrung Schwarzen Lebens in der westlichen Welt“, was für die westlichen Gesellschaften unverzichtbar wird und bereits geworden ist.[13] Doch der Verlust einer künstlerischen Spontaneität in einer globalen Katastrophe ist die Kehrseite dieses Kunstverständnisses.

Sandra Mujinga liebt Geister und hat mit ihrer in gespenstisch grünes Licht getauchte Präsentation Reworlding Remains den Preis der Nationalgalerie 2021 gewonnen. Einerseits knüpft sie vom Titel her und strategisch an den Diskurs des „Worldbuilding“ an. Hier wird eine Welt skulptural aus Materialien geschaffen. Andererseits können in den Formen der übergroßen Skulpturen afrikanische oder ozeanische Masken, die Geister verkörpern, sichtbar werden. Die Umhänge können allerdings ebenso an die Mode und Modeindustrie erinnern. Dadurch wird an Strategien der Nachhaltigkeit im Zeitalter des Anthropozän erinnert. Man könnte sagen, dass Munjinga eine visuelle Geisterforschung oder Hauntologie betreibt.
„In Sentinels of Change (2021) hat Mujinga (…) Anregungen aus dem Fantasy-Genre mit paläontologischen Techniken kombiniert, die mittels digitaler und analoger Bildgebungsverfahren und ausgehend von Grabungsfunden spekulative Modelle prähistorischer Lebewesen generieren können.“[14]

In der visuellen Ambiguität der Formen und der Vielfältigkeit der Techniken, mit denen Sandra Mujinga arbeitet, gibt sie einer Hauntologie Raum, in der widerkehrt, was verdrängt wird. Mit digitalen „Bildgebungsverfahren“ werden Welten generiert[15], die von ihr vermeintlich analog als Reste einer verlorenen Welt inszeniert werden. Damit macht sie auf visuelle Verfahren aufmerksam, die in vielen Lebens- und Wissensbereichen heute unsere Wahrnehmung bestimmen. Sie beschäftigt sich mit einem Verfahren der Visualisierung von Wissen und Wissenschaft, das im März 2020 für die Darstellung von SARS-CoV-2 in den Fernsehnachrichten und Diskussionsrunden oder den russischen Impfstoff Sputnik 5 im Juli/August 2020 die aller größte Macht entfaltete. Die Visualisierung durch bildgebende Programme kam schneller als ein Wissen vom Ursprung und den genauen Wirkungsweisen des Virus‘. Die Elektronenmikroskopien des Ultradünnschnitts einer Verozelle mit Viruspartikeln des Robert-Koch-Instituts vom September 2020 wurden dagegen in den Medien kaum verwendet. Seither haben sich die generierten Bilder von SARS-CoV-2 fast unbemerkt gewandelt, variiert und mehr oder weniger zerstreut, als spielten sie für die anhaltende Pandemie keine Rolle mehr.

Torsten Flüh

Hamburger Bahnhof
Museum für Gegenwart – Berlin
Preis der Nationalgalerie 2021
bis 27. Februar 2022


[1] Akademie der Künste: JUNGE AKADEMIE vergibt Stipendium für Kunstkoordination/-kuration. Berlin, Pressemitteilung 28.5.2021.

[2] Riemenschneider Stiftung: Kuratorenreihe.

[3] Siehe Torsten Flüh: Verzeitigt. Über ein Eröffnungswochenende der MAERZMUSIK, Festival für Zeitfragen, und Internet-Kriminalität. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 14, 2016 21:38.

[4] Zitiert nach: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Kurator, der. (Verwendungsbeispiele für >Kurator<)

[5] Zur Institution Museum siehe auch: Torsten Flüh: I am not an artist. Philippe Parreno fasziniert im Gropius Bau mit einem Organismus als Ausstellung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 28, 2018 21:12.

[6] Saskia Riedel: Die veränderte Rolle der Kurator*innen bei der Exposition moderner Kunst. In: Guido Fackler, Stefanie Menke, Bastian Schlang (Hrsg.): Schriften und Materialien der Würzburger Museologie. Heft 5 Würzburg: Universität Würzburg, 2018, S. 43.

[7] Ebenda.

[8] Ulrike Ottinger hat 1984 die Architektur des Klärwerks Ruhleben für Szenen ihres Films Dorian Grey im Spiegel der Boulevardpresse genutzt. Und Julian Rosefeldt nutzte 2016 die Müllverbrennungsanlage Ruhleben für seinen Filmessay Manifesto. Anders gesagt, bildende Künstler*innen lassen sich immer wieder von Szenerie der Stadtreinigungsanlage Ruhleben faszinieren. Zu Ulrike Ottinger siehe: Torsten Flüh: Der Star, die Stadt und die Schere. Ulrike Ottingers Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984) im Retro des Panoramas auf der 69. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 4, 2019 21:03. Zu Julian Rosefeldt: Torsten Flüh: Die Wiederkehr des Manifests als Fake. Zur grandiosen Filminstallation Manifesto mit Cate Blanchett von Julian Rosefeldt im Hamburger Bahnhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 10, 2016 22:22.

[9] N.N. (Kurator*innen: Alice Koegel, Daniel Milnes): Calla Henkel & Max Pitegoff. In: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Hamburger Bahnhof: Preis der Nationalgalerie 2021. Berlin 2021, S. ohne Seitenzahl (S. 11).

[10] Vgl. Marina Mai: Vietnamesische Vertragsarbeiter/innen in Deutschland. In: Heinrich Böll Stiftung 24. April 2020.

[11] N.N.: Sung Tieu. In: Staatliche … [wie Anm. 9] ohne Seitenzahl (S. 23).

[12] N.N.: Lamin Fofana. In: Ebenda ohne Seitenzahl (S. 5).

[13] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 7).

[14] N.N.: Sandra Mujinga. In: Ebenda ohne Seitenzahl (S. 19).

[15] Zu digitalen Bildgebungsverfahren in der zeitgenössischen Kunst siehe auch: Sinn und Sinnlichkeit im Sensodrom. Zur Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren im Gropius Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 17, 2018 21:34.

Mediale Sichtungen

Medien – Smartphone – Kunst

Mediale Sichtungen

Zu Kunst und Medien im ICC während THE SUN MACHINE IS COMING DOWN

Gleich im Eingangsbereich über dem Modell des ICC mit Fernsehturm und Brückenelement, über der Stadtskulptur dreht sich an einem dünnen Faden eine Drahtskulptur mit Leuchtdioden, in der sich ein Helm auf einem Kopf sehen lässt. Wenn sich der Drahtkopf ins Profil dreht, dann lässt sich darin Pallas Athene als griechische Göttin eines komplexen Wissens, das Weisheit genannt wird, erblicken. Zugleich könnten für die Besucher*innen in der Physiognomie der Skulptur die Züge Friedrich Kittlers, generiert aus einem 3D Scan zur Gesichtserkennung, sichtbar werden. Man müsste allerdings die Gesichtszüge des hellenophilen Literatur- und Medienwissenschaftlers gekannt haben und auch von der Darstellung der Göttin Athene als Kriegerin wissen.

Die künstlerische Intervention der glitzernden Drahtskulptur und ihre Installation über dem ICC-Modell durch die Supercat, Schamanin, Multimedia-Künstlerin, Bildhauerin und Politische Aktivistin Joulia Strauss erwartet eine Sichtung durch das Publikum. Erst einmal müssten die Besucher*innen die Drahtskulptur sehen und wahrnehmen, um sie dann mit ihrem Wissen prüfen und einordnen zu können. Es passiert allerdings etwas Anderes: Mit dem Smartphone wird das ICC-Modell fotografiert. Das Medium Smartphone hat die Praxis des Sehens und des Wissens derart verschoben, dass nur noch das Offensichtliche abgeschossen wird, um endlos reproduziert zu werden. Statt „Erinnerung“ an Kittlers „Gedankenwelt“ und „Andacht“, wie es Joulia Strauss vorgesehen hatte, wird medial zugegriffen.

Joulia Strauss lebt und arbeitet in Berlin, während sie in St. Peterburg geboren wurde, bei Friedrich Kittler – „Medien bestimmen unsere Lage“ – studierte und sich als seine Schülerin versteht. Als Multimedia-Künstlerin und Schamanin will sie den am 18. Oktober 2011 heute vor 10 Jahren verstorbenen Friedrich Kittler im ICC präsent werden lassen, weil sie es selbst als Medium interpretiert. Doch ihr geht es nicht nur um technische Medien wie Smartphone, Fernsehgerät als Medienzentrale oder Konsole, vielmehr gibt der Begriff Multimedia bei ihr einen Wink auf die vielfältigen Bedeutungs- und damit Gebrauchsmöglichkeiten von Medium. Im Gebrauch wandelt sich der Begriff permanent. Wobei die Verwendung von Medium bis ca. 2000 anstieg, um danach deutlich abzunehmen.[1] Haben wir uns so sehr an den Gebrauch der Medien gewöhnt, dass wir immer weniger darüber debattieren?

Der Gebrauch des Begriffs Medium ist vielfältig. Es kommt vor als vermittelndes Element oder Institution mit organisatorischem und technischem Apparat zur Vermittlung, als eines der Massenkommunikationsmittel, Fernsehen, Rundfunk, Presse, Internet oder als sinnlich wahrnehmbares Mittel der Darstellung und Vermittlung, als materieller Datenträger oder als Substanz als Träger bestimmter Eigenschaften, anderer Stoffe und Prozesse, als Person, die unter Einfluss einer anderen Person oder Kraft und ohne eigenen Willen handelt oder als Person, die über besondere Fähigkeiten in der Vermittlung übersinnlicher Botschaften verfügt ebenso wie als Person, die aufgrund ihrer Empfänglichkeit für äußere Beeinflussungen besonders geeignet ist für psychologische Experimente und last but not least in einigen Sprachen als grammatische Form des Verbs zwischen dem Aktiv und dem Passiv. Dass der Gebrauch des Begriffes Medium äußerst elastisch und wechselhaft ist, zeigt der Vermerk im DWDS, dass der Artikel „weiter ausgearbeitet“ wird.[2]

Medien machen sichtbar, hörbar oder fühlbar, was ohne sie, nicht vernommen werden könnte. Sprache, Literatur und Musik wären deshalb ebenso Medien. Insofern entspringt auch die Kunst den Medien auf vielfältige Weise. Joulia Strauss wäre nicht zuletzt ein Medium Friedrich Kittlers, das in der sich drehenden und blitzenden Skulptur den Helm und das Bild der Pallas Athene mit dem 3D Scan vom Gesicht des Medienwissenschaftlers verdrahtet. Mit anderen Worten: Wissensformationen führen immer Krieg untereinander. Allein die Weisheit findet Wege, sie zusammenzuführen. In seiner Berliner Vorlesung Optische Medien hat Friedrich Kittler einmal, nach einem Zitat von Joulia Strauss auf der Doppelseite des Extrablatts der Zeitung Arts of the Working Class, zur Kunst formuliert:
„Kunst, die denkt, ist immer Kunst, die ihr Zusammenspiel mit Medien weiß und freilegt. In Medien geborgen, läßt sie die Physis entbergen. Alles andere seit Picasso, Warhol und Konsorten nennen wir den Marktwert. Denn der Markt vergißt die Sonne.“[3]

Das Medium Smartphone lässt sich heute als eine Schnittstelle der Person beschreiben. Bereits 2013 berichtete die Leiterin der Kommunikation im Rijksmuseum, Amsterdam, auf der Konferenz Zugang gestalten, dass sie ihr Kleinkind mit dem Tablet einen kreativen Umgang üben lasse.[4] Heute bekommen bereits Dreijährige ein Tablet zur Einübung in die Mediennutzung.[5] Es sind nicht mehr die Desk- und Laptops mit ihren Oberflächen, die der Person erlauben, sich Welt und Wissen anzueignen, um es praktisch zu verwenden. Vielmehr sind das Smartphone und das Tablet[6], das vor kaum mehr als 10 Jahren als iPad eingeführt wurde, zur Schnittstelle von medialer Aneignung, Umwandlung und Äußerung geworden. Es ist ein Medium komplexer Selbstpraktiken geworden. Das Smartphone wird zur Waffe, wenn Unfälle oder Angriffe fotografiert werden, um sie sogleich im Netz zu verteilen. Mit dem CovPass als App für Covid-Zertifikate der EU auf dem Smartphone ist dieses jüngst als Medium mächtiger geworden als der Personalausweis. Zur Identitätsprüfung sind zwar noch immer ein Personalausweis oder ein Reisepass notwendig, aber am Impfzertifikat entscheidet sich selbst der Zugang zu THE SUN MACHINE IS COMING DOWN im ICC. Durch Corona Warn- oder Luca-App in Kombination mit dem CovPass ist das Smartphone zum unverzichtbaren Medium für das Leben in öffentlichen Räumen geworden. – Was hätte Friedrich Kittler dazu gesagt?

Treffen Friedrich Kittlers Medienanalysen im Zeitalter des Smartphones noch zu? So handlich und handhabbar – daher das „deutsche“ Wort Handy – die visuell-haptischen Oberflächen der Smartphone-Modelle geworden sind, so sehr dringen sie in die Lebenspraktiken von Kindern wie Greis*innen ein, dass per SMS das Lebenslicht von der Geburtstagsfeier in der Kirchengemeinde voller Freude geteilt, verschickt oder gleich auf Facebook und Co. hochgeladen wird. Das Medium Smartphone ist mit Sparkassen-, Facebook-, Foto-, DB- und BVG-App sowie Maps-App von Google etc. zur Persona selbst geworden. Es tönt durch das Smartphone visuell und auditiv hindurch, um ein Ich zu werden. Friedrich Kittler formulierte seine Frage zum Cyberspace mit Homer. Aber wer kennt heute noch Homer, obwohl ihn alle selbst in Übersetzungen sonder Zahl per Smartphone lesen könnten?
„Was haben die Sirenen und Riesen, die Dämonen und Götter, zu denen Homers Held durch die endlosen Weiten des Meers gelangt, mit dem virtuellen Abenteuern im heutigen Cyberspace gemein?“[7]

Joulia Strauss feiert am Eingang des ICCs und in Saal 6 Friedrich Kittler mit dem Drahtkopf und einer „strahlenden“ Phönix-Büste seine Gedankenwelt als visionär. Sie schlägt dabei den Bogen zur „Corona-Pandemie“, die eine „Zeit physischer Isolation und virtuelle() Verbundenheit“ bewirkt habe. Gleichzeitig habe die Pandemie dazu geführt, über Medien und das „bisher unbekannte Ausmaß de(s) Zugang(s) zueinander sowie“ die Regulierung von „Informationsbereichen“ und „den Kulturwandel“ nachzudenken.[8] Es wird dabei zugleich eine Art Totenkult, durch den Dank der Medien Friedrich Kittler selbst als Projektion erscheint. Im Gebrauch der analogen wie digitalen Medien überschneiden sich Lebenspraxis und Wiederkehr der Toten auf zunehmende Weise. Der Tod wird dadurch allerdings zunehmend zum Verschwinden gebracht oder wie im Schamanismus von Julia Strauss zu einer Präsenz in der Geisterwelt verdichtet. Vielleicht dazu notierte Kittler:
„Auf mediengeschichtlichen Taubenfüssen kommen die wahren Revolutionen.“[9] 

Auf dem Tisch der „Steuerzentrale“ des ICC wird mit Cofalit aus Asbest in der Installation Suspire von Cyprien Gaillard ein zentraler Wissenskonflikt inszeniert. Mit dem Titel ihrer Installation spielt die Künstlerin auf mehrfache Weise auf das lebensnotwenige Atmen an, das aktuell während der Covid-19-Pandemie zugespitzt worden ist. Denn das englische Tätigkeitswort (Verb) to suspire wird mit seufzen und tief einatmen übersetzt. Im ICC wurde nicht zuletzt der einst als modern, leicht, stabil und schützend angesehene Baustoff Asbest verwendet. Asbest brennt z.B. nicht. Doch über die Atemwege kann Asbest aus der Luft in die Lungen gelangen und dort Krebs erregen. Ein medizinisches Wissen trifft auf ein chemisch-bautechnisches Wissen.
„Cyprien Galliard zentriert die zum ICC geführte Debatte um die Wiederbelebung schadstoffbelasteter Gebäude auf ihren gemeinsamen und dabei kleinsten Ursprungsnenner: das chemische Element selbst, dessen Schein-Entsorgung im Boden keine Option mehr darstellt, und das transformiert werden muss, um unschädlich und produktiv in den Kreislauf der Ressourcen eingegliedert zu werden.“[10]

Cyprien Gaillard wirft mit ihrer Installation entscheidende Fragen zum Baukörper des ICC auf. Das einstige „Wunderfaser“ genannte Mineral Asbest hat sich in eine „Altlast“, einen „Schadstoff“, „Gefahrenmaterial“ verwandelt.[11] Die auf Transparenz technischer Vorgänge und Überwachung ausgerichtete, gläserne Steuerzentrale wird zu einem „Glassarg“, der an den Sarkophag von Tschernobyl erinnern kann. Die 1980er Jahre, die auf die Eröffnung des ICC folgen sollten, wurden auch zum Menetekel technischer Wunder wie der Kernenergie und der „Wunderfaser“ Asbest, das vom griechischen ἄσβεστος asbestos als unvergänglich, die Vergänglichkeit menschlichen Lebens durch Lungenkrebs beschleunigte. 1979 wurde bereits Spritzasbest in der Bundesrepublik verboten. 1990 erfolgte ein generelles Verbot von Asbest in der Europäischen Union.
„In der Installation liegt das verwandelte Gefahrenmaterial wie ein mineralisches Heilsversprechen in einem gläsernen Sarg an der tiefsten, gefahrlos begehbaren Stelle des ICC. Die mit dem Asbestnachfolger Cafco ummantelten Stahlträger im Fundament des ICC sind gemeinsam mit Asbestplatten im Kern des Baukörpers die Ursache seiner jahrelangen Stilllegung. Welche Chance auf Wiederbelebung hat eine Architekturikone, deren Bedrohung im eigenen Körper lauert und deren dysfunktionale Versorgungs-, Gebäude- und Medientechnik die noch größere, noch kostspieligere Modernisierungsfrage ausmacht?“[12]     

Was könnten wir uns alles erzählen über die Erde mit den Fractal Songs of Distant Earth von Markus Selg und Richard Jansen in den Schauvitrinen des ICC auf der Ebene 0. Was befand sich früher in den Vitrinen? Sie waren zu Webezwecken gedacht wie die Vitrinen auf dem Ku’damm. Die Platzierung der Ware in der Vitrine zur Werbung, wie sie beispielsweise mit diesen auf Bahnhöfen, Flughäfen und Boulevards betrieben wird, soll das Produkt vom einfachen Schuh bis zum distinguierten MontBlanc-Füller veredeln.[13] Die Foyer-Vitrinen des ICC wirken besonders transparent, da die Ecken frei bleiben. Die verchromten, quadratischen Stützen korrespondieren mit dem Treppengeländer. Die Vitrinen des ICC schweben fast. Die Rückseite konnte anscheinend nach Belieben mit einem Rollladen abgeschlossen werden. In der Deckenkonstruktion befindet sich die Rollladen- und Beleuchtungstechnik. Doch die Glasscheibe spiegelt auch wie die Spiegel der Garderoben. Die Spiegelung wirft nicht nur das Raumbild zurück, sondern ebenso das Bild der Betracher*innen: Hier bin ich.

Markus Selg inszeniert mit seinen visuellen Liedern in den Vitrinen potentielle sowie vergangene Welten. Auf dem Rollladen platziert er Graffiti oder einen Bildschirm mit digital schwingenden Kirchenglocken. Graffiti, Schlafsack und Feuerstelle, Essensreste könnten an eine/n Geflüchtete/n oder Obdachlose/n erinnern. Hat sie oder er gerade den Schlafplatz verlassen? In Berlin findet man unter fast jeder Brücke oder in geschützten Ecke Schlafplätze von Obdachlosen, die sich eine Welt am Rande der Stadtgesellschaft eingerichtet haben. Auf der Müllerstraße zwischen Schul- und Triftstraße lebt seit Jahren eine obdachlose Frau, die sich wohl in ihrer Verwirrung schon mal auf dem Mittelstreifen an der Ampel der vierspurigen, vielbefahrenen Straße einrichtet. Es ist eine Art Geheimnis, wie sie überlebt inmitten einer Gesellschaft, die sie kennt und die dennoch nicht ihre Lebenssituation verändern kann.

Eine andere Kapsel von Markus Selg lässt als Muster vertrocknete Maiskolben in Kombination mit fluoreszierenden Farbmustern erkennen. Eine Klimakatastrophe? Die Muster bei Markus Selg sind auf Reduzierung und Wiedererkennung angelegt, um Erzählungen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Archaik und Natur anzustoßen. Sie präsentieren nicht einfach ein Produkt. Vielmehr forschen sie danach, welche Elemente ein Muster bilden. Dazu gibt es den Sound von Richard Janssen. In dem Maße wie die Installationen für 10 Tage angelegt waren, verschwinden sie auch mit dem Ende der künstlerischen Intervention. Das Ausstellungs- und Konservierungsmöbel par excellence erweist sich im ICC auch als sperrig, obwohl es zugleich ein Raum stolzer Präsentation von Produkten war.     

Die Vitrinen des ICC werden bei Markus Selg zu Kapseln und erinnern damit an die Fotografien und Collagen von Andy Warhol, die er Time Capsules nannte. Die Kapseln sind ausgestellte Rätsel. Sie schließen eine bestimmte Zeit, einen Moment ein und verschließen ihn zugleich. Die Kapseln lassen sich miteinander kombinieren und entspringen selbst der Kombinatorik z.B. von Glocke und gestürzter Person. Die Glocke schlägt digital auf einem Bildschirm und erinnert an das archaische Geläut der Kirchenglocken. Die Kapseln haben keine Titel. Sie sind Medien aus Medienkombinationen. Und sie sind ein Abgeläut auf das ICC, wie es gewesen sein wird.

Für das Mittelfoyer des ICC an der Treffpunkt-Skulptur haben Monira Al Qadiri und Raed Yassin ihre Robotic Performance Suspended Dilirium mit einer bzw. ihrer Katze geschaffen. Bekanntlich wird auf Messen und Konferenz im Foyer mit Bar häufig deliriert. Doch Ephraim Kishon identifizierte schon zur Eröffnung des ICC den „eigentlichen Gefahrenmoment internationaler Kongresse“, nämlich das „Diskussionsthema“, das zu delirantem Verhalten führen kann.
„Am dritten oder vierten Tag des organisierten Nichtstuns regt sich allenthalben das dumpfe Gefühl, daß man über die Frage, zu deren Behandlung der Kongress einberufen wurde, denn doch ein wenig sprechen müsse, worauf der norwegische Delegierte, ein hochangesehener Gelehrter, einen dreistündigen Vortrag über die „Einflüsse der Semantik auf die Wirtschaftsplanung der Entwicklungsländer“ hält, und zwar in seiner Muttersprache. Anschließend rezitiert ein senegalischer Dichter eigene Freiheitslieder durch die Nase.“[14]   

Monira Al Qadiri und Raed Yassin inszenieren mit ihrer Katze in Form von der Decke herabhängender, mobiler Köpfe eine Art Satire auf Künstliche Intelligenz, Robotik und menschliche Logik. Ob des Satirikers Ephraim Kishon scherzhafte Beispiele heute noch als politisch korrekt durchgehen würden, bleibt dahingestellt. Wir wissen immer noch nicht, ob sich Roboter eines Tages wehren werden. Auf der Pressekonferenz erzählte das Künstlerpaar vom Zusammenleben mit ihrer Katze. Die Köpfe rotieren über einer Art planetarischer Landschaft mit spitzen formen auf dem gepunkteten Teppich in Beige- und Brauntönen, die sich in einer Spiegelwand mit dem Foyer und Treffpunkt vereinigt. Die animierte Installation wurde für das Programm Wild Times, Planetary Motions anlässlich des 70. Jubiläums der Berliner Festspiele geschaffen.[15] Doch das Programm musste wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt werden, so dass Suspended Dilirium im Rahmen von THE SUN MACHINE IS COMING DOWN ganz andere Bezugspunkte bekam. Die interplanetarische Reise mit der Raummaschine wurde durch Kontakt-Beschränkungen vielleicht noch sinnfälliger für Fragen nach Künstlicher Intelligenz.

Die zwischenzeitlich in Berlin lebende kuwaitische Medienkünstlerin Monira Al Qadiri wurde im Senegal geboren und widmet sich den Ästhetiken der Traurigkeit.[16] Sie arbeitet mit Skulpturen von unterschiedlicher Größe und Materialität. Aliens und ihre Kontaktaufnahmen wurden von ihr bereits Alien Technologies ebenfalls visuell und skulptural behandelt. Raed Yassin wurde in Beirut geboren und lebt auch in Berlin, wo er mit unterschiedlichen Medien arbeitet und z.B. mit Warhol of Arabia an die Fotomontagen und Time Capsules von Andy Warhol anknüpft, weil er zugleich mit dem Archiv der Sultan Galery, Kuwait mit Fotos von 1977 arbeitete.[17] Als Künstlerpaar treten sie offenbar zum ersten Mal auf, um die Fragen der Künstlichen Intelligenz anderer Logiken und die Robotik in der Raumfahrt zu hinterfragen.

Das vielfältige künstlerische Programm hat die – wenigstens – Jahrzehntaufgabe einer Transformation des Internationalen Congress Centrums Berlin ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Gebaut für die Ewigkeit aus der Perspektive der 70er Jahre überholte sich das Baukonzept durch Wissensumbrüche in weniger als einem halben Jahrhundert. Einfache Lösungen wird es nicht geben. Thomas Oberender glaubt, dass die kreativen Kräfte von Vielen eine Transformation schaffen könnten. Das Architektenteam um Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler bestand aus „bis zu 80 Mitarbeitern“, die „15.000 Pläne“ anfertigten.  „20.000 Ordner (…) für die Archivierung der Bürounterlagen“ wurden angelegt.[18] Die Arbeitsweisen und Wissensformen haben sich verändert und werden sich weiter verändern, worauf zu hoffen ist. Trotz Zeitfenster und Personenbegrenzung kamen 26.000 Besucher*innen. – Das war schon fast Kongressformat wie zu alten Zeiten.

Torsten Flüh

70 Jahre Berliner Festspiele

THE TIME MACHINE IS COMING DOWN  


[1] Siehe Wortverlaufskurve. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS): Medium.

[2] Siehe Bedeutungsübersicht. In: Ebenda.

[3] Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve Verlag, 2002, S. 12. In: Arts of the working class. Extrablatt Issue 18, September 2021, S. 45-46.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Mach Dir Dein eigenes Meisterwerk! Zur Top-Konferenz Zugang gestalten im Jüdischen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 4, 2013 20:22.

[5] Janis Dietz, Lisa Hegemann, Jakob von Lindern: „Mein Sohn ist jetzt vier und hat seit einem Jahr ein Tablet“ In: DIE ZEIT 16. Oktober 2021, 10:36 Uhr.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Jerry Cotton für das 21. Jahrhundert. iPad für das Sofa ist wie Jerry Cotton im Wohnwagen. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 7, 2010 21:46.

[7] Zitat nach Joulia Strauss von Friedrich Kittler. In: Arts … Ebenda.

[8] Zitiert nach Pressemitteilung der Berliner Festspiele vom 7. Oktober 2021.

[9] Friedrich Kittler, m+m5.utf (nachgelassene Datei aus dem Komplex „Musik und Mathematik“, Literaturarchiv Marbach #1001.8279, text/x-c (2011-08-25T19:33:54Z). m+m5.utf. In: Bestand A: Kittler/DLA Marbach. Xd002:/kittler/mm [xd, 250.29 KiB]. In: Arts … [wie Anm. 3].

[10] Ztiert nach Pressemitteilung … [wie Anm. 8].

[11] Siehe: Caroline Röhr: Asbest – Von der „Wunderfaser“ zur „Altlast“. Freiburg: Universität Freiburg Institut für Anorganische und Analytische Chemie 23.01.2013.

[12] Ebenda.

[13] Vgl. die Firmengeschichte des Anbieters ST Vitrinen.

[14] Ephraim Kishon: Kongresse, Kongresse … In: In: AMK Berlin (Hg.): Internationales Congress Centrum Berlin. Berlin 1979, S. 37.

[15] Siehe: Berliner Festspiele 70: Suspended Dilirium. Monira Al Qadiri & Raed Yassin. Programmdetail.

[16] Siehe: Monira Al Qadiri: info.

[17] Siehe: Raed Yassin: Warhol of Arabia.

[18] (ohne Namen): Ein komplexer Problemlösungsprozess: Entwurf und Planung des Internationalen Congress Centrums Berlin – ICC Berlin. In: AMK Berlin (Hg.): Internationales … [wie Anm. 14] S. 78-79.

Die Raummaschine

Zukunft – Maschine – Wissen

Die Raummaschine

Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN

Die künstlerische Intervention THE SUN MACHINE IS COMING DOWN verändert mit einem Schlag die Wahrnehmung des International Congress Center – ICC – zwischen Neue Kantstraße und Messedamm. Plötzlich erstrahlt die massive Fassade mit Aluminiumverkleidung des einst angezweifelten Bauwerks von Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler als „High-Tech-Architekturikone von 1979“. Es sollte für das Architekt*innenpaar aus Berlin der einzige Großauftrag in diesen Dimensionen bleiben. Ursulina Schüler-Witte hat zwischenzeitlich ihr 88. Lebensjahr vollendet und nicht nur Thomas Oberender, der scheidende Jubiläums-Intendant der Berliner Festspiele, wünscht sich, dass sie vielleicht in einem Talk in den verbleibenden 6 Tagen der künstlerischen Intervention doch noch sprechen möge. Eine Feier durch das insbesondere jüngere Publikum wie etwa Architekturstudent*innen wäre Ursulina Schüler-Witte gewiss.

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In dieser Besprechung werde ich mich zunächst der Architekturikone in Außen- und Innenarchitektur widmen, um in einer weiteren ausführlicher auf das vielfältige künstlerische Programm einzugehen. Licht ändert alles! Im morgendlichen Gegenlicht erstrahlt die Raummaschine ICC noch nicht so sehr wie am Abend im weißen LED-Scheinwerfer. Als das ICC nach 4 Jahren Bauzeit am 2. April 1979 mit Sonderpostwertzeichen, einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan, der Satire Kongresse von Ephraim Kishon und Swinging Party eröffnet wurde, waren LED-Scheinwerfer noch Utopie. Gleichwohl beanspruchte die Außen- wie Innenarchitektur mit Glühbirnen einen Anspruch auf die Zukunft und High Tech. In den 70er Jahren träumten nicht nur Ursulina Schüler-Witte und ihr Mann Ralf Schüler von einer verschwenderischen Zukunft unbegrenzter elektrischer Energie, einer autogerechten Stadt, verchromten Stehtischen mit grünen Tischplatten, verchromten Sesseln und einer „Dialogmaschine“. Seit 2019 ist das ICC in seiner Architektur und Ingenieurskunst denkmalgeschützt.

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Die Architektur des ICC sollte ein Versprechen auf die Zukunft sein. Diese Zukunft West-Berlins und der Bundesrepublik Deutschland, von Berlin aus West-Deutschland genannt, entsprang den Wissensräumen einer Gegenwart, die zwar schon die Ölpreiskrise von 1973 kannten, während welcher ab dem 25. November 1973 ein sonntägliches Fahrverbot aus ökonomischen Gründen verhängt wurde, aber den technologischen Zukunftsvisionen wenig anhaben konnte. Ob Rolltreppen oder ausklappbare Schreibpulte mit Leselampen von AEG-Telefunken in allen Sälen, ob verchromte Stühle und Tische, alles wirkt verschwenderisch massiv und materiell. Die Raummaschine ICC strahlt einen bruchlosen Materialismus aus. Sie ist kombiniert aus Maschinen aller Formen und Größen.
WE SCANNED THE SKIES WITH RAINBOWS EYES AND SAW MACHINES
OF EVERY SHAPE AND SIZE
AND PETER TRIED TO CLIMB ABOARD BUT THE CAPTAIN SHOOK HIS HEAD
AND AWAY THEY SOARED

THE SUN MACHINE IS COMING DOWN AND WE’RE GONNA HAVE A PARTY OH OH OH … (David Bowie)

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David Bowies Schlusszeile und Refrain aus dem Song MEMORY OF A FREE FESTIVAL vom Ziggy’s Stardust Album SPACE ODDITY aus dem Jahr 1969 gibt einen Wink auf die Medialisierung der Zukunft mit Aluminium, Chrom und runden Formen bis zum beige-gepunkteten Teppichmuster.[1] Das erinnert einerseits an die große David Bowie-Ausstellung der Berliner Festspiele 2014 im Gropius Bau und andererseits an das Farbschema Beige, Orange, Grün. Orange wurde hipp. Bowie spielte Memory of a Free Festival auf einer billigen Rosedale Electric Chord Organ für Kinder, also einem einfachen elektrischen Harmonium mit einem verwaschenen Klang, der gleichwohl zukunftsweisend klingen sollte. Es sind eher beruhigende Akkorde zum Sprechgesang, der in die orchestral aufgeladene Schlusszeile mündet, als hebe nun ein halluziniertes Raumschiff ab, obwohl im Text vom Gegenteil, nämlich der Landung, die Rede ist.

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Das Farbschema Orange und Grün hat sich gehalten. Beige wurde zwischenzeitlich als Rentnerfarbe oder als gar keine Farbe abgewertet. Farben sind immer eine Frage der Belichtung. Vor allem die Zugänge zum ICC und zu den Sanitärbereichen wurden in massivem Orange gekachelt. Die Zugänge in der Signalfarbe versprachen einst Sensationen, Sauberkeit und Strom. Das satte Grün der Stehtischplatten eher in Richtung Spinat unterstrichen den Wunsch nach materiellem Pop. Insgesamt tendiert die Farbgebung der Innenausstattung zum Willen nach einer Freiheit verheißenden Farbigkeit. Diese explosive Farbigkeit lässt sich mit David Bowies „Sun Machine“ als ein halluzinatorischer Trip unter Drogeneinfluss lesen, weshalb der Song auch oft als psychedelisch beschrieben wurde. Beige ginge heute vielleicht schon wieder als Naturfarbe und Öko durch. Die rundgeformten, roten und blauen Leuchtstoff- oder Neonröhren im Foyer verkörpern den Willen zur Farbe als Leitsystem und Gegenentwurf zum feudal-bürgerlichen Lüster.

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So wie jetzt wird das ICC vermutlich nie wieder erleuchtet sein. In der Farbgebung war das ICC der klare Gegenentwurf zum am 23. April 1976 eröffneten Palast der Republik in Ost-Berlin auf dem Areal des weggesprengten Berliner Schlosses. „Erichs Lampenladen“ fehlte vor lauter sozialistisch-staatstragender Seriosität der Wille zum Pop und zur Bewusstseinserweiterung. Die Architektursprache des ICC von Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler war immer auch in die Politik verstrickt und deshalb politisch. Das große Foyer auf der Ebene 2 bietet mit den Rolltreppen die Ästhetik eines Flughafens. Nie kann man sich ganz sicher sein, ob die Raummaschine zum nächsten Raumschiff führt oder selbst gleich abheben wird. Von fern weht ein Hauch von „Zeppelinkanzel“ und Zeppelin-Design der verchromten Sessel mit schwarzem Leder durch das ICC.[2] Denn, wie verschiedentlich selbst von Ursulina Schüler-Witte erwähnt wurde, orientierte sich Ralf Schüler am Design von Ozeanlinern, Zeppelinen und Flugzeugen, wie sich 2017 Marietta Schwarz erinnerte:
„In Schülers Arbeitszimmer hingen Dutzende Modellbau-Zeppeline und -Flugzeuge von der Decke herab.“[3]

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Die Rolltreppen als Maschinen der Beschleunigung und Bequemlichkeit sind neben den Aufzügen auf allen Ebenen präsent. Das Maschinenmodell der Rolltreppe ist auf vertikale Beschleunigung ausgerichtet. Sie sind Verkehrsadern und gleichzeitig von robuster Materialität, die wie man nur allzu gut von Berliner U-Bahnhöfen weiß, störanfällig sind. Sind heute überhaupt noch Kongresshallen und Flughäfen ohne Rolltreppen und Fahrstraßen z.B. wie auf der Frankfurter Messe denkbar? Das ICC sollte 1979 mit Borsig, Siemens, Flohr, AEG-Telefunken, Eternit, früher Deutsche Asbestzement AG etc. eine Leistungsschau der Berliner Wirtschaft werden. Was sich heute allerdings noch viel dringender als Frage stellt: Sind Rolltreppen nicht wenig effiziente Energiefresser, die in Zeiten der Digitalisierung nur den Anschein von Schnelligkeit vermitteln? Die Raummaschine ICC wird in der Vertikalen von den Rolltreppen des einstigen Berliner Unternehmens Flohr Otis durchschnitten und verbunden, um große Besucherströme zu kanalisieren.[4] Im Unterschied zu Aufzügen, die fast schon Flugmaschinen sind, wird der räumliche, wirtschaftliche und soziale Aufstieg mit der Rolltreppe zelebriert. Nach dem zweiten Lockdown von November 2020 bis Juni 2021 wirken die fast leeren Rolltreppen während der künstlerischen Intervention ein wenig gespenstisch. Natürlich kommen die Besucher*innen nur nach Zeitfenstern in den Raum.

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Die Zukunft, wie wir sie zwischenzeitlich kennengelernt haben, ist von Transparenz und Fluidität durchdrungen. Unter der Aluminiumverschalung schlummert beim ICC dagegen ein massiver Betonkoloss, der der Architekturgattung Brutalismus alle Ehre macht.[5] Doch im Unterschied beispielsweise zum Hauptgebäude der Schering AG im Wedding von 1973 stellen Schüler-Witte keine Betonflächen zur Schau. Zwischen High-Tech-Architektur und Brutalismus liegt ein schmaler Grat. Was sich heute als High-Tech-Architektur beschreiben lässt, wurde 1979 im Katalog zur Eröffnung unter der Überschrift ICC durch die technische Lupe betrachtet staubtrocken in einem Ringen um Vergleiche für die Größe und Masse formuliert:
„Da gerade von den verbauten Stahlmengen die Rede ist, sei erwähnt, daß allein für die Stahlbetonarbeiten 21.000 Tonnen Bewehrungsstahl von sechs Millimeter Stärke „draufgingen“. Man stelle sich das Ganze als einen durchgehenden Stahlstrang vor, was eine Länge von 57.000 Kilometern ergäbe. Ein Gürtel überreichlich selbst für den dicken Bauch des Äquators…“[6]

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Das „Informations- und Leitsystem“ lässt die Nähe der Kommunikationsmaschine zur Flughafen-Architektur erkennen. Die funktionalen, zylindrischen Treppenhausbügel haben Schüler-Witte und Schüler nach außen verlagert, als sollten die Verkehrsadern für die Menschenströme besonders herausgearbeitet werden. Verkehrsknotenpunkte wie das ganze Gebäude über der Stadtautobahn, die gleich neben den Bahngleisen des ehemaligen Bahnhofs Witzleben entlangführt, generieren vermeintlich Kommunikation, während sie gleichzeitig zu ihrem Problem werden, weil der Verkehrslärm die Raumakustik stört. Zwar lag der Bahnhof Witzleben nach 1944 still und wurde erst 2002 wieder mit der Ringbahn geschlossen, doch Verkehrsströme wurden als Treffpunkte für die Kommunikation gedacht und konzipiert.
„Das ILS des ICC Berlin: Optische Leitspurelemente – rot für die linke, blau für die rechte Spur – dienen der Grundorientierung gleich beim beim Betreten der Eingangshalle. Die weitere Wegführung ist im wesentlichen elektronisch programmiert. Sie besteht unter anderem aus bestimmten, ebenfalls farbig leuchtenden Informationspunkten und rechnergesteuerten Fallblattaggregaten, wie sie als Anzeigentafeln von den Flughäfen bekannt sind.“[7]

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Der Treffpunkt im ICC und seine skulpturale Gestaltung über 3 Ebenen als Materialisierung der „Dialogmaschine“ ist für THE SUN MACHINE IS COMING DOWN besonders hell ausgeleuchtet, als ob hier die „SUN MACHINE“ erstrahle. Rohre, Ringe und Scheiben bilden eine hängende Kugelskulptur. Leider ist sie Friedrich Kittler wohl nie direkt aufgefallen. Vielleicht war sie nie hell genug ausgeleuchtet. Nun aber hätte hier Friedrich Kittler den antiken oder gar platonischen Kugelmenschen als Ideal kommunikativer Verschmelzung entdecken können. Die Künstlerin Joulia Strauss adressiert sich im Unteren Foyer mit „Schatten“ und im Saal 6 mit „Seelenreisen“ zum 10 Todestag des Medienphilosophen an Friedrich Kittler. Licht, LED-Scheinwerfer, Kugelform, Röhren, Ringe und Scheiben stellen die Kommunikation in Schönheit dar.
„Schönheit ist nur, wenn sie (mit den Griechen) aus der Zahl erblüht – das verbündet mich mit Joulia Strauss und Peter Weibel.“ Friedrich Kittler, Private Email[8]

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Das ICC als Kommunikationsmedium, um einmal an Friedrich Kittler anzuknüpfen, generierte unterschiedlichste Formen von Wissen. Der Treffpunkt generiert Zahlen nach wechselnden Uhrzeiten aus aller Welt. Unter der Treffpunktskulptur sind Digitaluhren mit Städtenamen aus aller Welt angebracht. Der Treffpunkt sollte zugleich die Schaltzentrale der Wissensformate sein. Bis 2011 fanden im ICC z.B. die Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)[9] ebenso wie Parteitage der FDP oder der 1. Deutsche Kommunikationstag des Bundes Deutscher Werbeberater vom 23. bis 25. Mai 1979 statt. Eine Kunstmesse fand hier wohl niemals statt. Allerdings wurde das ICC 2015 auch zum Treffpunkt und zur Unterkunft von Geflüchteten. Später kamen Geflüchtete, um von Mitarbeiter*innen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) betreut zu werden. Aber nie strahlte der Treffpunkt wie jetzt. Kommunikationsmedien formen Wissen. Für Schüler-Witte waren die Kommunikationsmedien materiell bis zum vorgesehenen U-Bahnanschluss, der nie gebaut wurde. Kommunikationsmedien brauchen Schnittstellen oder Kreuzungspunkte, an denen das Wissen ein um das andere Mal umschlagen kann.

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Unter der Hauptstraßenkreuzung von Messedamm, Masurenallee und Neue Kantstraße entstand eine Unterführung für Fußgänger mit orangegekachelten Säulen, die zweifelhaften Ruhm, bisweilen allerdings auch Hollywood-Ruhm erreichte.[10] Das Gespür für die Farbe Orange als Signatur der Pop-Moderne und ihrer Schrecken flacher, weitläufiger Räume wurde hier zur Ikone. Im Vergleich mit den Medien Facebook, Twitter, WhatsApp, Telegram und Co. waren sie allein schon aus materiellen Gründen schwerfällig. Im Algorithmus der digitalen Medien regiert die Zahl, die i.d.R. nicht poetisch wie bei Kittler gewendet wird.
„Und das heißt, es gibt einen Weg, in dem das Wissen gelehrt werden kann. Das Wissen ist die Wissenschaft und der Weg ist die Kunst. Philolaus von Kroton hat geschrieben: Der Oktave Größe ist Quinte und Quarte. Das heißt: 2 zu 1 gleich 4 zu 3 mal 3 zu 2 und das bleibt wahrhaft bis über das Ende des Universums hinaus. Das ist die wahre Mathematik. Daraus schloss Philolaus, dass in allen diesen schönen Tonverhältnissen eine gerade Zahl sich verhält zu einer ungeraden Zahl. […] Wenn man eine große Zahl durch zwei teilt, bleibt etwas in der Mitte.“[11]   

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Saal 2, der sich durch eine Art Zahnradmaschine mechanisch vom Auditorium in einen Ballsaal verwandeln lässt, verkörpert wohl am eindrücklichsten die Spätphase der analogen Maschinen. Die Zuschauertribüne lässt sich durch massive Ketten, die als Design ausgestellt werden, nach oben ziehen, um eine riesige Tanzfläche freizugeben. Wir wissen nicht, wann diese ebenso massive wie an ein Fahrgeschäft im Freizeitpark erinnernde Konstruktion zuletzt effektvoll eingesetzt wurde. Allein aus statischen Gründen brauchte es dafür vermutlich sehr viel Stahlbeton, der mehr oder weniger für die Ewigkeit verbaut wurde. Julia Stoschek schwärmte auf der Pressekonferenz von der „unfassbar großartigen Architektur“ des ICC, die jetzt für die Kunst quasi als Ausstellungsarchitektur geöffnet worden ist. – Sie wird in alle Ewigkeit so nie wieder zu erleben sein. Allein schon wegen des Herstellungs- und Vertriebsverbots von Glühbirnen mit geringer Lichtausbeute.

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Es gibt einen Text zum Entwurf und zur Planung des ICC, der bereits von seinem Titel her die Architektur als einen Pragmatismus des „komplexe(n) Problemlösungsprozess(es)“ beschreibt.[12] Als Autor*innen kommen Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte in Frage. Einerseits wird eröffnend der „Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation, seiner Technik und Technologie (…) für unsere Gesellschaft“ hervorgehoben.[13] Andererseits wurde beim Baubeginn klar, dass eine „vollständige Durcharbeitung bis in alle Details hinein (…) nicht mehr zu realisieren war“.[14] Demnach verdanken sich die außenliegenden Treppenhäuser einer Problemlösung der „Bauakustik“, während ihr visueller Effekt ein ganz anderer werden sollte:
„Die Konstruktion besteht (…) aus acht außenliegenden Doppeltreppenhäusern, auf denen ein aus Neoprenlagern gelagertes, räumliches Dachtragwerk aufliegt.
Die Wände hängen aus bauakustischen Gründen an den schrägen Dachflächen und berühren an keiner Stelle den Innenbaukörper aus Stahlbeton, der wiederum auf Neoprenlagern auf nur wenigen Stützen aufliegt. Hierdurch wurde eine Art Haus-in-Haus-Bauweise erreicht, die die äußeren Störeinflüsse des umgebenden Verkehrs eliminieren.“[15]  

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Unterschiedliche Wissensbereiche wie Akustik, Statik, Kommunikation, Verkehr, Wirtschaft, Politik und Optik generierten insbesondere durch die Baupraxis der Problemlösungen ein einzigartiges „Bauwerk“, für das es „kein Vorbild“ gab.[16] Gleichwohl waren sich die Architekt*innen bewusst, dass sie eine „Stadtskulptur“ geschaffen hatten, die in ihrer Ikonographie selbst in weitere Prozesse der Wahrnehmung zwischen „High-Tech-Architektur“, „Palast der Bundesrepublik“ oder Raummaschine weiter geschrieben wird. Energieeffizienz, Klimawandel, Digitalisierung konnten als Wissensformationen noch gar nicht bedacht werden. Auch das Asbestproblem nicht. Das ICC und seine gegenwärtigen Probleme sind ein Emblem für den Wissenswandel der letzten 50 Jahre. Wenn sich nun eine kreative Diskussion um die Raummaschine ICC entspinnen wird, muss es darum gehen, mit dem aktuellen Wissen einen neuen Prototyp zu entwickeln.

Torsten Flüh

PS: Am 20.10.2021 hat Ursulina Schüler-Witte in der Abendschau um 21:45 Uhr doch noch gesprochen.

70 Jahre Berliner Festspiele
THE SUN MACHINE IS COMING DOWN
bis 17.10.2021  


[1] Siehe Torsten Flüh: Bowie zwischen Jean Pauls Roquairol, Verbasizer und multiplen Lesen. Zur Ausstellung DAVID BOWIE im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 21, 2014 16:51.

[2] INTERVIEW: Ursulina Schüler-Witte zum Bierpinsel. In: Moderne Regional 17.04.2016 19:53.

[3] Marietta Schwarz: Rot muss er bleiben. Bierpinsel-Architekt Ralf Schüler im Gespräch mit Marietta Schwarz. In: BauNetz 04.092017.

[4] Der wenige Jahre zuvor konzipierte Flughafen Otto Lilienthal, Berlin Tegel, wurde nur mit Fahrbahnen und Brückenstraßen, aber ohne Rolltreppen konzipiert. Siehe Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[5] Zum Brutalismus siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Februar 2021.

[6] (ohne Namen): ICC Berlin durch die technische Lupe betrachtet. In: AMK Berlin (Hg.): Internationales Congress Centrum Berlin. Berlin 1979, S. 116. (Als Autoren werden auf S. 2 aufgeführt: Jack-Harry Black, Ephraim Kishon, Michael Lichy, Peter Raabe, Ralf Schüler & Dipl.-Ing. Ursulina Schüler-Witte, Chris Sommer.)

[7] Ebenda S. 118.

[8] Zitiert nach Joulia Strauss: An Friedrich Kittler. In: Arts of the working class. Extrablatt Issue 18, September 2021, S. 45-46.

[9] Siehe Pressemeldung: ICC Berlin: Kongress der DGPPN bis 2011 jährlich in Berlin Größte wissenschaftliche Tagung in Europa zu psychischen Erkrankungen bleibt am Kongressstandort Berlin. In: Presseportal 18.11.2008 – 09:20.

[10] VisitBerlin: Unterführung am Messedamm – diverse Filme. Berlins heimlicher Filmstar. In: VisitBerlin Drehorte.

[11] Friedrich Kittler, in: Viktor Mazin, Joulia Strauss, Alexander Wahrlich (Hrsg.), Kabinet Man-Machine, St. Petersburg, Skythia Publishing, 2003, S. 222. In: Joulia Strauss: An … [wie Anm. 6] S. 46.

[12]  (ohne Namen): Ein komplexer Problemlösungsprozess: Entwurf und Planung des Internationalen Congress Centrums Berlin – ICC Berlin. In: AMK Berlin (Hg.): Internationales … [wie Anm. 6] S. 63.

[13] Ebenda.  

[14] Ebenda S. 71.  

[15] Ebenda S. 78.

[16] Ebenda.

Exakte Explosionen

Farben – Abgrund – Material

Exakte Explosionen

Zur Deutschen Erstaufführung von Rebecca Saunders to an utterance beim Musikfest Berlin 2021

Das Musikfest Berlin klingt weiter nach, weil eine Musikbesprechung für mich mehr ist als eine Kritik nach welchen Standards auch immer. In die Kompositionen von Rebecca Saunders hatte der Berichterstatter bereits mehrfach Gelegenheit, sich hineinzudenken. Rebecca Saunders knüpft mit ihren Kompositionen an literarische wie philosophische Schriften an, reflektiert Sprachen und spricht von Farben in der Musik. Nun kam es am 9. September zur Deutschen Erstaufführung von to an utterance mit dem sie an die Ambiguität von utterance und eine Formulierung von Italo Calvino aus Exactitude dem dritten Teil von Six Memos for the Next Millennium anknüpft. – Rebekka Saunders wurde mit dem jung und international besetzten Orchester, Enno Poppe als Dirigenten und Nicolas Hodges stürmisch gefeiert.

Rebecca Saunders hat sich nicht zuletzt in Berlin während der letzten Jahre zu einer der vielbeachtesten Komponist*innen ihrer Generation entwickelt. Die Uraufführung von to an utterance hatte am 4. September 2021 in Luzern mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra und Nicolas Hodges als Solisten am Klavier unter der Leitung von Enno Poppe stattgefunden, der kurzfristig für Ilan Volkov eingesprungen war.[1] So hörte das Berliner Publikum am 9. September nicht nur eine Deutsche Erstaufführung, sondern in der Uraufführungsbesetzung die zweite Aufführung überhaupt. Die Uraufführung fand im Rahmen der Lucerne Festival Academy statt, die von Wolfgang Rihm geleitet wird. Luzern in Berlin …

© Adam Janisch

Das Konzertprogramm beim Musikfest war im Vergleich mit dem Lucerne Festival lediglich hinsichtlich der Variationen für Orchester op. 30 von Anton Webern gegenüber den Movements von Igor Strawinsky abgewandelt worden war, weil diese mit George Benjamin und dem Mahler Chamber Orchestra sowie Tamara Stefanovich als Solistin beim Musikfest zu hören gewesen waren.[2] Das Format Konzert spielt nicht zuletzt für to an utterance eine strukturierende Rolle, worauf später detailliert einzugehen wäre. Mit void von Rebecca Saunders als Eröffnungsstück sowie der ca. zehnminütigen Symphonie op. 21 (1927/28) und den Variationen für Orchester op. 30 (1940) mit einer Dauer über ca. 8 Minuten von Anton Webern bereiteten zwei kürzere Kompositionen die Aufführung des Konzerts „for piano and orchestra“ von 29 Minuten vor.[3] Die Komponistin knüpft mit ihrem Komponieren an Webern wie Strawinsky an, wenn man die Programme vergleicht.

© Adam Janisch

Farben als Klangfarben, die mit instrumentalen und räumlichen Forschungen zum Format Konzert einhergehen, hat der Berichterstatter bereits zuvor bedenken können. Bei der Aufführung von void beim Festival ultraschall 2018 mit dem Rundfunk Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Enno Poppe im Pierre Boulez Saal[4], bestach vor allem die Farbigkeit der Schlagwerke, die Rebecca Saunders mit Christian Dierstein und Dirk Rothbrust erarbeitet hat. Bei der Uraufführung von Stasis-Kollektiv mit dem Ensemblekollektiv Berlin in der Akademie der Künste 2016[5] wurden die Musiker*innen in der Foyer- und Treppenarchitektur des Akademiebaus am Pariser Platz verteilt. Für Yes beim Musikfest 2017[6] komponierte Saunders den Monolog der Molly Bloom aus James Joyes Ulysses, um nicht zuletzt den Klang in seiner Vielschichtigkeit zu erforschen. Die Klangforschung geht bei ihr ebenso in den Bereich der Texte und ihren Klangräumen. So zitiert sie von Italo Calvino folgende Passage für das Programmheft:
„The word connects the visible trace with the invisible thing,
the absent thing, the thing that is desired or feared,
like a frail emergency bridge flung over an abyss.”[7]
(Das Wort verbindet die sichtbare Spur mit dem unsichtbaren Ding, das Abwesende, das Gewünschte oder Gefürchtete, wie eine zerbrechliche Notbrücke, die über einen Abgrund geschleudert wird.)

Der Abgrund (abyss) lässt sich nur notdürftig mit Worten überbrücken, was Italo Calvino bereits 1985 für seine literarischen Charles Eliot Norton Lectures über „poetry in the broadest sense“ an der Harvard University vorbereitet hatte, als er am 19. September 1985 verstarb. Übrigens hatte Igor Strawinsky 1939/40 das Charles Eliot Norton Professorship of Poetry inne. Und auf Italo Calvino folgten 1988/89 John Cage und 1993/94 Luciano Berio als weitere Komponisten unter Schriftsteller*innen, Architekt*innen sowie für 2021/2022 Laurie Anderson[8], die in ihrem Lied Tightrope (1993) ein Drahtseil über den Abgrund spannte, ohne dass sie den Begriff abyss gebrauchte. Rebecca Saunders knüpft insofern mit ihrer Komposition an eine fast schon verzweifelte Geste in den Poetik-Vorträgen von Italo Calvino an. Das Verhältnis von Klavier und Orchester wird von ihr ebenfalls als ein schwieriges komponiert.

Das Klavier bzw. der solistische Pianist, Nicolas Hodges, kommuniziert nicht mit dem Orchester, was nach der Musiktradition z.B. in einem Klavierkonzert mit Orchester das Programm wäre. Es monologisiert vielmehr auf eine fast schmerzhafte Weise, wie Rebecca Saunders im September 2020 notiert hat. Wir wissen nicht, ob sie zu jener Zeit damit auch einen radikalen Kommentar als Komponistin zur Pandemie und des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 und Formen des Wissens geben wollte. In der Konstellation mit dem früheren Text von Italo Calvino folgt Saunders indessen einer musik-philosophischen Haltung, die sie mit dem Konzert auskomponieren möchte.
„The solo piano in this concerto was conceived as an disembodied voice, which seeks its own story in endless variations, wavering, almost painful, and inevitably unsustainable,
on an uncertain quest…”[9]
(Das Soloklavier in diesem Konzert ist als körperlose Stimme konzipiert, die in endlosen Variationen ihre eigene Geschichte sucht, schwankend, fast schmerzhaft und unweigerlich unhaltbar,
auf einer ungewissen Suche…)

© Adam Janisch

In der Konstellation mit Movements von Igor Strawinsky, Symphonie und Variationen von Anton Webern befragt Rebecca Saunders das Format Konzert auf radikale Weise. Denn Anton Webern bricht nach den Sätzen „Ruhig schreitend“ und „Variationen“ die Komposition seiner Symphonie ab, um 1940 wieder mit dem Modus der Variationen einzusetzen. Er fragt damit gleichfalls nach den Formaten von Musik und Konzert, wenn Martina Seeber Symphonie als eine „Suche nach Balance“ wie „Stille“ beschreibt und davon spricht, sie sei ein „Wunderwerk der Reduktion, der man weder die Nüchternheit der zwölftontechnischen Konstruktion anhört, noch (…) die Begrenzung der Mittel den Eindruck von Zeitknappheit entstehen (lässt)“.[10] Die Suche nach Stille wird von Saunders mit dem Soloklavier komponiert, wenn sie diese als ein Paradox formuliert: Das Soloklavier suche nach seiner „finalen Stille durch den eigenen Exzess des Sprechens“[11]. Das Verhältnis von Soloinstrument und Orchester wird von Saunders anders komponiert:
„The piano monologue is caught in limbo among the shadowy prensence of the orchestra. It traces and seeks, blurs and defies. A musical protagonist being, on the precipice of non-being.”[12]
(Der Klaviermonolog ist in der schattenhaften Präsenz des Orchesters in der Schwebe gefangen. Es verfolgt und sucht, verwischt und trotzt. Ein musikalisches Protagonist-Sein am Abgrund des Nicht-Seins. T.F.)

© Adam Janisch

Die Komponistin formuliert genau ihre eigensinnige Art der Instrumentierung. Das monologisierende Klavier bleibt in einer Schwebe von Präsenz und Absenz. Es lässt sich nicht fassen und bleibt im Schatten des Orchesters. Damit wird das Solistische hinsichtlich seiner Präsentation und Performanz befragt. Denn die Virtuosität der Pianistin, des Pianisten wird nie vordergründig gewesen sein. Sunders kehrt damit Klangräume um. Denn das Soloinstrument wird in einem Konzert mit den Solost*innen zu einem bewussten Klangraum. Soloinstrument und Orchester bedingen einander seit Zeiten in der Weise, dass der Solist hervorgehoben und präsent, geradewegs präsentiert werden soll. Doch bei Saunders bleibt er im Schatten des Orchesters und gelangt nie zu einer dominierenden Präsenz. Das ließ sich in der Philharmonie deutlich hören und irritierte auch, weil es den Hörgewohnheiten widerspricht. Anders gesagt, von einem Konzert „für Klavier und Orchester“ können wir wissen, dass das Klavier eine hervorstechende, wenn nicht hervorragende Rolle wird.

Der Titel ihres Konzerts benennt deshalb sehr präzise den Modus des Klangs. Einerseits benennt das Nomen utterance als Äußerung, Ausdruck, Sprechen und Sprechweise die Praxis des Musikmachens selbst. Andererseits zitiert Saunders ebenso den archaischen und literarischen Bedeutungsrahmen von to an utterance mit „the bitter end, the utmost, or last, extremity – to the brink of, at the precipice”/ das bittere Ende, das Äußerste oder letzte Extrem – am Rande, am Abgrund. Das Konzert wird zu einer existentiellen Grenzerfahrung. Es geht um ein performatives Nachdenken/Nachhören von Abgründigem. Abyss und precipice als Synonyme geben einen Wink auf die musikphilosophische Dimension der Komposition. Der Wechsel von Äußerung und Stille sowie die Suche der Stille in einer permanenten Äußerung machen das Stück nicht nur zu einer Fingerübung, sondern zu einem radikalen Nachdenken über Musikvorträge.

Rebecca Saunders nimmt Weberns Musik auf, um sie als Material für die abgründige Äußerung zu verarbeiten. Die Äußerungen kommen als Explosionen oder als Monologisierung. Auf diese Weise wird deutlich, wie sehr das Konzertprogramm auf eine Rahmung der Deutschen Erstaufführung/Uraufführung bezogen ist. Sinn und Sinnlichkeit entstehen aus Klangfarben und Explosionen.
„Weberns Musik ist keine cerebrale Musik, sondern hat eine besondere Sinnlichkeit. Diese ist so delikat, so undurchsichtig. Mich hat vor allem diese unglaubliche klangfarbliche Präzision (…) fasziniert: Dass ein Klang so perfekt gestaltet wird, dass alles Überflüssige ausradiert ist und dass beispielweise eine skelettartige Gestalt wie eine Explosion oder wie ein Faden aus der Stille gezogen ist. Man hat das Gefühl, dass die Musik nur in diesem Moment wahrgenommen werden kann…“[13]  

© Adam Janisch

Enno Poppe dirigierte das Lucerne Festival Contemporary Orchestra mit großer Exaktheit. Die Genauigkeit geht nach einer Formulierung von Italo Calvino mit dem Geheimnis einher, wenn er schreibt: “I’ll end my talk by leaving you with that image [of an antediluvian sea monster imagined by Leonardo da Vinci], so that you might preserve it for as long as possible in your memory in all its clarity and mystery.” Rebecca Saunders’ Kompositionen verlangen wie Weberns nach äußerster Genauigkeit. Die überwiegend jungen Musiker*innen folgten Enno Poppes Dirigat hoch engagiert, so dass to an utterance mit stürmischem Applaus gefeiert wurde. Rebecca Saunders entwickelt Kompositionen über Jahre hinweg. So war to an utterance – study mit Joonas Ahonen am Klavier bereits beim Musikfest Berlin 2020 zu hören, um doch ganz anders zu klingen. Im Kontext der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven hatte das Stück noch einen ganz anderen Klang.

Torsten Flüh


[1] Siehe: Lucerne Festival Academy 4: Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) | Enno Poppe | Nicolas Hodges u.a. Luzern 04.09.2021.

[2] Vgl. Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[3] Rebecca Saunders: To An Utterance (2020).

[4] Siehe Torsten Flüh: Neuer Rock und Klangzauber. ultraschall 2018: Ensemble Nikel rockt und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin dreht an der Klangspirale. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 6, 2018 22:04.

[5] Siehe Torsten Flüh: Klangraumerkundung. Zur Uraufführung von Rebecca Saunders Stasis-Kollektiv mit dem Ensemblekollektiv Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 3, 2016 17:12.

[6] Siehe Torsten Flüh: Gefeierte Mythen der Musik. Das Ensemble Musikfabrik führt Rebecca Saunders` Yes sowie Harrison Birtwistles Cortege und 26 Orpheus Elegies auf. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 14, 2017 17:11.

[7] Zitiert nach Musikfest Berlin: 9.9.2021 Lucerne Festival Contemporary Orchestra | Ilan Volkov: Webern | Saunders. Berlin 2021, S. 13.

[8] Siehe: Charles Eliot Norton Lectures Norton Lectures.

[9] Musikfest: 9.9.2021 … [wie Anm. 7].

[10] Martina Seeber: Mit der Stille als Leinwand. Zur Musik von Rebecca Saunders und Anton Weber. Ebenda S. 12.

[11] Übersetzung T.F. Ebenda S. 13.

[12] Ebenda.

[13] Zitiert nach ebenda S. 11.

Aus Beethovens Geisterreich

Beethoven – Stummfilm – Maschine

Aus Beethovens Geisterreich

Zur Uraufführung von Hoffmanns Erzählungen als Stummfilm mit der Musik von Johannes Kalitzke im Konzerthaus

Zur Uraufführung der restaurierten Fassung von Max Neufelds Stummfilm Hoffmanns Erzählungen aus dem Jahr 1923 im Konzerthaus anlässlich des Musikfestes Berlin überschnitten sich wenigstens zwei Gedenktage. Einerseits feiert das als Schauspielhaus von Friedrich Karl Schinkel zwischen 1817 und 1821 erbaute Konzerthaus sein zweihundertjähriges Bestehen. Andererseits wirkt in der „Beethoven-Variationen“ genannten Stummfilmmusik von Johannes Kalitzke auch das Beethoven-Jahr 2020 nach. Zugleich verdrängt der titelgebende Dichter E. T. A. Hoffmann, der in seinen letzten Jahren während der Bauzeit des Hauses am Gendarmenmarkt wohnte, dessen Tätigkeit als Musiktheoretiker und Komponist. Überliefert sind von ihm gleich mehrere Schriften zur Musik Beethovens. Jenseits des Offenbachschen Operetten-Librettos, das für den Stummfilmplot transformiert wurde, eröffnet die Musik von Kalitzke eine tiefere Verflechtung von Hoffmann und Beethoven.

Am 5. September lohnte es sich in der Loge nicht nur der merkwürdigen, neomythologischen Kombination einer vergoldeten Gusseisen-Leier mit zwei Fischen als Pfeilerfuß nachzusinnen, vielmehr gab die Stummfilm-Operette einen Wink auf eine historisch freie Kombinatorik von Bildelementen und Motiven. Im Vergleich mit den 90 Treffern in der Datenbank des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin zur Suche „Schinkel Schauspielhaus“ geben Leier und Fische eine Ahnung vom Verfahren der Kombinatorik einer Erzählung in der Re-Konstruktion. Insbesondere der Innenraum des Schauspielhauses erweist sich als Konstruktion einer Geschichte, wie sie sich zumindest in den Entwürfen Schinkels nicht bestätigen lässt.[1] Die Fischplastiken lassen sich vielmehr in der „Dekoration der Vorhalle des Schlösschens Charlottenhof“[2] in Potsdam und mit der Leier auf die Entwürfe des Akroterions für die Singakademie[3] finden. Erst seit der (Wieder)Einweihung des Konzerthauses am 1. Oktober 1984 halten die Fische die Leier wie schon bei Schinkel – aber anders.

Schinkel Karl Friedrich (1781-1841), Sammlung Architektonischer Entwürfe, Berlin 1858. Singakademie, Berlin: Grundriss, Detail. Stich auf Papier, 41,50 x 53,00 cm (inkl. Scanrand). Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin Inv. Nr. SAE 1858,023.

Karl Friedrich Schinkel situierte sich mit seinen zahlreichen Entwürfen nicht nur an der Schnittstelle von antiken Architektur- wie Bildelementen und moderner serieller Fertigung durch Eisenguss. Er verwendete ebenfalls eine neuartige Kombinatorik aus Antike und Gotik, die Züge der Romantik annimmt. Mit der Anknüpfung an die Gotik, der sogenannten Backstein-Gotik soll im nördlich gelegenen Preußen ein verlorener Glanz in der Architektur wieder erzeugt werden. Zwischen dem neogotischen Denkmal für die Preußischen Befreiungskriege auf dem Tempelhofer Sandberg aus Gusseisen mit dem von ihm entworfenen Eisernen Kreuz als wiederkehrendes Emblem wie Spitze und der Kirche in der Rosenthaler Vorstadt, die als St. Elisabeth mit Anspielung auf die Schwiegertochter Friedrich Wilhelm III., Elisabeth Ludovika, Prinzessin von Bayern, nach deren Konvertierung zur Evangelischen Kirche in Preußen benannt wurde, spannt sich eine neuartige Kombinatorik der historischen Stile von Antike und Gotik.

Schinkels neues Verfahren der Kombinatorik wirkt um 1821 standardisierend. Das Eiserne Kreuz als erster seriell hergestellter Orden für den gemeinen Soldaten führt zu Produktionsengpässen ebenso wie zur nationalen Verbundenheit der Kriegsteilnehmer mit dem bitterarmen preußischen Herrscherhaus. Zusammen mit Peter Beuth als Vorsitzendem der Königlich technischen Deputation für Gewerbe veröffentlichte Schinkel 1830 vierundneunzig Kupfertafeln als Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker.[4] Schinkel fertigt wenigstens einige der „Vorzeichnungen“ für die Vorbilder an.[5] Auf diese Weise setzt in Berlin und Preußen eine Standardisierung industriell gefertigter Formen, Verzierungen und Bildelemente ein:
„Wünschenswerth ist es daher, die Gewerbetreibenden mit dem Besten bekannt zu machen, was im Laufe der Zeit in Beziehung auf Form und Verzierung verschiedener Gegenstände hervorgegangen ist; wünschenswerth, diesen Darstellungen so viel Vollkommenheit zu geben, als Zeit und Umstände erlaufen, damit es wahre Vorbilder seyen, die einen Einfluß auf die Ausbildung des Geschmacks üben, und denjenigen weiter bringen, der es sich Mühe kosten läßt, sie zu erreichen.“[6] 

Die zwischen 1921 und 1830 entstandenen Vorbilder lassen sich in der Architektur und den Formen der Verzierung des Konzerthauses wiederfinden. Beuth nimmt eröffnend in Tabellen eine Schematisierung der architektonischen „Glieder und Gliederverzierungen“ vor.[7] Die Zerlegung der Architektur in „Glieder“ wie „Viertelstab“, „Rundstab“, „Hohlkehle“, „Anlauf“ etc. ermöglicht allererst eine freie Kombinatorik eben dieser Einzelteile. Was oft abwertend als Eklektizismus benannt wird, setzt mit Schinkels und Beuths Zerlegung, Schematisierung und neuartigen Kombinatorik ein. Insbesondere die Innenausstattung des Konzerthauses mit seinen „Glieder(n)“, „Gliederverzierungen“, Pfeilern, Pfeilerfüßen, Balustraden und 38 Komponisten-Büsten knüpft nicht so sehr an den historischen Innenraum an, der bis zu seiner schweren Kriegszerstörung in einen modernen Theaterraum des 20. Jahrhunderts umgewandelt worden war, sondern an die standardisierte und serielle Fertigung als Paradigma der Industrialisierung wie es mit Schinkel und Beuth in Berlin entwickelt wurde: Vorbild wird, was sich standardisieren, seriell herstellen und kombinieren lässt.

Industrie– und Akademie-Geschichte überschneiden sich ikonographisch im Großen Saal des heutigen Konzerthauses. Wo kulturelles Wissen und verschwenderische Pracht im Schein der Kronleuchter gesehen werden sollen, verbergen sich die Produktionsweisen der Industrie. Zunächst hielt der Berichterstatter die Fische mit Leier aus Gusseisen für originale Elemente Schinkels und der Eisenindustrie vor dem Oranienburger Tor. Doch so fortgeschritten war die Industrialisierung bei Fertigstellung des Schauspielhauses 1821 noch nicht. Die serielle Produktion bleibt noch Utopie. Bei der Konstruktion des Denkmals für die Preußischen Befreiungskriege auf dem nun nach dem wesentlichen Bildelement benannten Kreuzberg experimentierte die Königlich Preußische Eisengießerei noch mit einem massiven Gusseisenträger, der viel zu schwer war und heute noch im nachträglichen Sockelgeschoss des Denkmals gelegentlich für die Öffentlichkeit zu sehen ist. Beuth legte vielmehr mit seinen Vorbildern die Basis für die industrielle Fertigung, wie sie erst im 20. Jahrhundert möglich wurde und in den 1970er Jahren längst historisch geworden war.

© Annette Zerpner (Ausschnitt T.F.)

Johannes Kalitzkes Beethoven Variationen werden von ihm in ihrer Kompositionsweise offengelegt und detailliert beschrieben. Seine Musik für den Stummfilm Hoffmanns Erzählungen kombiniert, was beziehungsreich bereits vorgelegen hat, doch in Vergessenheit geraten ist. Insofern bekommt sie einen aufklärenden und erinnernden Gestus, der vielleicht nicht sogleich für das Publikum zu hören war. Indessen lässt es sich im Programmheft wie dem Blog des Konzerthauses mit Hoffmanns Wahn und Wirklichkeit nachlesen.[8] Es ist eine Frage von Konsum und Interesse, ob man sich als Hörer*in im Nachhinein weiter mit der Komposition beschäftigen möchte oder nicht. 2019 feierte die rekonstruierte Musik zum Stummfilm La Roue mit der Kombination von Kompositionen durch Arthur Honegger und Paul Fosse im Konzerthaus eine glanzvolle und bei 7 Stunden Dauer herausfordernde Uraufführung.[9] Das Rundfunk-Sinfonieorchester spielte unter der Leitung von Frank Strobel und die Stummfilmmusik erregte an der Grenze zur Maschine Gefühle. Mit dem Stummfilm Hoffmanns Erzählungen geht es nun ebenfalls um Gefühle und eine Maschine, denn der Dichter verliebt sich dreimal in Frauen. Dazu sagt Kalitzke:
„… Hoffmann hat viel über Beethoven geschrieben. Er ist in besagtem „Kopfraum“ der Figur Hoffmann präsent. Beethoven lässt sich jedoch kaum im Sinne von Zitaten heraushören. Aber die Anfangsakkorde aller neun Sinfonien stecken in den ersten zwei Takten…“[10]

© Annette Zerpner (Ausschnitt T.F.)

E. T. A. Hoffmann hat sich nicht nur in seinen Erzählungen mit dem Gefühl befasst, vielmehr noch wird seine Musikrezension zur 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven zu einem Nachsinnen über ein Jenseits „der durch Begriffe bestimmbaren Gefühle“. Um 1810 als Hoffmanns Rezension erscheint, generiert sich in den Künsten eine Verschiebung in der Gefühlsgeschichte. Hoffmann nennt es das „Unaussprechliche“, dem er sich hingeben möchte.[11] Mit den Gefühlen geht es Hoffmann zugleich um „Empfindungen“ und das Empfundene. Die 5. Symphonie löst insofern beim Rezensenten Gefühle und Empfindungen aus, die sich nur schwer in Worte fassen lassen. Die Benennung der Gefühle wird aufgeschoben, obwohl er danach Er „strebt“, „alles das in Worte zu fassen (…), was er bey jener Composition tief im Gemüthe empfand“. Zu bedenken ist dabei, dass Hoffmann die Fünfte nicht etwa in einem Konzert gehört hat, sondern die Partitur, die ihm vorliegt, liest.

© Filmarchiv Austria (Screenshot T.F.)

Es macht einen Unterschied im Hören, ob eine Symphonie im Konzert gehört oder am Schreibtisch gelesen wird. Johannes Kalitzke spricht wohl nicht zuletzt deshalb vom „Kopfraum“ der „Figur“ Hoffmann. Wenn der Komponist E.T.A. Hoffmann die Partitur liest, dann hört er sie in seinem „Kopfraum“. Das verändert sehr viel gegenüber dem Hören in einem Konzert, wie es der Berichterstatter erst kürzlich beim Musikfest Berlin mit der 6. Symphonie erlebte.[12] Die 5. Symphonie, auch Schicksalssymphonie genannt – Tatata aaaa – in c-Moll, betrifft, um es einmal so zu sagen, ein anderes Register der Gefühle.
„Wie ästhetische Messkünstler im Shakspeare oft über gänzlichen Mangel wahrer Einheit und inneren Zusammenhanges geklagt haben, und nur dem tiefern Blick ein schöner Baum, Knospen und Blätter, Blüthen und Früchte aus einem Keim treibend, erwächst: so entfaltet auch nur ein sehr tiefes Eingehen in die innere Structur Beethovenscher Musik die hohe Besonnenheit des Meisters, welche von dem wahren Genie unzertrennlich ist und von dem anhaltenden Studium der Kunst genährt wird. Tief im Gemüthe trägt Beethoven die Romantik der Musik, die er mit hoher Genialität und Besonnenheit in seinen Werken ausspricht. Lebhafter hat Rec. dies nie gefühlt, als bey der vorliegenden Symphonie, die in einem bis zum Ende fortsteigenden Climax jene Romantik Beethovens mehr, als irgend ein anderes seiner Werke entfaltet, und den Zuhörer unwiderstehlich fortreisst in das wundervolle Geisterreich des Unendlichen.“(635)

© Filmarchiv Austria (Screenshot T.F.)

Hoffmann, der in der Operette von Jacques Offenbach sich in den Automaten Olympia verliebt, wird zum Erfinder des Unheimlichen mit seiner Erzählung Der Sandmann. Doch das Unheimliche spielt für ihn bereits in der Rezension der Fünften eine wichtige Rolle. Seine Analyse der „innere(n) Structur Beethovenscher Musik“ ist der späteren Erzählung um 6 Jahre publizistisch vorgelagert. Für Sigmund Freud wird Das Unheimliche 1919, also gut einhundert Jahre später, mit einer Lektüre der Hoffmannschen Erzählung Der Sandmann zu einem, sagen wir, Scharnier in der Psychoanalyse.[13] Was bei Offenbach am 10. Februar 1881 in der Opéra-Comique insofern als unterhaltsam lustige Operette Les Contes des Hoffmann über einen allzu romantischen Dichter im sich durch die Industrialisierung rasant verändernden Paris verlacht wird, gibt nicht zuletzt einen Wink auf das Unheimliche der Industrialisierung mit ihren Maschinen, insbesondere Dampfmaschinen. In der Figur Olympia im Stummfilm mit ihrem starren Blick und ihren maschinellen Bewegungen überschneidet sich auch das Unheimliche der rasanten Industrialisierung in Paris. Doch zunächst schreibt der Rezensent Hoffmann von einem unheimlichen Gefühl beim Lesenhören der 5. Symphonie:
„Die erste Hälfte dieses Theils schliesst in G dur. Im zweyten Theil fangen die Bässe das Thema zweymal an und halten wieder ein, zum dritten Mal geht es weiter fort. Manchem mag das scherzhaft vorkommen, dem Rec. erweckte es ein unheimliches Gefühl.“ (654)

Das Scherzhafte und das Unheimliche liegen bei E. T. A. Hoffmanns nah beieinander. Es geht um eine Form der Wiederholung mit der Wiederkehr des Themas. Das Thema wird zweimal angespielt und abgebrochen, um bei einem „dritten Mal (…) weiter fort“ zu gehen. Doch Hoffmann gebraucht wiederholt die Formulierung eines „wundervolle(n) Geisterreich(s)“. Das lässt sich mehrdeutig hören und lesen. Denn zunächst einmal müsste es um den Geist und das geistig Sinnliche der Musik gehen. Geister zeichnen sich durch eine merkwürdige Anwesenheit in der Abwesenheit aus. Etwas erscheint, wo es nicht erscheinen sollte. Eine „Sehnsucht“ wird auf etwas gerichtet, dessen Abwesenheit schmerzlich gewiss ist. Hoffmann findet dieses „Geisterreich“ in dem „Schmerz und Lust in Tönen“, die über den „Schluss-Accord“ hinaus wirken. In der Rezension zur Fünften entwickelt Hoffmann eine Schreibweise, die bis in die Nachtstücke und Hoffmanns Erzählungen fortwirken sollte.
„Beethoven hat die gewöhnliche Folge der Sätze in der Symphonie beybehalten; sie scheinen phantastisch an einander gereiht zu seyn, und das Ganze rauscht manchem vorüber, wie eine geniale Rhapsodie: aber das Gemüth jedes sinnigen Zuhörers wird gewiss von einem fortdauernden Gefühl, das eben jene unnennbare, ahnungsvolle Sehnsucht ist, tief und innig ergriffen und bis zum Schluss-Accord darin erhalten; ja noch manchen Moment nach demselben wird er nicht aus dem wundervollen Geisterreiche, wo Schmerz und Lust in Tönen gestaltet ihn umfingen, hinaustreten können.“ (659)

Was für einen Großteil des Publikums in der Stummfilmmusik von Johannes Kalitzke zunächst gar nicht zusammenpassen will, erweist sich strukturell als klug durchdacht. Das Unheimliche und gewiss Verlorene kehrt in der Komposition wieder. Der Komponist und Dirigent des Konzerthausorchesters hat seine Beethoven Variationen genau auf die Bildsequenzen des Stummfilms komponiert. Er dirigierte das engagierte Orchester nach „Timecode“. Eine besonders unheimliche Rolle spielen allerdings all jene Instrumente, die eine Geräuschatmosphäre herstellen, die es schon dem Genre Stummfilm nach nicht zu hören gibt, die aber künstlich und geisterhaft in der Musik hergestellt werden. Und fast wie bei der Wiederkehr des Themas in der Symphonie kombiniert Kalitzke die „Anfangsakkorde aller neun Sinfonien“. Sogar das Unheimliche eines Bösewichts, der sich die Hände reibt, wird von Kalitzke mit einem Augenzwinkern bedacht und komponiert.
„Das sind Geräuschinstrumente, die nach einer bestimmten Klangvorstellung oft naturalistisch eingesetzt werden. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn sich im Film ein Bösewicht hinterhältig die Hände reibt, wird das mit einem Rhythmus auf Sandpapier imitiert.“[14]

Der Stummfilm ist eine Maschine. Denn wir sehen Menschen auf der Leinwand, die sich nicht mehr die Hände reiben können, die seit langem zu Asche zerfallen sind, und die dennoch für uns geisterhaft wiederkehren. Max Neufeld hat an dem Operettenplot wenig verändert. Aber dank der fortgeschrittenen Belichtungstechnik kann im Stummfilm der Schatten „tatsächlich“ aus dem Spiegel steigen. Die Visualität erhält durch den Film und Stummfilm eine neue Steigerung ins Geisterhafte. Das mag bei der Uraufführung des Stummfilms Hoffmanns Erzählungen womöglich mit Orchester 1923 in der Stadt Sigmund Freuds für das Publikum wirklich unheimlich gewesen sein. Doch am unheimlichsten mag gewesen sein, dass sie die Bilder aus einer Projektionsmaschine sahen und vergaßen, dass es eine Maschine war.

Torsten Flüh

PS: Ob Hoffmanns Erzählungen (1923/2021) mit der neuen Musik als DVD oder Download erhältlich sein wird, ist nicht bekannt.


[1] Technische Universität Berlin Architekturmuseum: Suche: Schinkel Schauspielhaus.

[2] Ebenda: Dekoration der Vorhalle des Schlösschens Charlottenburg.

[3] Ebenda: Singakademie.

[4] Königlich technische Deputation für Gewerbe (Hg.): Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker. (Kupfertafel 1821 bis 1830) Berlin: August Persch, 1830. (Google Books) (Selbst im aktuellen Katalog der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin werden Band und Tafeln mit „Standort unbekannt“ und/oder als „Kriegsverlust“ geführt.

[5] Vgl. Vorzeichnung für die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker. Teil 1, Abteilung 1, Blatt 2: Herleitung der Gesimskonstruktion aus der Holzkonstruktion. In: Deutsche Digitale Bibliothek.

[6] Beuth: Vorwort. Ebenda S. IV.

[7] Ebenda S. 61.

[8] Annette Zerpner: Hoffmanns Wahn und Wirklichkeit. In: Konzerthaus Blog 2. September 2021.

[9] Vgl. Torsten Flüh: Von der Liebe zur Maschine. Zu La Roue von Abel Gance mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Oktober 2019.

[10] Johannes Kalitzke in Annette Zerpner: Hoffmanns … [wie Anm. 7].

[11] Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: [Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven.] In: Allgemeine musikalische Zeitung 12 (1810), Nr. 40, Sp. 630–642 u. Nr. 41, Sp. 652–659. Digitale Edition von Jochen A. Bär. Vechta 2014. (Quellen zur Literatur- und Kunstreflexion des 18. und 19. Jahrhunderts, Reihe A, Nr. 1094.)

[12] Vgl. Torsten Flüh: Berührt – Zu Ondřej Adámeks Where are You? und Ludwig van Beethovens 6. Symphonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. September 2021.

[13] Vgl. zur Erzählung Der Sandmann auch: Torsten Flüh: Verzeitigt. Über ein Eröffnungswochenende der MAERZMUSIK, Festival für Zeitfragen, und Internet-Kriminalität. In. NIGHT OUT @ BERLIN März 14, 2016 21:38.

[14] Johannes Kalitzke in Annette Zerpner: Hoffmanns … [wie Anm. 7].

Visuelle Musik – Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin

Kombinatorik – Musik – Visualität

Visuelle Musik

Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth

Igor Strawinsky hat in seinen Kompositionen wiederholt das Visuelle bedacht, bearbeitet und kommentiert. Die Wahrnehmung der Musik im Konzert wurde von ihm früh mit dem Stück L’Histoire du Soldat (1918) konzeptuell bedacht. Indem er durch narrative Kompositionen für das Ballett wie L’Oiseau de feu (1910) zu Beginn des 20. Jahrhunderts berühmt wurde, setzte er sich frühzeitig mit einem Wahrnehmungsbereich der Musik auseinander, der bis in das Spätwerk des Canticum Sacrum ad honorem Sancti Marcis nominis (1955) fortwirken sollte. Die Kantate zu Ehren des Heiligen Markus wurde im prunkvollen Markusdom von Venedig unter Einsatz der Orgel als Königin der Instrumente mit Wiederholung uraufgeführt. Der visuelle Effekt der verschwenderischen Instrumentierung der Ballettmusiken in eine enorme Musikmaschine wirkte nicht zuletzt bis in die Erwartungen der venezianischen Auftraggeber für die Kantate fort.

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Beim Musikfest Berlin ließ sich nicht nur der Visualität von Musik im Kleinen wie bei der L’Historie du Soldat durch die Stargeigerin Isabelle Faust und Dominique Horwitz mit Freunden nachspüren, vielmehr wurden vom freien nordfranzösischen Sinfonieorchester Les Siècles mit dem Rundfunkchor Berlin die Markus-Kantate mit Orgel, das in Berlin 1931 im neuen Haus des Rundfunks an der Masurenallee uraufgeführte Violinkonzert Concerto en ré und Le Sacre du printemps unter der Leitung des detailversessenen François-Xavier Roth gespielt. Dass die Ballettmusiken von Igor Strawinsky heute meistens von großen Orchestern als Konzert aufgeführt werden, hat nicht zuletzt mit ihrer Visualität zu tun. Der ganz große Orchesterapparat der Jahrhundertwende wird in Aktion versetzt. Strawinsky wollte nach einer Überlegung zu L’Histoire du Soldat, dass das Publikum sieht, wie Musik gemacht wird.

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Ist es nicht ein Paradox, dass Strawinskys Kompositionen für das Ballets Russes – L’Oiseau de feu, Le Sacre du printemps und Petruschka – heute überwiegend als Konzert aufgeführt werden? Der Feuervogel wurde im Tempel der Oper des 19. Jahrhunderts in der Pariser Opéra am 25. Juni 1910 zum ersten Mal gezeigt. Le Sacre du printemps wurde im seinerzeit mit 2.000 Plätzen noch größeren, neu erbauten Grand Théâtre des Théâtre des Champs-Élysée knapp drei Jahre später uraufgeführt. Die Dimensionen der Instrumentierung bezogen sich nicht zuletzt auf die Möglichkeiten der größten Konzertpodien ihrer Zeit. Aktuell wird das Grand Théâtre in Paris u.a. von den Wiener Philharmonikern bei Gastspielen in Paris genutzt. Les Siècles bot insofern mit z.B. fünffach besetzten Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten und Trompeten sowie den 8 Hörner inklusive 2 Tenor-Wagnertuben einen schon visuell beeindruckenden Orchesterapparat mit historischen Instrumenten.

© Philippe Rebosz

Nach der Reihenfolge der Aufführungen begann Les Siècles zunächst in der kleineren Besetzung der selten aufgeführten Markus-Kantate mit dem Rundfunkchor Berlin und John Heuzenroeder, Tenor, sowie Miljenko Turk, Bariton, unter der Leitung von François-Xavier Roth. Anders als die Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel mit dem Text des Psalm 110, der durch die Komposition in der Aussage gefühlsgeschichtlich transformiert wurde, oder Johann Sebastian Bachs Christ lag in Todes Banden nach einem Text von Martin Luther, wie sie von Sir John Eliot Gardiner zu hören waren[1], komponierte und kombinierte Igor Strawinsky 1955 einen eignen Kantatentext, der nur drei Texte aus dem Evangelium nach dem Apostel Markus enthält. Bereits dieses Kombinationsverfahren für die neue Kantate gibt einen Wink auf Strawinskys eigenwillige Komposition. Er arbeitete sich auf autonome Weise in die Kantatenliteratur ein, um eine für ihn stimmige Version zu komponieren.

© Philippe Rebosz

Igor Strawinskys Gesang zur Ehre des heiligen Markus folgt vom Umfang und Form der Kantatenliteratur, während durch die Kombinatorik der biblischen Texte – Evangelium nach Markus, Hohes Lied, Deuteronomion und Psalmen – eine eigene Textologie generiert wird, „die rhetorische Strukturen, Metaphern, grammatische Besonderheiten und intertextuelle Bezüge“ betrifft.[2] Mit dem Zitat des Hohen Liedes IV, 16 nimmt Strawinsky auch eine Profanierung des Kantatentextes vor, insofern die Liebe im zweiten Gesang erotische Züge annimmt. – „Comedite, amici, et bibite; et inebriamini, carissimi./Esst Freunde, und trinkt und werdet trunken von Liebe.“ – Im dritten Gesang wird im ersten Teil mit dem Titel Caritas/Liebe der Liebesdiskurs der Kantaten mit Moses V, VI, 5 weiter ausgeführt. Spes/Hoffnung und Fides/Glaube werden im dritten Gesang mit poetischen Psalm-Zitaten beschrieben. Die Montage der Psalm-Zitate lässt mit unterschiedlichen musikalischen Mitteln wie Orgelvorspiel, Bläserhymnen, Chor- und Soli-Blöcken eine eigene Dramaturgie der Kantate entstehen.

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Insbesondere die Montage der Psalmen 125 und 130 des Teils Spes/Hoffnung, löst die gleichwohl poetischen wie religiösen Kontexte der Psalmen auf. Strawinsky spaltet die Psalmen auf und montiert einzelne Satzteile neu. Auf diese Weise wird die Hoffnung neu komponiert, indem sie verdichtet wird, was sich als ein Stilmittel von Strawinskys moderner Kantate im 20. Jahrhundert beschreiben lässt. Das Montageverfahren als ein spezifisch modernes ließe sich ebenso als neuartiges in der Kantatenliteratur beschreiben, wenn die Psalmen nicht immer schon nahelegten, dass sie durch eben diese poetische Textologie entstanden sind. Die besondere Elastizität der Sprache in der Psalmenliteratur richtet sich auf Wiederholungen, Wechselgesänge und nicht zuletzt sinnliche Überlagerungen.
„Die auf den Herrn hoffen …“ (Psalm 125,1)
„Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort …“ (Psalm 130,5)
„… werden nicht fallen …“ (125,1)
„Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.“ (130,6)
„… sondern ewig bleiben wie der Berg Zion.“ (125 1-2)   

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Die Uraufführung der Kantate mit ihrer bedenkenswerten Instrumentierung – Soli, vierstimmiger gemischter Chor, Flöte, Oboen, Englischhorn, Fagotte, Trompeten und Posaunen, sowie Harfe und Orgel, neben Violen und Kontrabässen[3] – zitiert insbesondere mit der Orgel die Kantatenliteratur und erweitert sie beispielsweise mit den Tenor-, Bass- und Kontrabassposaunen ins Dramatische. Am 13. September war die Kantate exakt 65 Jahre zuvor unter der Leitung Strawinskys im Markusdom mit einer Wiederholung als gesellschaftliches Konzertereignis aufgeführt worden. Denn die Auftraggeber hatten bemängelt, dass das Stück zu kurz sei, weil sie „für das große räumliche Spektakel und das hohe Honorar auch einen entsprechenden zeitlichen Rahmen erwartet“ hatten.[4] Die Kantate wird im Markusdom zum gesellschaftlichen Großereignis, indem sie nicht an einem 25. April, dem Namenstag des Heiligen Markus, dessen Reliquien im Markusdom von Venedig aufbewahrt werden[5], sondern zu Beginn des Venice International Festival of Contemporary Music uraufgeführt wurde.[6] Anders gesagt: Es findet eine programmatische Verschiebung der Kantate aus der Liturgie in ein Konzertformat statt.

© Philippe Rebosz

Die Musikkritik, die am 24. September 1956 im New Yorker Time-Magazin veröffentlicht wurde, trägt den kriminalliterarischen Titel Murder in the Cathedral. Wenigstens in der Kathedrale hatten sich die 130 Musikkritiker unter den 3.000 Gästen aus aller Welt eine andere, womöglich auch „mehr“ Musik von Igor Strawinsky erwartet. Stattdessen hörten sie wie am 13. September in der Philharmonie eine 17minütige Kantate, die nicht nur musikalisch die Regeln des Genres verletzte und erstmalig erweiterte. Das Dirigat selbst wird visuell zur Mordtat nach der Beschreibung des Kritikers, der sich rhetorisch ganz in der eingeschworenen Gemeinde der Musikkenner verortet: „Das Publikum in der Kathedrale war gespannt vor Erwartung, als der alternde (74) Komponist selbst auftrat, der wie ein animierter gotischer Wasserspeier aussah. Er dirigierte mit geballten Fäusten und hölzerner Wut („Er liebt es zu dirigieren“, flüsterte ein Zuhörer, „aber er kann es nicht“), während Blitzlichter die Dunkelheit durchbohrten und die goldenen Schätze der Kathedrale erhellten.“[7]

© Philippe Rebosz

Durch die visuelle Beschreibung des Dirigats und die Kontrastierung von „animierte(m) gotische(n) Wasserspeier“ mit den „goldenen Schätze(n) der Kathedrale“ stimmt der Musikkritiker des Time-Magazins einen geradezu feindseligen Ton an. Die Kritik wird ein Verriss nicht nur des Komponisten in seiner körperlichen Erscheinung, vielmehr noch schüttet sich der zwar namenlose, doch in dem tonangebenden Magazin einflussreiche Musikkritiker in der Rhetorik des Hohns über das mit 50 Musiker*innen besetzte Orchester aus: „An anderer Stelle wogte der 70-stimmige Chor mit kraftvollem Gesang und besiegte das quietschende, dröhnende, 50-köpfige Orchester.“[8] Aufschlussreich ist an dieser Formulierung, wie die visuelle Wahrnehmung – surged/wogte – des Chores in das Auditive eines Kampfes – defeating/besiegte – nahtlos in einander übergeht. Die bemerkenswerte nicht zuletzt visuelle Größe des Chores und des Orchesters wird verhöhnt, um sich selbst von den Kritikern abzugrenzen: „Die Kritiker waren keine Hilfe, sie brachten Sätze wie „seltsame Desorientierung“, „mystifizierende Dekadenz“, „verärgernd“ vor. Aber treue Strawinsky-Jünger staunten über die schöpferische Energie des alten Mannes.“[9]

© Philippe Rebosz

Die Rezension des Canticum Sacrum ad honorem Sancti Marcis nominis als Hauptattraktion des 1930 gegründeten Venice International Festival of Contemporary Music, das sich somit im 26. Jahr befand und in der Venice Biennale Musica aufgegangen ist, gibt einen Wink auf die Schwierigkeiten des Genres selbst. Statt der Beschreibung des Gehörten, der Musik und des Textes wird Anekdotisches kolportiert und zu einem rhetorischen Stimmungsbild verwoben. Was „quietsch(te)“ und „dröhn(te)“, war eine nicht mehr ganz neuartige Kompositionsform, die unter Komponisten und Forschern als Kontrapunkt oder Zwölftonmusik diskutiert wurde. Die Suche nach neuen Formen und Praktiken interessierte offenbar nicht einmal das Publikum eines Festivals für zeitgenössische Musik. Was zog, so kann man zwischen den Zeilen des Time-Magazins lesen, waren die Bekanntheit des Komponisten, die aufwendige Größe und der Veranstaltungsort. Der Einsatz der Orgel beispielsweise wird gar nicht erwähnt.

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Die Bekanntheit Igor Strawinskys durch seine epochalen Kompositionen für das Ballett führte offenbar dazu, dass ein Großteil der Kritik und des Publikums ihm eine kompositorische Weiterentwicklung verwehrte. Die Resonanz zur Aufführung des Canticum Sacrum gibt dafür einen Wink. Man wollte hören und sehen, was man kannte. Dieses Wissen stand dem Interesse für neue Entwicklungen entgegen. Insofern als das Konzertprogramm von François-Xavier Roth mit dem Orchester Les Siècles genau den umgekehrten Weg des Wissens vorschlug, wurde die musikalische Qualität und Originalität der Komposition in den Raum gestellt. Die Markus-Kantate bietet nicht eine Spur „russisches“ Kolorit, während eine Kollegin und Sitznachbarin auf das „Russische“ im Violinkonzert geradezu entzückt reagierte. Das Concerto en ré mit Isabelle Faust von 1931 sollte an ein Musikwissen des Russischen aus mehreren Gründen anknüpfen. Andersherum verrät das Canticum sacrum etwas über das Missverständnis vom „russischen“ Komponisten Igor Strawinsky.

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Mit dem chronologisch gegenläufigen Konzertprogramm wurde Igor Strawinsky als ein Komponist ins Interesse gerückt, der bis ins hohe Alter neue Musikentwicklungen nicht nur wahrnahm und ausprobierte, sondern sich nach einer Anekdote zutiefst überzeugt zeigte von Transformationen der Musikliteratur. Das hatte schon die Aufführung der Movements mit Tamara Stefanovich und dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von George Benjamin beim Musikfest gezeigt.[10] Er verstand sich selbst mehr als ein forschender als ein wissender Komponist, wenn er sagte: „“Who says it’s twelve-tone?“ Stravinsky snapped. „In a few years people will not care whether it’s twelve, 16, or 24, or any other number. They will understand.““[11] Treffsicher zitierte und persiflierte Strawinsky das Zahlenwissen[12], das seit der Moderne als Wissensmodus schlechthin gilt. Doch das Verstehen von Musik und des Canticum Sacrum lässt sich nicht mit Zahlen erfassen, wohl aber wenn die Kantatenliteratur bedacht und erinnert wird.

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Das Concerto en ré kündigt bereits Igor Strawinskys Arbeiten am Musikwissen an. Im Violinkonzert mit großem Sinfonieorchester gibt es noch thematische Spuren seines Lehrers Nikolai Rimski-Korsakow, der in der Konzertmusik des 19. Jahrhunderts allererst einen russischen Farbton mit ausarbeitet. Im Concerto, obwohl mit vier Sätzen als Toccata, Aria 1, Aria 2 und Capriccio ausgearbeitet, erklingen sehr tänzerische Passage, die mit ariosen Passagen der Violine wechseln. Obzwar Strawinsky das Konzert für den polnisch-amerikanischen, also keinesfalls russischen Geiger Samuel Dushkin komponierte, stellt sich beim Hören des Concerto mit Isabelle Faust und Les Siécles eher ein weiblicher Klang ein. Faust spielt mit ihrem ganzen Körper kraftvoll und zart die Violine. Sehr reizvoll wird der dunkle, schwere Takt in den Kontrabässen gegen das Tänzerische der Violine kontrastiert. Zugleich fordert Strawinsky allerdings nicht die höchste Virtuosität von der Violinist*in. Isabelle Faust erhielt brandenden Applaus für ihre Aufführung, so dass sie mit Klarinette und 4 Bläser*innen eine Zugabe geben musste.

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Mit Le Sacre du printemps zum Abschluss des Konzerts war das Programm sozusagen beim Strawinsky-Wissen angekommen. Das epochale Orchesterwerk ist wohl die bekannteste Komposition, die häufig auch verklärt, in ihrer Radikalität mit dem vorherrschenden Rhythmus und Schlagwerk unterschätzt und zum Träumen gebraucht wird. Im Juni 2017 hatte Sir Simon Rattle am gleichen Ort mit den Berliner Philharmonikern einen „schonungslosen Le Sacre du printemps“ als ein „Enden der Melodie“ aufgeführt.[13] François-Xavier Roth dirigierte das Frühlingsopfer mit Les Siècles ebenfalls schnell und pointiert. Wiederum stellte sich bei mir das Gefühl ein, dass Stravinsky mit dieser Komposition unter schönen Titeln wie „Kuss der Erde“ oder „Tanz der Erde“ bis „Heiliger Tanz: Die Auserwählte“ der Musik die Melodie hätte austreiben wollen. Das sehr große Schlagwerk dominiert die Musik, gegen das die Melodien z.B. der Klarinette kaum noch eine Chance haben. Das lässt sich nicht zuletzt visuell wahrnehmen. Das Schlagwerk ist ebenso vielfältig wie massiv. Strawinsky war gegen das Hören von Musik mit geschlossenen Augen.

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Mit L’Histoire du Soldat wollte Strawinsky in einer Musiktheaterproduktion, dass das Publikum sieht, wie Musik gemacht wird. In seiner Autobiographie hat er detailliert Auskunft über den Produktionsprozess und die konzeptuellen Überlegungen zwischen „Dynamik“ und Beschränkung hinsichtlich der Instrumentierung gegeben.[14] In den instrumentalen Gruppen beschränkte er sich auf „die repräsentativen Typen (…) von den Streichern als Violine und Kontrabaß; von den Holzbläsern die Klarinette – weil sie das größte Register hat – und das Fagott; vom Blech Trompete und Posaune und endlich Schlaginstrumente, soweit sie von einem Musiker bedient werden können“. Doch die Violine spielt in der Geschichte eine ebenso dramaturgische wie dramatische Rolle, was vom Vorleser (Dominique Horwitz) vielstimmig erzählt wird:
„… Er gräbt tiefer noch hinab
und zieht zuletzt aus seinem Sack
eine kleine Geige mit zerkratztem Lack.
Er dreht sie um und um. Der Fund, der macht ihn stolz.
Die rauhen Finger streichen zärtlich übers rote Holz,
sie kosen Geigenhals und Steg und Saiten:
das sind die Notenlinien, sagt man unter Leuten.“[15]

© Monika Karczmarczyk

Das Musikmachen wird vom Soldaten vorgespielt, indem er „(v)ersucht, die Geige zu stimmen“ und das „Stimmen“ selbst zum Problem wird. – „Man merkt’s ich habe sie vom Brockenhaus,/da kommt man aus dem Stimmen nicht heraus …“[16] – Ein endloses Stimmen kündigt sich an. Die Verschränkung von Geschichte und Musikmachen mit der Geige durchzieht die gesamte Erzählung. Die Geschichte erzählt in einer Bandbreite vom Finden der Geige, über ihre Kraft in der Liebe – „Hört, mein Fräulein, laßt euch sagen,/Durch seine Geige werdet ihr gesunden.“ [17] – bis zur Gewalt des Teufels Begebenheiten vom Machen der Musik. Denn der Teufel will dem Soldaten unbedingt die Geige entwinden, um schließlich mit ihrem Spiel den Soldaten gefügig zu machen, wenn es in der Regieanweisung heißt:
„… Der Teufel hat wieder die Geige. Er spielt. Musik: Triumphmarsch des Teufels. Der Soldat hat den Kopf gesenkt. Er folgt dem Teufel, der ihn geigend vor sich hertreibt, langsam, aber ohne Widerstand. Man hört hinter der Bühne rufen. Der Soldat zögert, aber der Teufel drängt. Sie verlassen die Bühne. Man ruft nochmals. Der Vorhang fällt.“[18]

© Monika Karczmarczyk

Die Ambiguität der Musik und des Machens von Musik beschränkt sich keineswegs nur auf ein historisches Soldatenleben am Ende des Ersten Weltkriegs, vielmehr funktioniert das Märchen aus der Sammlung von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew in der Bearbeitung von Ramuz als eine Parabel auf das Leben. Der Besitz der Geige stellt sich nicht nur beim Stimmen als schwierig heraus, es wird auch schwierig, dass das Leben nicht nur für Soldaten stimmt zwischen Freiheit, beethovenscher Idylle am Bach und finaler Existenz in Zwängen. Es ist bisweilen absurd und verstimmt, was nicht zuletzt in der Violine (Isabelle Faust) hörbar wird. Wolfgang Burde hat für Die Geschichte vom Soldaten auf die Performativität des Stückes hingewiesen:
„Strawinskys Ästhetik der »offenen Karten«, …, sein Gespür für verborgene Sinnzusammenhänge in kühnen Arrangements visuell verschiedenartiger Elemente führte zwangsläufig zu einer »neusachlichen« Musiktheater Konzeption, deren literarische, visuelle und musikalische Bausteine in der Geschichte vom Soldaten dann nurmehr locker aufeinander bezogen waren, der grundlegenden Konzeption so eine neue Qualität zuweisend.“[19]

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Isabelle Faust, Dominique Horwitz und deren Freunde verzichteten auf eine szenische Einrichtung der Geschichte, was der Konzentration auf die Musik und die vielstimmige Erzählung zu gute kam. Dominique Horwitz zog alle stimmlichen Register als Vorleser, Soldat, Teufel und Prinzessin. Einerseits lockte eine hohe Verständlichkeit des Textes, andererseits tendiert der Text selbst zum Musikalischen in seiner Vielstimmigkeit. Das ist bereits bei Ramuz angelegt, weil die Erzähltexte des Vorlesers ins Dramatische übergehen. Wenn es in der Geschichte vom Soldaten im Untertitel heißt „gelesen gespielt und getanzt“, dann geht es mit dem Lesen um einen komplexen kognitiven Vorgang, in welchem Visuelles und Auditives mit einander verschränkt sind, um die Vieldeutigkeit der Musik Gehör zu verschaffen. Die kluge, bis ins Virtuose gehende Aufführung erhielt begeisterten Applaus.

Torsten Flüh  

Musikfest Berlin im Radio bis Oktober 2021


[1] Siehe: Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[2] Zur Textologie vgl. auch Monika Leipelt-Tsai: Spalten – Herta Müllers Textologie zwischen Psychoanalyse und Kulturtheorie. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015, S. 7.

[3] Musikfest Berlin: Les Siècles Rundfunkchor Berlin François-Xavier Roth: Igor Strawinsky. Berlin 2021, S. 6.

[4] Martin Wilkening: Wie Strawinsky auf immer andere Weise sich selbst treu blieb. Ein Lebensweg, rückwärts erzählt in drei Kompositionen. In: Ebenda S. 10.

[5] Vgl. Der Heiligenkalender: Namenstage: Markus.

[6] Time: Music: Murder in the Cathedral. Monday, Sept. 24, 1956 (S. 44).

[7] Übersetzung T.F. nach ebenda.

[8] Übersetzung T. F. nach ebenda.

[9] Ebenso.

[10] Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[11] Time: Music: Murder … [wie Anm. 6].

[12] Zum Zahlenwissen siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[13] Torsten Flüh: Das Enden der Melodie. Sir Simon Rattle treibt die Berliner Philharmoniker zu einem schonungslosen Le Sacre du Printemps. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 9, 2017 21:14.

[14] Vgl. dazu das Zitat in Wolfgang Burde: Strawinsky. Mainz: Schott’s Söhne, 1982, S. 116.

[15] C. F. Ramuz/Igor Strawinsky: Die Geschichte vom Soldaten. gelesen gespielt und getanzt. London: J. u. W. Chester Ltd., 1925 (Kopenhagen: Wilhelm Hansen, Musik-Forlag … um 1975) S. 1.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda S. 14.

[18] Ebenda S. 16.

[19] Wolfgang Burde: Strawinsky … [wie 14] S. 115/116.