Schweigen? – Aushalten.

Ansteckung – Impfung – Altruismus

Schweigen? – Aushalten.

Indigo und die Kleist-Preis-Rede von Clemens J. Setz im Deutschen Theater

Anlässlich der Kleist-Preis-Verleihung für das Jahr 2020 sollte der Preisträger und als Epidemie-Autor gefeierte, in Wien lebende Steiermärker Clemens J. Setz am Sonntagvormittag im Deutschen Theater seine mit Spannung erwartete Rede halten. Als der Dramaturg des Hauses, Claus Caesar, vor Beginn der Veranstaltung die Bühne betrat, zugab, dass belesene Theaterbesucher wüssten, dass sein Auftritt nichts Gutes erwarten lasse, und bekannt gab, dass der Preisträger „aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig“ nicht habe von Wien nach Berlin kommen können. Das Team des Deutschen Theaters habe unterdessen alles versucht, dem Preisträger die Live-Präsentation seiner Rede technisch zu ermöglichen. An Heinrich von Kleists 110. Suizid-Todestag, dem 21. November 2021, ermöglicht Streaming Clemens J. Setz in körperlicher Abwesenheit per Lichtsignale die Rede zu halten.

Insbesondere in seinem Roman Indigo (2012) hat Clemens J. Setz von Ansteckung geschrieben. Der Vorgang der Ansteckung, der sich als ein kommunikativer Prozess beschreiben lässt und damit begrifflich in das Feld der Kommunikations- wie Literaturforschung fällt, benennt zugleich das epidemiologische Geschehen, das in Österreich und Deutschland während der sogenannten „Vierten Welle“ der Covid-19-Pandemie aktuell dramatische Folgen zeitigt.[1] Gegen Ansteckung hilft die Praxis der Impfung, was sich mit Impfungen gegen Pocken in Wien seit 1768 nicht zuletzt unter den zahlreichen, an europäischen Höfen verstreuten Kindern der Kaiserin Maria-Theresia als wirksam gegen einen äußerlich entstellenden oder gar tödlichen Krankheitsverlauf gezeigt hatte. Heinrich von Kleist dürfte insofern nach Hörensagen um 1800 von einer Diskussion der Impfpraxis gewusst haben. Er bearbeitet in seiner Erzählung Der Findling (1811) die Ansteckung literarisch, was Setz in seiner Rede prominent zitiert.  

Was hat die Ansteckung mit dem Erzählen zu tun? Clemens J. Setz zitiert in der gestreamten Kleist-Preis-Rede eine ganze Reihe von Texten unterschiedlicher Autoren, bei denen es um Ansteckung und den daraus entstehenden Erzählungen geht. Mehrfach zitiert er Uncanny Valley von Thomas Melle, der im Januar 2020 als Inszenierung von Rimini Protokoll in den Berliner Festspielen zu sehen und zu hören war.[2] Der Berichterstatter hatte Freund*innen anlässlich seines Geburtstages zu einem gemeinsamen Besuch mit anschließendem Sushi eingeladen. Später erzählte ihm ein befreundeter Schriftsteller von Begegnungen mit Thomas Melle an der Heilig Kreuz Kirche in Kreuzberg. Der Stadtteil Kreuzberg ist allerdings nicht nach der Kirche benannt, sondern nach dem gleichnamigen Berg, der seinen Namen durch das Denkmal für die Preußischen Befreiungskriege mit dem Eisernen Kreuz auf dessen Spitze von Karl Friedrich Schinkel von Tempelhofer Berg gewechselt hatte. Anders gesagt: in den beiden letzten Sätzen geht es um eine Ersetzung des Signifikanten durch das Kreuz. Es sind verschiedene Kreuze, die wiederholt ausgewechselt werden, verwechselt werden könnten und doch einen Treffpunkt zweier Schriftsteller markieren.

Für diese Besprechung der Kleist-Preis-Rede gilt das gesprochene, respektive gestreamte Wort. Denn die Rede ist noch nicht veröffentlicht und der Stream wurde nicht für YouTube aufgezeichnet. Gehörte Stichworte wurden auf dem Programmzettel notiert. Im seit der Präsidentschaft des Kölner Kultur- und Literaturwissenschaftlers Günter Blamberger herausgebildeten Format der Verleihung des Kleist-Preises geht es mit einem Wort von Günter Grass um das „Redenreden“.[3] Erst lesen Schauspieler*innen Texte von Heinrich von Kleist und der Preisträger*in, diesmal Birgit Unterweger und Jeremy Mockridge. Dann las der Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft e.V. das „Grußwort“. Die Vertrauensperson der Jury, diesmal die Wiener Literaturkritikerin Daniela Strigl einen elfteiligen „Setz-Kasten“, hielt eine Laudatio auf die Preisträger. Eröffnend und in den Pausen erklang sphärische Musik von Carsten Brocker, Katelyn King, Spela Mastnak, Thomsen Merkel und Nico van Wersch. Und schließlich folgte die „Preisrede“. Es gab schon Preisträger*innen, denen in ihrer Rede nicht viel zu Heinrich von Kleists Texten einfiel oder die allzu sehr den Suizid zum Thema machten. Nicht so Clemens J. Setz. Er dockt an die Texte Erdbeben von Chili, Der Findling, Amphytrion und Über das Marionettentheater an, was sich mit der Praxis einer Ansteckung beschreiben ließe. – Oder war es doch eher eine Vereinnahmung, ein Reden durch einen Kleist-Text hindurch?   

Das Format meiner Besprechung müsste gesprengt oder gesenkt werden, wollte ich auf alle drei Reden eingehen, die wie durch Röhren summend miteinander korrespondieren. Aus dem Redenreden, dem Gehörten, dem Flüchtigen des Streams da vorne auf der Bühne und doch nicht dort, sondern im Arbeitszimmer von Clemens J. Setz selbst vor einem etwas unordentlichen Bücherregal, vor dem der Autorpreisträger vor einem Bildschirm mit „Dateien“ und einem Studiomikrofon sitzt, steigen „Mysterium der Selbstlosigkeit“ und „Ansteckung“ an die Hirnoberfläche. Die Veranstaltung, die Inszenierung der Gegenwart in einer Abwesenheit des Körpers des Autors, ist dazu gemacht, dass die Rede als Höflichkeit einfach vorbeirauschen könnte. Und da Setz sich ausdrücklich bei den Mitgliedern der Heinrich von Kleist-Gesellschaft für die Pflege der Erinnerung an ihn bedankt, fühlen sich derer viele im Zuschauerraum wahrgenommen, wenn nicht geschmeichelt. Wegen der Covid-19-Pandemie und der in Berlin herrschenden 2G-Regeln ist der sonst oft vollbesetzte Zuschauerraum des Deutschen Theaters indessen fast leer. Die Akteur*innen auf der Bühne tragen FFP2-Masken, bis ihnen das Wort erteilt wird und sie zu sprechen beginnen. Für das Publikum gilt Maskenpflicht nicht nur im Zuschauerraum, sondern im ganzen Gebäude.

Am 6. November 2021 hielt Clemens J. Setz seine Dankesrede auf die „Verleihung des Büchnerpreises“ der Akademie für Sprache und Dichtung im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt.[4] Denn Setz hat mit dem Büchnerpreis 2021 nun binnen 3 Jahren so ziemlich alle namhaften Literaturpreise des deutschen Sprachraums verliehen bekommen. Seine Dankesreden bilden nach der für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015 unter dem Titel Drehungen – „Als ich meinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre schrieb, drehte ich mich, so zumindest bin ich im Nachhinein überzeugt, langsam in Richtung Auflösung.“[5] – und der Klagenfurter Rede zur Literatur 2019 zu Kayfabe und Literatur – „Im Herzen der Wrestlingwelt wohnt ein Begriff, der uns, dem Literaturvolk, paradoxerweise mehr über das zu erzählen vermag, worum es in den nächsten vier Tagen hier gehen wird, als alle anderen Begriffe, die ich mir denken kann, mehr über das Geschichtenerzählen an sich und dessen Verhältnis zum persönlichen Alltag und zur politischen Realität und sogar mehr über die Rollenbilder, in die wir vielleicht von übergeordneten Instanzen, schon seit der Geburt gezwungen wurden. (…) Kayfabe.“[6] – eine eigene Literaturform voller Eloquenz, Twists und Eigensinn.

In seinen Dankesreden entführt Clemens J. Setz das „Literaturvolk“ in die „Wrestlingwelt“, um nicht zuletzt einen Literaturbegriff einzuführen oder sich als Autor durch sprachliche Drehungen aufzulösen. Anders als in der zumindest chronologisch verschobenen Kleist-Preis-Rede zur „Selbstlosigkeit“, „Ansteckung“ und „Altruismus“ stellt er in der Büchnerpreisrede Ulklären die „von uns erfundenen sogenannten „literarischen Figuren““ in den Drehpunkt. Er komponiert seine Dankesreden auf unterschiedliche Weise. Die sich auf eine Pferde-Szene aus Georg Büchners Text Woyzeck eröffnend beziehende Dankesrede bringt das Erlernen der Sprache und des Sprechens durch Pferde in den Kontext einer pazifistischen Geste und den „literarischen Figuren“. Die „Zählpferde“ und die intelligenzwissenschaftlichen Versuche Karl Kralls vor 1914, sie zum Sprechen zu bringen, erzählen nicht zuletzt von dem „ulklären“ wie dem Verhältnis von Mensch und Tier in Gestalt des Pferdes. Über ein Raster hatte der Araber-Hengst Zarif widererwarten „ulklären“ buchstabiert.
„Jeder Mensch, der Geschichten erzählen will, muss auch an Außerirdische predigen können. Er muss sich, trotz aller von ihm selbst zufällig mitgebrachten Universalität, eine kompetente und furchtlose Vertrauensperson außerhalb unserer Zeit oder unserer Spezies ersinnen können, eine Art Muse, eine in unserem Namen in ein aphasisches, menschenfeindliches Jenseits ausgeschickte sprachfähige Sonde, die möglicherweise irgendwann, randvoll mit Erkenntnis, zu uns zurückkehren darf. Er muss sprechen lernen in einer Art des ständigen und beherzten Verfehlens von Seelen, oder, wie es der autistische Autor Birger Sellin so perfekt ausdrückte: „in nichtfinderischer Liebe“. Im Grunde kann dich niemand je verstehen. Also erklär dich. Verwalte das Unübertragbare gut. Es ist dein einziger Besitz.“[7]

Ijona Mangold hatte in seiner Laudatio zum Georg Büchner-Preis gleich in seiner Eröffnungspassage Setz‘ Roman Indigo und die Isolation der „I-Kinder“ in Beziehung zu „Corona“ und den „Social Distancing-Maßnahmen“ gestellt. –  „Sie sehen: Mag die Welt auch ein schlimmer Ort sein, voll Unglück, Leiden und Ungerechtigkeiten aller Art – die fiesesten Krankheiten denken sich noch immer die Schriftsteller aus. Verglichen mit der Art seelisch-körperlicher Einzelhaft, zu der die Indigo-Kinder verdammt sind, erscheinen einem die Social Distancing-Maßnahmen, die wir seit Corona kennen, harmlos und sanft.“[8] – Doch er ging nicht näher auf die Ansteckung ein. Erzählt Indigo gar nicht von Ansteckung? – „Verwalte das Unübertragbare gut“, ruft uns Clemens J. Setz in seiner Dankesrede zu. Geht es in seinem Roman Indigo nicht ständig um Übertragung durch Ansteckung? Und wie verhalten sich die beiden Preisreden zueinander, die nun innerhalb von zwei Wochen aufeinander folgten? Indigo ist der Begriff der Ansteckung u.a. mit dem ungarischen „Heim für ansteckende Kinder[9] – Otthon fertőző gyermekek számára –, das im Roman „Fertőző gyerekek otthona“ heißt, eingeschrieben. Fertőző heißt im Ungarischen ansteckend oder infektiös. Und die fiktive „Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret“[10] diskutiert in ihrem Buch eine „evolutionäre Wahrheit“ und eine „menschliche Wahrheit“, „die nur in wenigen Punkten mit der evolutionären Logik zusammenfällt (z.B. Isolation von Menschen mit hochansteckenden Krankheiten, Seucheneindämmung etc.).[11]

Die Wissenschaftlerin, die der „Mathematik-Lehrer Clemens Setz, Hauptfigur von „Indigo“, bitte nicht verwechseln mit unserem Preisträger,“ so Ijoma Mangold, für ein Interview über Indigo-Kinder aufsucht, ist nicht etwa eine Mikrobiologin, Virologin, Epidemiologin oder Infektiologin, sondern Kinderpsychologin und Pädagogin. Damit wird die Frage der Ansteckung auch verschoben innerhalb der Wissenschaften. Es geht nicht zuletzt mit dem Namen der Krankheit – Indigo – um eine blaue Aura, die in der Regel unsichtbar ist. Somit spielt die Esoterik als Grenzwissenschaft in das Wissen von der Krankheit hinein, wobei dieses in einer „Talkshow“ durch ein „Medium“ wahrgenommene Wissen als „irgendwie gelungen(es)“ Experiment fragwürdig bleibt.(S. 55-56) Die Ansteckung geschieht im Roman unterdessen nicht zuletzt sprachlich, wenn der Sohn von Frau Rabl den Nachbarn Robert das „D-Wort“ hinterhergerufen hat und seine Mutter sich dafür entschuldigen will. Doch diese Entschuldigung geht sprachlich schief.
„- Das D-Wort.
– Dingo?
Die Nachbarin nickte.
– Okay, das ist …
Robert suchte nach dem richtigen Wort. Ihm fiel keines ein.
– U-und… s… septische Sau …
Die Stimme der Nachbarin war kaum noch hörbar. Aber Robert hatte verstanden.
– Fuck, sagte er und trat einen Schritt zu ihr ins Treppenhaus hinaus.
– Oh Gott, das hätte ich nicht sagen … ich meine wiederholen sollen, Herr Tätzel, es tut mir leid, bitte, mein Sohn hat ja keine Ahnung, was diese Wörter bedeuten. Sie verwenden sie einfach so!
– Ja, sagte Robert. Sie sollten sehen, was sie mit dem Mongloiden aus dem Nachbargarten machen!
Die Frau zuckte zusammen.“[12]

Clemens J. Setz hat mit Indigo einen zweifellos hochkomplexen Roman über Sprachprozesse und Wissen geschrieben. „Robert Tätzel, 29,“ arbeitet in einer Einrichtung mit „Indigo-Kindern“, wird quasi selbst infiziert und benutzt selbst falsche Wörter, wenn er von „dem Mongloiden“ spricht. Frau Rabl rückt das falsche Wort mit „Kind mit Down-Syndrom“ zurecht. Welche Ursachen die Erkrankung hat, wird nicht geklärt. „Indigo-Kinder leiden an einer grausamen Disposition: Wer sich ihnen nähert, wird von Übelkeit, Schwindel und Kopfweh befallen. Sie haben eine ungesunde Aura, eine kontaminierende Ausstrahlung“, fasst Ijoma Mangold in seiner Laudatio zusammen. In der sprachlichen Unschärfe von „Corona“ und nonchalanten Zusammenfassung wird Indigo in die Nähe einer hellsichtigen Pandemie-Erzählung gerückt, um gleichzeitig als solche verworfen zu werden. Auf die sprachlichen Prozesse geht er nicht näher ein. Doch gerade darin liegt Setz‘ akrobatische Erzählkunst, wenn er mit Tätzel die Ersetzung des Signifikanten als Wortkorrektur darstellt. Im Gebrauch von Wörtern wird das Wissen korrigiert.
„- Ja, sicher kennen Sie den, sagte er. Fragen Sie Ihren Sohn. Er wird Ihnen auch von seiner Entdeckung erzählen, von der er mir vor Kurzem berichtet hat. Total krankes Zeug, aber auch faszinierend. Wenn man einem M… Menschen mit Down-Syndrom die Faust ins Gesicht schlägt, dann entschuldigt er sich bei dir, als hätte er was falsch gemacht! Der arme von allen verspottete Kerl.
Robert deutete einen Schlag an.“[13]

Erzählungen übertragen Handlungen. – Ist Ihnen als Leser*in aufgefallen, dass Setz in der wörtlichen Rede, im Dialog wie in einem Brief die Anrede groß schreibt? – Ein Lapsus? Eine Geste der Höflichkeit? – Indigo ist auch ein Montageroman unterschiedlicher Textsorten – Briefe – „Lieber Clemens Setz“ (S. 11) – , Bucheinführungen, konkurrierende Vorworte – „Das Wesen der Ferne“ (S. 19) -, Patientenanamnese – „Landeskrankenhaus – Universitätsklinikum Graz“ (S. 15) -, Interviews mit eigensinnigen Notizen – „V UNTERSUCHTE WOHNUNGEN : ERG = ф“ (S. 27) -, Dialoge, Fotos, Zitate als Motti – „Im Anfang war die Wiederholung. Jacques Derrida“ (S. 151) – etc. Im dialogischen Sprechenschreiben wurde Robert Tätzel quasi von dem „(t)otal() kranken Zeu(g)“ infiziert. Das empirisch vom Sohn erzeugte Wissen, lässt Robert einen Schlag andeuten. Die Macht und Gewalt des Wissens setzt einen Affekt frei, der sogleich kontrolliert wird. Doch dieses Wissen bringt Robert auch derart in Rage, dass er sich in Racheerzählungen hineinsteigert, die Sprache hakt und an sich selbst einen „Indigo-Delay“ diagnostiziert.
„Eine Naturkatastrophe, dachte er. Man müsste eine Naturkatastrophe auslösen. Eine Muräne. Oder Moräne? Das eine war so ein Schlangending, das andere … Wie hieß es, Mu oder Mo … Verdammter Gap. Indigo-Delay. Das Beste wäre, sagte sich Robert und spürte mit einer gewissen Befriedigung, wie er mit diesem Gedanken die Grenzmarkierung zum Irrsinn überschritt,“[14]   

In seiner Kleist-Preis-Rede knüpfte Clemens J. Setz am Sonntagmittag in Wien/Berlin an Heinrich von Kleist Erzählung Der Findling an, in der es in der Eröffnungssequenz ebenfalls um Kinder, Ansteckung und eine „pestartige Krankheit“ geht. Kinder als Wort und Begriff sind nicht nur in Indigo ein narrativer Dreh- und Angelpunkt, sie bilden auch in der Pandemie ein eigenes Diskurscluster. Das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern und Großeltern und vice versa usw. wird plötzlich von neuartigem Wissen und Maßnahmen infiziert, wenn etwa die Schulbehörde 15jährige zur Impfung ohne Rücksprache mit Mutter und Vater einlädt. Es ließen sich Geschichten ohne Zahl zum Kind als Kristallisationspunkt von Diskursen in der Pandemie herausfiltern. Für Setz ist es in seiner Rede wichtig, dass ein Kind, das ansteckend sein könnte, nicht isoliert wird, sondern „an seines Sohnes Statt“ schließlich angenommen wird. Doch wie lautet diese Szene bei Kleist? Was wusste Kleist von Ansteckungen? Um 1800 verändert sich das medizinische Wissen grundsätzlich. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts werden durch Robert Koch und andere Mikrobiologen Bakterien mit Hilfe der Fotografie und neuer Mikroskope entdeckt. Um 1800 gehen Infektionskrankheiten von Miasmen im Boden aus.[15] Die seit den wiederholten Pockenepidemien in Wien ab 1753 im Jahr 1768 entwickelte Impfung[16], kennt den Krankheitserreger als Virus[17] nicht. Denn die Krankheit wird lediglich nach den sichtbaren Blasen auf der Haut genannt.

Bei Kleist heißt es in dem Text Der Findling:
„A n t o n i o  P i a c h i, ein wohlhabender Gueterhaendler in Rom, war genoethigt, in seinen Handelsgeschaeften zuweilen große Reisen zu machen. Er pflegte dann gewoehnlich E l v i r e, seine junge Frau, unter dem Schutz ihrer Verwandten, daselbst zurueckzulassen. Eine dieser Reisen fuehrte ihn mit seinem Sohn P a o l o, einem eilfjaehrigen Knaben, den ihm seine erste Frau gebohren hatte, nach Ragusa. Es traf sich, daß hier eben eine pestartige Krankheit ausgebrochen war, welche die Stadt und Gegend umher in großes Schrecken setzte. Piachi, dem die Nachricht davon erst auf der Reise zu Ohren gekommen war, hielt in der Vorstadt an, um sich nach der Natur derselben zu erkundigen. Doch da er hoerte, daß das Uebel von Tage zu Tage bedenklicher werde, und daß man damit umgehe, die Thore zu sperren; so ueberwand die Sorge fuer seinen Sohn alle kaufmaennischen Interessen: er nahm Pferde und reisete wieder ab. Er bemerkte, da er im Freien war, einen Knaben neben seinem Wagen, der, nach Art der Flehenden, die Haende zu ihm ausstreckte und in großer Gemuethsbewegung zu sein schien. Piachi ließ halten; und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in seiner Unschuld: er sei angesteckt; die Haescher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter schon gestorben waeren; er bitte um aller Heiligen willen, ihn mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu lassen. Dabei faßte er des Alten Hand, drueckte und kueßte sie und weinte darauf nieder. Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in eben diesem Augenblick, seine Farbe veraenderte und ohnmaechtig auf den Boden niedersank, so regte sich des guten Alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wußte, was er mit demselben anfangen sollte. Er unterhandelte noch, in der ersten Station, mit den Wirthsleuten, ueber die Art und Weise, wie er seiner wieder los werden koenne: als er schon auf Befehl der Polizei, welche davon Wind bekommen hatte, arretirt und unter einer Bedeckung, er, sein Sohn und Nicolo, so hieß der kranke Knabe, wieder nach Ragusa zurueck transportirt ward. Alle Vorstellungen von Seiten Piachis, ueber die Grausamkeit dieser Maaßregel, halfen zu nichts; in Ragusa angekommen, wurden nunmehr alle drei, unter Aufsicht eines Haeschers, nach dem Krankenhause abgefuehrt, wo er zwar, Piachi, gesund blieb, und Nicolo, der Knabe, sich von dem Uebel wieder erholte: sein Sohn aber, der eilfjaehrige Paolo, von demselben angesteckt ward, und in drei Tagen starb.“[18]

Marianne Schuller hat vor allem das Lesen und mit Jacques Lacan die Tauschlogik in der Eröffnungssequenz der Erzählung vom Findling herausgearbeitet. Der Findling sei nicht zuletzt der gefundene oder von der Straße aufgelesene, zunächst namenlose „Knabe()“.[19] Denn der „horror vacui“ spiele „eine entscheidende Rolle“. Der „leere Platz, den der Tod des Sohnes Paolo hinterläßt, ist es, der die Substitution erwirkt“.[20] Die Angst vor der Leere, die ein Nichtwissen impliziert, zwingt zur Ersetzung. Ich weiß um die Leere, die ich nicht aushalten kann. Der „horror vacui“ zwingt das Subjekt als Individuum oder auch als Kollektiv in Form des Staates, ein Wissen zu formulieren, das mein/unser Überleben verspricht. Die Covid-19-Pandemie hat mit der Wissenserschütterung eine Leere aufgerissen, die durch Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und einer vergleichsweise rasenden, nie zuvor gekannten Entwicklung von neuartigen mRNA-Impfstoffen – Comirnaty von Biontech/Pfizer und Moderna – geführt hat. Beide Impfstoffe haben sich abermillionenfach als äußerst wirksam erwiesen. Doch der „horror vacui“ wirkt in einer Impfskepsis, einem Zweifel nach bzw. neben. Der Zweifel lässt sich als eine generelle Nebenwirkung einer Antwort auf den „horror vacui“ beschreiben. Es geht in dieser Pandemie durchaus darum, ein Nichtwissen auszuhalten und danach zu handeln. Impfskeptiker wollen auf keinen Fall dieses Nichtwissen aushalten und stopfen die gewiss noch vorhandenen Wissenslücken mit Angsterzählungen. Die Angsterzählungen drehen sich um einen Kontrollverlust über das eigene Leben, die sich in als Maschinenangst oder bei Kleist nach seiner Erzählung Über das Marionettentheater als Marionettenangst beschreiben lassen. In dieser Lesart der Erzählung wird vor allem eine phobische Sinnproduktion in Gang gesetzt, die ebenso Verschwörungstheorien generiert.

Die literaturwissenschaftliche Diskussion um den Signifikanten anhand der Anfangsformulierungen und Schreibweisen von Der Findling fordert ein Aushalten ein. Denn die „logogriphische Eigenschaft“ der Namen, auf die schon Marianne Schuller hingewiesen hatte, hat später Sigrid Weigel mit Jacques Derrida noch einmal als wesentlichen Zug dieser Eröffnung bedacht. Das Schrifträtsel und das Rätsel der Schrift wird von Heinrich von Kleist wiederholt nicht nur als barocke Rätselform verwendet, bearbeitet und in Szene gesetzt. Es bildet vielmehr die Struktur der Eröffnungssequenz vom Findling und wird in dessen Umfeld wie abermals in der Eröffnungssequenz des Zeitungsprojektes Berliner Abendblätter mit dem 5. Blatt am 5. Oktober 1810 mit dem Text Der Griffel Gottes wiederholt und für die Leser*innen vorausgeschickt. In der, sagen wir, Anekdote, bleibt „nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen“ werden können, aber nicht müssen. Ob sie einen Sinn, einen Fingerzeig ergeben oder nicht, hängt von dem „zusammen gelesen“ werden ab. An den Namen in Der Findling führt Kleist nach Sigrid Weigel das Spiel der Signifikanten und des Wissens durch Benennung auf auch witzige Weise vor.
„Während deren zweite Hälfte olo sich gleich bleibt, ist die erste Hälfte Pa durch Nic ersetzt. Der Anfangsbuchstabe seines Namens symbolisiert den Findling als Fremdling in der ansonsten reinen P-Genealogie der Familie, die aus Antonio Piachi, der Tochter des Philippo Parquet, Elvire, die er in zweiter Ehe geheiratet hatte, und dem Sohn Paolo bestand. Daß Nicolo, wie betont wird, die »logogriphische Eigenschaft seines Namens fremd war«, verweist zudem darauf, daß der Findling einer anderen Ordnung entstammt, in der die Sprache nicht über diese Bedeutung der Signifikanten im Spiel von Ähnlichkeit und Differenz funktioniert.“[21]

Lässt sich „die Grausamkeit dieser Maaßregel“ aus einer unbestimmten literarischen Zeit auf die Impfpolitik und die 2G-Regeln im November 2021 übertragen? Clemens J. Setz liest die Eröffnungssequenz der Erzählung Der Findling als ein „Mysterium der Selbstlosigkeit“ und des „Altruismus“. Keine Angst vor Ansteckung? Seitdem 15. November 2021 gelten in Berlin 2G-Regeln in vielen öffentlichen Bereichen vom Schwimmbad bis zur Staatsoper. Im Deutschen Theater galt am 21. November 2021 ebenfalls die 2G-Regel. Ungeimpfte erhielten bei Überprüfung des CovPass keinen Zutritt. Wer geimpft oder genesen war, durfte Foyer und Zuschauerraum betreten. Am 20. November hatte sich der Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft noch darüber gefreut, dass die Preisverleihung öffentlich stattfinden werde. Und dann gab es plötzlich „gesundheitliche Gründe“, dass der Preisträger am Sonntag nicht körperlich erscheinen konnte. Neben Kleist zitierte Clemens J. Setz weitere Autoren und deren Texte wie Célines Reise ans Ende der Nacht, Elias Canetti und Marcel Proust, die das Thema der Ansteckung mit der Selbstlosigkeit verknüpfen. Man müsste das einen zumindest fatalistischen Zug nennen. Ob es gar zu einem Skandal wie mit Joshua Kimmich im Nationalmannschaftsfußball reichen wird, hängt vom „zusammen ()lesen“ ab. In der Literatur schützt bisweilen die Ambiguität.

Torsten Flüh


[1] Seit dem 6. April 2020 wird der Begriff der Ansteckung auf NIGHT OUT @ BERLIN durch 5 Besprechungen in verschiedenen Konstellationen von Literaturen – theatralischen, romanesken, juristischen und medizinischen – verwendet und bearbeitet. Er gelangte unterdessen nicht bis zur Wertigkeit eines Tags. D.h. zweierlei der Übertragungsvorgang der Ansteckung blieb diskret, obwohl oder weil er zuerst im Kontext des Transhumanismus durch die Lecture-Performance Die Mondmaschine von Brigitte Helbling gebraucht wird. Ansteckung oder Infektion betrifft insofern nicht nur einen menschlichen Körper, vielmehr lauern im World Wide Web bzw. Internet unzählige Gefahren der Ansteckung von Computern und damit dem, was wir Künstliche Intelligenz nennen.
Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[2] Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[3] Vgl. Torsten Flüh: Die Schnecke, der Maulwurf und die Hauskatze. Verleihung des August-Bebel-Preises 2011 an Oskar Negt. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 27, 2011 22:44.

[4] Büchnerpreis für Clemens J. Setz: Seine Rede im Wortlaut. In: Süddeutsche Zeitung 6. November 2021, 18:49 Uhr. Und: Clemens J. Setz: Ulklären. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Dankrede.

[5] Clemens J. Setz: Drehungen. Dankesrede. In: Hubert Winkels (Hg.): Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Göttingen: Wallstein, S. 30.

[6] Clemens J. Setz: Kayfabe und Literatur. Klagenfurter Rede zur Literatur 2019. Klagenfurt: Johannes Heyn, 2019, S. 6-7.

[7] Clemens J. Setz: Ulklären … [wie Anm. 4].

[8] Ijoma Mangold: Das literarische Metaversum. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Laudatio.

[9] Clemens J. Setz: Indigo. Berlin: Suhrkamp, 3. Auflage 2020, S. 55. (Zuerst 2012).

[10] Ebenda S. 19.

[11] Ebenda S. 63.

[12] Ebenda S. 47.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 49.

[15] Zu Miasmen vgl.: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[16] Wien Geschichte Wiki: Pocken. Ebenfalls ganz aktuell erhellend: Hans Kratzer: Als Bayern drakonische Strafen für Impfgegner verhing. In: Die Süddeutsche 24. November 2021, 18:51 Uhr.

[17] Robert Koch Institut: Pocken.

[18] Heinrich von Kleist: Der Findling. (kleist-digital.de)

[19] Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 17.

[20] Ebenda S. 18.

[21] Sigrid Weigel: Der ›Findling‹ als ›gefährliches Supplement‹. Der Schrecken der Bilder und die physikalische Affekttheorie in Kleists Inszenierung diskursiver Übergänge um 1800. In: Günter Blamberger, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2001. Stuttgart: Metzler, 2001, S. 120-121.

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