„Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ oder John Heartfields visuelle Kombinatorik

Trauma – Material – Kombination

„Wer Leidet der Schneidet/
Wer Schneidet der Leidet“
oder John Heartfields visuelle Kombinatorik

Zur bahnbrechenden Ausstellung John Heartfield – Fotografie plus Dynamit in der Akademie der Künste

Bereits am Abend des 4. März[1] kündigte ein Ausschnitt der komplexen Montage einer zähnefletschenden Hyäne mit Zylinder die Ausstellung John Heartfield – Fotografie Plus Dynamit an der Glasfassade der Akademie der Künste am Pariser Platz vom „21.3.-21.6.20“ an. Es kam anders. Am Morgen des 2. Juni wurde die Ausstellung nun tatsächlich sang- und klanglos für den Publikumsverkehr nach Zeitfenster-Ticket geöffnet. Das ist schmerzhaft. Ein Einschnitt. Planmäßig wird die Ausstellung in modifizierter Weise ab 17. Januar 2021 im Museum de Fundatie in Zwolle, Niederlande, und ab 14. Juli 2021 in der Royal Academy of Arts, London, zu sehen sein. In Berlin werden sie immerhin bis 23. August wegen der anhaltenden Kontaktbeschränkungen weniger Besucher*innen sehen können. Ein Verlust. Denn diese Ausstellung verdiente Besucherströme. Gleichwohl überschneiden sich mit der Ausstellung von vorne herein digitale mit analogen Formaten, die ad hoc noch einmal digital verstärkt worden sind.

Die Deutschen – vielleicht besonders – waren noch nie besonders gut in der Bearbeitung eines Traumas. Der aktuelle Normalisierungswunsch während der andauernden COVID-19-Pandemie gibt einen Wink, dass frau/man sich wieder einmal dem Trauma nicht stellen können oder wollen. Die Ausstellung am Pariser Platz hält dafür gleich im ersten Raum mit einer multimedialen Inszenierung – Foto, Film, Sound – unter dem Titel „Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ von Marcel Odenbach, einer Auftragsarbeit der Akademie der Künste, eine andere Sichtweise bereit, die zugleich als Interaktive 360°-Panorama-Tour im Internet bereitgestellt worden ist. Die rhetorische Figur des Chiasmus als Titel gibt weiterhin einen Wink auf John Heartfields erste Fotomontage aus dem Weltkriegsjahr 1917/1918 mit dem handschriftlichen Motto „So sieht der Heldentod aus“ zwischen zwei Fotos von Hermann Vieth.[2] Zwischen den beiden übereinander montierten Fotos vom Weltkriegsschlachtfeld hält die Inschrift von Hand eine Wunde offen, um allererst auf sie hinzuweisen und sie zu verstärken.

Das nennt man eine Koinzidenz: Die John Heartfield-Ausstellung wendet sich mit dem „Foto als Waffe“[3] gegen Nationalismus wie den Nationalsozialismus, gegen Rassismus, gegen Faschismus, gegen Kapitalismus und gegen Militarismus. Themen, die John Heartfield vor 100 Jahren mit der Praxis der Fotomontage bearbeitet und visualisiert, kehren während der Pandemie wie unter einem Brennglas wieder. Populismus transformiert sich zu offen nationalistischen, faschistischen, rassistischen und militaristischen Drohungen und Befehlen vor der „Kirche der Präsidenten“ mit der Bibel in der Hand eines Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Das lässt sich nur Propagandafoto nennen oder zumindest ein irgendwie auch gründlich missglückter Versuch, mit der Bibel in der rechten Hand vor der episkopalen Kirche mächtig und wie bei den Evangelikalen vom Gott der Christen autorisiert zu erscheinen. Es lässt sich leicht als eine visuelle Praxis der Evangelikalen entschlüsseln, die um so mehr die amerikanische Ausprägung der englischen Staatskirche, der anglikanischen, verletzt und missachtet. Derartige (Selbst-)Darstellungen z.B. Adolf Hitlers hat John Heartfield nahezu systematisch aufgegriffen, dekonstruierend zerschnitten und entlarvend neu kombiniert.

Die Politik der Bilder und die Politik mit Fotografien hat in diesen Tagen Hochkonjunktur. Deshalb sind Fotografien nicht zuletzt Donald Trump so wichtig, dass er den Weg zur Kirche mit Staatsgewalt räumen lässt und Demonstranten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung entreißt. Die John Heartfield-Ausstellung und der Katalog werden gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Das nun weitestgehend digital realisierte Veranstaltungsprogramm zur Ausstellung wird durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Im Geleitwort stellen Werner Heegewaldt (Archiv der Akademie der Künste), Ralph Keuning (Museum de Fundatie) und Rebecca Salter (Royal Academy of Arts) Fragen, die sich zwischenzeitlich wie von selbst zu beantworten scheinen:
„Hat sich Heartfields Kunst der politischen Fotomontage überlebt? Oder sind andere visuelle Ausdrucksformen entstanden, die sein Prinzip der (De-)Konstruktion von Bildern künstlerisch weiterentwickeln? Bereits in der Weimarer Republik war die Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit ein Kennzeichen. Politsatire bediente vor allem das eigene Lager. Wie sieht das heute aus? Sind durch die sozialen Medien Teilöffentlichkeiten entstanden, die überwiegend als Echoräume Gleichgesinnter und vorrangig der politischen Affirmation dienen? Ist der Dialog über Fakten nicht vielfach dem Dialog über Meinungen gewichen?“[4]   

Wie sähe eine Fotomontage von John Heartfield auf Donald Trumps Machtdemonstration aus? Die Covid-19-Pandemie hat den Kuratorinnen der Ausstellung Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz für Berlin die gebührende Aufmerksamkeit verdorben. Angesichts der jüngsten Bild- und Sprach-Politik aus dem Weißen Haus, die bislang nicht auf dem Niveau von John Heartfield bearbeitet worden ist, wirken ihre methodologischen, wissenschaftlich fundierten Aufsätze im Katalog fast ein wenig harmlos, was sicherlich daran liegt, dass sie sich nicht vorstellen konnten, was sich Anfang Juni 2020 visuell und verbal in Washington abspielen sollte. „President Trump Delivers Remarks“ vom 2. Juni 2020, in denen er das Gesetz beschwört, um gleichzeitig mit dem Einsatz tausender Soldaten des Militärs zu drohen[5], wären für Heartfield Bildmaterial für Fotomontagen gewesen. Die Szene vor der episkopalen ST John’s Church in Washington, die historisch als „Kirche der Präsidenten“ gilt, vom 1. Juni hat das Weiße Haus als Video nicht veröffentlicht. Auch der Fototermin am 2. Juni vor dem Nationalschrein für Papst Johannes Paul II. in Washington, der Ekel und heftige Proteste der Katholischen Kirche in Amerika auslöste[6], bleibt eher semi-offiziell. Aber die Fotos existieren und kursieren im Internet und in den Printmedien.

Für John Heartfield wären die Fotos der Fototermine gerade unumgängliches Bildmaterial, weil sie im Rahmen des Termins immer die Selbstdarstellungen des Politikers als Präsidenten aufführen. Fototermine sind symbolische Handlungen, insofern Trump seinen massigen Körper vor die Kirche oder neben eine überlebensgroße Statue von Johannes Paul II. stellt. Es sollen Kontextualisierungen und Analogisierung zweifelsohne im Modus der Verkennung und Verfälschung vorgenommen werden. Insofern muss man sagen, dass Trump seinen Körper und sein Grinsen in das Foto mit Kirche oder Papst montiert, als sage er „Ich, Donald Trump, Präsident der USA, spreche im Namen der Kirche und Gottes“. Rosa von der Schulenburg schreibt dementsprechend zu Heartfields Fotomontagen:
„Der Einsatz visueller Rhetorik (wozu auch die Montagetechnik gerechnet werden kann) interessiert heute Forschende und Lehrende im Bereich der Bildsemiotik, der Medienwissenschaften, des Kommunikationsdesigns und des Produkt- und Marketingmanagements gleichermaßen. Die Montagetechnik spielt eine wichtige Rolle beim Einsatz rhetorischer Figuren wie Zitat, Kommentar, Hyperbel, Repetitia, Klimax, Antiklimax, Variation, Chiasmus, Konvergenz bzw. Kongruenz, Divergenz, Analogie, Mensch-Tier-Vergleich, Parabel, Antithese, Paradoxon, Ironie – um nur einige aus Heartfields Repertoire aufzuzählen.“[7]

Fotos oder kurz Pics werden bei Facebook oder Twitter heutzutage kaum auf ihre Konstruktion und Rhetorik befragt. Pics sind die Währung der Aufmerksamkeit in sozialen Medien, die mit „Gefällt mir“, „Love“, (neuerdings) „Umarmung“, „Haha“, „Wow“, „Traurig“ oder „Wütend“ per Klick entgolten wird. Auf der Fotoplattform Instagram werden die Fotos mit Herz, Kommentar und Schwalbe bewertet. Das schnell erfasste Pic für picture/Bild wird noch schneller durchgeklickt. Welche Rhetorik im Pic verwendet wird, sieht kaum jemand. Welche Wiederholungen und Standards der Selbst-Darstellung eingesetzt werden, interessiert nur nach der Anschlussfähigkeit und damit der Analogie. In „Trump mit Bibel vor ST John’s Church“ sehen all jene die Macht verkörpert, die in die visuellen Praktiken der evangelikalen Kirchen eingeübt sind. Das Bild ist stimmig für sie. Sie werden sich gar in ihrem Begehren, die göttliche Macht verkörpert zu sehen, bestätigt finden. Die evangelikale Macht des Göttlichen ist selbstredend total bzw. totalitär.[8] Dass es Trump dabei einzig und allein um eine weitere Lüge seiner Macht geht, wie John Heartfield sie in der Fotomontage Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech 1932[9] dekonstruiert, erscheint nicht einmal als Montage in Fernsehnachrichten oder -magazinen.

Fotomontagen können insofern durch Figuren der „visuellen Rhetorik“ allererst die Konstruktion des scheinbar natürlichen oder wahren Ausgangsmaterials aufdecken, denn der Kopf der Montage stammt aus einem Foto von einem Auftritt Adolf Hitlers auf einer Kundgebung im Lustgarten in Berlin am 4. April 1932.[10] Rosa von der Schulenburg hat für die Fotomontage Hakenkreuzottern die komplexe visuelle Rhetorik analysiert und kontextualisiert.    
„Eine Fotomontage, die definitiv nur die Handschrift Heartfields trägt, erschien am 19. Oktober 1933 in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ). Zwischen der erläuternden Überschrift Zum Brandstifter-Prozess in Leipzig und dem kommentierenden Untertitel Sie winden sich und drehen sich und nennen sich deutsche Richter (Polysyndeton, Metapher) bilden zwei ineinander gewundene Schlangenleiber in formvollendeter Symmetrie Paragrafenkörper (Mensch-Tier-Vergleich, visualisierte Metapher) mit jeweils einem Kopf am oberen und am unteren Ende. Als Richter werden sie durch die zur Amtstracht gehörenden Baretts (Synekdoche) kenntlich. (…) Mit der Überschrift Hakenkreuzottern (Wortmontage, Neologismus durch „Kontamination“), dem gleichen Bildmotiv und der gleichen Untertitelung wie in der AIZ wurde Heartfields Fotomontage – nun in klassisch emblematischer Form – als Postkarte in Deutsch im tschechischen Exil gedruckt.“[11]

ohne Titel (um 1928)

Das Foto ist immer ein Aufriss der Zeit, den Roland Barthes in der Temporalität des «ça-a-été» beschrieben hat.[12] Es ist eine Wunde oder ein Schock, ein Schnitt, der dennoch den Praktiken des Fotografierens und im Porträt denen der Selbst-Inszenierungen unterliegt. Erst in einer komplexen Rahmung des Fotos durch Text-Bild-Montagen, wie sie Rosa von der Schulenburg für die Postkarte aus dem tschechischen Exil mit Überschrift und Untertitel analysiert hat, werden aus den fotorealistischen Schlangenkörpern der beiden Kreuzottern in ihrer Verschlingung mit piktographischen Elementen der Hakenkreuze und anthropomorphen Baretten entlarvende „Hakenkreuzottern“. Wie wurden nun die Fotomontagen generiert? Unterscheiden sich die sprachlichen von den bildlichen Montagen, die als Postkarte, wie von der Schulenburg es sieht, zum „Emblem“ tendiert?[13] Hat sich bei Heartfield die Renaissance-Praxis der Emblematik in die Moderne zur Fotomontage-Postkarte transformiert?   

Die Ausstellung und der Katalog John Heartfield – Fotografie plus Dynamit bieten eine methodologische Vielfalt, die nicht zuletzt wiederholt durch Archivfunde angestoßen worden ist. Angela Lammert widmet insbesondere zwei Aspekten der Archivfunde eine gesonderte Aufmerksamkeit. In ihrem Aufsatz Material Prozess Archiv kommt Heartfields „Sammlung von unregelmäßig beschnittenem Fotomaterial“ zum Zuge.[14] Ebenso befasst sie sich in ihrem Katalogbeitrag Bilder vom Gräuel als (nicht) benutztes Material mit dem durchaus verstörenden Fund eines „Konvolut(s) von Gräuelbildern“.[15] Beide Artikel bearbeiten insofern nicht nur neue Aspekte aus dem Nachlass, vielmehr forcieren sie die Frage nach dem Material der Fotomontagen, das entweder zur Montage bereits zugeschnitten und archiviert worden ist oder als Fotografie mit rückseitiger Beschriftung – „Komsomolzin Partisanin Tanja, von Faschisten zu Tode gequält im Dorf Petrischtschewo, Landkreis Vereisk, Bezirk Moskau“[16] – unbeschnitten beiseitegelegt worden ist. In einem größeren Kontext von Materialität, Material und Praktiken ihrer Be- und Verarbeitung in Literaturen und bildenden Künsten werden die Archivfunde zu einer methodologischen Herausforderung.[17]

Das gefundene Montagematerial, das in der Ausstellung z.B. mit Gewehren und Händen[18] besonders berücksichtigt wird, stößt eine neue Diskussion um John Heartfield als visuellen Künstler an. Lässt sich einerseits eine visuelle Rhetorik als politische Arbeitsweise ausmachen, so rückt mit den Archivfunden anderseits die Praxeologie der Fotomontage in die Aufmerksamkeit. Fotomontagen werden nicht zuletzt zu einem eigensinnigen Schauplatz des Wissens und der Wissenschaft. Das lässt sich bereits mit Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech bedenken. Denn die rhetorische Figur wird damit visualisiert, dass Heartfield für den Oberkörper ein Röntgenbild als Wissensform benutzt. Das Röntgenbild legt ein verborgenes Wissen über den Körper mittels der wissenschaftlichen Methode der Röntgenstrahlen frei. Es funktioniert insofern als eine technologische Übertragung des Wissens vom menschlichen Körper auf den politischen Körper Adolf Hitler. Geröntgt und visualisiert wird ein korrupter Politik(er)körper. Lammert hat für das Material mehrere Fragen formuliert:
„Verortet man Heartfield heute nicht nur im politischen, sondern auch im die Grenzen der bildenden Kunst überschreitenden künstlerischen Milieu, stellen sich Fragen wie: Unterscheidet sich seine Materialsammlung von der anderer „Monteure“? Ist das in den Archiven Erhaltene ein Tagebuch ungenutzter Möglichkeiten? Werden „Gespenster aus der Vergangenheit“ sichtbar, die mit ihrer Auffindung gewissermaßen „aus der Zukunft“ unseren Blick auf das Thema neu justieren? Schließlich ist das „Werk als Verlauf“ und die Darstellung seiner Entstehung nicht mit dem Archiv und seiner Erfassung gleichzusetzen.“[19]     

Lammert stellt die Frage nach der Materialsammlung. Es gibt unterschiedliche Praktiken des Sammelns, die verschiedene Sammlungen generieren.[20] Sie zieht für ihren Vergleich „eine erst 2004 wieder aufgetauchte Mappe mit 82 Blättern“ zu Bertolt Brechts Kriegsfibel heran.[21] Diese wird auch in der Ausstellung präsentiert. Er „sammelte anders“, wie Lammert feststellt. „Bei den Fotografien und Zeitungsausschnitten, die Brecht während seines amerikanischen Exils auf einzelnen montierten Seiten in eine Buchabfolge brachte, handelt es sich um Recherchen zu Typen und Rollen in seinen Stücken.“ Besondere Aufmerksamkeit weckt eine Art Typologie von Küssen bzw. Lippenstiftabdrücken von Frauen, „soldier girls“, die durchaus sexistische und rassistische Züge aufweisen, wenn es etwa zur farbigen Lucile Steward heißt:
The rosebud design used by Lucile Steward is small but effective. It is made by pursing the lips to a point, then pressing them steadily against the back of the envelope until the lipstick is transformed. Care must be taken not move during the transfer, else design will be blurred. Lucile’s soldier is Private A. Harper whom she met five years ago when she took a with his family in Harlem. She works in a beauty parlor and writes Harper frequently.“[22]  

Die intimen Lippenstiftabdrücke für die Rückseite des Umschlags von Briefen an amerikanische Soldaten im Kriegsdienst sind ebenso erotisch bis durch die Benennung als „rosebud design“ an die Grenze zur Pornographie wie „designed“, also funktional, auf den Gebrauch hin hergestellt. Das Design der Lippen erlaubt eine semiologische Einordnung und Wiedererkennbarkeit. Der Kuss wird nicht nur zum Zeichen der Liebe. Vielmehr wird der er wie heute mit dem Design Research von Gesche Joost zum Ding im Semantic Web, das sich finden lässt. Doch dieses zeichenhafte Ding rosebud design ist durch seine Benennung mehrdeutig. Rosebud ist im Amerikanischen nicht nur die Rosenknospe, vielmehr noch eine auf den Punkt gebrachte Anspielung auf den Anus als Fetisch.[23] Nicht anders verhält es sich mit „Blossom Chan’s brother“ oder „Full lip design“ als soldatenbetreuende Maßnahmen. Im Krieg dürfen gar die ausgetauschten Lippenstiftabdrücke inzestuöse Züge wie bei Chan annehmen. Lammert schreibt:
„Es ist die Abfolge von Bildern, nicht die Montage auf einem Blatt, die Brechts Aufmerksamkeit weckt. Eine der nächsten Seiten zeigt denn auch ein Fototableau mit im Regal aufgereihten Männerhüten, deren Einkerbungen wie Umkehrungen der vorangestellten Kussmünder wirken. „Angewandtes Theater“ – so der Titel eines von ihm verfassten und zwischen die Blätter gelegten Textes – nennt Brecht diese Form des Sammelns …“[24]

Brechts Sammlung fasziniert nicht zuletzt durch Erotik, in die sie als Soldatenbetreuung jenseits der offiziellen Moralstandards verwickelt ist. Die Kussmünder der Soldatenbräute sollen medial als Design in die Köpfe der Soldaten passen, weshalb die Männerhüte entsprechen eingekerbt sind. Brecht hat den Begleittext ebenfalls ausgeschnitten, der das Kriegsdesign der Kussmünder offen formuliert: „There are many ways of building and maintaining the morale of a fighting man. No way is better, though, than the simplest of these: mail from home. And no mail from home is more eagerly received than mail from a soldier’s girl.“ Im Design – „rosebud design“, „full lip design“ – überschneiden sich „Bildsemiotik“ und psychologisch-sexuelle Manipulation im Dienste der Kriegsmaschinerie. Bei aller praxeologischen Anlage der Sammlung für ein „Angewandtes Theater“ dürfte Bertolt Brecht nicht ganz unempfindlich für Passgenauigkeit von Kussmündern und Männerhüten gewesen sein. Dagegen ist John Heartfields Sammlung nach Lammert weit funktionaler angelegt.
„Sie waren Material für Buchumschläge und nicht zuletzt für Motive der Fotomontagen, Und: Der Monteur selbst stellt sich in den gemeinschaftlichen Projekten als Material zur Verfügung.“[25]  

So sieht der Heldentod aus

Welche Rolle spielt das Material, das in der Praxis der Fotomontage von Heartfield nicht verwendet wird? In ihren Überlegungen zu den „Gräuelbildern“ kommt Lammert auch auf So sieht der Heldentod aus zu sprechen. Von Heartfield wurde diese Montage selbst als Urszene der Fotomontage als „Widerspruch“ 1967 in einem Gespräch mit Bengt Dahlbäck verortet.[26] Der Propagandabegriff „Heldentod“ wird rhetorisch mit „den Aufnahmen der verwesenden Körper“ kontrastiert[27]. Der „Heldentod“ auf den Fotos widerspricht vor allem den Denkmälern und Narrativen, in denen er als glorios, als schöner Tod dargestellt wird. Doch wenn Heartfield die beiden Fotos übereinander montiert hat und der handschriftliche Eintrag als Untertitel sowie als Titel dazwischen gesetzt wird, dann erscheint er dort auch als Reaktion auf ein Trauma wie Wunde im Griechischen τραύμα. Das Trauma ist noch keine Gräuelbild und schon gar keine Fotomontage. Heartfield selbst war offenbar nicht auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Doch das Trauma wird von ihm zum Material transformiert. Der „Widerspruch“ kam nachträglich hinzu, was für einen „deutschen Mann“ recht üblich sein dürfte.
„Das ergab natürlich schon wieder einen Kontrapunkt, einen Widerspruch, und es sagte etwas anderes aus. Das war dort die Idee. Das war mir noch nicht so klar, wo das hinführte und dass es bei mir zur Fotomontage führte.“[28]   

Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen (1932)
„Hyäne mit Zylinder und „Pour le mérite“. Der „Pour le mérite“ war der höchste preußische Kriegsorden, Heartfield macht ihn zum „Pour le profit“! Diese AIZ-Ausgabe wurde 1932 beschlagnahmt und auf Protest namhafter Schriftsteller und Künstler wieder freigegeben.“ Heartfield Online

Aus der ungeheuerlichen Materialfülle der Ausstellung und des digital erschlossenen Nachlasses von John Heartfield entspinnt sich ein Netzwerk künstlerischer Praxis mit anderen Künstler*innen, politischen Aktivitäten, biographischen Verwerfungen, Materialien und Fotomontagen die medial zwischen Theaterinszenierungen, Buchumschlägen, Illustrationen für Illustrierten, Postkarten und Plakaten etc. wandern. Es spricht einiges dafür, dass die Digitalisierung, die Ausstellung und der Katalog nicht einfach ein Abschluss sind, vielmehr eröffnen sie eine Anzahl neuer Anfänge und Forschungsansätze im Bereich der visuellen Medien. Es gibt bei Heartfield Fotomontagen, die durch theatralisch, akrobatische Aktionen vielleicht sogar aktivistische Performances wie Was geht hier vor? Bildmaterial generiert wurden, um das Material in So macht man Dollars anders zu kombinieren. Aus der Kombinatorik der Elemente einer Fotomontage entspringt plötzlich ein Widerstand gegen Bilderfluten und Datenströme.

Torsten Flüh

Postscriptum: Die Ausstellungen im Museum de Fundatie und in der Royal Academy of Arts in London werden andere Schwerpunkte setzen. In Zwolle wird John Heartfields Zeit in der DDR und in London das Exil stärker berücksichtigt werden. Die Struktur der Ausstellung bleibt bestehen. Der Katalog wird in weiteren Sprachversionen erscheinen. Rosa von der Schulenburg hat als Leiterin des Archivs und Kuratorin 900 Arbeiten für die Ausstellungen gesichtet. Aus konservatorischen Gründen können nicht an allen Orten die gleichen, meist äußerst fragilen Arbeiten gezeigt werden. Insofern wird jede der drei Ausstellungen einmalig gewesen sein.

John Heartfield
Fotografie plus Dynamit
Akademie der Künste
Pariser Platz
bis 23. August 2020
mit Online-Ticket
Di – So 11–19 Uhr, letzter Einlass: 18 Uhr

Kosmos Heartfield
Virtuelle Ausstellung

Interaktive 360°-Panorama-Tour

Heartfield Online
Neubearbeitung und Digitalisierung des Nachlasses

Katalog:
John Heartfield.
Fotografie plus Dynamit
Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin (Hg.)
Akademie der Künste, Berlin / Hirmer Verlag 2020
312 Seiten, 250 Abbildungen
ISBN 978-3-7774-3442-1
€ 39,90
€ 29,90 (Angebot limitiert bis zum 23.8.2020)


[1] Zum 4. März in der Akademie der Künste siehe: Torsten Flüh: Von der Liebe zu Büchern und dem Hass. Zur Buchpremiere von Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder und dem Buchhandel in Zeiten der COVID-19-Pandemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2020.

[2] Heartfield online: So sieht der Heldentod aus. (online)

[3] „BENÜTZE FOTO ALS WAFFE!“ ist der Titel einer Seite „(z)ur Ausstellung der Arbeiten von John Heartfield auf der Großen Berliner Kunstausstellung“ von 1929 in der AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung). Siehe: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John Heartfield – Fotografie Plus Dynamit. München: Hirmer, 2020, S. 39.

[4] Werner Heegewaldt, Ralph Keuning, Rebecca Salter: Geleitwort. In: Ebenda S. 8.

[5] The White House: President Trump Delivers Remarks 02.06.2020.

[6] Erzdiözese Washington: USA: Erzbischof von Washington kritisiert Trumps Besuche bei Kirchen. In: Vatican News 03 Juni 2020, 11:37.

[7] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern. Zur visuell-verbalen Rhetorik von Heartfields Fotomontagen. In: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 54.

[8] Erstaunlich ist allerdings, dass die Pressestrategen die Verfänglichkeit dieser Fototermin-Inszenierung selbst erkannt haben. Denn auf Instagram wird vom White House am 2. Juni lediglich ein vermeintlich entschlossen zur St. John’s Church marschierender Präsident mit dem Text bzw. der irreführenden Bildbeschriftung „@realDonaldTrump walks from the White House to the Historic St. John’s Church that was damaged during a night of unrest.“ gepostet. (Instagram)

[9] Heartfield online: Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech (online)

[10] Vgl. Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 44.

[11] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern… [wie Anm. 7] S. 57-58.

[12] Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, S. 120.

[13] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern… [wie Anm. 7] S. 58.

[14] Angela Lammert: Material Prozess Archiv. In: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 69.

[15] Angela Lammert: Bilder vom Gräuel als (nicht) benutztes Material. In: Ebenda S. 97.

[16] Ebenda.

[17] Vgl. zur Materialität und dem Material auch: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017.

[18] Siehe: Heartfield online: ohne Titel [Gewehre, Bajonette, Dolche, Kanone und Hand] (online)

[19] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 70.

[20] Vgl. zum Sammeln: Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ. Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Mai 2020

[21] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 70.

[22] Transkription nach Foto aus der Ausstellung.

[23] Siehe Wiktionary rosebud.

[24] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 71.

[25] Ebenda S. 73.

[26] Ebenda S. 102 und Fußnote 19.

[27] Ebenda S. 102

[28] Ebenda.

Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ

Sammlung – Bild – Forschung

Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ

Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale  

Lee Mingweis Ausstellung im Gropius Bau ändert sich permanent. Denn sie bietet lediglich einen Rahmen für neue Praktiken. Beim zweiten Besuch des Berichterstatters hatte sich bis auf die Reproduktion von Picassos Guernica im Lichthof aus farbigem Sand fast alles verändert. Berührten die Besucher*innen das Bild als Reaktion auf ein traumatisches Kriegsverbrechen, veränderte es sich. „SAND BITTE NICHT BETRETEN | PLEASE DO NOT TOUCH THE SAND“, steht auf den Stufen zum Lichthof. An der Wand hängt ein Bildschirm, auf dem zu sehen ist, wie Lee Mingwei in traditioneller chinesischer Kleidung mit Assistent*innen den Sand auf dem Boden mit Reisigbesen fegt. Wichtiger als das fertige Bild auf Zeit ist die östliche Praxis des meditativen Fegens, durch die das Bild energetisch verwandelt werden wird.

Der Künstler knüpft an einen Ritus des tibetischen Buddhismus an, bei dem Mönche über Tage ein komplexes Mandala aus Sand erstellen, um es in einer Zeremonie durch Zusammenfegen zu transformieren. Für das Programm der Ausstellung im Gropius Bau war geplant, dass Lee Mingwei „den letzten Teil von Guernica in Sand an einem einzigen Tag von Mittag bis Sonnenuntergang (…) vollenden“ wollte. „Zugleich (sollte) eine Person aus dem Publikum über den Sand gehen. Dann (sollte) eine zweite Person an die Reihe (kommen) und so (sollte) es bis abends weiter“ gehen. Dann sollte eine Sechsergruppe mit Lee „den Sand zur Mitte der Arbeit“ hin fegen.[1] Für den Rest der Ausstellung hätte der zusammengefegte Sand als Transformation des zum Gropius Bau beziehungsreichen Gemäldes im Lichthof zu sehen sein sollen.

Ob und wann die zeremonielle Transformation mit Lee stattfinden wird, lässt sich derzeit noch nicht einschätzen. Doch Guernica aus Sand ist in mehrfacher Hinsicht mit der Geschichte des Gropius Baus, der bis 1945 als Kunstgewerbemuseum in der damals Prinz-Albrecht-Straße genannten Niederkirchnerstraße diente, verknüpft. Die Planungen für den Einsatz der Legion Condor über eine Luftbrücke und der Luftwaffe im Spanischen Bürgerkrieg fanden im Reichsluftfahrtministerium statt. Die zumindest technischen Voraussetzungen für den Luftangriff am 26. April 1937 auf Guernica u. a. mit dem neuentwickelten Jagdflugzeug Messerschmidt Bf 109 wurde vom Leiter des Technischen Amtes und Kunstflieger Ernst Udet im Reichsluftfahrtministerium schräg gegenüber des Gropius Baus, dem heutigen Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland, geplant. Es gibt mit dem Bild insofern eine historische Koinzidenz mit dem Gebäude, das seinerseits gegen Ende des 2. Weltkriegs durch Luftangriffe schwer beschädigt wurde.

Das Bild, Guernica aus Sand, wiederholt in gewisser Weise die Energie aus Wut und Bestürzung, wie Lee sagt, mit der Picasso es für den Spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris malte. Zu Beginn des Jahres 1937 hatte Picasso den Auftrag erhalten, ein Gemälde für den Pavillon zu malen. Die Weltausstellung fand vom 25. Mai bis 25. November statt. Als er am 28. April die Nachricht vom Bombardement Guernicas erhielt, begann er das Gemälde wie im Fieber zu skizzieren und zu malen.[2] „In barely a month and a half, Picasso produced fifty or so drawings and sketches, and made various modifications to the huge canvas.“[3] Anders gesagt: Lee Mingwei lenkt mit Guernica in Sand nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine inter-kulturelle Transformation des Bildes, vielmehr erinnert er an die energetische Genese des Bildes. Durch das Projekt Rethinking Guernica des Museo Nacional Centro De Arte – Reina Sofia in Madrid wird ebenfalls dieser Aspekt der Genese des Bildes erinnert. Nicht zuletzt die Vielzahl der Zeichnungen und Skizzen gibt einen Wink auf ein kombinatorisches Collageverfahren.

Guernica aus Sand wird durch eine eigene Energie durchdrungen. Im Sand stehen die Behälter mit dem verschiedenfarbigen Sand, als hätten die Sandmaler*innen ihre Arbeit am Bild gerade oder noch nicht beendet. Das Bild ist (noch) nicht fertig. Wie wir aus dem Interview mit Lee wissen, befindet es sich in einem Zwischenzustand. Es soll von ihm noch vollendet werden, um „zugleich“ verwandelt zu werden. Im Unterschied zu Picassos Gemälde wird Guernica aus Sand insofern nie fertig werden oder sein. Vielleicht macht es gerade der pandemiebedingte Aufschub noch einmal besonders deutlich, dass es im tibetischen Buddhismus ebenso wie chinesischen Konfuzianismus mehr um das Tun und Machen geht, als darum etwas fertig werden zu lassen. Der Taoismus hat den Weg zum philosophischen Prinzip transformiert. François Jullien hat nicht zuletzt als Chinakenner auf „die diskursive Gewitztheit eines chinesischen Denkers wie Zhuangzi“ hingewiesen.[4] Er fragt, ob sie nicht genau darin bestehe, die Logik nach „Aristoteles‘ Prinzip der Widerspruchsfreiheit“, „die angeblich aller Kommunikation gemeinsam ist, zu durchkreuzen? So müsste man also »sprechen, ohne zu sprechen«; oder »jemanden finden, der das Sprechen vergessen hat, um mit ihm zu reden« … Ist es nicht gerade die Strategie des Zen (der Kōans), dieses implizite Protokoll der Rationalität durch einen jähen Einbruch implodieren zu lassen?“[5]

Wie um das 禮/Lǐ, das auch Guernica aus Sand unterliegt, zu entfalten, finden in einem Nebenraum Performances unter dem Titel Our Labyrinth statt. Einzelne Tänzer*innen fegen in einem Kostüm mit einem Besen Reis über den Boden. Das „Bild“ verändert sich permanent, bis der Reis wieder in der Mitte zusammengefegt wird. In den Zwischenzeiten ruht der Reis in einem Kranz aus gefaltetem Papier, wie es auf ähnliche Weise für Guernica vorgesehen ist. Die Tänzer*innen bewegen sich mit einem Fußglöckchen sehr ruhig und konzentriert über den ausgelegten Tanzboden. Das Fegen wird zu einer rituellen Tätigkeit, die nicht einfach mit dem Ziel ausgefüllt wird, einen Boden zu säubern. Vielmehr wird das tänzerisch, rituelle Fegen zu einer Tätigkeit für sich. Lee hat dafür eine Rahmenhandlung formuliert.
„Wenn ich mit Tänzer*innen zusammenarbeite, lade ich sie ein, zwei Dinge zu tun: Sie sollen sich ganz langsam bewegen, wie Morgennebel über einem Sumpfgebiet, und sie sollen ,ihr Herz auf den Reis hören lassen‘, indem sie ihre nächste Bewegung nicht ,durchdenken, planen‘. Der Reis wird sie durch den Tanz leiten.“[6]

Mit The Living Room thematisieren Stephanie Rosenthal und Lee Mingwei das Thema der Sammlung. Über 11 Wochen werden 11 verschiedene Sammlungen im Raum inszeniert und zu bestimmten Zeiten von den 11 Sammler*innen vorgestellt. Wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie darf auf der Couch und den Bänken nur eine Person Platz nehmen. Die Sammlungen sollen nach Lees Wunsch Anlass geben, über sie mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Die Präsentation der Sammlung soll in der Berliner Version von The Living Room insbesondere einen Prozess anstoßen. Noch bis 31. Mai lädt Karen Stuke um 16:00 Uhr mit ihrer Caruso-Sammlung in den Living Room ein. Dem Raum wird ein Zitat von Lee vorangestellt.
„Ich interessiere mich sehr dafür, welche Objekte wir sammeln und wie wir sie kuratieren, um Ungekannte an unseren privaten Sammlungen teilhaben zu lassen.“[7]  

Wie entstehen Sammlungen? Welche Sammlungspraktiken wendet Karen Stuke für ihre Caruso-Sammlung an? Es gibt Sammler, die bauen dem Objekt ihres Sammelns einen Schrein. Fans sammeln häufig leidenschaftlich, um ihrem Star nah zu sein. Wayne Koestenbaum hat in seinem Buch Jackie O. Der Fan und sein Star nicht sehr viel über seine Sammlung verraten, obwohl sein ganzes Buch eine Jackie-O.-Sammlung ist. Allerdings schreibt er: „Denkmäler und Souvenirs bleiben, um Jackie zu verkörpern und als Krypten und Wunderländer zu dienen.“[8] Enrico Caruso eignet sich als Star perfekt. Karen Stuke kann sich ganz genau daran erinnern, wie sie im Grammophon-Salon-Schumacher oder im Schallplatten Antiquariat ihre erste Schellackplatte für 18 € kaufte und diese von Enrico Caruso stammte. An die erste Platte etc. erinnern sich die meisten Sammerler*innen. Die antiquarische Platte war mit 18 € relativ günstig, weil sie, wie Stuke herausfand, millionenfach gespreßt worden war. Ob Enrico Caruso außerdem schon lange vorher und durch eine Fernsehausstrahlung in den 60er Jahren von The Great Caruso mit Mario Lanza in der Titelrolle von 1951 in ihrer Gedanken spukte, ob es Erzählungen vom Hörensagen waren, die Karen Stuke zur Caruso-Sammlerin werden ließen, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen.

Bevor Karen Stuke anfing, Caruso zu sammeln, hat es ein Ereignis oder einen Zufall gegeben. In dieser Anfangsphase gab es auch ein Grammophon, das offenbar selbstgebastelt war und nicht den Standards der industriell hergestellten Geräte entsprach. Enrico Caruso eignet sich hervorragend für eine Sammlung, weil die Künstlerin, Photographin und Galeristin Stuke immer wieder neue Felder des großen Caruso-Mythos mehr aus Zufall als aus Systematik erschloss. Sie begann Fragen zu stellen, weil ihr Ungereimtheiten auffielen. Das findet sie, sei eine logische Konsequenz. Das Caruso-Wissen bereitet auch Lust und erhält eine Eigendynamik. Caruso ist ein Mythos, der sich anscheinend ungehemmt ausdehnt, gleichviel wie viel man von ihm weiß. Längst hat sich der Mythos von dem am 2. August 1921 im Grand Hotel Vesuvio in Neapel verstorbenen, weltberühmten Tenor abgelöst und verselbständigt. Das Grand Hotel Vesuvio führt nach der „Startseite“, der eigenen „Geschichte“ an dritter Stelle „Caruso“ als festen Bestandteil seines Mythos. Caruso heißt das Restaurant im Dachgarten des Hotels. Taktvoll verschweigt das 5-Sterne-Haus am Hafen von Neapel an der Via Partenope, die nach einer Sirene der griechischen Mythologie benannt ist, auf seiner Seite, dass Enrico Caruso im Alter von 48 Jahren fataler Weise im Haus verstarb.

Es gehört zur Eigenart der Mythen, dass sie sich nur schwer zurechtrücken lassen. Karen Stuke ist dennoch oder gerade deshalb nach Neapel und Sorrent gereist und hat sich nach hartnäckigen Recherchen ins Sterbezimmer ihres Sammlungsobjektes einquartieren lassen. Sie hat das vermeintliche Sterbebett mit einer gewissen Unschärfe zugleich imaginiert und fotografiert. Dazu gibt es auch zwei gespenstische Fotografien von Carusos letztem Blick auf zwei üppig drapierte Fenstervorhänge. Da der Startenor an einer Rippenfellentzündung und Blutvergiftung starb, dürfte seinem Blick eine fiebrige Unschärfe zu eigen gewesen sein. Leicht ufert der Mythos auf der Suche im Internet aus. Caruso ist eine Wissensmaschine. Hotelterrassen erhalten vermutlich immer wieder aufs Neue Gedenktafeln, so dass zuletzt am 5. April 1995 die Stadtverwaltung von Sorrent eine mit folgender, elegischer Inschrift anbringen ließ: „Il grande tenore Enrico Caruso – Dalle Terrazze di questo albergo unendo nell’amore e nella bellezza napoli e sorrento trascorse giorni felici offrendo le ultime testimonianze del suo bel canto.“ (Der große Tenor Enrico Caruso verbrachte auf der Terrasse dieses Hotels glückliche Tage im Angesicht von Liebe und Schönheit der Regionen Neapel und Sorrento unter Darbietung seines schönen Gesangs.)

Wann wird das Sammeln zum Forschen? Längst ist Caruso zu einem mythologischen Gütesiegel geronnen. Überall auf der Welt tragen Osterias, Restaurants und Eisdielen z.B. in der Forther Hauptstraße in Forth, Bayern, den mythologischen Namen Caruso. Karen Stuke hat irgendwann beim Sammeln begonnen nachzuforschen. Das künstlerische Sammeln bekommt so Züge wissenschaftlicher Forschung. Zwischenzeitlich hat sie sogar einen leibhaftigen Enkel Enrico Carusos kennengelernt. Caruso hat sich als Künstlerin-Sammlung verselbständigt, so dass Karen Stuke ihn mittlerweile als Medienstar erforscht und ihm mit dem Stern „Enrico Caruso“ einen eigenen Star im Internet mit exakten Koordinaten hinzugefügt hat: „The coordinates of the star are RA 09h30m54.36 +08°11’26.9“ and it is located in the constellation Leo.“ Stuke hat dem „Verewigten“ einen Stern geschenkt. Doch Enrico Caruso war seinen Zeitgenossen und Kolleg*innen auch darin voraus, dass er als einer der Ersten 1903 das neue Medium Grammophon benutzte, um seinen Gesang und seine Stimme zu verbreiten und zu verewigen.

Caruso war nicht nur ein Opern-, vielmehr noch ein Medienstar. Ein bisschen war Caruso wie Travis Scott, der mit seinem zehnminütigen Auftritt als Hologramm im Online Koop-Survival-Spiel Fortnite am 24. April 2020 ca. 12 Millionen Menschen auf einen Schlag erreichte. Auch Travis Scott hat sich schon jetzt damit verewigt. Die Schellackplatte, die Stuke für 18 € erwarb, war nicht zuletzt deshalb so günstig, weil Carusos Platten wie sein „Vesti la giubba“ als Canio in Pietro Mascagnis Il Pagliacci (Der Bajazzo) vom 17. März 1907 Referenzaufnahmen wurden und Bestseller waren, millionenfach gepresst und verkauft wurden. Caruso sang fortan von jedem Grammophon weltweit in den Salons der sich dem Ende neigenden Kaiserzeit. Die Tonqualität ist heute leicht metallisch befremdlich. Nicht zuletzt gehörte Caruso bis zu seiner letzten Vorstellung im Herbst 1920 dem Ensemble der Metropolitan Opera an, die 1883 in New York eröffnet worden war und 3.625 Plätze hatte, während das Teatro alla Scala nur 2.030 und die Wiener Staatsoper mit 1.709 Sitz- und 567 Stehplätzen deutlich weniger Zuschauern Platz boten. Am 13. Januar 1910 hatte er gar die weltweit erste Direktübertragung aus einem Opernhaus, der Met, mit Arien aus Cavalleria Rusticana und Il Pagliacci für das Radio gesungen.

Caruso hat unterdessen ein reiches und medial vielfältiges Nachleben, wie Karen Stuke mittlerweile erforscht hat. So gibt es ganze Briefmarkenserien in Staaten, die Caruso nie bereist hat. In den Evénements du 20ème siècle erschien sein Konterfei 1998 u.a. neben Marilyn Monroe auf der 225F-Marke der Republik Niger. Und am 25. Mai 1996 schaffte es Caruso auf den Bogen der Storia della Canzone Italiana von San Marino. Am 15. Mai 1999 erinnerte die Post Argentiniens mit einer Sondermarke an das Centenary of the american debut of Enrico Caruso, wo er allerdings erst 1917 auftrat.[9] Doch Caruso lebt bis auf den heutigen nach, wenn immer wieder junge Tenöre als neue Carusos benannt werden. Digital ist Caruso ebenfalls im neuen Jahrtausend remastered worden, mit zweifelhaftem Ergebnis wie Karen Stuke sagt. Wie Caruso wirklich gesungen hat, weiß heute kein Mensch mehr. Doch um noch einmal auf Stukes Grammophon für die Straße im Kinderwagen zurückzukommen: Sie hat zwischenzeitlich ein historisches Foto gefunden, auf dem ein Straßenmusikant nicht mit einem Leierkasten, sondern einem Grammophon zu sehen ist. Womöglich erklang „Vesti la giubba“ mit Caruso auch an der Straßenecke.

Lee Mingweis Installationen und Projekte gehen immer auf ein eigenes, persönliches Erlebnis zurück. So war es die Krankheit der Mutter, die ihn dazu bewogen hat, das Projekt Sonic Blossom zu entwickeln. Während der Covid-19-Pandemie ist es als Invitation for Dawn zu einem digitalen Projekt transformiert worden. Doch jene Praktiken der Begegnung, die Lee besonders wichtig sind, funktionieren im Museum dann doch noch einmal wesentlich intensiver. Eine Sänger*in geht mit Mund- und Nasenschutz durch die Ausstellung und spricht eine/n Besucher*in an, ob sie ihr/m ein Lied singen dürfe. Die Person kann es ablehnen oder der Sänger*in in einen Raum folgen, in dem ein Stuhl in einiger Entfernung vor einer Plexiglasscheibe steht. Die Sänger*in bittet, Platz zu nehmen und singt ein kurzes Lied. Lee Mingwei glaubt nicht, dass dieses Ritual wirklich heilen könne. Aber er erprobt die Möglichkeit, „etwas derart Immaterielles und Intimes wie ein Lied geben und empfangen zu können“. Neben der Opernsänger*in steht zur Zeit der „transformation cloak“ oder Verwandlungsumhang, den sie wegen der Vorsichtsmaßnahmen zur Zeit nicht tragen kann. Er soll den Sänger*innen „die Kraft des Schenkens“ verleihen.
„Die Gestaltung des Umhangs erinnert an die Blüte der Chrysantheme und spiegelt somit die im Titel anklingende Figur des sich blütenartig entfaltenden Klangs wider.“[10]    

Auf eine ausführliche Biographie des Künstlers verzichtet die Ausstellung 禮/Lǐ Geschenke und Rituale einerseits, andererseits laden die Installationen und Projekte dazu ein, an der Bio-Graphie von Lee Mingwei gewissermaßen mitzuschreiben. Seinen Arbeiten, von denen es noch einige mehr im Gropius Bau zu erleben gibt, liegt eine ungeheuer großzügige Geste des Schenkens zugrunde, weil sie mit den intimsten Erfahrungen des Künstlers selbst verknüpft sind. Ausgespart wird in der Ausstellung allerdings das Male Pregnancy Project von 1999, das neben dem 禮/Lǐ noch einen anderen Wink auf die auto-bio-graphischen Praktiken von Lee Mingwei gibt.[11] Denn das Male Pregnancy Project als Performance über die (un)mögliche Schwangerschaft eines Mannes thematisiert die Geschlechterfrage auf queere Weise. Lee wünschte sich nicht nur als Mann schwanger zu werden, vielmehr deckte er die Schwächen des männlichen Geschlechts auf und erzeugte in den USA heftige Reaktionen. In dem Film The World’s First Male Pregnancy von Sophie Lepault und Capucine Lafait wird das Projekt einerseits als digitale Kunst mit unterschiedlichen Bildmedien und andererseits als eine Frage der Gefühle entfaltet.[12]

Lee Mingwei bemühte schon in seinem Frühwerk keine Frage der Identität, vielmehr verschob er sie auf eine Ebene des Empfindens und der Teilnahme wie Teilhabe. So spricht er von einer Eifersucht auf die Schwangerschaft seiner Schwester, die er als Mann habe nicht nachempfinden können. Das starke Geschlecht der Männer wird mit seiner Schwäche konfrontiert. Lee ging mit seinem Projekt in New York insofern einen eigenen und besonderen Weg, weil er die Problematik nicht als eine der Transsexualität, vielmehr der Gefühle und Medien formuliert und aufführt. 2009 hat er in einem Interview mit The Scotsman bekräftigt, dass er auf seine Schwester und ihre Erfahrung der Schwangerschaft neidisch war, obwohl er als „a homosexual man“ kein Verlangen danach habe, physisch eine Frau zu werden. In Anknüpfung an François Jullien ließe sich sagen, statt zu einem Identitätskonzept der Trans- verschiebt es Lee zur „Inter-Sexualität“, was nicht verwechselt werden sollte mit der biologischen Intersexualität.
„Wenn der Begriff des »Inter-Kulturellen« einen Sinn haben soll, kann er nur darin bestehen, dieses Zwischen, dieses Zwiegespräch als neue Dimension der Welt und der Kultur zur Entfaltung zu bringen. Dadurch wird gleichzeitig das eine wie das andere durchkreuzt, der falsche Universalismus des – denkfaulen – Uniformen und das mit ihm korrelierende – sektiererische – Phantasma der Identität.“[13]        

禮/Lǐ Geschenke und Rituale feiert das Zwischen. Gerade in einer tiefgreifenden Krise von Wissen und Wissenschaft, weil wir kaum wissen können, wie wir richtig mit Sars-Cov-2 umgehen sollen, wann es eine Therapie oder gar eine Impfung geben wird, in dieser komplexen Krise von Globalismus und Transfer lässt sich in der Ausstellung ein Zwischen als andere Perspektive und Praxis erkunden. Wir wissen nicht, ob oder auf welche Weise sich Lee Mingwei mit der politischen Philosophie François Julliens beschäftigt hat, ob er sich mit Michel Foucault oder Roland Barthes‘ L’impire de signe auseinandergesetzt hat. Vielleicht hat er gar Jacques Derrida gelesen – oder auch nicht. Aber mit der von Stephanie Rosenthal kuratierten Ausstellung wird eine Inter-Kulturalität eröffnet, die Rituale und damit kulturelle Praktiken in die Aufmerksamkeit rückt, die mit ein wenig Glück nachwirken werden. Während global eine Rückkehr zu einer imaginären Normalität diskutiert und angestrengt wird, Donald Trumps „America first“-Anspruch die Vereinigten Staaten von Amerika an den Rand eines Bürgerkriegs treibt und Untergangsszenarien heraufbeschwört, sollten wir uns mehr auf das Zwischen konzentrieren, wie es Lee Mingwei in seiner Kunst vorschlägt.

Torsten Flüh

Lee Mingwei
禮 Li – Geschenke und Rituale
bis 12. Juli 2020
Zeitfenster-Ticket
Samstag bis Mittwoch 10:00 bis 19:00
Donnerstag und Freitag 10:00 bis 21:00
Dienstag geschlossen
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin


[1] Zitiert nach: Ein Austausch in verschiedene Richtungen. Ein Interview zwischen Lee Mingwei und Stephanie Rosenthal. (2020) (Der Katalog konnte bisher nicht erscheinen. Ein Auszug findet sich hier.)

[2] Vgl. dazu Rethinking Guernica. Museo Nacional Centro De Arte. Reina Sofia. (Dokumentation)

[3] Ebenda. (Realisation)

[4] François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin: edition suhrkamp, 2017, S. 86.

[5] Ebenda S. 86-87.

[6] Zitiert nach Aushang Our Labyrinth in der Ausstellung.

[7] Zitiert nach Aushang The Living Room in der Ausstellung.

[8] Wayne Kostenbaum: Jackie O. Der Fan und sein Star. Stuttgart: Klett-Cotta, 1997, S. 330.

[9] Siehe: Karen Stuke: Caruso sings again! Postal stamps. (Link)

[10] Zitiert nach Aushang.

[11] Lee Mingwei: The Male Pregnancy Project. (Website)

[12] Sophie Lepault & Capucine Lafait: The World’s First Male Pregnancy. (ohne Jahr) (YouTube)

[13] François Jullien: Es … [wie Anm. 4] S. 96.

Mehr Li – 更禮儀 – Gèng lǐyí – Mehr Rituale

Geschenk – Leere – Teilhabe

Mehr Li – 更禮儀 – Gèng lǐyí – Mehr Rituale

Zu Lee Mingweis wegweisender, partizipatorischer Ausstellung 禮 Li – Geschenke und Rituale im Gropius Bau

An diesem Freitag, den 22. Mai 2020, wird der Berichterstatter in der Niederkirchnerstraße plötzlich mit der Leere konfrontiert. Die Straße ist leer. Es ist einer jener Momente, der anders als zum Vatertag am Vortag, an dem laut Tagesspiegel auf der Greenwichpromenade am Tegeler See „die Menschen dicht an dicht“ sitzen, keine Normalität vortäuscht. Der Vormittag nach dem Feiertag mit den Freiheiten, die sich genommen werden, lässt den Schrecken hervorspringen, dass es eben dort, wo sonst internationale Reisebusse und VIP-Shuttles aneinandergereiht stehen, leer ist. Kein einziger Reisebus. Vereinzelte Fußgänger*innen, Fahrradfahrer*innen, ein E-Roller steht verlassen auf dem Bürgersteig. Die Leere ist ein Schock, ein Geschenk und ein Auftrag.

Leere und Normalität lassen sich mit der ersten umfassenden Werkschau in Europa des in Taichung auf Taiwan geborenen und in den USA aufgewachsenen Künstlers Lee Mingwei konstellieren. Man mag sich die Normalität an der Greenwichpromenade, der Ostsee und auf Sylt malen, wie man will, die Leere auf der Niederkirchnerstraße vor dem Berliner Abgeordnetenhaus, der Gedenkstätte Topographie des Terrors und dem Gropius Bau mit der Ausstellung von Lee Mingwei, die am 27. März hätte eröffnet werden sollen, lässt sich nicht leugnen. Die Leere korrespondiert zumindest in einer globalisierten Welt mit einer Störung der kapitalistischen Normalität. Wo es leer ist, finden nicht nur keine Geschäfte statt, vielmehr muss der Mensch erst einmal einen Umgang mit der Leere finden und einüben. Diese Übungen können zu Ritualen werden, die in der Kunst abseits einer kapitalistischen Logik ausgeübt werden. Davon handelt 禮 Li – Geschenke und Rituale.  

Die ausgestellten Arbeiten von Li Mingwei reagieren oft auf ein Trauma. Sie wiederholen Handlungen als Reaktionen auf ein Trauma. Die schwere Erkrankung der Mutter, das Kriegsverbrechen der Zerstörung von Guernica, die Zerstörung der Twin Towers, die zufällige Begegnung mit einem Überlebenden der Shoah im Schlafwagenabteil, die Einsamkeit auf einem Campus einer amerikanischen Elite-Universität etc. Lee nennt es in einem Gespräch mit seiner Berliner Kuratorin und Direktorin des Gropius Baus, Stephanie Rosenthal, lieber „Zufall“. Es ist eine nicht nur zeitgemäße, ja, aktuelle Ausstellung von Kunstarbeiten, Installationen geworden, in denen Praktiken entwickelt wurden, um auf Zufall und Trauma zu reagieren, vielmehr noch werden die Besucher*innen eingeladen, dieses oder jenes Ritual fortzuführen. Die Teilnahme an der Installation, indem man z.B. ein zerrissenes Kleidungsstück in der Arbeit The Mending Project im Museum zum Flicken bringt, macht mitten in der Covid-19-Pandemie therapeutisch Sinn.  

Die Partizipation ist für Lee Mingwei die entscheidende Dimension seiner künstlerischen Arbeit. „Lee Mingwei creates participatory installations, where strangers can explore issues of trust, intimacy, and self-awareness, and one-on-one events, where visitors contemplate these issues with the artist through eating, sleeping, walking and conversation.“[1] Das Teilnehmen wie Teilhaben an den Installationen generiert Erfahrungen und Fragen von Vertrauen, Intimität und Selbsterfahrung.[2] Bereits für das Dining-Project 1997 organisierte er Ereignisse mit fremden Besuchern in seiner Wohnung, um über diese Fragen nachzudenken. 2000 kam das Sleeping Project hinzu. Beide Projekte sind durch ein Losverfahren im Gropius Bau persönlich zu erleben. Allerdings wird das Dining-Project wegen der Covid-19-Pandemie auf ein Teetrinken mit Mitarbeiter*innen des Museums begrenzt. Lee Mingwei sitzt in seinem Studio in New York fest. Deshalb wird das Sleeping Project in getrennten Betten im Museum ebenfalls von Mitarbeiter*innen übernommen.

„One-on-one events“ sind im Moment durch social distancing erheblich erschwert, um es einmal so zu schreiben. Es sei denn, sie werden in den digitalen Raum des Internets verlegt. Die Ausstellung ist bereits durch den Gropius Bau digital gut aufgestellt. Es wurde eine ganze Seite mit digitalen Aktivierungen eingerichtet. Im virtuellen Interview von Anfang Mai spricht Terri Fujii von der Galerie Perrotin Tokyo mit Lee Mingwei in New York.[3] Lassen sich seine partizipatorischen Installationen ins Internet transformieren? Lee schlägt zwei Installationen vor, die er für das Internet besonders geeignet hält. Es sind das Letter Writing Project und das Sonic Blossom Project. Beide Projekte hat der Künstler für die verspätete Eröffnung ins Virtuelle transformiert. Aus dem Letter Writing Project wurde das Letter to Oneself Project und das Sonic Blossom Project wurde zum Invitation for Dawn Project, bei dem weltweit eine Sänger*in für eine Zuhörer*in ein Lied zu einer bestimmten Zeit über Zoom singt. Sie, ja, Sie als Leser*in dürfen sich bewerben.

Man kann in diesen Tagen allerdings in Berlin wieder ins Museum, in den Gropius Bau gehen. Das Letter Writing Project ist dort möglicherweise intensiver, sinnlicher, aber auf jeden Fall anders zu erleben. Genau darum geht es Lee Mingwei mit seinen Arbeiten. Stephanie Rosenthal möchte mit Lees partizipatorischen Installationen nicht zuletzt das Museum, den Gropius Bau, als Ort und Institution erforschen und überdenken.[4] Der Ausstellungsrundgang beginnt insofern mit einer Überraschung, Irritation oder einem Geschenk. Die auf Rezeption eingestellten Besucher*innen werden sogleich eingeladen, in einer der drei ähnlichen, fast transparenten, offenen Zellen einen Brief im Knien, Sitzen oder Stehen zu schreiben. Mir gefällt hier der Begriff Zelle besser als Kabine oder das englische Box, weil es an die Mönchszelle als Schreibort erinnert. Einem Ort der Kontemplation und Imagination.

Mit den Zellen zum Schreiben wird das Museum als Ort der Anschauung und des Wissens aufgebrochen. Im Museum sollte gesammelt und angeschaut werden, was wissenschaftlich – kunsthistorisch, geisteswissenschaftlich, historisch oder naturwissenschaftlich etc. – als wertvoll angesehen wurde. The Writing Project fordert dazu auf, derartige Erwartungen umzuschreiben. Die Besucher*innen dürfen sich in dem Kunstraum der Zelle mit einem anderen ihrer selbst auseinandersetzen. Zwar gab es immer auch Markplätze, wo Schreiber auf Schreibaufträge warteten, aber die Zelle als Raum für den Einzelnen zum Schreiben ist ein ebenso materieller wie virtueller Raum. Wenn man einen Brief schreibt, geht es darum seinen Dank, seine Fragen, seine Wünsche an jemanden, der imaginiert wird, zu adressieren. Es verschiebt sich der Auftrag der musealen Anschauung zur Kontemplation.  

Zellen sind Räume der Kontemplation, wie es Lee nennt. Die Kontemplation hat mit 禮/Li zu tun. Ist 禮 eine Philosophie? Ist es eine Praxis? – Zunächst beginnt das Writing Project mit einem Verlust. So erzählt es Lee Mingwei. Als seine Großmutter mütterlicherseits starb, begann er Briefe in größeren Zahl an sie zu schreiben. Wofür schreibt man Briefe an eine Verstorbene? In der Ausstellung wird, wenn sich die Besucher*in zu fragen beginnt, wofür die aufgestellten Zellen in minimalistischem Design gedacht sind, warum hier Bleistifte mit dem Aufdruck „GROPIUS BAU LEE MINGWEI  禮 LI, GIFTS & RITUALS“ in Reis aufgestellt sind, langsam klar, dass das Writing Projekt nicht fertig oder abgeschlossen ist, sondern die aktive Partizipation erfordert. Desinfektionsflasche – „Bitte desinfizieren Sie sich hier die Hände.“ – und Bleistifte leiten bereits das Ritual ein – „Bitte nehmen Sie sich hier einen Stift“. Die Kontemplation bedarf einer genauen Vorbereitung – „BITTE ZIEHEN SIE IHRE SCHUHE AUS“. Und dann betritt die Besucher*in die Zelle und schreibt einen Dankesbrief an … – Lee Mingwei.

Die genauen Rituale, die gleich mit der ersten Installation für die Partizipation erfordert werden, geben einen Wink, worum es mit 禮 immer wieder gehen wird. Es geht um einen rücksichtsvollen Umgang miteinander, um Achtsamkeit und Höflichkeit ohne Zweck. Das konfuzianische 禮 wird der Zweck selbst.[5] Einen Brief an eine Tote schreiben. Einen Brief an sich selbst schreiben. Jemanden danken. Das könnte man auch ein Briefschreiben für nichts nennen, das leicht verschoben an ein Gebet erinnert. Auf einem Kärtchen in der Zelle steht, dass die „offenen Briefe an der Wand (…) gelesen werden“ dürfen. Wer hat schon einen Brief gelesen? Ist das nicht unfassbar intim, den Brief eines/er Fremden zu lesen? Das wissenschaftliche Regelwerk des Museums wird mit dieser Intimität wenigstens auf die Probe gestellt.
„Sie können außerdem das Briefpapier benutzen, um selbst einen Brief zu verfassen. Der Künstler lädt Sie ein, darin einen Dank, eine Einsicht oder eine Entschuldigung zu formulieren, die Sie bisher noch nicht zum Ausdruck bringen konnten.
Sie können den Umschlag entweder verschließen und adressieren oder offen lassen. Bitte befestigen Sie Ihren Brief an einer der Kabinenwände. Adressierte Umschläge werden vom Gropius Bau für Sie verschickt.“[6]   

Das Letter Writing Project lässt sich auffächern in eine ganze Bandbreite von Adressierungen. Fällt es doch im Zeitalter der Posts, Tweets, Messenges und SMS‘ etc. aus der Zeit. Wer hat wann zuletzt einen Brief mit einem Bleistift auf Briefpapier geschrieben und verschickt? Den Berichterstatter erinnert die Schreibzelle u.a. an das japanische Genre der Kopfkissenbücher bzw. Kopfkissennotizen, 枕草子, Makura no Sōshi, was ihm ein angenehmer Gedanke ist. An wen waren die Notizen, die in einem Kopfkissen aufbewahrt werden, adressiert? Schrieb sie beispielsweise Sei Shonagon für sich selbst? Ordnete sie damit ihre Welt für sich selbst? – „One would imagine that he could do without a stick.“[7] – Das Schreiben und Adressieren wird zu einem Ritual, auf das Lee Mingwei einmal einen weiteren Wink gegeben hat.
„Die unverschlossenen Briefe werden von Lee gesammelt. Er plant, sie am Ende des Projekts in einer Zeremonie zu verbrennen. Lee meint: „Diese sehr schweren und intensiven Emotionen gehören eigentlich dem Himmel oder dem Wasser. Das Feuer wird die Emotionen freisetzen.“ Bislang hat Lee über 60.000 Briefe gesammelt.“[8]     

In dem virtuellen Interview mit Terri Fujii nimmt Lee Mingwei in einem traditionellen chinesischen Hemd eine Gestik des Lehrers an. Was lehrt er? Er lehrt Kontemplation als Praxis des Fragens nach sich selbst: „Ausgehend vom bereits existierenden The Letter Writing Project reagiert die neu entwickelte Arbeit Letter to Oneself auf die aktuelle Krise und lädt die Öffentlichkeit ein, Briefe an sich selbst zu schreiben, die sich mit folgenden Fragen beschäftigen: Wie gestaltet sich die aktuelle Situation für Sie? Was beunruhigt Sie am meisten? Was gibt Ihnen Hoffnung?“[9] Sich die drei Fragen zu stellen und sie in einem Brief an sich selbst zu formulieren, darf als eine der größtmöglichen Herausforderungen in der „aktuelle(n) Krise“ bedacht werden. Es sind die drei Fragen, vor denen sich viele, wenn nicht die meisten Menschen an die Greenwichpromenade, die Ost- oder Nordsee etc. flüchten. Anders gesagt: Die Greenwichpromenade am Tegeler See erinnert eben an jenen Breitgrad 0, von dem aus bei London die Welt und das Wissen über sie eingeteilt, gemessen wird. Doch dieses Wissen wird vom epidemiologischen Geschehen des Sars-COV-2 heimgesucht.

Die aktuelle Krise, das lehrt Lee Mingwei, wirft jede/n auf sich selbst zurück. Er selbst formuliert die Fragen mit großer Ruhe und einem Lächeln. Schließlich war er als Starkünstler der Olympischen Spiele in Tokyo vorgesehen. Die Vernissage am 27. März hätte ein großes Fest nicht zuletzt mit den anderen mitwirkenden Künstler*innen werden sollen. Nun haben sie sich zu einem Zoom-Meeting getroffen. Doch was ist ein Zoom-Meeting mit Lee Mingwei gegen ein Treffen mit ihm im Gropius Bau? Im virtuellen Interview spricht er nicht von seiner Situation in New York, das seit Wochen eines der, wie man sagt, Epizentren der Pandemie ist. Am 24. Mai 2020 hat die New York Times die interaktive Seite US Coronavirus Deaths 100.000 veröffentlicht, um mit 1.000 Namen, das sind 1%, daran zu erinnern, dass hinter der (über)großen Zahl[10] von nahezu 100.000 Toten durch Sars-COV-2 einzelne Menschen und die Trauer um sie verborgen wird. Beunruhigt Sie das am meisten? Wie lässt sich das als Wissen aushalten?

Der Letter to Oneself kann unter einem gewissen Aufwand der Normalverdrängung oder der Verdrängung von Wissen zur Herstellung von Normalität einfach niedergeschrieben werden. Es sind ganz simple Fragen, die Lee Mingwei formuliert hat. Doch sie sind, wenn man sich ihnen aussetzt, wenn man sie aushält, am schwierigsten zu beantworten. Werden sie beispielsweise derzeit in der Volksrepublik China oder in Taiwan bedacht oder bearbeitet? Wahrscheinlich nicht. Welche Rolle spielt 禮 für das Verhalten während der Krise? In ihrem Wuhan Diary zwischen dem 17. Januar und 1. Februar 2020 hat die Dokumentarfilmerin Ai Xiaoming beschrieben, wie sie reagierte. Stellt sie Fragen an sich selbst? Oder projiziert sie eher ihre Fragen nach außen und stürzt sich in eine Hilfsaktion, um sich nicht selbst fragen zu müssen? Sie fasst schließlich ihre Erfahrungen mit den jungen Freiwilligen zusammen, um dies als eine positive Erfahrung der geteilten Werte für die Öffentlichkeit zu bewerten. Doch das war, wie wir heute nur allzu gut einschätzen können, der Beginn der Pandemie.
„On a positive note, I’ve been really moved by the young volunteers. They are ordinary people who have stepped forward, making an effort to save a city on the verge of collapse. The young people have taken on the responsibilities voluntarily, sacrificing their own safety for the benefit of the public good. In so doing, they have also formed a link among themselves based on shared values. In this regard, I think this is also an opportunity for new social forces to grow.“[11]

Beschreibt Ai Xiaoming eine Praxis des 禮 Li? Die Aufopferung der eigenen Sicherheit zum Wohl der Öffentlichkeit durch die jungen Freiwilligen könnte als neue soziale Kraft den Regeln des Li entsprechen. Doch im Vergleich mit den Geschenken und Ritualen bei Lee Mingwei wirken sie eher aktionistisch. Ai wie die Freiwilligen umgehen geradezu den Letter to Oneself. Das macht einen Unterschied und gibt zugleich einen Wink auf seine partizipatorische Kunst. 禮 hat nicht zuletzt einen vielfältigen Bedeutungswandel erfahren. Es wird mit dem Konfuzianismus ebenso wie mit dem Taoismus und dem postkonfuzianischen 禮記Liji, dem Buch der Riten, Sitten und Gebräuche (Richard Wilhelm) in Verbindung gebracht. Der Anteil des Übersetzers bei der Zuspitzung äußerst elastischer und poetischer Lehren sollte nicht zu gering geschätzt werden. Unter Maß und Mitte wird eine ganze Reihe von Aussprüchen gesammelt.
„Dschung Ni sprach: Der Edle hält sich an Maß und Mitte, der Gemeine widerstrebt Maß und Mitte. Maß und Mitte des Edlen bestehen darin, daß er ein Edler ist und allezeit in der Mitte weilt. Die Mittelmäßigkeit des Gemeinen besteht darin, daß er ein Gemeiner ist und vor nichts zurückscheut.
Der Meister sprach: Maß und Mitte sind das Höchste, aber selten sind die Menschen, die lange dabei verweilen können.
Der Meister sprach: Warum der Weg nicht begangen wird, das weiß ich: Die Klugen gehen (mit ihren Meinungen) darüber hinaus, und die Törichten erreichen ihn nicht. Warum der Weg nicht erkannt wird, das weiß ich: Die Tüchtigen gehen (in ihren Handlungen) darüber hinaus, und die Untüchtigen erreichen ihn nicht. Unter den Menschen gibt es keinen, der nicht ißt und trinkt, aber selten sind die, die den Geschmack unterscheiden können.
Der Meister sprach: Ach, daß der Weg nicht begangen wird!“[12]

Der Gelehrtenname des Konfuzius, Dschung Ni, gibt einen Wink auf die anonyme Herkunft des Textes im Modus von Aussprüchen, der nicht nur postum geschrieben worden ist. Die Herkunft der Bücher des Konfuzius und seiner Philosophie, die in Tempeln tradiert wurde, ist insofern auch vage. Durch die literarische Transformation in Gespräche erweist sich das Li auch besonders anschlussfähig für Transformationen. In einer Fußnote merkt Richard Wilhelm zum „Untüchtigen“ an, dass „(h)ier (…) das Thema von der Überkreuzung von Wissen und Handeln zum erstenmal angeschlagen“ werde, das „weiterhin eine große Rolle“ spiele.[13] Die „Überkreuzung von Wissen und Handeln“ wird von Richard Wilhelm als ein Unwissen der Untüchtigen angeschrieben. Doch zugleich geht es mehrdeutig um das Wissen von „Maß und Mitte“, die als „das Höchste“ insofern aufgeschoben werden, als sie nur „selten“ oder fast nie erreicht werden. Das Wissen wird insofern von den Tüchtigen wie den Untüchtigen kaum in Praktiken umgesetzt. Doch das eher taoistische Machen generiert mit Umsicht nachträglich Wissen.
„曲禮上: 曲禮》曰:「毋不敬,儼若思,安定辭。」安民哉!
Qu Li I: The Summary of the Rules of Propriety says: Always and in everything let there be reverence; with the deportment grave as when one is thinking (deeply), and with speech composed and definite. This will make the people tranquil.“[14]
(Die Zusammenfassung der Regeln des Anstands sagt: Immer und in allem soll es Ehrfurcht geben; mit einem Verhalten, das bis in die Grabestiefe gedacht, und mit Sprache gefasst und bestimmt wird. Dies wird die Menschen ruhig machen.)

Das Wissen des 禮 lässt sich als eine Praxis sozialen Verhaltens formulieren. Es wird durch Rituale gerahmt. Mit anderen Worten: Wenn sich wie aktuell, soziale Distanz in Kombination mit dem Wunsch, etwas flicken zu lassen, wie im Mending Project praktiziert werden sollte, dann lässt sich eine Plexiglasscheibe zwischen den Akteur*innen einbauen. Lee Mingwei hat als New Yorker 2001 nach dem Anschlag auf die Twin Towers begonnen zu flicken. The Mending Project setzt dieses Ritual der Reparatur im Gropius jeden Nachmittag fort. Seit 2009 ist daraus eine ästhetisch komplexe Installation entstanden. Von geflickten Kleidungsstücken auf einem Tisch sind unzählige Fäden zu bunten Garnrollen gespannt. Allein schon die Buntheit der Garne im Raum und Garnrollen an der Wand bringt zur eher traurigen Arbeit des Flickens eine, soll man sagen, Fröhlichkeit zurück. – Fortsetzung folgt.

Torsten Flüh

PS: Am 22. Mai 2020 war auch das Restaurant Beba im Gropius Bau mit seinem unglaublich freundlichen Service, selbstgemachten Limonaden und leckeren Gerichten, einem sehr empfehlenswerten Lunch für 12 € wieder geöffnet. Einen Tisch kann und sollte man über open table reservieren. Ansonsten gelten die Rituale, die zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie empfohlen werden.

Lee Mingwei
禮 Li – Geschenke und Rituale
bis 12. Juli 2020
Zeitfenster-Ticket
Samstag bis Mittwoch 10:00 bis 19:00
Donnerstag und Freitag 10:00 bis 21:00
Dienstag geschlossen
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin



[1] Lee Mingwei: Artist Statement. http://www.leemingwei.com/artist.php

[2] Vergleiche zur partizipatorischen Kunst auch: The Team Interviewed by Torsten Flüh. In: Barbara Lüneburg: TransCoding – From `Highbrow Art‘ to Participatory Culture

Social Media – Art – Research. Bielefeld: transcript, 2018, S. 28-50. (Open Access)

[3] GaleriePerrotin: A Virtual Interview with Lee Mingwei, uploaded 17.05.2020. (Das Interview muss allerdings früher stattgefunden haben, weil Lee Mingwei sagt, dass seine Berliner Ausstellung noch geschlossen sei. Es öffnete aber bereits am 11. Mai wieder.) 

[4] Siehe zur Frage des Museums und der Ausstellung auch: Torsten Flüh: I am not an artist. Philippe Parreno fasziniert im Gropius Bau mit einem Organismus als Ausstellung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 28, 2018 21:12.

[5] Vgl. zum Zweck bei Hegel: Torsten Flüh: Der Geist der Maschine. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2020.

[6] Zitiert nach Zettel in der Ausstellung.

[7] The pillow book of Sei Shonagon (Records of civilization: sources and studies, no.77 / UNESCO collection of representative works: Japanese series). Translated and edited by Ivan Morris. New York, Columbia University Press, 1967. (archive.org)

[8] Zitiert nach Texttafel in der Ausstellung.

[9] Siehe Lee Mingwei: Letter to Oneself (2020).

[10] Zur großen Zahl siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ Berlin 29. April 2020.

[11] Ai Xiaoming: Wuhan Diary. In: New Left Review 122 Mar/Apr 2020: A Planetary Pandemic. London 2020. (Artikel online)

[12] Anonym: Li Gi – Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche. Übersetzt von Richard Wilhelm Jena 1930. (Zeno)

[13] Ebenda.

[14] Chinese Text Project: Qu Li I, 1. (Englisch translation: James Legge) (ctext.org)

Der Geist der Maschine

Maschine – Geist – Intelligenz  

Der Geist der Maschine

Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum

Hegels plötzlicher Tod am 14. November 1831 trifft zusammen mit der Aufstellung der Granitschale im Lustgarten vor dem Alten Museum, wo sie heute wieder aufgestellt ist.[1] Sie ist einzigartig, gilt als „Biedermeierweltwunder“ und noch heute als größte geschliffene Schale aus Granit weltweit.[2] Da die Alte Nationalgalerie seit 12. Mai nach Zeitfensterkarten wieder geöffnet ist, stolperte der Blick des Berichterstatters bei Recherchen zu Spuren von Hegels Berliner Zeit über die beiden erhaltenen kleinformatigen Ölgemälde der Granitschale von Johann Erdmann Hummel. Getrennt nur durch den hier Kupfergraben genannten Spreearm wurde in unmittelbarer Nähe zu Hegels Wohnhaus, Am Kupfergraben 4a, nicht nur das Alte Museum zwischen 1825 und 1830 nach Plänen von Friedrich Karl Schinkel erbaut, vielmehr wurde seit November 1828 daneben die Granitschale geschliffen.

Das künstlerische Wunderwerk der Granitschale trifft insofern auf Hegels Phänomenologie des Geistes, die eine Philosophie vom Kunstwerk als „Kunst-Religion“ enthält und deren „Vorrede“ er kurz vor seinem Tod bearbeitet haben soll.[3] Johann Christian Gottlieb Cantian, der wie Hegel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt ist, hatte im Auftrag von Friedrich Wilhelm III. seit 1826 die Granitschale angefertigt. Natur und Geist treffen auf ungeahnte Weise aufeinander. Cantian stellt nicht nur Berechnungen an, um eine größtmögliche Scheibe von einem Findling, dem Großen Markgrafenstein, abzuspalten, er wendet die Geometrie ebenso an, um aus der Granitscheibe, eine Schale nach antiker Form zu schleifen. Mehr noch: er setzt eine Dampfmaschine ein, um die langwierige Schleif- und Polierarbeit zu bewältigen. Was heißt der Einsatz einer Maschine für den Geist der Hegelschen Philosophie?

Am 14. November 1831 treffen widerstreitende Wissensformationen von Epidemie-Kurve und Normalität aufeinander. Wie in der vorausgegangenen Besprechung über Hegels Tod, dessen widerrechtliche Bestattung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof und divergierende Erzählungen thematisiert, geht es um Formate vom Seuchentod, von der Vollendung und vom schönen Tod.[4] Mit der Aufstellung der Granitschale werden gleichzeitig längerfristige Planungen und Berechnung vollzogen und umgesetzt, als handle es sich um einen normalen Tag. Während der Cholera-Epidemie seit etwa September gingen anscheinend die abschließenden Arbeiten an der kalkulierten Aufstellung der überdimensionalen, extrem schweren Schale aus Naturstein weiter. Für die Aufstellung auf einem Sockel vor dem Museum musste wie bei vorausgegangenen Phasen eine Holzkonstruktion eingesetzt werden, um das Kunstwerk unter Beteiligung etlicher Arbeitsmänner an seinen Platz zu befördern. Trotzdem erfolgte Aufstellung nur „provisorisch()“ wie eine Aufschrift als Teil des Rahmens noch heute verrät. Das gibt einen Wink auf die Berechnungen und die Probleme, die daraus entstanden waren.  

In der Phänomenologie des Geistes führt Hegel 1807 den Begriff „Werkmeister“ ein. Er zeichnet sich durch sein „instinktartiges Arbeiten aus“, das Hegel mit einer Naturbeobachtung beschreibt. Denn der Werkmeister arbeite, „wie die Bienen ihre Zellen bauen“.[5] Das instinktive Arbeiten des Werkmeisters ist unterdessen nach Hegel nur eine Erscheinung des Geistes – nicht zuletzt, weil es dem Modus einer Wiederholung unterliegt. Bienen bauen immer nur die fast gleichen „Zellen“. Deshalb wird der Werkmeister lediglich als eine Vorstufe des Geistes einschränkend gebraucht. Denn „(d)er Geist ist K ü n s t l e r“.[6] Das Verhältnis von Werkmeister und Künstler muss von Hegel in Bezug auf den Geist und nicht nur die geistige Tätigkeit geklärt werden. Der Werkmeister mit seiner Handlungsstruktur der „Vermischung“ muss von natürlichem und bewusstlosem Arbeiten gereinigt werden[7], damit der Geist zum Künstler werden kann.
„In dieser Einheit des selbstbewußten Geistes mit sich selbst, insofern er sich Gestalt und Gegenstand seines Bewußtsein ist, reinigen sich also seine Vermischungen mit der bewußtlosen Weise der unmittelbaren Naturgestalt. Diese Ungeheuer an Gestalt, Rede und Tat lösen sich zur geistigen Gestaltung auf, – einem Äußern, das in sich gegangen, – einem Innern, das sich aus sich und an sich selbst äußert; zum Gedanken, der sich gebärendes und seine Gestalt ihm gemäß erhaltendes und klares Dasein ist. Der Geist ist K ü n s t l e r.“[8] 

Hegels Reinigungsphantasie des Werkmeisters zum Künstler, um den Geist vom Natürlichen oder auch Tierischen zu reinigen, wird zu einem – beispielsweise mit der größten Granitschale – Problem. Gilt Cantian nur als Werkmeister oder als Künstler? Ist die „Gestalt“ der Schale ein „Ungeheuer“? Welche Rolle spielt das mathematische Wissen für die Herstellung der Schale? Wie ist das in der Granitschale sozusagen verkörperte Wissen in der Forschung marginalisiert worden? Wie stellt Johann Erdmann Hummel in seinen Gemälden das Verhältnis von Mensch und Natur dar? Wie wird die Maschine zugleich dargestellt und versteckt? Wie wird Cantian unter der provisorisch aufgestellten Granitschale visualisiert? Wie machen die Spiegelungen auf der Oberfläche der Granitschale das Große klein? Geht von den Spiegelungen ein Schrecken aus? Wie wird die Beherrschung der Natur in einem der härtesten Steine als Materie und Material zu einer Schwierigkeit? Warum wird die Aufstellung der Granitschale zu einem Problem der Größe und der Werte? Welchen Wink geben die Versetzung und Wiederaufstellung der Granitschale vor dem Alten Museum im Jahr 1997? Auf bedenkenswerte Weise wird das vermeintlich biedermeierliche Weltwunder mit seinen lexikologischen Verbindungen zu Beschaulichkeit, Betulichkeit, Gemütlichkeit, Idyll zu einem Schauplatz der Widersprüche.[9]

Hegel kommt in seiner Phänomenologie des Geistes einmal auf die Maschine zu sprechen. Im Abschnitt der „Beobachtung der Natur“[10] durch die „Beobachtende Vernunft“ schreibt er ausführlicher über den „Vernunftinstinkt“. Er unterscheide den Menschen zwar vom Tier, doch „(s)eine Befriedigung“ folge nur einem „Zweck als D i n g“.[11] Deshalb wird es Hegel wichtig, die Unangemessenheit dieser Art Zweck als das „Organische“ vom Verstand abzutrennen. Denn das Organische kenne nur „das zweckmäßige Tun als solches“.[12] Dieses Tun des Individuums sei aber noch zweckloser als das Tun einer Maschine, deren Wirksamkeit wenigstens „einen bestimmten Inhalt“ habe.
„Was das Organische zur Erhaltung seiner selbst als Individuum, oder seiner als Gattung tut, ist daher diesem unmittelbaren Inhalte nach ganz gesetzlos, denn das Allgemeine und der Begriff fällt außer ihm. Sein Tun wäre sonach die leere Wirksamkeit ohne Inhalt an ihr selbst; sie wäre nicht einmal die Wirksamkeit einer Maschine, denn diese hat einen Zweck, und ihre Wirksamkeit hierdurch einen bestimmten Inhalt.“[13]  

Auf welches Maschinenmodell bezieht sich Hegel um 1807? Arbeitet bei ihm schon im Hintergrund eine Dampfmaschine? Die „Maschine“ wird von Hegel vor allem gegen die Genußmaschine in L’Homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie formuliert, deren Zweck und Wirksamkeit mit der Befriedigung der volupté durch die jouissance angeschrieben wird.[14] Sie funktioniert nach dem Modell der Uhr als Maschine zum Messen der Zeit und ihres Ineinandergreifens von Zahnrädern.[15] Das Maschinenmodell wird sich bei Hegel selbst dann nicht verändert haben, als er 1817 die Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse veröffentlicht, obwohl er sich nun den der Maschine verwandten Begriff des „Mechanismus“ für sein Philosophieren nutzbar macht. [16] Als Ludwig Boumann 1845 den dritten Teil der Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, „Die Philosophie des Geistes“, in der Werkausgabe herausgibt, hat sich der Maschinenbegriff postum in § 526 leicht verschoben. Nunmehr geht es um einen gesellschaftlichen Aspekt der Maschine, der sich in Hegels zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften so nicht finden lässt.
„Die damit zugleich abstraktere Arbeit führt einerseits durch ihre Einförmigkeit auf die Leichtigkeit der Arbeit und die Vermehrung der Produktion, andererseits zur Beschränkung auf eine Geschicklichkeit und damit zur unbedingten Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange. Die Geschicklichkeit selbst wird auf diese Weise mechanisch und bekommt die Fähigkeit, an die Stelle menschlicher Arbeit die Maschine treten zu lassen.“[17]

Die Maschine geistert auf unterschiedliche, gar widersprüchliche Weise durch die Ausgaben von Hegels Schriften und Werken. Bei Boumanns Herausgabe kündigt sich über die Maschine eine Veränderung und moderner Widerspruch zur „menschliche(n) Arbeit“ an. Ludwig Boumanns ca. 14 Jahre verspätete Herausgabe der Philosophie des Geistes schreibt bereits die industrielle Produktion als Problem im „System der Bedürfnisse“ an, das Hegel selbst bis 1831 auch deshalb verborgen bleibt, weil die Dampfmaschine am Packhof nahe dem Schloss und ein paar Hundert Meter entfernt von Universität und Wohnhaus ein Unikat bearbeitet. Sie treibt eine Schleif- und Poliermaschine von kaum vorstellbarer „Einförmigkeit“ an, um die herum mit dem ungeheuer großen und schweren Granitstein eine Holzkonstruktion mit Fenstern gebaut worden ist. Die runde Granitscheibe, die binnen 2 Jahre zu einer Schale geschliffen wird, hat schließlich einen Durchmesser von 6,91 Meter und ein Gewicht von ca. 75 Tonnen.[18] Während Hegel in seiner Kunstphilosophie das „Geradlinigte und Ebne des Kristalls“ als „künstlerischen Geist“ feierte, entgeht ihm der Schliff der Granitschale durch eine Maschine in seiner Nähe. Hätte er daran doch seine Philosophie diskutieren oder gar bestätigt finden können.
„(…) der Begriff streift das ab, was von der Wurzel, dem Geäste und Geblätter, worin das Geradlinigte und Ebne des Kristalls in inkommensurable Verhältnisse erhoben ist, so daß die Beseelung des Organischen in die abstrakte Form des Verstandes aufgenommen und zugleich ihr Wesen, die Inkommensurabilität für den Verstand erhalten wird.“[19]

Eduard Gärtner: Klosterstraße mit Parochialkirche (1830)

In der Encyklopädie wird im Unterschied zur Phänomenologie die Intelligenz in der Kategorie „Der theoretische Geist“ wichtig.[20] Insofern wird der Geist weiter aufgespalten und systematisiert. Doch bei allem Bestreben die Intelligenz genauer zu bestimmen, wird sie auch mit einer elastischen Formulierungen in 20 Paragraphen mit Unterteilungen auf 12 Seiten als eigentümliche „Dialektik“ bedacht. Denn ein Problem der Intelligenz stellen ihre Vielfältigkeit, die „Menge der Formen“ und Zufälligkeit, ja, ihre Flüssigkeit dar. Beobachten lässt sich bei Hegel in der Encyklopädie, dass sich die Intelligenz als „Dialektik“ und „reine Sujektivität“ schwer fassen lässt. Die Intelligenz wird selbst zur „Dialektik“.

„§. 368

.. – Dieser B e g r i f f und die Dialektik ist die Intelligenz selbst, die r e i n e  S u b j e k t i v i t ä t des Ich, in welcher die Bestimmtheiten als flüssige Momente, und welche das absolut-C o n c r e t e , die N a c h t des Selbst ist, in welcher die unendliche Welt der Vorstellungen, welche jede Intelligenz ist, so wie die eigene  B e s t i m m u n g e n ihrer Thätigkeit, welche als Kräfte genommen worden, a u f g e h o b e n sind. Als das einfache Identische dieser Mannichfaltigkeit bestimmt sie sich zu dieser E i n f a c h h e i t einer Bestimmtheit, zum V e r s t a n d e , zur Form einer Kraft, eine isolirten Thätigkeit, und faßt sich als Anschauung, Vorstellungskraft, Verstandes=vermögen u. s. f. auf. Aber dieses Isoliren und die Abstractionen von Thätigkeiten und diese Meynungen von ihnen sind nicht der Begriff und die vernünftige Wahrheit ihrer selbst.“[21]

Die Intelligenz als „Dialektik“ wird für Hegel jener Raum und Schauplatz, mit dem er paradoxer Weise die Seele zu retten beansprucht. Während erwartet werden dürfte, dass die Intelligenz in ihren Wissensformen dem Glauben an die Seele widerspricht, ermöglicht es die Dialektik quasi ihr Überleben. Die Intelligenz wird damit bei Hegel zu einer gewissermaßen eigensinnigen Dialektik. Sie wird zum vielfältigen Wissen zwischen „Gefühl“ und „reproduktiver Einbildungskraft“ (§ 376), mathematischer „Subsumption“ (§ 377), zeichenhaftem „Gedächtnis“ (§ 379) und „Denken“ (§ 385) zum Zweck des „freye(n) Willen(s)“ (§ 387). Zwischen „dumpfe(m) Weben des Geistes“ und freiem Willen wird die Intelligenz vielfältig tätig. Eine genauere Beschreibung zu ihrer Messbarkeit, wie sie um 1900 z. B. von Hugo Münsterberg entwickelt und ausgeübt wird[22], bleibt aufgespart. 

„§. 369.

Die Intelligenz ist als S e e l e unmittelbar bestimmt, als B e w u ß t s e y n ist sie im Verhältnis zu dieser Bestimmtheit als zu einem äußern Objecte; als Intelligenz findet sie sich so bestimmt; so ist sie 1) G e f ü h l, das dumpfe Weben des Geistes in sich selbst, worin er sich s t o f f a r t i g ist, und den ganzen S t o f f seines Wissens hat. Um der U n m i t t e l b a r k e i t willen, in welcher der Geist als fühlend oder empfindend ist, ist er darin schlechthin nur als e i n z e l n e r und s u b j e c t i v e r.“[23]

Die Intelligenz als ein Wissen aus Mathematik, Vorstellung und „reproduktiver Einbildungskraft“ kommt bei der Anfertigung der Granitschale durch Cantian zum Zuge. Wie Sybille Eichholz erforscht hat, stellt Cantian wiederholt Berechnungen an, um den Großen Markgrafenstein in den Rauenschen Bergen bei Fürstenwalde an der Spree östlich von Berlin zu vermessen, zu wenden, zu spalten, zu transportieren, zu formen durch schleifen, zu wenden und aufzustellen. Es ist gewissermaßen eine komplexe Ingenieurleistung, die das monumentale Kunstwerk zu einer Zeit hervorbringt, als die Berufsbezeichnung des Ingenieurs kaum gebräuchlich ist. Zum Wenden des Findlings fertigte Cantian eine Zeichnung an. Denn der Rohling soll nicht senkrecht, sondern waagerecht abgespalten werden. Dafür werden 95 Eisenkeile eingesetzt. Für die Wendung des Rohlings muss eine aufwendige Holzkonstruktion in den Rauenschen Bergen aufgebaut werden, die in einer maßstabsgetreuen Zeichnung überliefert ist.[24] Um die Abspaltung kalkulieren zu können, bedarf es nicht zuletzt einer Materialkenntnis des Steinmetzes. Der Transport erfordert weitere Berechnungen und Planungen:
„Der Transport aus den Bergen bis zum Schiff dauerte 6 Wochen. Täglich kam man 600 Fuß (188 Meter) voran. Das Transportschiff aus Holz war 126 Fuß (39,5 Meter) lang, 17 Fuß (5,3 Meter) breit und etwa 5 Fuß (1,6 Meter) hoch und speziell für diesen Transport ausgesteift.“[25]   

Für die Berliner Granitschale gibt es ein Vorbild aus der Antike. Die Porphyr-Schale befindet sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Sala Rotunda des Vatikan.[26] Sie hat bereits um 1818 einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt, als z.B. der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen, Professor an der Universität zu Breslau und seit 1824 in Berlin, seine Briefe in die Heimat u.a. aus Italien, genauer Rom sendet und als Buch veröffentlicht mit dem Hinweis auf eine „sehr große, zierlich ausgearbeitete Porphyr-Schale“.[27] Anders gesagt: selbst wenn die Porphyr-Schale keine genaueren Beschreibungen erfahren hat, gehört sie als Sammlungsstück der Vatikanischen Museen seit dem 17. Jahrhundert zu den Attraktionen, die auf der Grand Tour gesehen werden. Englische Adelige wie William Cavendish, 6. Herzog von Devonshire, Winckelmann und Goethe sowie Cantian kannten die Porphyr-Schale. So war es denn auch der Herzog von Devonshire als englischer Gesandter in Berlin, der 1826 auf der Akademie-Ausstellung in Berlin eine „kreisrunde Granitschale mit 6 Fuß (1,83 Meter) Durchmesser und zwei weitere kleinere Schalen“ von Cantian orderte.[28] Das Profil der Granitschale entspricht dem der Porphyr-Schale.[29] Schließlich sicherte Cantian „die Lieferung einer Schale mit 17 Fuß (5,34 Meter) Durchmesser zu und betonte, dass sie noch beeindruckender ausfallen werde, als „die herrliche Porphyrschale aus Neros Goldenem Haus in der Sala Rotunda des Vatikans““.[30]

Doch die Größe von Cantians Granitschale wird zum Problem. Sie sollte wie die Porphyr-Schale in der Sala Rotunda in der Rotunde von Karl Friedrich Schinkels Museum aufgestellt werden. Es geht also um eine Kopie und Vergrößerung des römischen Vorbildes, die misslingt. Die Granitschale wird nicht nur in den optischen Proportionen zu groß, sie gefährdet mit ihrem Gewicht auch die Statik der Rotunde. Die sorgfältig berechneten Planungen werden insofern von der Faszination durch den sehr großen Naturstein, seine nicht zuletzt maschinelle Bemeisterung und dem Streben nach Größe durchtrieben. Cantian hat sich sozusagen verrechnet, obwohl und weil er ein Weltwunder mit den technischen Mitteln seiner Zeit geschaffen hat. Er hat, mit Hegel gesagt, ein „Ungeheuer an Gestalt“ geschaffen. An der Granitschale wird nicht zuletzt das Drama einer Vermischung von Natur und Geist ausgetragen. Schließlich kommt es zwischen Cantian und Schinkel zu einem Disput darüber, wie die Schale vor dem Museum aufgestellt wird. Cantian wollte die Schale auf hohe Säulen aufstellen, Schinkel wollte sie bodennah quasi herabsetzen. Schinkel setzte sich durch.

JOH. ERDMANN HUMMEL 1769 – 1852
DIE GRANITSCHALE im LUSTGARTEN zu BERLIN (IN PROVISORISCHER AUFSTELLUNG)

Die kleinformatigen Gemälde – 75,0 cm x 45,0 cm Granitschale beim Schleifen und 89,0 cm x 66,0 cm Granitschale im Lustgarten – von Johann Erdmann Hummel in der Alten Nationalgalerie machen das Große, das Ungeheure klein. Ein drittes, größeres Gemälde, das das Umdrehen der fertiggeschliffenen Schale am Packhof mit einer aufwendigen Holzkonstruktion und durch Winden gesteuerte Seile im Jahr 1831 dokumentierend darstellte, ist II. Weltkrieg verlorengegangen.[31] Mit großem Detailreichtum für die visuellen Effekte auf der polierten Granitoberfläche verarbeitet Hummel in seinen Gemälden nicht nur ein optisches Wissen, vielmehr inszeniert er daran ein Verhältnis von Natur, Kunst und Größe, das auch verstört. Auf der Oberfläche der Schale spiegeln sich nicht nur Fenster, eine Seelandschaft und Menschen. Sie werden durch die Krümmung auch verzerrt und verkleinert. Der Wunsch nach Größe und Erhöhung, wie er von Cantian mit dem Wunsch nach einer Aufstellung der Schale auf Säulen angedacht wird, nimmt in den Spiegelszenarien eine gegenläufige Wendung. Cantian mit Zylinder als Bezwinger des Natursteins spiegelt sich winzig auf der unterseitigen Oberfläche. Der Physiker Hans Joachim Schlichting hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hummel in Granitschale im Lustgarten, die Licht- und Schattenverhältnisse genau bedenkt und sichtbar macht.
„Das Gesicht des Mannes mit dem Handstock wird so hell beleuchtet, dass es am beschatteten Boden der Granitschale wie in einem Spiegel reflektiert wird. Da im beschatteten Bereich kaum Streulicht auftritt, wirkt dieser Bereich wie ein fast perfekter Spiegel. Statt eines Teils der Granitschale sieht man den kopfstehenden Kopf eines sein Spiegelbild betrachtenden Mannes.
Anders ist es beim Soldaten im Vordergrund. Sein anamorphotisch verzerrtes Spiegelbild hebt sich nur undeutlich aus dem granitfarbenen Untergrund heraus. Denn er steht im Schatten und trägt dunkle Kleidung, so dass er nur wenig Licht zur Schale strahlt.“[32]  

Doch Hummel verarbeitet in seinen Gemälden nicht nur das Wissen der Optik mit der Granitschale, vielmehr lässt er auf der spiegelnden Oberfläche der Granitschale beim Schleifen mittig das Spiegelbild einer von Wald umgebenen Seeoberfläche, auf der sich Wolken spiegeln, erscheinen. Doch dieses Spiegelbild ist eine Imagination von Natur, die es am Standort der Schleifmaschine nicht gegeben haben kann. Um den Packhof am Kupfergraben und auf dessen anderem Ufer standen Gebäude. Die spiegelverkehrte Abbildung der Natur im Dampfmaschinenhaus ist eine imaginäre. Obwohl Hummel den Mechanismus der Schleifmaschine mit dem Zahnrad, Zahn für Zahn detailgenau bis auf die Schrauben und Rostflecken malt, bleibt doch die Antriebskraft der Dampfmaschine verborgen, um nicht zu sagen, versteckt. Ein Wasserspiegel auf dem Schalenboden wird bis auf die schmale Abflußkante genau gemalt. Die Konstruktion der Poliermaschine spiegelt sich detailliert und abgeschattet im Wasserfilm. Anders gesagt: Die Maschine wird bei Hummel zu einer komplexen Spiegelmaschine, die sich in Einzelspiegelungen auflöst. Erst dann, wenn sich die vielfachen und unterschiedlichen Spiegelungen erschließen, wird das Bild sichtbar, lässt sich aber nicht mehr in einer Einheit sehen. Seit den 1820er Jahren hatten sich auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor gegenüber den Begräbnisplätzen Maschinenbauer wie Franz Anton Egells oder Julius Conrad Freund angesiedelt, um Dampfmaschinen zu konstruieren.

Für die Granitschale als Wunderwerk der Ingenieurskunst und der Maschinenbauer, denn ohne diese wäre der faszinierende Schliff gar nicht möglich geworden, stellen sich im Jargon schnell diverse Spitznamen wie „Suppenschüssel“ und „Granitbecken“ sowie für den Maler „Perspektiv-Hummel“ ein.[33] Die Spitznamen verkleinern das Wunder und machen das Inkommensurable kommensurabel. Durch die Aufstellung im Freien wurde der Spiegelglanz, der die Größe sozusagen noch überstrahlte, vergänglich. Ohne den Glanz und die Spiegeleffekte ist die Granitschale heute nur noch groß. Auch Johann Christian Gottlieb Cantian spiegelt sich verschattet, verzerrt und verkleinert auf der Oberfläche der Granitschale in Hummels Gemälde. Optisch mag das richtig erfasst sein, doch visuell spielt dem Künstler, Steinmetz und Ingenieur sein Werk damit einen Streich.

Torsten Flüh

Alte Nationalgalerie
(Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie:
Buchung eines Zeitfensters, 1,5 m Abstand, Mund- und Nasenschutz)
Dienstag bis Sonntag 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Online-Zeitfensterticket

Altes Museum
(Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie:
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Dienstag bis Sonntag 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Online-Zeitfensterticket

Granitschale im Lustgarten
(Bitte beachten Sie die allgemeinen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie: 1,5 m Abstand, kein Mund- und Nasenschutz notwendig, Gruppen bis 10 Personen, ab 25. Mai 2020 werden Stadtrundfahrten und -führungen erlaubt – Stand 07.05.2020)

Überrest des Großen Markgrafensteins in den Sandbergen bei Rauen auf einer Höhe von ca. 129 m nach weiterer Drehung mit der Abbruchkante aus vermutlich touristischen Gründen. Die Gegend wird 1825 nicht bewaldet gewesen sein.

[1] Jutta Schneider: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 1997. Über: Sibylle Einholz: Die Große Granitschale im Lustgarten. Zur Bedeutung eines Berliner Solitärs. Luise Berlin S. 114. (Link)

[2] Siehe: Biedermeierweltwunder. In: Academic (Deutsch Wikimedia).

[3] Wolfgang Bonsiepen: Einleitung. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. (Herausgegeben von Hans Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont). Hamburg: Meiner, 1988, S. LV.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Das „Gewebe der Penelope“. Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Mai 2020.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 455.

[6] Ebenda S. 458.

[7] Ebenda.

[8] Ebenda.

[9] Siehe „Typische Verbindungen zu >biedermeierlich<“ In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. biedermeierlich.

[10] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 166-200.

[11] Ebenda S. 177.

[12] Ebenda S. 178.

[13] Obwohl in der Ausgabe der Phänomenologie von Wessels und Clairmont an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf das Werk von Julien Offray de La Mettrie hingewiesen wird (Siehe S. 630), spielt Hegel doch weitaus häufiger auf La Mettrie wie eben mit dem Begriff Maschine an. Ebenda.

[14] Siehe: „La Volupté des sens, quelque aimable & chérie qu’elle ſoit, quelques éloges que lui ait donnés la plume apparemment reconnoissante d’un jeune Medecin françois, n’a qu’une ſeule jouïssance qui est son tombeau. Si le plaisir parfait ne la tüe point sans retour, il lui faut un certain tems pour ressusciter. Que les resources des plaisirs de l’esprit sont différentes ! plus on l’approche de la Vérité, plus on la trouve charmante. Non seulement sa jouissance augmente les desirs ; mais on joüit ici, dès qu’on cherche à jouir.“/ „Die Wollust der Sinne, so liebenswert und süß sie auch sein mag, ein Lob, das ihm von der anscheinend dankbaren Feder eines jungen Arztes zuteil wurde, hat nur einen Genuss, der das Grab war. Wenn perfektes Vergnügen sie nicht im Gegenzug tötet, dauert es eine gewisse Zeit, bis sie wiederbelebt ist. Wie unterschiedlich sind die Freuden des Geiestes? Je näher du der Wahrheit kommst, desto charmanter ist sie. Nein, nur Genuss erhöht die Wünsche; aber wir genießen hier, sobald wir versuchen zu genießen.“ La Mettrie in seinem an den Mediziner Albrecht von Haller in Göttingen adressierten Brief als Einleitung zu L’Homme Machine 1748 (Wikisource)

[15] Vgl. zum Maschinenmodell und den Zahnrädern: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[16] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg: Oßwald, 1817, §. 142. S. 101.

[17] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Dritter Theil. Philosophie des Geistes. (Herausgegeben von Ludwig Boumann) Berlin: Duncker und Humblot, 1845, S. 396, § 526.

[18] Siehe Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[19] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 462.

[20] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie … [wie Anm. 15] S. 238-250.

[21] Ebenda S. 240-241.

[22] Siehe: Torsten Flüh: Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit. Zu Mike Savages Mosse-Lecture über das Semesterthema Klassenfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2020.

[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie … [wie Anm. 15] S. 241.

[24] Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist der Große Markgrafenstein vermutlich aus touristischen Gründen, um seine Größe zur Geltung zu bringen, wieder in die Senkrechte gedreht worden. Sie Foto und: Bilddatei Blatt Nr.2 „Drehen der Schale am Markgrafenstein“ (Wikimedia)

[25] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[26] Siehe: Musei Vaticani: Sala Rotonda.

[27] D. Friedrich Heinrich von der Hagen: Briefe in die Heimat aus Deutschland, der Schweiz und Italien. Dritter Band. Breslau: Josef Max, 1819, S. 96/97.

[28] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[29] Siehe: 14 Granitschale vor dem Museum in Berlin. (deacademic)

[30] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[31] Johann Erdmann Hummel: Die Granitschale auf dem Transport. (135 cm x 190 cm) In: Vorstand der Deutschen Jahrhundertausstellung (Herausgeber): Katalog zur Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin. München: F. Bruckmann, 1906. (Wikimedia)

[32] Hans Joachim Schlichting: Sehen lernen, was offen vor unseren Augen liegt. Optische Alltagsphänomene unter dem Blickwinkel der Physik. Undatiertes Manuskript. (PDF)

[33] Leonie Gehrke: JOHANN ERDMANN HUMMEL: DAS SCHLEIFEN DER GRANITSCHALE & DIE GRANITSCHALE IM LUSTGARTEN, 1831. In: Sensetheatmophere 21. Juli 2013.

Das „Gewebe der Penelope“

Staat – Vernunft – Recht

Das „Gewebe der Penelope“

Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie

Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnert einmal an Penelope. Seine „Vorrede“ zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts eröffnet er 1821 in Berlin mit einer mythologischen Redewendung, „das, was die Philosophie vor sich bringe, sei ein so übernächtiges Werk, als das Gewebe der Penelope, das jeden Tag von vorne angefangen werde“.[1] Um an kein Ende für das Totentuch ihres Schwiegervaters zu kommen, trennt die Gemahlin des Odysseus jede Nacht das Gewebte wieder auf, um am nächsten Tag von neuem mit dem Weben zu beginnen. Hegel erinnert insofern an eine Praxis des Unfertigen. Im Namen Penelope selbst wird bisweilen die merkwürdige Tätigkeit des Webens und Auflassens mit πήνη (pēnē: Gewebe) und λέπειν (lépein: abreißen, abschälen) bedacht.[2] Für seine Grundlinien hat Hegel indessen Penelopes Arbeit am Text vom lateinischen textus wie Gewebe verworfen.

Eineinhalb Jahre nach dem Tod Hegels, der als Philosoph der Vernunft gilt, gibt Eduard Gans die Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse für die Werkausgabe heraus. Hegels Vorrede mit Penelope bleibt erhalten. Gans erinnert in seiner „Vorrede“ vom 29. Mai 1833 daran, dass, als Hegel im Wintersemester „1831 wieder einmal“ zum „Kollegium“ zur Philosophie des Rechts „zurückgekehrt war, (…) ihn, nach einigen Stunden, der Tod (übereilte)“.[3] Hegel verstarb am 14. November 1831 im Alter von 61 Jahren. In Berlin war zu jener Zeit eine Cholera-Epidemie ausgebrochen. Entgegen aller Vernunft wurde der „Verewigte“ nicht in einem mit Kalk präparierten Seuchengrab an der Liesenstraße, damals relativ weit außerhalb der Stadt, sondern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof unter Anteilnahme seiner Kollegen und Studenten der Berliner Universität auf Wunsch neben Fichte beigesetzt.

Die Todesursache von Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist in der Hegelforschung umstritten. Es gibt Stimmen, die weiterhin davon ausgehen, dass Hegel an der Cholera verstorben ist, wie jüngst Marco D’Eramo in seiner heftigen Replik auf Giorgio Agamben schreibt: „Hegel perished from cholera in 1831“.[4] Es gibt aber auch solche, die den Tod an der Cholera in Abrede stellen.[5] Unstrittig ist allerdings, dass „Hegel mit seiner Verknüpfung von Vernunft und Freiheit“[6] durch den Tod eine Art Ausnahmesituation unter den Freunden und Studenten der Berliner Universität auslöste.[7] Am 27. August jährt sich Hegels Geburtstag zum 250. Mal. Nach der Logik der Jahrestage sind Hegel und seine Schriften sozusagen in diesem Jahr und in diesen Monaten der Pandemie besonders im Schwange. Die Vernunft wird weitgehend zur Staatsräson nach der COVID-19-Epidemie-Kurve erklärt. Das ist gut so. Doch wie heute gab es in den Tagen des November 1831 Interessenkonflikte und einen Rechtsbruch, wie Olaf Briese erforscht hat.
„Aber zuvor wirkte noch eine Art retardierenden Moments: der öffentlich betrauerte Tod des Philosophen Hegel. Dieser Tod riß die Gebildeten Berlins zum letzten Mal aus der allseits schon beschworenen Sicherheit. Dennoch war er ein wichtiges Element der auch bei dieser Epidemie wirksamen Heilsökonomie – nicht nur, weil Hegels Begräbnis die strikte polizeiliche Weisung der anonymen Bestattung bei Nacht und Nebel auf abgelegenem Seuchenfriedhof mit Folgen für die ganze Stadt durchbrach.“[8]

Johann Gottlieb Fichte † 29. Januar 1814 / Georg Wilhelm Friedrich Hegel † 14. November 1831
Johanna Marie Fichte, geb. Rahn † 24. Januar 1819 / Marie Hegel, geb. von Tucher † 6. Juli 1855

Der Rechtsbruch, der mit Hegels „Leichenbegleitung“ (Marheineke) am 16. November 1831 verbunden ist[9], lässt sich Anfang Mai 2020 drastischer einschätzen, als er noch Anfang März empfunden werden konnte. Als solle das ganze Gewebe nicht nur der Penelope, sondern von Hegels Rechtsphilosophie über Nacht aufgelöst werden, begleiteten die Schüler und Kollegen vom großen Hörsaal der Universität Unter den Linden den „Unsterbliche(n)“ (Marheinke) über die Friedrichstraße bis vor das Oranienburger Tor auf den Friedhof der Dorotheenstädtischen Gemeinde.[10] Das Bakterium Vibrio cholerae ist 1831 noch unbekannt, die Seuchenärzte und die Polizei müssen von Ausdünstungen bzw. Miasmen in der Luft ausgehen.[11] Der kollektive Rechtsbruch hätte derzeit einen Einsatz der Berliner Polizei mit mehreren Hundertschaften, Straßensperren und Hubschraubereinsatz zur Folge, wenn man nur einmal an die Beisetzung einer Verstorbenen aus dem Remmo-Clan am 27. April denkt.[12] Der Hegel-Schüler und Berliner Jura-Professor Eduard Gans gab 1833 nicht nur die Grundlinien der Philosophie des Rechts heraus, vielmehr bezieht er sich schon 1824 in der „Vorrede“ zu seinem 4 bändigen Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung ausdrücklich auf dessen „Rechtsphilosophie“ und nahm trotzdem an der „Leichenbegleitung“ teil.[13]

Eduard Gans 22. März 1797 – 5. Mai 1839

Der Tod Hegels in Zeiten der Berliner Cholera-Epidemie ruft eine durch Olaf Briese gut zugängliche Produktion an zahlreichen Erzählungen in Listen, Reden, Gedichten, Briefen und Zeitungsnachrichten bis zu einer neuen, revidierten Kabinettsorder König Friedrich Wilhelm III. zur „Beerdigung der Cholera-Leichen auf den gewöhnlichen Begräbnißplätzen“[14] hervor. Die von Hegel „vorausgesetzt(e)“ Methode des „wissenschaftlichen Beweisens, diese speculative Erkenntnisweise überhaupt, die wesentlich sich von anderer Erkenntnisweise unterscheidet,“[15] wird mit seinem Tod zur Unzeit in Frage gestellt, weil bis auf den heutigen Tag nicht bewiesen werden kann, ob er an der Cholera verstorben war oder nicht. Stattdessen gibt es widerstreitende Texte, die wie Franz Adam Löffler als Nachruf an Hegel in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen selbst wiederum die Wissenschaft in Szene setzen.
„Den schönen Stolz der Erde zu verderben
Ruft eifersüchtig eine bess’re Welt
Den hohen Denker zu sich – er muß sterben,
Weil er dem Kreis der Seeligen gefällt;
Denn um an Ihm sich himmlisch zu entzücken,
Muß jene Welt den Theuern uns entrücken!

Die Hoheit seines Geist’s, des Herzens Tiefe
Führt‘ ihn auf eine wundervolle Flur:
Daß er den Glauben und das Wissen riefe
Zu einem Seyn; – ein Priester der Natur
Hat göttlich groß der Wissenschaft das Leben
In ihrem Seyn sein göttlich Seyn gegeben!
…“[16]

Clemenz August Carl Klenze 22. Dezember 1795 – 14. Juli 1838

Mit ungefähr einem Monat Verspätung auf das Ereignis wird Löfflers Nachruf, um Sinn ringend, in der „Beilage“ zu Berlins damals wichtigsten Zeitung veröffentlicht. Das Wissen und die Wissenschaft müssen von Löffler in etwas ungelenken Versen gerettet werden, um dem Tod doch noch einen Sinn zuzuschreiben. Die zwei Welten werden in einem Konkurrenzverhältnis aus antiker Mythologie und Seinslogik aufgerufen. Nicht nur werden Glauben und Wissen zu einer Vereinigung aufgefordert, vielmehr noch hat Hegel „göttlich groß der Wissenschaft das Leben/In ihrem Seyn sein göttlich Seyn gegeben“. Gleich dem Schöpfer der Wissenschaft muss er als quasi Gott und zugleich Priester sein Leben für jene geben. Es soll nicht weniger als nach Hegel der Widerspruch von Religion und Wissenschaft aufgelöst werden. Doch in Hegels Schriften lässt sich beobachten, wie Anspielungen aus der Religion z. B. auf das Schibboleth des Alten Testaments zu einer Wissens- und Wissenschaftsfrage vom Gesetz transformiert werden.   
„Die Form des Rechten als einer P f l i c h t und als eines G e s e t z e s wird von ihm (dem Volk, T.F.) als ein t o d t e r, k a l t e r  B u c h s t a b e und als eine F e s s e l empfunden; denn es erkennt in ihm nicht sich selbst, sich in ihm somit nicht frey, weil das Gesetz die Vernunft der Sache ist, und diese dem Gefühle nicht verstattet, sich an der eigenen Particularität zu wärmen. Das G e s e t z ist darum, […], vornehmlich das Schiboleth, an dem die falschen Brüder und Freunde des sogenannten Volkes sich abscheiden.“[17]

Friedrich Christian Adolf von Motz 18. November 1775 – 30. Juni 1830
Albertine Ernestine Luise von Motz, geb. von Hagen 17. Februar 1779 – 24. Dezember 1852

Das Schibboleth macht nur in seiner Funktion als mündlich ausgesprochenes Codewort Sinn nach dem Buch der Richter im jüdischen Tanach bzw. dem christlichen Alten Testament. In der biblischen Erzählung vom Sieg des Richters Jiftach über die Efraimiter geht es um ein Urteil nicht über ein Wissen oder Unwissen, vielmehr über eine Differenz in der Aussprache des Wortes Schibboleth, das paradoxer Weise in der Bedeutung von Strömung, Strom oder Flut gebraucht wurde. Doch dieses Wort wird benutzt, um die Efraimiter von den Angehörigen Gileads als eine Art Flüchtlingsstrom aufzuhalten und zu selektieren. Die Aussprache des Wortes Schibboleth und nicht der Sinn oder Inhalt, der sich aus seinem Gebrauch erschließt, entscheidet über Tod oder Leben. Auf diese Weise gibt Hegel einen Wink auf die Funktion des Gesetzes als Schibboleth. Das Abscheiden in einer binären Logik von 0 und 1 wird hier von Hegel mit der Anknüpfung an das Buch der Richter formuliert.
„5 Gilead schnitt Efraim die Jordanfurten ab. Und wenn die Flüchtlinge aus Efraim sagten: Ich will hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, 6 forderten sie ihn auf: Sag doch einmal Schibbolet! Sagte er dann Sibbolet, weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.“ (Richter, 12, 5-6)

Hegels Formulierung zum Verhältnis von Volk und Gesetz nach den Regeln der Wissenschaft wird auf zweierlei Weise lesbar. In historischer Perspektive auf seinen Tod und die „Leichenbegleitung“ nehmen sich die Freunde die widerrechtliche Freiheit, den Toten nicht wie vorgeschrieben „bei Nacht“ auf einem Seuchenfriedhof weiter außerhalb der Stadt an der Chaussee nach Oranienburg unbegleitet beisetzen zu lassen, vielmehr „wärmen“ sie „sich an der eigenen Particulariät“ und provozieren so sogar eine Gesetzesänderung, die die Regeln für „die Beerdigung der Cholera-Leichen“ aufweicht. In der aktuellen Perspektive der „Kontakt-Beschränkungen“[18] zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie gelten Beisetzungen für das Bundesland Berlin als „systemrelevant“ und „bis zu 20 Personen“ dürfen zusammentreffen, „sofern (es) aus zwingenden Gründen erforderlich (ist) (…) die anwesenden Personen [haben sich] in eine Anwesenheitsliste einzutragen, die mindestens die folgenden Angaben enthalten muss: Vor- und Familienname, vollständige Anschrift und Telefonnummer“.[19] Insofern schränkt das Gesetz heute weitaus weniger „Gefühle“ des Volkes ein, als es Hegel rechtsphilosophisch formuliert. Es ist allerdings erstaunlich, dass Stephan Laudien in seinem Interview mit dem Hegel-Experten Klaus Vieweg weiterhin wenigstens ungenau von „Kontaktsperren“ schreibt.[20]  

Karl Friedrich Schinkel 13. März 1781 – 9. Oktober 1841

Das Gesetz als „Vernunft der Sache“ wird aktuell bis auf die Ebene des Grundgesetzes diskutiert und durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes beispielsweise hinsichtlich eines Demonstrationsverbots oder der Ausübung der Religionsfreiheit abgeglichen. Während diese Entscheidungen oft mit Häme gegen die gesetzlichen Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) und seinen Ergänzungen seit März 2020 kommentiert werden, handelt es sich doch lediglich um eine Ausdifferenzierung und Abstimmung mit anderen Gesetzen. Das IfSG verfährt indessen sehr wohl nach der „Vernunft der Sache“, lässt sich sagen. Dies galt auch für die Maßnahmen gegen die Cholera-Epidemie im November 1831. Ist es also nur das Gefühl der Trauer, das den „Verein von Freunden des Verewigten“ – Karl Ludwig Michelet, Philipp Marheineke, Johannes Schulze, Eduard Gans, Leopold von Henning, Heinrich Gustav Hotho, Fritz Förster, Ludwig Boumann, Karl Rosenkranz etc. – zur Umgehung des Gesetzes veranlasst? Hegels Witwe Marie interveniert frühzeitig, wie aus einem Brief an ihre Mutter Susanne von Tucher vom 15. November hervorgeht:
„Man hat durch Vermittlung unseres Freundes Schulze (den ich zu seinem Ende holen ließ) es bewirkt, daß er mit allen Ehren, die seiner würdig, morgen als den dritten Tag nicht auf dem Choleraleichenwagen und Kirchhof, nicht bei Nacht, sondern Nachmittag 3 Uhr mit einem zahlreichen Gefolge auf den Kirchhof, wo Solger und Fichte ruhen, Marheineke eine Rede hält, begraben wird. – Welche Teilnahme, welche Bestürzung und Trauer von allen Seiten – sein Andenken lebt in Segen! –“[21]

Johannes Karl Hartwig Schulze 15. Januar 1786 – 20. Februar 1869

Erst am dritten Tag nach seinem Tod wird der Leichnam aus dem Wohnhaus Am Kupfergraben 4a zunächst in den nahgelegenen großen Hörsaal der Universität überführt, um anschließend auf dem „Begräbnisplatz für die Friedrich-Werdersche und Dorotheenstädtische Gemeinde“ neben Fichte begraben zu werden. Carl Ludwig Michelet und Philipp Marheineke halten ihre Reden in der Universität. Friedrich Förster spricht am Grab. Der Brief von Marie Hegel an ihre Mutter in Nürnberg gibt einen Wink, dass die Cholera als Todesursache als ehrlos oder zumindest die daraus folgende Bestattung als unwürdig empfunden wird. Die Cholera gilt als eine Seuche der armen Bevölkerung besonders in den Ansiedlungen vor der Stadtmauer wie den sogenannten „Familienhäuser(n)“ vor dem Hamburger Tor in der Gartenstraße.[22] Im 19. Band von Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke durch den „Verein von Freunden des Verewigten“ platziert eröffnend Karl Hegel 1887 zum Tod den Brief seiner Mutter an Friedrich Immanuel Niethammer vom 2. Dezember 1831. In diesem erzählt Marie Hegel die Besorgnisse ihres Mannes wegen seines „schwachen Magen(s)“ und wie er die Cholera-Kurve beobachtete, um Ende Oktober beruhigt wegen dem „Anfang der Collegien“ in die Stadt zurückzukehren. Das „Wort des Schreckens“ lehnt sie ab.
„… Wie es vorüber war, nannten die Ärzte seinen Tod intensive Cholera, eine Cholera ohne alle äußern Symptome, und machen mit diesem Wort des Schreckens dieß herrliche Ende in der Vorstellung zu etwas Grauenhaftem – darum schreib‘ ich zu Ihrer und anderer Freunde Beruhigung so ausführlich w i e  e s  w a r. — Er steht mir in seiner Vollendung – im Leben und im Tod so rein und so herrlich da …“[23]

Michelet, Marheinecke und Förster benutzen den Begriff Cholera in ihren Reden nicht. Vielmehr löst der Tod im Kontext der Cholera-Epidemie ein Problem des Wissens und der Wissenschaft ebenso wie der „Besitznahme“ aus, wie es sich nämlich bei der Benennung des Todes als „intensive Cholera, (…) ohne äußere Symptome“ im Brief an Niethammer angekündigt hatte. Der Akt der Benennung bzw. Bezeichnung kommt dem Schibboleth gleich. Das Wissen und die Wissenschaft, die sich um „äußer(e) Symptome“ für innere, tödliche Vorgänge herausbildet, fehlen. Marie Hegels Argumentation gegen den Tod als Cholera folgt durchaus dem medizinischen Wissen, das von zeichenhaften Symptomen auf Krankheiten schließt. Wogegen sie sich allerdings ganz im Sinne der Grundlinien wehrt ist „(d)ie Besitznahme durch die Bezeichnung“, die Eduard Gans 1833 als „Zusatz“ zu § 57 in den „Collegien“ ergänzt haben wird:
„Zusatz. Die Besitznahme durch die Bezeichnung ist die vollkommenste von allen, denn auch die übrigen Arten haben mehr oder minder die Wirkung des Zeichens an sich. Wenn ich eine Sache ergreife, oder formire, so ist die letzte Bedeutung ebenfalls ein Zeichen, und zwar für Andere, um diese auszuschließen, und um zu zeigen, daß ich meinen Willen in die Sache gelegt habe. Der Begriff des Zeichens ist nämlich, daß die Sache nicht gilt, als das, was sie ist, sondern als das, was sie bedeuten soll.“[24]   

Martin August Freund 8. März 1806 – 6. Januar 1827

Die Bezeichnung des Todes bzw. der Todesursache als Cholera wird nach Hegel selbst durch Gans zu einem Problem der „Besitznahme“ und des Abscheidens wie des Abschiedes. Bereits Carl Ludwig Michelet gibt in seiner kurzen „Vorlesungsansprache“ den an Hegel geschulten Ton der Trauerreden an. Der plötzliche Tod Hegels darf für den Historiker nicht dem Wissen der Mediziner überlassen werden. Im Diskurs der Geschichtswissenschaft muss der Tod gerade in seiner Plötzlichkeit in die Geschichte Preußens eingeordnet werden. Nicht zuletzt muss das „Eigenthum“ Preußens beansprucht und verteidigt werden.
„Unser Eigenthum, die Gedankenwelt der Philosophie, blieb unversehrt und unangetastet. Jetzt ist der Tod in unser Innerstes eingedrungen. Der späteste der grossen Genien, deren Gedanken ich Ihnen in dieser Vorlesung darzustellen bezwecke [Hegel], hat der Zeit das Zeitliche zurückgegeben. Ehren wir den grossen Mann, unser Aller Lehrer, und den Lehrer aller Philosophen für Jahrhunderte und Jahrtausende mit der letzten Ehre! Bestatten wir ihn heute feierlich!“[25]

„MARTIN AUGUST FREUND AUS UTHLEDE“

Der plötzliche Todesfall wird auch für den Theologen Marheineke zu einer Frage des Wissens. – Fragt man heute selbst kundige Menschen in Berlin-Kreuzberg nach der Grabstelle von Philipp Marheineke, kann es passieren, dass einer antwortet, er kenne wohl den Marheinekeplatz an der Bergmannstraße in Kreuzberg, habe sich allerdings nie gefragt, was oder wer Marheineke gewesen sei. Indessen liegen die Marheineke Markthalle und der Marheinekeplatz schräg gegenüber dem Friedhof II der Dreifaltigkeit-Gemeinde, wo Philipp Konrad Marheineke bestattet und die Grabstelle als Ehrengrab erhalten ist. – Doch Marheineke transzendiert einerseits den Geist und verteidigt gleichsam den „neuen Bau des Wissens“, den Hegel „gegründet“ habe.
„Wer so, wie unser entschlafener Freund, schon mitten in diesem Leben sich von sich, vom Ich und dessen Sucht, vom Schein und aller Eitelkeit zu befreien, sich in die ewige Wahrheit denkend zu vertiefen wußte, welches das Wirken des ewigen Geistes ist hinter allen vergänglichen Erscheinungen des Lebens in der Natur und Geschichte, wer so, wie dieser König im Reiche des Gedankens, einen neuen Bau des Wissens gegründet hat auf dem unwandelbaren Felsen des Geistes, der hat sich eine Unsterblichkeit errungen, wie wenige, der hat seinen Namen den glänzendsten und unvergeßlichsten unseres Geschlechts hinzugefügt, der hat vollbracht, was er selbst in einem seiner Werke sagt: „Das Leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurtheilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.““[26]

Philipp Konrad Marheineke 1. Mai 1780 – 31. Mai 1846

In dem Maße wie Philipp Marheineke als Theologe und Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, die an der Mauerstraße in der Friedrichstadt stand, den Geist zum Felsen erklärt, also gleichsam materialisiert, verwirft er den Tod insbesondere Hegels als Ende des Lebens. Der plötzliche und in gewisser Weise kaum erklärliche Tod an einer epidemischen und eben deshalb gleichmachenden Infektionskrankheit erschüttert nicht nur das Wissen in seinen Grundfesten und die Größe des „grossen Mann(es)“, vielmehr gleicht es den einzigartigen Geist auch ab. Um mit einer Formulierung den Geist zu retten, muss er vom Ich als Individuum abgelöst und in „das Wirken des ewigen Geistes (…) hinter allen vergänglichen Erscheinungen des Lebens in der Natur und Geschichte“ eingespeist werden. Dementsprechend wird Marheineke 1832 postum zum Herausgeber der zweibändigen Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Nebst einer Schrift über die Beweise vom Daseyn Gottes.

Friedrich Christoph Förster ordnet den Tod Hegels in seiner Grabrede gleichsam als Naturereignis ein, wenn er eröffnend an „das Gewitter, welches seit Monaten über unserer Stadt sich drohend lagert“ aus dem „plötzlich und unerwartet ein zuckender Strahl herabfährt und ein gewaltiger Donnerschlag (…) ein Unglück fürchten läßt“. Das Naturereignis und eine Mythologie des Unglücks werden von dem einundvierzigjährigen Förster gleichsam poetologisch bemüht. Seiner Poetologie des Widerspruchs gegen das Naturereignis gelingt es, die Widersprüche in Sätze zu fassen.
„So soll denn keine unwürdige Klage an seinem Grabe laut werden; allein er selbst, der Verewigte, gönnte dem tiefen Gefühle, der reinen Empfindung ihr Recht; die ihm näher standen, sahen oft in seinem Auge die Thräne der Wehmut und des Schmerzes glänzen, und wer, der ihn kannte, der ihn liebte wie wir, könnte bei diesem Abschiede sich der Thränen erwehren? …; solch‘ ein Verlust will nicht bloß empfunden, er will ausgesprochen seyn und wahrhafte Beruhigung werden wir erst dann gewinnen, wenn wir für unser inneres Seelenleid das Wort finden, und uns des Vorzuges bewußt werden, daß dies unser Schmerz ist, daß wir es sind, die ihn verloren haben, daß uns dieser Stern im dem Sonnensysteme des Weltgeistes geleuchtet hat!“[27]  

„Herr Johann Jacob Fröhlich
Bürger und Lederfabrikant allhier
geboren d. 24. Januar 1737
zu Bischweiler im Elsass
starb d. 6. Januar 1806
Er nahm das Lob eines redlichen
Mannes mit in das Grab

Im Unterschied zu Michelet und Marheineke appelliert Förster weniger an das Wissen, die Wissenschaft und den Geist, vielmehr kommen paradoxerweise Gefühle und Empfindungen zum Zuge. Sind es doch Gefühle und Empfindungen, die Hegel in seinen Schriften wie den Grundlinien diskreditiert und im Widerspruch zur Vernunft positioniert hat. Gefühle gehören nicht in die Wissenschaft der Logik, wie Hegel schon 1812 in Nürnberg schreibt: „Das Studium dieser Wissenschaft, der Aufenthalt und die Arbeit in diesem Schattenreich ist die absolute Bildung und Zucht des Bewußtseyns. Es treibt darin ein von sinnlichen Zwecken, von Gefühlen, von der bloß gemeynten Vorstellungswelt fernes Geschäfte.“[28] Doch im Moment des plötzlichen Todes in einer vom Wissen um die Cholera-Epidemie gesättigten Zeit, kehren ausgerechnet die Gefühle und Empfindungen als ein, so könnte man sagen, anderes Wissen vom Verlust und der Empathie wieder.

Torsten Flüh

Berlin-Feuerland (Führungen)
Begräbnisplatz der Friedrich-Werderschen
und Dorotheenstädtischen Gemeinde
Die Führungen ab 25. Mai 2020 (Standt 7. Mai. 2020)

Dorotheenstädtischer Friedhof
Chausseestraße 126
10115 Berlin
März – Oktober 8:00 bis 20:00 Uhr

Friedhof II Dreifaltigkeit-Gemeinde
Bergmannstraße 29-41
10961 Berlin
März – Oktober 8:00 bis 20:00 Uhr


[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin: Nicolai, 1821, S. IV. (Digitalisat)

[2] Johannes Schmidt: Penelope. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Band 3,2. Leipzig: Teubner, 1909, Sp. 1911-1914. (Digitalisat)

[3] Georg Wilhelm Friedrich Hegel/Philipp Konrad Marheineke (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. 8. Band. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel/Eduard Gans (Hg.): Grundlinien der Philosophie des Rechts). Berlin: Duncker und Humblot, 1833, S. XIV.

[4] Marco D’Eramo: The Philosopher’s Epidemic. In: New Left Review 122 Mar/Apr 2020: A Planetary Pandemic. London 2020, S. 24. (Article in NLR 122)

[5] Holger Althaus: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie: eine Biographie. München: Hanser, 1992, S. 578.

[6] Klaus Vieweg im Interview mit Stephan Laudien: Freies Entscheiden ist mehr als bloßes Auswählen. Uni Jena Meldung vom: 10. April 2020, 07:48 Uhr.

[7] Siehe Olaf Briese: Angst in den Zeiten der Cholera. Panik-Kurve, Berlins Cholerajahr 1831/32 Seuchen-Cordon II. Berlin 2003, S. 13.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda S. 304.

[10] Ebenda S. 303.

[11] Erst in den 1850er bildet sich durch Pettenkofer und Griesinger ein Wissen darüber heraus; dass „die Cholerainfection durch die Ausleerungsstoffe als allgemeine Thatsache anerkannt wird. Wilhelm Griesinger: Infectionskrankheiten. Erlangen: Enke, 1857, S. 260. (Digitalisat)

[12] Pascal Bartosz, Felix Hackenbruch: Polizei begleitet Beerdigung mit Hubschrauber und Straßensperren. Der Tagesspiegel 27.04.2020, 16:20 Uhr.

[13] Eduard Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung: eine Abhandlung der Universalrechtsgeschichte. Berlin: Maurer, 1824, S. XXXIX.

[14] König Friedrich Wilhelm III. an Ludwig Gustav v. Thile, o.O., 27. November 1831. In: Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 314.

[15] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien … [wie Anm. 1] S. IV

[16] Franz Adam Löffler: Nachruf an Hegel. In: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 297, 19. Dezember 1831, Erste Beilage, [S. 4]. In: Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 323.

[17] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien … [wie Anm. 1] S. XIV.

[18] Siehe zum Unterschied zwischen „Kontakt-Beschränkungen“ und „Kontaktsperre“: Torsten Flüh: Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken. Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2020.

[19] Bundesverband Deutscher Bestatter e.V.: Kompakt: Verordnungen und Maßnahmen der Bundesländer zu Covid-19. 24. April 2020.

[20] Klaus Vieweg im Interview mit Stephan Laudien: Freies … [wie Anm. 6]

[21] Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 300.

[22] [Anonym.] Berlin, 18. September. In: Morgenblatt für die gebildeten Stände, Nr. 232 und 233, 28. Und 29. September 1831. In: Ebenda S. 179.

[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. 19. Band, 1. Theil. Briefe von und an Hegel, hrsg. von Karl Hegel. Leipzig: Duncker und Humblot, 1887, S. 379-380. (Digitalisat)

[24] Georg Wilhelm Friedrich Hegel/Philipp Konrad Marheineke (Hg.): Georg … [wie Anm. 3] S. 97.

[25] Carl Ludwig Michelet [Vorlesungsansprache, Vormittag des 16. November 1831]. In: Carl Ludwig Michelet: Wahrheit aus meinem Leben. Berlin 1884. Zitiert nach: Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 302.

[26] Ebenda S. 303.

[27] Ebenda S. 304.

[28] Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg 1812, S. XXVII-XXVIII. (Digitalisat)

Der Geist der Zahl

Zahlen – Intelligenz – Epidemie

Der Geist der Zahl

Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus

Zahlen üben derzeit eine ungemeine Faszination aus. Täglich werden bisweilen mehrmals jüngste Zahlen zur Ausbreitung von COVID-19 veröffentlicht. Große Zahlen im Ranking der am Schlimmsten betroffenen Länder, besonders die Todeszahlen faszinieren am meisten, um Angst und Schrecken, bisweilen Unglauben oder gar eine leichte Häme auszulösen. Am 28. April erreichten, um nicht konkurrenzlogisch zu sagen, knackten die USA die Grenze von einer Million Corona-Infizierten. Eine Nachricht. Die immer neuen Zahlen, die mehr und mehr aufgeschlüsselt werden – „Weltweit“, „Deutschland“, „Bei Ihnen“, „Krankenhäuser“, „Die Covid-19-Pandemie im Schnellüberblick“, „Reproduktionszahl“ … –, verwandeln Menschen in Zahlen und Zahlen in Emotionen ebenso wie Wissen. Mit sinkenden oder steigenden Zahlen wird argumentiert und Politik gemacht. Doch nicht nur das, die Zahlen der Pandemie führen zu einer Umwertung der Werte, wenn es beispielsweise um die sogenannte „Schwarze Null“ im Bundeshaushalt geht.

Die Zahlen, nach denen in Deutschland seit mehr oder weniger 6 Wochen gehandelt wird, sind gespenstisch. Sie sind, wie bereits mehrfach erinnert und wiedergelesen wurde, ein Wiedergänger von Albert Camus‘ Roman Die Pest. Die „große Zahl“, die „Unzahl“ und das Zahlreiche kommen häufig im Roman in der Übersetzung von Uli Aumüller vor. Die Pest ist ein Kampf gegen die Zahlen und um die Zahlen. Schließlich entscheidet die Erzählerfigur Dr. Rieux gegen die „zahlreicher“ werdenden „bunten Sträuße am Himmel“, „den Bericht zu verfassen“, weil er ein „Zeugnis“ für diese Pestkranken „ablegen und wenigstens ein Zeichen zur Erinnerung an die ihnen zugefügte Ungerechtigkeit und Gewalt hinterlassen“ will.[1] Was weiß der Roman Die Pest von den Zahlen? Wie werden sie zum Medium des Wissens? Was lässt die Fixierung auf Zahlen indessen verschwinden, so dass Albert Camus‘ Arzt Bernard Rieux mit seinem „Bericht“ dagegenhalten will? Was verrät die Nachträglichkeit des Berichtes?

Der Arzt Dr. Bernard Rieux wird zu einem Überlebenden. Viele Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger in der Volksrepublik China, in Italien, Großbritannien und den USA etc. haben schon jetzt die Pandemie nicht überlebt. Sie sind an COVID-19 verstorben. Einzelne Geschichten bilden Blasen wie in einem Schlamm der großen Zahlen und steigen auf in die Nachrichten der globalen Medien. Einmal wurde in vielen Medien das Schicksal der italienischen Medizinstudentin Lorena Quaranta kolportiert, die von ihrem Freund erdrosselt wurde, weil sie in den Epidemie den Kranken helfen wollte und er davon ausging, dass sie ihn angesteckt habe.[2] Konnte er wirklich wissen, dass sie ihn mit dem Virus infiziert hatte? Wie verwandelt sich die Ursachenfragen in eine Mordtat? Was hatte sich Antonio alles erzählen müssen, um Lorena zu erdrosseln?

Anders als bei Albert Camus „194. in Oran“[3] herrscht derzeit eine Pandemie mit anderen und doch oft ähnlichen Effekten. Camus lässt offen, in welchem Jahr genau sein Roman spielt, und gibt damit zugleich einen Wink, dass der fiktive Bericht an keinen genauen Zeitpunkt gebunden ist. Zugleich wird La Peste noch 1947 veröffentlicht, wodurch eine temporale Unsicherheit entsteht. Ist sie bereits beendet? Oder dauert die Epidemie noch an, obwohl im Erzähltempus des Präteritums berichtet wird? Dieser Bericht bzw. „cette chronique“[4] wird temporal in einer bemerkenswerten Gegenwärtigkeit situiert. Erst am Schluss erklärt Dr. Rieux, wofür er seine „chronique“ geschrieben hat. Im Französischen überschneiden sich zudem das Substantiv chronique als Chronik oder Kolumne in einer Zeitung mit dem Adjektiv chronique als z.B. ein andauerndes Leiden.

Mehrere Leser wie der heute-journal-Moderator Claus Kleber lasen schon in der zweiten März-Hälfte Die Pest als Buch der Stunde. Es sei der Kampf eines Arztes gegen die Epidemie, der im Roman beschrieben werde. Am Ende wird die Pest in Oran besiegt, was mit einem Siegesfest wie nach einem Krieg gefeiert wird. Die Epidemie und der Krieg werden von Camus wiederholt aufeinander bezogen. Doch das Messen der Toten zieht sich quasi thematisch und poetologisch durch den Roman. Im Deutschen schwer zu übersetzen ist u.a. die Schlussformulierung „à mesure que les gerbes multicolores s’élevaient plus nombreuses dans le ciel“.[5] Das Messen (mesure) der zahlreicher werdenden (plus nombreuse) vielfarbigen Garben betont das Paradox der Darstellung durch Zahlen in zweifacher Hinsicht. Wie in der schrecklichen Epidemie machen die messbar zahlreicher werdenden vielfarbigen Garben (les gerbes) in ihrem Doppelsinn von Getreidebündeln und Abschüssen den Jubel sichtbar, um die einzelnen Toten verschwinden zu lassen.

Ein Pestausbruch, wie er von Albert Camus als Geschehen erzählt wird, hat so in Oran nicht stattgefunden. Das ist deshalb, wichtig zu bemerken, weil Leser*innen den Text häufig als Chronik und Wissen vom Verlauf der aktuellen Pandemie von COVID-19 verstehen. Die Pest ist eine fiktive Chronik, die unterschiedliche Quellen der Literatur zur Pest und Epidemie verarbeitet. 1943 hatte Raoul Maria de Angelis in Mailand den Roman La peste a Urana veröffentlicht. Doch der 304seitige Roman ist und war vermutlich schwer zu erreichen.[6] Gleichwohl hat Camus medizinische und epidemiologische Literatur verarbeitet. In einer entscheidenden Passage knüpft er an den spätantiken Historiker Prokopios von Caesarea an, dessen Geschichte der Persischen Kriege eine ausführlichere Passage zur Pest um 542 enthält, worauf zurückzukommen sein wird. Ferner erkrankte Camus 1932 an einer Tuberkulose, die ihn mit dem infektio- wie epidemiologischen Wissen konfrontiert haben dürfte. Doch der Roman hebt entschieden die Nachträglichkeit des Wissens als Geschehen – „« Ceci est arrivé »“[7] – hervor.
„Später begriffen wir, daß es Vorboten der ernsten Begebenheiten waren, von denen wir hier berichten wollen; sie werden den einen ganz natürlich, den anderen hingegen unwahrscheinlich vorkommen. Aber schließlich kann sich ein Chronist nicht auf solche Widersprüche einlassen. Seine Aufgabe ist es einzig, zu sagen: «Das ist geschehen», wenn er weiß, daß es wirklich geschehen ist, daß es das Leben eines ganzen Volkes anging und es also Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit des Gesagten ermessen können.“[8]

Im Roman kommen wie in dieser Eröffnungssequenz Zahlen und Zahlbegriffe häufig vor. Es werden nicht einzelne oder wenige „Zeugen“ aufgerufen, sondern „Tausende“, die die „Wahrheit des Gesagten ermessen“ oder schätzen werden („estimeront“) können. Damit kündigt sich bereits eine gewisse nummerische Logik des Romans an. Das Messen und Schätzen mit Zahlen regelt gewissermaßen die Epidemie und das Wissen von ihr. Gleichwohl bleibt dieses empirische Wissen strikt nachträglich, wie sich zeigen wird. Es kann eine Krux des Wissens von der Epidemie genannt werden, weil die nachträglichen Zahlen mit dem Wunsch nach einer Prognose verknüpft werden. Die Zahlen von Gestern sollen Auskunft darüber geben, was morgen passieren wird. In einer Epidemie wird die Krux besonders stark, weil sie mit einem Leiden an der Zahl verbunden wird. Die Epidemie kündigt sich zunächst mit einer „Unzahl toter Ratten“ – „la quantité de rats morts“[9] – an. Was sich nicht in Zahlen fassen lässt, macht Angst.   
„Der Arzt gab ihm die Hand und bemerkte, er könnte einen eigenartigen Bericht schreiben über die Unzahl toter Ratten, die man gegenwärtig in der Stadt finde.“[10]

Die große Zahl oder „grand nombre“[11] wird zu einer Schnittstelle des Wissens von der Epidemie. Ähnlich wie die Unzahl benennt die große Zahl das Aussetzen der Messbarkeit. An der großen Zahl, die nicht oder nur schwer beziffert werden kann, scheitert das Verständnis zumindest im Roman Die Pest, während aktuell die großen Zahlen ein Verstehen-wollen provozieren, weil sie durch weltweite Datenakkumulation vor allem vom Center of Systems Science and Engineering (CSSE) an der Johns Hopkins University erstellt werden. Die Forschungsgruppe des Center’s Systems ist ein offenbar führender Zusammenschluss der Fakultäten „Engineering, Public Health and Medicine“ mit dem gemeinsamen Interesse, „systems methods“ zu nutzen, um komplexe Probleme zu verstehen.[12] Doch zuvor wird das Problem der großen Zahl im Roman genauer mit den Ratten angeschrieben. 
„Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er schon von den Ratten gehört, die in großer Zahl ins Freie kamen und starben? Direktor Mercier hatte davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wußte es nicht, aber er war dafür, daß der Entrattungsdienst einschreite.“[13]

Wie Heinrich von Kleist in seinen Berliner Abendblättern beschreibt auch Albert Camus in seinem Roman das Entstehen von Gerüchten und Nachrichten, für die er die mehrdeutige Agentur Ransdoc „(renseignements, documentation, tous les renseignements sur n’importe quel sujet)“[14] erfindet. Diese Nachrichten-Agentur für Auskünfte, Hinweise, aber auch Belehrungen (renseingements), Dokumentation, alle Informationen zu jedem Thema trägt ironische Züge in ihrem Namen. Sie erklärt sich für alles zuständig und weiß von nichts. Sie gibt aber eine aberwitzig genaue Zahl von „six mille deux cent trente et un rats“[15] an, als ob irgendjemand die große Zahl gezählt hätte.
„Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc (Informationen, Nachweise, Auskünfte auf allen Gebieten) in ihrer Rundfunksendung «Unentgeltliche Nachrichten» bekanntgab, daß am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schauspiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. Bis jetzt hatte man sich über einen etwas widerwärtigen Zwischenfall beklagt. Nun merkte man, daß das Geschehen, dessen ganze Tragweite noch nicht abzusehen war und dessen Ursprung unerklärlich blieb, etwas Bedrohliches hatte.
… am nächsten Tag verkündete die Agentur, die Erscheinung habe unvermutet aufgehört, und der Entrattungsdienst habe nur noch eine ganz unbedeutende Anzahl toter Ratten eingesammelt.“[16]

In Bezug auf die große Zahl in den Nachrichten benutzt Albert Camus auf einmal die Ironie, um sie in den Nachrichten als geradezu fragwürdig erscheinen zu lassen. Man müsste tatsächlich Sechs-tausend-zwei-hundert-dreißig-und-eine Ratte übersetzen, um die Komik der Zahl zur Geltung zu bringen. Im Deutschen verschwindet die eine Ratte fast in der Einunddreißig. Wenn die große Zahl in Bezug auf die Ratten ausgeschrieben wird, die sonst mit Schaufeln beseitigt worden waren, dann wird sie nicht nur komisch im Sinne von unheimlich oder „etwas Bedrohliches“, sondern geradezu lächerlich. Für die epidemiologische Erzählung gibt das einen Wink, der Camus nicht ganz unwichtig war. Die mit der genauen Zahl versprochene Beherrschbarkeit als Zählbarkeit des großen Unerklärlichen verrät sich als Fiktion in ihrer Lächerlichkeit. Die Zahl „gab dem täglichen Schauspiel, …, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung“, formuliert Camus. Das Paradox der epidemiologischen Zahl von Sinn und Verwirrung widerspricht nicht zuletzt der Intelligenz aus Zählen, Messen und Schätzen.

In der Epidemie-Erzählung nehmen die Hefte (carnets)[17] von Jean Tarrou eine wichtige, ergänzende Funktion ein. Camus stellt auf diese Weise einen multiperspektivischen Blick in der „Verwirrung“ her. Tarrou ordnet in seinen Heften seine Beobachtungen nicht nach einem Wissen von der Epidemie, vielmehr schreibt er „die Geschichte dessen (…), was keine Geschichte hat“. Im Unterschied zum Medizinwissen des berichtenden Arztes will er Historiker dessen werden – „à se faire l’historien de ce qui n’a pas d’histoire“ –, das keine Geschichte hat. Das Bizarre (la bizarrerie) in „große(r) Zahl nebensächlicher Einzelheiten“ in den Heften Tarrous macht keinen Sinn, um sich dennoch zu einer Geschichte zu verdichten.
„Auf den ersten Blick könnte man glauben, Tarrou sei darauf bedacht gewesen, die Menschen und Dinge durch eine Art Verkleinerungsglas zu betrachten. Kurz, er bemühte sich, in der allgemeinen Verwirrung die Geschichte dessen zu schreiben, was keine Geschichte hat. Diese vorgefaßte Absicht kann man gewiß bedauern und darin Herzlosigkeit vermuten. Das hindert aber nicht, daß diese Tagebuchblätter zu einer Chronik jener Zeit eine große Zahl nebensächlicher Einzelheiten beitragen können, die immerhin ihre Bedeutung haben und deren Absonderlichkeit einen davor bewahren wird, voreilig über diese interessante Gestalt zu urteilen.“[18]

Albert Camus stellt in seinem Roman mit der Multiperspektivität und dem Bizarren insbesondere eine Erzählung von der Leere her. Tarrou erzählt von Lebenspraktiken, Ereignissen oder Gewohnheiten, die in ihrer Eigensinnigkeit ins Leere gehen. Was als Lebenspraxis höchste Bedeutung angenommen hat, muss, obwohl es ins Leere geht, wiederholt werden. Sehr genau wird die Geschichte des „Männchen(s)“ beschrieben, der die Katzen anlockt, um sie zu bespucken. Doch dann kommen keine Katzen mehr. Woraufhin Tarrou in sein Heft notiert:
„Heute ist das Männchen von gegenüber ganz verblüfft. Es gibt keine Katzen mehr. Sie sind tatsächlich verschwunden; die toten Ratten, die man in großer Zahl auf der Straße findet, haben sie aufgeregt. Meiner Meinung nach kommt es nicht in Frage, daß Katzen tote Ratten fressen. Ich erinnere mich, daß meine das verabscheuten. Dennoch rennen sie wohl in den Kellern umher, und der Alte ist fassungslos. Er ist weniger sorgfältig gekämmt, sieht weniger kräftig aus. Man spürt seine Beunruhigung. Er ist nach kurzer Zeit wieder hineingegangen. Aber einmal hat er doch gespuckt, ins Leere.“[19]

Das Bizarre trägt Züge des Automatischen. Das Leben läuft in Oran wie von selbst, so dass Tarrou unbedeutende ebenso wie undeutbare Störungen aufgreift, die sogleich beseitigt werden. Der Automatismus des städtischen Lebens wird nicht zuletzt mit einer Szene aus der Straßenbahn von Tarrou/Camus angeschrieben. Zu erinnern ist dabei an die Eigentümlichkeit der Straßenbahn oder Tram, dass sie immer in den gleichen Gleisen ihre Strecken fährt. Anders als das Freiheit verheißende Auto bleibt die Tram immer in den Gleisen, die allein durch Weichenstellungen verändert werden können. Die Gleichförmigkeit der automatischen Wiederholung erfordert, dass Störungen unverzüglich beseitigt werden, um wie aktuell häufig zu hören ist, z.B. Berlin oder Deutschland am Laufen zu halten.
„In der Stadt hat man heute einen Wagen der Straßenbahn angehalten, weil eine tote Ratte entdeckt wurde, die auf unbekannte Weise dort hineingelangt war. Zwei oder drei Frauen sind ausgestiegen. Die Ratte wurde entfernt. Der Wagen ist weitergefahren.“[20]

Es sind gerade Tarrous, sagen wir ruhig, existentialistische Beobachtungen und Notizen, die aktuell im Modus der Wiederholung Züge des Gespenstischen annehmen. Wie hat Albert Camus das epidemiologische Geschehen in Die Pest so genau beschreiben können, dass permanent von Konflikten erzählt wird, als stammen sie aus den letzten Tagen? Die Einmischung der Zeitungen sowie der Druck auf Stadtverwaltung und Politiker erinnert mit „Rattengeschichten“ nur allzu verstörend an Corona-Geschichten. In der Epidemie, müsste man womöglich sagen, kommen eingeübte Narrative wie die Ratten aus ihren Löchern, während mit großer Leidenschaft fast jede/r glaubt, von sich selbst zu sprechen.
„Trotz dieses schönen Beispiels redet man in der Stadt viel von der Rattengeschichte. Die Zeitungen haben sich eingemischt. Die lokale Chronik, die für gewöhnlich sehr abwechslungsreich ist, beschäftigt sich jetzt ausschließlich mit einem Feldzug gegen die Stadtbehörden. <Sind sich unsere Stadtväter bewußt, welche Gefahr die verwesten Nagetiere bedeuten können?> Der Hoteldirektor kann von nichts anderem mehr sprechen. Das kommt auch daher, daß er sich ärgert. Es ist ihm unfaßlich, daß man Ratten im Aufzug eines anständigen Hotels finden kann. Um ihn zu trösten, sagte ich ihm: <Aber es geht doch allen gleich.> <Eben>, antwortete er, <jetzt sind wir wie die anderen.> …
<Aber es ist ganz sicher nicht ansteckend>, hob er mit Nachdruck hervor. Ich sagte ihm, das sei mir gleich.
<Ach so. Der Herr ist wie ich, der Herr ist Fatalist.> Ich hatte nichts dergleichen behauptet, und übrigens bin ich nicht Fatalist. Ich habe es ihm gesagt …»[21]

Die Rattengeschichte wird in der Geschichte der Pesttoten bereits bei Camus wiederholt. Was sich bei den Ratten als Strategie noch als schwierig, wenn nicht gar bei der Sechs-tausend-zwei-hundert-dreißig-und-einen Ratte ins Komische gekippt war, kehrt nun als notwendiges „Zusammenzählen“ wieder. Durch das Addieren – „L’addition était consternante.“[22] – wird auf eine Vervielfältigung geschlossen, die das Wissen einer „regelrechte(n) Epidemie“ generiert. Das epidemische Wissen lässt sich nicht leugnen, weil es aus einer Dynamik der Zahlen besteht. Das ist für das Subjekt in der Moderne zutiefst kränkend, weil es meinte, die Zahlen beherrschen zu können. Doch in der Epidemie beherrschen die Zahlen das Subjekt und seine Freiheit.
„Aber schließlich genügte es, daß einer ans Zusammenzählen dachte. Das Ergebnis war beängstigend. In kaum ein paar Tagen vervielfältigten sich die tödlich verlaufenden Fälle, und denen, die sich mit dieser merkwürdigen Krankheit befaßten, wurde es ganz klar, daß es sich um eine regelrechte Epidemie handelte.“[23]

Für René Descartes dienen „die Dauer und die Zahl“ der Selbstvergewisserung als „Vorstellung meiner selbst“. Wenn das Ich „verschiedene Gedanken“ zählen kann, vermisst es sich in seinen Gedanken quasi selbst. Für das Subjekt der Moderne wird die Zahl geradezu existentiell, weil es sich selbst darüber in seinem Denken bestätigt findet. Es wird über „die Dauer und die Zahl“ berechenbar, womit sich der moderne Intelligenzbegriff ankündigt. Das im Denken aus sich selbst generierte Wissen von der Zahl wird bei Descartes „auf andere Gegenstände übertragen“. Anders gesagt: Wissen und seine Übertragung wird von Descartes als Verfahren der Ich-Konstruktion formuliert
„Was aber das Klare und Deutliche in den Vorstellungen der körperlichen Dinge anlangt, so kann ich Einzelnes von der Vorstellung meiner selbst entlehnt haben, nämlich die Substanz, die Dauer und die Zahl, und was sonst etwa dem ähnlich ist. (…) Ebenso wenn ich denke, dass ich jetzt bin und mich entsinne, dass ich auch früher eine Zeit lang bestanden habe, und wenn ich verschiedene Gedanken habe, deren Zahl ich bemerke, so gewinne ich die Vorstellungen der Dauer und der Zahl, die ich dann auf andere Gegenstände übertragen kann.“[24]

Die existentielle Funktion der Zahl für das Subjekt wird mit der Epidemie quasi außer Kraft gesetzt. Darin zeigt sich die Verwirrung durch jegliche Epidemie. Die Zahlen überrollen quasi das auf Zahlen und Zählen ausgerichtete Subjekt. Das machen nicht zuletzt die erstmals in der Geschichte der Epidemien global verfügbaren und akkumulierten Zahlen durch Lauren Gardner, Ensheng Dong und Hongru Du deutlich. Bereits am 17. Februar 2020 publizierten die Forscher*innen vom Center of Systems Science and Engineering (CSSE) der Johns Hopkins Universität ihr „interactive web-based dashboard to track COVID-19 in real time”, um am 19. Februar in The Lancet unter der Rubrik „Infectious Diseases“ ihre Methode zu erklären.
“The dashboard, first shared publicly on Jan 22, illustrates the location and number of confirmed COVID-19 cases, deaths, and recoveries for all affected countries. It was developed to provide researchers, public health authorities, and the general public with a user-friendly tool to track the outbreak as it unfolds. All data collected and displayed are made freely available, initially through Google Sheets and now through a GitHub repository, along with the feature layers of the dashboard, which are now included in the Esri Living Atlas.”[25]

Samstag, 27. April 2020 21:29:15 Uhr

Für die Johns Hopkins Universität und Lauren Gardner, die erst 2019 von der Universität New South Wales in Sidney, Australien, nach Baltimore, Maryland, USA, gewechselt war, ist das Echtzeit-Projekt des Dashboards ein globaler Erfolg. Denn mittlerweile benutzt „every major news outlet worldwide“ die so akkumulierten Daten und „more than 1 billion usage requests per day“ werden gestellt.[26] Als Echtzeit-Projekt unterläuft das Dashboard allerdings auch die Funktion der Dauer, wie Descartes sie für das Ich formuliert hatte. Die Zahlen werden permanent aktualisiert. Descartes‘ Ich wird mit ihnen davon gerissen. Was es gestern wusste, hat sich heute verschoben. Zwar wird es durch die Internet-Quellen wie durch die Meldungen der Gesundheitsämter und Kliniken an das Robert-Koch-Institut ebenfalls systembedingte Verzögerungen geben, doch schnell entflammte durch Journalisten die Frage, warum die Zahlen für Deutschland nicht mit denen des RKI genau übereinstimmten. Die Künstliche Intelligenz der Datenakkumulation, bei der die Daten immer noch von Menschen in Tabellen und Veröffentlichungen allerdings online eingetragen werden, generiert eine eigene Logik der Epidemie. Weil die Echtzeit immer auch den Verzögerungen von neuen Infektionen und ihrer Datenerfassung bis zu 14 Tagen unterliegt, bleibt die Aussagekraft der täglich neuen Zahlen elastisch, was gerade in einer Art Datenjournalismus auf Unverständnis stößt.

Samstag, 27. April 2020 21:29:15 Uhr

Albert Camus hat bereits vor mehr als 70 Jahren das Problem der großen Zahl mit einem Wink auf den spätantiken Geschichtsschreiber Prokopios von Caesarea plastisch erzählt. Die Künstliche Intelligenz kann heute zählen ohne Ende, während Prokop kaum zählen konnte. Doch Camus‘ Arzt hatte einen Sinn für die Vergeblichkeit des Zählens, wenn die Zahl zu groß wird. Abgesehen davon, dass Prokop nicht zählt, stellte er sich aber Fragen nach einer Theorie für die Epidemie und entwarf Bilder für die Überzahl an Toten. Dr. Rieux in Die Pest lässt die Zählungen und Berechnungen indessen ins Aberwitzige kippen.
„Aber was bedeuten hundert Millionen Tote? Wer den Krieg mitgemacht hat, weiß kaum noch, was ein Toter ist. Und da ein toter Mensch dann etwas wiegt, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen nichts als Rauch in der Einbildung. Der Arzt erinnerte sich an die Pest von Konstantinopel, der nach Prokop an einem Tag zehntausend Menschen zum Opfer gefallen waren. Zehntausend Tote, das macht fünfmal die Zahl der Zuschauer in einem großen Kino. Das sollte man tun. Man faßt die Besucher von fünf Kinos an den Ausgängen zusammen, führt sie auf einen Platz in der Stadt und läßt sie dort alle miteinander sterben, damit man wieder ein bißchen klarer sieht. Dann könnte man wenigstens ein paar bekannte Gesichter auf diesen namenlosen Haufen stecken. Aber das ist natürlich undurchführbar. Und wer kennt schließlich zehntausend Gesichter? Übrigens ist ja bekannt, daß Leute wie Prokop gar nicht zählen konnten. Vor siebzig Jahren waren in Kanton vierzigtausend Ratten an der Pest gestorben, ehe die Seuche sich mit den Menschen befaßte. Aber 1871 gab es keine Möglichkeit, die Ratten zu zählen. Man berechnete annähernd, summarisch. Die Wahrscheinlichkeit eines Rechenfehlers war groß. Wenn jedoch eine Ratte dreißig Zentimeter lang ist, ergäben vierzigtausend Ratten aneinandergereiht . . .“[27]

An der Epidemie und ihrem Geschehen scheitern schon nach Prokopios alle Theorien. Epidemien, selbst dann, wenn sie heute virologisch oder infektiologisch erklärt werden können, lassen sich, wie in der vorausgegangenen Besprechung zu Verschwörungstheorien analysiert wurde, in der Forschung schwer begründen. Das epidemiologische Wissen, könnte man an Prokopios anknüpfend sagen, ist älter als die Wissenschaft der Epidemiologie, weil es letzte Fragen stellt.
„Nun, im Fall aller anderen Geißeln, die vom Himmel gesandt wurden, könnten gewagte Männer eine Erklärung für eine Ursache geben, wie die vielen Theorien, die von denen aufgestellt werden, die in diesen Angelegenheiten klug sind; denn sie lieben es, Ursachen heraufzubeschwören, die für den Menschen absolut unverständlich sind, und ausgefallene Theorien der Naturphilosophie zu erfinden, wohl wissend, dass sie nichts Vernünftiges sagen, sondern es für ausreichend halten, wenn sie durch ihre Argumentation einige von denen, denen sie begegnen, völlig täuschen und überzeugen sie zu ihrer Ansicht.“[28]

Bei Prokopios gerät die „Zahl der Sterbenden“ außer Kontrolle, womit die Zahl sehr früh ihre Ambiguität zeigt. Sie verspricht Kontrolle und zeigt doch zugleich ihren Verlust an. Nicht in Galata, nicht in Paris beim Ausbruch der Cholera wie Heinrich Heine im Frühjahr 1832 vom Pére Lachaise für die Augsburger Allgemeine Zeitung berichtet[29], sondern in New York und anderswo hat es bereits Massengräber gegeben. Der Geschichtsschreiber Prokopios erzählt schon davon, was passiert, wenn die Gräber nicht mehr reichen. Dennoch wissen wir nicht, ob die Bürger von Sycae wirklich ihre Toten in die Türme der Befestigungsanlage warfen. Wahrscheinlich hatte Prokopios vom Hörensagen die Beschreibung in seine Chronik aufgenommen.
„… Und als es dazu kam, dass alle zuvor existierenden Gräber mit Toten gefüllt waren, gruben sie nacheinander alle Orte in der Stadt aus, legten die Toten dort hin, jeder so gut er konnte, und gingen; aber später bestiegen diejenigen, die diese Gräben machten und nicht mehr mit der Zahl der Sterbenden mithalten konnten, die Türme der Befestigungsanlagen in Sycae [Galata], und rissen die Dächer ab, um die Leichen dort in völliger Unordnung hinein zu werfen; und sie stapelten sie auf, als jeder fiel, und füllten praktisch alle Türme mit Leichen und bedeckten sie dann wieder mit ihren Dächern. Infolgedessen durchdrang ein böser Gestank die Stadt und beunruhigte die Einwohner noch mehr, besonders wenn der Wind aus diesem Viertel frisch wehte.“[30]

Die Türme der Befestigungsanlage von Sycae könnten vielleicht in einem Krieg gegen menschliche Feinde helfen, doch im Kampf gegen die Epidemie helfen sie nicht. Vielmehr sorgen die Toten dafür, dass sie durch den Gestank nicht vergessen werden und nehmen die Funktion eines Memento mori an. Sie beunruhigen die Einwohner, dass auch sie sterben werden. Auf diese Weise erzählt letztlich auch Albert Camus von der Pest, die zugleich an die Toten des Zweiten Weltkriegs und die Resistance erinnern soll. – In diesen Tagen jährt sich das Ende der Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal.

Torsten Flüh

PS: Die Fotos zu dieser Besprechung wurden am 26. April 2020 zwischen 18:16:44 Uhr und 18:45:40 Uhr auf dem Flughafen Otto Lilienthal Berlin Tegel – TXL – gemacht. Nach neuesten Meldungen wird TXL schon im Juni stillgelegt und aus den Flugzielen gelöscht werden.


[1] Albert Camus: Die Pest. Übersetzt von Uli Aumüller. Reinbek: rororo, 1998, S. 257.

[2] Alessandro Puglia und Maria Stöhr: Die Geschichte von Lorena Quaranta erschüttert Italien. In: Der Spiegel vom 10.04.2020, 18.05 Uhr.

[3] Albert Camus: Die … [wie Anm. 1] S. 4.

[4] Albert Camus: La Peste. Ebooks libres et gratuits, 2011, S. 5.

[5] Ebenda S. 233.

[6] Raoul Maria di Angelis: La peste a Urana: Milano: Mondadori, 1943. (Bibliotheca Nazionale Braidense)

[7] Albert Camus: La … [wie Anm. 3] S. 7.

[8] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 6.

[9] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 12.

[10] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 12.

[11] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 13.

[12] Eigendarstellung: “The Center’s Systems Research Group brings together faculty from Engineering, Public Health, and Medicine with a common interest in using systems methods to advance our understanding of complex problems.” Center for Systems Science and Engineering: About us. Johns Hopkins Whiting School of Engineering.

[13] Albert Camus: Die… [wie Anm. 1] S. 15.

[14] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 20.

[15] Dass Camus hier die Zahl in Worten ausschreibt und nicht nur als Zahl wie in der deutschen Übersetzung, gibt einen Wink auf die Ironie der Passage. Ebenda.

[16] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 16.

[17] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 21.

[18] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 23.

[19] Ebenda S. 24.

[20] Ebenda S. 25.

[21] Ebenda S. 25-26.

[22] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 29.

[23] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 32.

[24] René Descartes: Dritte Untersuchung. Über Gott, und dass er ist. In: ders.: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, in welchen das Dasein Gottes und der Unterschied der menschlichen Seele von ihrem Körper bewiesen wird. Berlin: Heimann, 1870, S. 59-60. (Digitalisat)

[25] Ensheng Dong, Hongru Du, Lauren Gardner: An interactive web-based dashboard to track COVID-19 in real time. In: The Lancet vom February 19, 2020.

[26] CSSE: Lauren Gardner.

[27] Albert Camus: Die… [wie Anm. 1] S. 35.

[28] “… Now in the case of all other scourges sent from heaven some explanation of a cause might be given by daring men, such as the many theories propounded by those who are clever in these matters; for they love to conjure up causes which are absolutely incomprehensible to man, and to fabricate outlandish theories of natural philosophy knowing well that they are saying nothing sound but considering it sufficient for them, if they completely deceive by their argument some of those whom they meet and persuade them to their view.” Procopius: History of the Wars. 7 Vols., trans. H. B. Dewing, Loeb Library of the Greek and Roman Classics. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1914, Vol. I, S. 451/453.

[29] Siehe: Torsten Flüh: Ein europäischer Klangroman. Zu Volker Hagedorns furiosem Roman Der Klang von Paris. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Mai 2019.

[30] „… And when it came about that all the tombs which had existed previously were filled with the dead, then they dug up all the places about the city one after the other, laid the dead there, each one as he could, and departed; but later on those who were making these trenches, no longer able to keep up with the number of the dying, mounted the towers of the fortifications in Sycae [Galata], and tearing off the roofs threw the bodies there in complete disorder; and they piled them up just as each one happened to fall, and filled practically all the towers with corpses, and then covered them again with their roofs. As a result of this an evil stench pervaded the city and distressed the inhabitants still more, and especially whenever the wind blew fresh from that quarter.” Procopius: History … [wie Anm. 28] S. 467/469.

Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens

Ursprung – Theorie – Wiederholung

Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens

Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden

Zu berichten ist von einer Serie der Mosse-Lectures, die am 30. April 2020 um 19.00 Uhr c.t. unter dem Titel Verschwörungstheorien im Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin hätte beginnen sollen. Doch als müsse die international besetzte Vorlesungsreihe mit aller Macht verhindert werden, mussten die vier interdisziplinären Vorlesungen der hochkarätigen Forscher*innen Eva Horn (Wien), Michael Hagemeister (Bochum), Clemenz Setz (Graz) und Didier Fassin (IAS Princeton) im März für das Sommersemester 2020 wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Nahezu prognostisch kündigte das Team um Elisabeth Wagner an: „Verschwörungstheorien haben Konjunktur in Zeiten der Verunsicherung, der bedrohlichen Veränderungen, lebensgeschichtlich und politisch, eklatant in Zeiten von Krisen und Katastrophen.“ Demnach hätte kaum ein Vorlesungsthema als Kritik besser in die Zeit gepasst.

„Regeln einhalten, Virus aufhalten.“

Welche Funktionen bedienen Verschwörungstheorien? Gehören sie trotz oft offenkundiger Lächerlichkeit nicht selbst zur Wissenschaftsliteratur der Theorien? Was unterscheidet die wissenschaftliche Theorienbildung von der einer Verschwörungstheorie? Welche Ursprungsmodelle sind nicht erst seit dem Ausbruch von AIDS im Schwange und erfahren derzeit eine frappierende Wiederholung? Helfen Ursprungsmodelle zwischen Rhesusaffen, Fledermäusen, Pangolinen und geheimen Laboren für biologische Kriegsführung bei der Verarbeitung einer Krise? Und wenn ja, auf welche Weise? Welche Funktion erfüllte „Patient Zero“ in der AIDS-Pandemie? Warum funktioniert „Patient Zero“ in der Corona-Pandemie nicht auf gleiche Weise? Oder ist der Arzt Dr. Li Wenliang aus Wuhan, der mittlerweile an einer Infektion mit SARS-CoV-2 verstorben ist, der neue „Patient Zero“? Warum „springen“ Corona-Viren nur von seltenen Tieren in China oder Afrika auf den Menschen über und nicht von Struppi, Susi oder Leon als des Menschen beste Freunde in Europa?

„Jetzt in Berlin: Care Sharing.“

Verschwörungstheorien sind medienwirksam und funktionieren als Nachricht. Deshalb sind sie nicht zuletzt für die Literaturforschung von Interesse. Am 26. Februar 2020 berichtete David Cyranowski im Wissenschaftsmagazin nature in der Rubrik „News“ lexikalisch an der Grenze von Wissenschaft und Kriminalgeschichte: „Mystery deepens over animal source of cornonavirus. Pangolins are a prime suspect“.[1] Ein geäußerter Verdacht – „suspect“ – wird wenigstens vorübergehend als Nachricht und Wissen verbreitet. Plötzlich schnellen unterschiedliche Wissensbereiche in einem Wissenschaftsmagazin zusammen. Da Pangoline als Schuppentiere ebenso extrem selten wie niedlich sind, illegal von Indonesien in die Volksrepublik China geschmuggelt werden, um dort vermeintlich auf dem Speiseplan und in der Traditionellen Chinesischen Medizin zu landen, waren sie als „tierische Quelle“ (animal source) nachrichtenästhetisch besonders attraktiv.[2]

„Danke an alle, die Berlin am Laufen halten…“

Verschwörungstheorien entwickeln eine Eigendynamik und führen entweder zur Verstärkung von interessengeleiteten Nachrichten oder sie schleichen sich in Nachrichten ein.  In den amerikanischen Fox-News vom 15.04.2020, die nicht nur bereitwillig, sondern massiv bejahend mit Bill Helmer Donald Trump unterstützen, wird über die Proteste gegen die Kontakt-Beschränkungen bzw. „Stay-Home-Order“ der demokratischen Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, in Lansing berichtet.[3] Getitelt wird die Nachricht dann mit „Citizen of Michigan protest Governor Gretchen Whitmer’s ‚arbitrary‘ stay at home order.“ Am 18. April um 19:30 Uhr schlichen sich Verschwörungstheorien zunächst in die RBB Abendschau als „Protest gegen Einschränkung von Grundrechten“[4] vor der Volksbühne, um dann um 20:00 Uhr noch einmal in der Tagesschau wiederholt zu werden und daraufhin zu verschwinden.

„Danke an alle, die Berlin am Laufen halten…“

Die Volksbühne als gefälschter Sitz der Organisatoren und imaginärer Ort eines Widerstands gegen den Staat gehört zur Rahmung dieser Verschwörungstheoretiker.[5] Um Glaubwürdigkeit zu erlangen, wird der Ort nicht nur eines Theaters, vielmehr noch der eines kritischen Diskurses besetzt und instrumentalisiert, so dass die Intendanz mitteilen muss: „In letzter Zeit finden regelmäßige Versammlungen des Vereins „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ auf dem Rosa-Luxemburg-Platz statt. Der Verein benutzt dabei die Adresse der Volksbühne auf Drucksachen und im Impressum seiner Website. Wir stehen in keinerlei Verbindung zu diesem Verein. Die Adresse der Volksbühne wird ohne unsere Zustimmung verwendet. Wir prüfen aktuell rechtliche Schritte.“[6] Die Volksbühne wird paradoxer Weise von linken wie rechten Verschwörungstheoretiker*innen gekapert. Der freiberufliche Reporter Jörn Kersten geht der kruden Mischung aus Trump-Unterstützern, einem geschassten, rechten Volkslehrer und linken Impfgegner*innen etc. auf den Leim und interviewt vermeintlich „normale“ Teilnehmer*innen.[7] Verschwörungstheoretiker bilden über Narrative erstaunliche Allianzen.  

„Danke an alle, die Berlin am Laufen halten…“

Die angebliche Einschränkung der Grundrechte, für die dann das ein oder andere Mal eine Ausgabe des Grundgesetzes in der Hand gehalten wird, bildete eine Art Kristallisationspunkt der sogenannten „Hygiene-Demos auf dem Rosa-Luxemburg-Platz“. „Recht auf Freiheit“, Bewegungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, „Recht auf Bildung in Kitas + Schulen öffnen“ und Religionsfreiheit sowie, wenn es schon ein wenig fortgeschrittener formuliert wird, Recht auf körperliche Unversehrtheit werden schnell, allerdings ohne Nennung der relevanten Artikel im Grundgesetz in Anspruch genommen.[8] Das symbolische Mitführen der Grundgesetz-Ausgabe erfordert nicht zugleich dessen Kenntnis, sondern dient der Visualisierung. Auffällig ist dabei eine Inanspruchnahme der Grundrechte bei gleichzeitiger hoher Elastizität ihrer Benennung als sprachliche Operation. Das Organisationsteam der Mosse-Lectures umreißt Verschwörungstheorien wie folgt:
„In ihnen wird ein Bedürfnis wirksam, komplexe Zusammenhänge auf einfache Sinngebungen zu reduzieren, wodurch eine psychotische und kollektive Dynamik in Gang gesetzt wird, die eigenen Ängste und Versagungen auf unbekannte Kräfte und geheime Mächte zu projizieren. Konspiratives Denken und Fühlen verwandelt Kausalitäten in Kontingenzen, Zufälle in Kohärenzen: es entsteht die bedenkenlose und widerspruchsresistente Logik eines konspirativen Diskurses: ein mitunter faszinierendes Amalgam, ein Netzwerk aus Erfahrungsmomenten und Wissenselementen, aus Vermutungen und Verdächtigungen, ein inspiratives und kreatives Potenzial an Phantasien, Fakten und Fiktionen.“[9]

„! Unnötige Wege & Kontakte vermeiden!“

Verschwörungstheorien und Falschnachrichten verbreiten sich nach Ansicht der Bundesregierung in sozialen Medien derart schnell, dass zuletzt am 17. April 2020 eine Seite zu „Mythen“ und „zahlreiche(n) Gerüchte(n) zum Coronavirus“ aktualisiert worden ist.[10] Auf das literarische Format des Gerüchts in Krisenzeiten wurde bereits mit Heinrich von Kleists Rahmung des Texts Charité-Vorfall in den Berliner Abendblättern eingegangen.[11] Gerüchte sind keine Verschwörungstheorien, obwohl sie mit ihnen zusammengehen können. Verschwörungstheorien erheben einen komplexeren Anspruch als ein vereinzeltes Gerücht. Leider bleibt die Seite der Bunderegierung beispielsweise zur Frage „Woher kommt das neuartige Coronavirus und wann wurde es entdeckt?“ unterkomplex. Anstatt „Falschnachrichten!“ konkret zu widerlegen, wird eine in Konkurrenz mit dem Format des Gerüchts schwache Vermutung kolportiert.
„Es wird vermutet, dass das Virus von Fledermäusen stammt. Die ersten Patienten haben sich augenscheinlich auf einem Huanan-Seafood-Markt in der chinesischen Stadt Wuhan infiziert, bei dem auch Wildtiere beziehungsweise Organe von anderen Tieren und Reptilien angeboten wurden.“[12]  

„! Ab Montag Pflicht: Mund-Masken-Schutz in Bus und Bahn!“

Gerüchte lassen sich schlecht mit einer Vermutung – „Es wird vermutet, …“ – widerlegen. Interessant ist zudem in der Formulierung, dass „die ersten Patienten (…) sich augenscheinlich auf einem Huanan-Seafood-Markt in der chinesischen Stadt Wuhan infiziert (hätten)“ in mehrerer Hinsicht. Erstens wird mit den „ersten Patienten“ das Modell des „Patient Zero“ bemüht und zweitens wird die Zoonose als Ursprungswissen eingesetzt. Wie bereits mit Kleists Charité-Vorfall angeschnitten, darf drittens die Augenscheinlichkeit oder Evidenz als Wissensformat der Moderne in Zweifel gezogen werden. Angeknüpft wird hier an das infektiologische Modell der Zoonose, die im Glossar für die Coronaviren des Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung allerdings ausdrücklich mit einem Fragezeichen versehen wird: „SARS – eine klassische Zoonose?“ Das HZI befasst sich seit 2002 mit der Herkunft der Coronaviren und formuliert entschieden eine weitere Möglichkeit, die bislang in einem Zeitraum von fast 18 Jahren weder wissenschaftlich bestätigt noch widerlegt werden konnte:
„Als andere mögliche Ursache wird angenommen, dass ein bereits bekanntes und unter Menschen verbreitetes Coronavirus zu dem aggressiven SARS-CoV mutiert ist.“[13]  

„Berlinweite Kontaktbeschränkungen …“

Da das Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung zu den führenden Einrichtungen seiner Disziplin zählt, darf die offen formulierte Ursache als ein entschiedener Wink über den aktuellen Wissensstand verstanden werden. Die Ursachenfrage bleibt bislang völlig offen, weshalb sich die Seite der Bundesregierung mit der Vermutung auf extremes Glatteis begibt. Die Frage nach der Ursache oder dem Ursprung darf man gerade bei Viren als die umstrittenste und schwierigste bezeichnen. Die Kategorie der Zoonose wird zum ersten Mal und fast unbegründet von Ernst Leberecht Wagner in seinem Handbuch der allgemeinen Pathologie 1865 benannt.[14] Die WHO hat 1959 die Zoonose auf Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden wie z.B. die Tollwut etc., eingegrenzt. Ernst L. Wagner führt unter den „Contagien und Miasmen“ erstmals die „Zoonosen“ als Klassifizierung von Infektionskrankheiten auf.[15] Er knüpft ausdrücklich an Wilhelm Griesingers Infectionskrankheiten als zweiten Band von Rudolf Virchows Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie aus dem Jahr 1857 an.[16] Während Griesinger sich indessen auf „Contagien und Miasmen“ beschränkt und sich z.B. bei der Malaria ausschließlich auf die Böden und Sümpfe als Ursache für krankheitserregende Ausdünstungen bzw. Miasmen konzentriert[17], fügt Wagner nach den „Parasiten“ nun die Übertragungen von Tier zu Mensch als „Zoonosen“ ein.
„3) die sogenannten Parasiten pflanzlicher und thierischer Natur ; — 4) die sogenannten Zoonosen (Wuthkrankheit, Lyssa — Milzbrand und Carbunkelkrankheit, Anthrax und Pustula maligna — Rotz und Wurm, Malleus humidus et farciminosus), bei denen eine Uebertragung zwischen Individuen verschiedener Gattung, meist von Thieren auf den Menschen stattfindet“.[18]  

„Mit d. Rad zur Arbeit schützt vor Infektion #FlattenTheCurve“

Noch bevor Robert Koch 1878 in seiner Ätiologie der Wundinfectionskrankheiten die Mikroorganismen als Erreger unter dem Mikroskop entdecken und durch färben augenscheinlich machen wird[19], formuliert Ernst Wagner die Zoonose als Ursache für Infektionskrankheiten bei Menschen. Die Zoonose trifft nicht nur auf Bakterien oder Viren zu, vielmehr zählt Wagner auch Wurmerkrankungen – „Rotz und Wurm“ – dazu. Anders gesagt: die Zoonose als Modell für den Ursprung und „eine Uebertragung zwischen Individuen verschiedener Gattung“ oder als Sprung vom Tier zum Menschen bleibt weit gefächert. Die Tollwut beim Menschen durch den Biss eines tollwütigen Fuchses – oder Hundes – oder Vogelgrippe gehören ebenso zur Zoonose wie möglicherweise das Verspeisen von Pangolinen oder Fledermäusen. In der vermeintlichen Widerlegung von Gerüchten passiert so auf einer Seite der Bundesregierung gegen „Mythen“ eine fragwürdige kommunikationstechnische Übertragung. Die Unsicherheit über den Ursprung durch zwei Möglichkeiten, wie sie das HZI für Coronaviren formuliert, lässt sich gerade in Zeiten einer Pandemie schwer aushalten. Muss aber ausgehalten werden. Doch der Ursprung ist für das epidemische Geschehen selbst dann vollkommen unerheblich, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika „China“ dafür verantwortlich macht.[20]

„Berlinweite Kontaktbeschränkungen“

Die Ursprungsfrage als eine beliebte der Infektionsforschung wie der Verschwörungstheoretiker gibt einen Wink auf die Wiederholung als Modus der Wissensfiktion. Der Modus der Wiederholung in den aktuellen Verschwörungstheorien beispielsweise in Bezug auf HIV/AIDS hat eine ebenso beruhigende wie verstörende Wirkung. Wenn bekannte Ursprungstheorien wie das Geheimlabor oder das Tier einer fremden Art wiederholt werden, dann bekommen sie in der Unkalkulierbarkeit der Krise etwas Vertrautes nach dem Motto: „Das kennt man ja.“ Theoriebildung wie Verschwörungstheorien befinden sich insbesondere mit Ursprungsfragen in einem wechselhaften Bereich, der versucht wird, sprachlich abzusichern z.B. mit dem Adjektiv augenscheinlich, obwohl niemand (!) den Übertragungsvorgang etwa als Biss einer Fledermaus oder Biss in eine Fledermaus gesehen hat. So schreibt Patrick Eiden-Offe von einer „Affinität der Theorie zur Literatur, denn schließlich fühl(e) sich Theorie genau wie Literatur zuständig für alles diskursiv oder begrifflich nicht unmittelbar Einholbare“. In seinem Projekt am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung „untersucht(e) (er) die in bestimmten Rhetoriken, Darstellungsmodi oder gar Medien kanonisierten Denkstile, mit denen Autoren oder Gruppen ihre prekäre Position zu stabilisieren suchen“.[21]

„Mit d. Rad zur Arbeit schützt vor Infektion #FlattenTheCurve“

In der Argumentation von Donald Trump auf der Pressekonferenz vom 17. April 2020 wird eine assoziative Redeweise ohne Manuskript deutlich, die für Verschwörungstheorien als charakteristisch beschrieben werden dürfte. Trump will unbedingt eine Frage beantworten, weil er es als Demonstration seines Wissens und seiner Macht praktiziert, Antworten auf komplexe Fragen zu geben. Auf die Frage von Steve Holland, der für Reuters im Weißen Haus akkreditiert ist[22], wird alles mit allem verkoppelt, um mit der Formulierung „It seems to make sense“ Sinn in quasi „Einfacher Sprache“ zu machen. „China“ wird zum obsessiven Gegenstand der Kritik, obwohl Steve Holland nur nach den korrigierten Todesraten für Wuhan gefragt hatte, wird die Korrektur sofort ohne irgendwelche Fakten auf ganz China ausgedehnt:
„… Steve?
The Press: China now says its coronavirus death toll in Wuhan is 50 percent higher.
The President: Yep.
The Press: It went up to about 4,000. Does that sound like a credible number to you?
The President: Well, you know, when I listen to the press every night saying we have the most, we don’t have the most in the world – deaths. The most in the world has to be China. It’s a massive country. It’s gone through a tremendous problem with this. A tremendous problem. And they must have the most. So, today, I saw they announced that, essentially, they’re doubling up on the numbers. And that’s only in Wuhan; they’re not talking about outside of Wuhan. So it is what it is, Steve. It is what it is. What a sad – what a sad state of affairs.”[23]

An den Untertiteln der Pressekonferenz auf YouTube, die natürlich programmiert werden müssen, wird nicht etwa zwischen Donald Trump und Steve Holland als Sprecher unterschieden, sondern generalisierend zwischen „The Press“ und „The President“. Der Modus der Verschwörungstheorie wird mit der zweiten Frage von Steve Holland insofern verstärkt, als sich Trump nun seinen sozusagen eigenen Reim auf die Frage nach dem Labor in Wuhan macht. Erst werden die Fledermäuse („a certain kind of bat“) als Ursprung in Zweifel gezogen. Dann werden Ermittlungen angekündigt, um schließlich wieder China ganz generell zum Ursprung der Pandemie zu machen. Die Übersprünge in Trumps Rede machen deutlich, dass er nicht am Ursprung, sondern der Identifikation eines Schuldigen interessiert ist – „it came from China“. Dieser Übersprung von der Ursprungsfrage – „where ever it came from“ – auf die Schuldfrage lässt sich als ein Modus der Verschwörungstheorie beschreiben.
“The Press: The investigation into whether the virus escaped from this lab in Wuhan, how active is that? And when do expect to hear (inaudible)?
The President: Well we’re looking at that. A lot of people are looking at it. It seems to make sense. They talk about a certain kind of bat, but that bat wasn’t in that area. If you can believe this, that’s what they’re down to now, is bats. But that bat is not in that area. That bat wasn’t sold at that wet zone. It wasn’t sold there. That bat is 40 miles away. So a lot of strange things are happening, but there is a lot of investigation going on and we’re going to find out. All I can say it’s, wherever it came from – it came from China – in whatever form, 184 countries now are suffering because of it. And it’s too bad, isn’t it?”[24]

„Berlin Corona virüsüne karsi birlikte mücadele ediyor.“

Um die Unterscheidung zwischen obsessiver Verschwörungstheorie bezüglich des Übersprungs von der Ursprungs- zur Schuldfrage genauer zu beschreiben, kann aus einem aktuellen Text vom 21. April 2020, der im Internet über E-Mail kursiert, zitiert werden. Der Verfasser nennt sich Pei Xu bzw. Dr. Xu und nutzt unter anderem den Verteiler der Ehemaligen Stipendiat*innen der Friedrich Ebert Stiftung. Er hat bereits mehrfach kritische E-Mails über die Volksrepublik China durch den Verteiler verschickt. Ihm geht es entschieden darum, das Regime in Peking zu kritisieren. Fakten werden dafür gern dramatisiert. Die wiederholte Hervorhebung des eigenen Wissens erhält einen narzisstischen Zug.
„(…) Anfang Februar 2019 stellte ich fest, dass es bei dem SARS-CoV2 mit der biochemischen Waffenentwicklung der KP Chinas zusammenhängt. Durch den empfohlenen Bericht fühle ich mich bestätigt, aber mein Wissenstand über das KP-Regime und seine Machenschaften ist tiefgehender. Beispielsweise sagt ein Militärarzt in einer Tonaufnahme, es handle sich bei SARS-CoV2 um ein im Labor gemischtes Virus aus HIV und dem SARS-assoziierten Virus: (…)
Diese Aussage wird von dem französischen Virologen und HIV-Experten Luc Antoine Montagnier indirekt bestätigt, aber er hat das böse Machwerk falsch interpretiert: (…)
Worüber ich verfüge, ist nicht nur Insiderwissen, sondern auch Wahrheitsliebe und Unabhängigkeit. Aus diesem Grund geriet ich schon 2008 mit den deutschen Medien insbesondere der „Zeit“ in Konflikt, die bis heute keine Berichtigung ihrer Beiträge in Bezug auf die VR China, insbesondere Interviews mit KP-Vertretern, veröffentlicht haben. (…)
Das KP-Regime in Peking führt einen Todeskampf gegen Gott und die Welt.
Aber wenn man die KP-Propaganda erkennt, kann man sich davor schützen, mit in die Pandemie gerissen zu werden.“[25]

Zur Schuldfrage kommen zumindest in der relativ detailliert ausgearbeiteten Verschwörungstheorie über den Ursprung ein unbedingter Wahrheitsanspruch und ein exklusives Wissen, das HIV/AIDS und SARS-CoV-2 kurzschließt. Differenzierungen entfallen. In den 90er Jahren wurde mehrfach kolportiert, dass HIV/AIDS aus einem Labor in den USA stamme. Für das konspirative Wissen von Pei Xu ist nun interessant, dass im Modus der Wiederholung die Kolportage erneuert wird, obwohl sie von Douglas Selvage 2014 als Desinformationskampagne der StaSi und des KGB entlarvt wurde. Trotz des in der Infektionsforschung verbindlichen Konsenses „hält sich bis heute hartnäckig die Theorie, der HI-Virus stamme aus einem Militärforschungslabor des US-Verteidigungsministeriums in Fort Detrick. Großen Anteil an der Verbreitung dieses Gerüchtes hat(te) der ehemalige sowjetische Geheimdienst KGB sowie der ostdeutsche Auslandsgeheimdienst HV A.“[26] Stattdessen bemüht Pei Xu gar den berühmten Pariser HIV-Experten Montagnier als Wissensinstanz, um ihn dennoch mit einer vermeintlichen Richtigstellung – „aber er hat das böse Machwerk falsch interpretiert“ – zu überbieten. Elisabeth Wagner schreib diesbezüglich von einem „Identifikationspotential (von Verschwörungstheorien) aus realen und real vorstellbaren Vorgängen und Ereignissen“, das „strategisch und methodisch (…) an unzähligen alltäglichen, sozialen und politischen Konflikten und Konfliktbewältigungen (beteiligt)“ sei.[27]   

„Aktuelle Informationen rund um das CORONA-Virus finden Sie unter …“

In der Infektionsforschung wird der Laborthese keine Beachtung geschenkt. Vielmehr trennt sie methodologisch die Zoonose als Modell des Artensprungs vom „Patient Zero“ oder Indexpatienten. Gleichwohl lässt sich der Artensprung als Anthropozentrismus des 19. Jahrhunderts beschreiben. Dass Menschen an Krankheitserregern von Tieren erkranken können, wird auch als narzisstische Kränkung des Wissens vom Menschen empfunden. Sprachlich auffällig ist selbst in den offiziellen Beschreibungen und vor allem in der kumulativen Beantwortung der Frage nach dem Ursprung die letztlich lexikalisch-elastische Formulierung, die nicht allen Leser*innen gleich auffallen wird. Doch Forschung zeichnet sich anders als die Verschwörungstheorie dadurch aus, dass sie keine exakten Ja-oder-nein-Antworten geben will. Selbst zur Herkunft von HIV/AIDS heißt es mit dem Stand von 2018 auf der Seite des Robert-Koch-Instituts heute noch.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit (Hervorhebung T.F.) stellte die HIV-Infektion ursprünglich eine Zoonose dar. Die den HIV verwandte Simian Immunodeficiency Viruses (SIV) werden bei vielen Altweltaffen in Afrika gefunden. Das HIV-1 am nächsten verwandte SIV wurde in Schimpansen gefunden, HIV-1 Gruppe P in Gorillas, das HIV-2 verwandte SIV in Rußmangaben (Cercocebus atys).“[28]

Doch woher hatte der durchaus fiktive Patient Zero, als der lange Zeit Gaëtan Dugas galt, den Virus? Seine Geschichte führte wiederum zu literarischen Verarbeitungen. Der hoch mobile wie promiskuitive, homosexuelle Steward einer kanadischen Fluglinie, quasi ein früher Global Citizen gelangte als Ursprungsmythos zu großer Popularität. Gerade die Frage, woher er den Virus als erster z.B. durch Zoonose hatte, kann so nach wie vor nicht beantwortet werden. Dass er von einem „Altweltaffen in Afrika“, einem Schimpansen, Gorilla oder Rußmangaben gebissen wurde, ist nicht überliefert! Zwar wird das infektiologische Wissensmodell gern für epidemiologische genommen oder vermischt, dennoch handelt es sich um unterschiedliche Theorien. Stattdessen verlief die Ursachenfrage und die Suche nach einem ersten Patienten schon Ende der 90er Jahre, wie man sagt, im Sande, als im Wissenschaftsmagazin nature am 5. Februar 1998 der Artikel An African HIV-1 sequence from 1959 and implications for the origin of the epidemic erschien.[29] 2019 brachte Laurie Lynd ihren Dokumentarfilm Killing Patient Zero heraus. Doch das verführerische Narrativ von dem oder den „ersten Patienten“ ist offenbar nicht tot zu kriegen. Schon im Oktober 2016 wurde „Patient 0“ schließlich von einer Forschergruppe um Michael Worobey in nature rehabilitiert.
“We also recovered the HIV-1 genome from the individual known as ‘Patient 0’ (…) and found neither biological nor historical evidence that he was the primary case in the US or for subtype B as a whole. We discuss the genesis and persistence of this belief in the light of these evolutionary insights.”[30]

„#STAY AT HOME“

Verschwörungstheorien neigen als literarische Gattung oder Literaturen zu binären Entscheidungen. Entschieden wird bei Donald Trump aktuell zwischen den USA und „China“. Die Abgrenzung gegen China wird dazu genutzt, das eigene Versagen in der Eindämmung kleinzureden – „we don’t have the most in the world – deaths“. Trump unterscheidet zwischen Gut und Böse – „And it’s too bad, isn’t it?“ –, während das Virus es nun wirklich nicht tut. Im Unterschied zur einfachen Schuldzuweisung bei Trump bemüht Pei Xu ein ausgeklügeltes Faktenmaterial, um diesem zugleich zu widersprechen und letztlich doch nur zu einem vereinfachenden und sprachlich rätselhaften Fazit zu kommen: „Das KP-Regime in Peking führt einen Todeskampf gegen Gott und die Welt.“ Doch dieses Fazit misslingt im Überschwang lexikalisch. Denn in einem „Todeskampf“ oder der Agonie befindet sich, wer mit dem Tod kämpft. Das könnte durchaus für das „KP-Regime“, die sich bisweilen in einem solche imaginiert, und die an CoVid-19 Erkrankten zutreffen, doch Xus Identifizierung des Schuldigen misslingt sprachlich auch dahingehend, dass sich Gott nicht so ohne Weiteres und schon gar nicht als Gegner des Pekinger Regimes töten lässt, um es einmal so zu sagen.

In der Infektionsforschung lässt sich hingegen eine sprachliche Elastizität beobachten, die gerade kein abgeschlossenes Wissen vom Typ „Insiderwissen“ formuliert. Immer dann, wenn es um eine letzte Entscheidung des Ursprungs und der Übertragung geht, wird dieser mit Vorbehalt benannt. Während permanent und wiederholt vor allem von Journalist*innen Ja/Nein-Entscheidungen z. B. in den Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts eingefordert werden, halten sich die Leiter des Instituts mit derartigen Entscheidungen zurück. Sie erläutern und erklären ihre Modelle, um die Fragenden letztlich mit offenen Fragen als Antwort zurückzulassen. Statt eines magischen Wissens halten sie durchaus bewundernswürdig daran fest, nie mehr zu sagen, als das was ihre Methoden und Modelle verraten. Vielleicht ahnen sie zumindest, dass sie jede Festlegung in die Nähe von Verschwörungstheorien rücken könnte. – Ob die Vorlesungsreihe Verschwörungstheorien der Mosse-Lectures in absehbarer Zeit, also im Sommersemester 2021 wie geplant wird stattfinden können, bleibt offen, ist aber wahrscheinlich.

Torsten Flüh

PS: Am 21. April ab ca. 19:00 Uhr fuhr der Berichterstatter mit dem Fahrrad für ca. 3 Stunden durch Berlin, um die Anzeigen des Verkehrsleitsystems zu fotografieren.

Mosse-Lectures


[1] David Cyranowski: Mystery deepens over animal source of cornonavirus. Pangolins are a prime suspect, but a slew of genetic analyses has yet to find conclusive proof. In: nature a natureresearch journal 26. February 2020.

[2] Vgl. u.a. das illustrierende Foto auf der Seite von mdr wissen. flo: Nicht das Schuppentier ist schuld, sondern der Mensch. Mdr wissen 27. März 2020, 09:48 Uhr.

[3] Citizen of Michigan protest Governor Gretchen Whitmer’s ‚arbitrary‘ stay at home order. In: Fox News 15.04.2020.

[4] Jörn Kersten: Protest gegen Einschränkung von Grundrechten. In: rbb Abendschau 18.04.2020 19:30 Uhr.

[5] Vgl. zur Volksbühne und ihrer programmatischen Ausrichtung u.a.: Torsten Flüh: Herrlich verdrehte Agitprop-Revue. Zur Uraufführung von Ronald M. Schernikaus legende in der Inszenierung von Stefan Pucher an der Volksbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2019.

[6] Volksbühne: Volksbühne steht in keiner Verbindung zu Versammlungen von „Nicht ohne uns“ auf dem Rosa-Luxemburg-Platz 19.04.2020.

[7] Matthias Meisner: Wie die ARD Verschwörungstheoretikern auf den Leim ging. Die „Hygiene-Demo“ in Berlin-Mitte schaffte es bis in die „Tagesschau“. Die kruden Hintergründe der Organisatoren blieben unerwähnt. Warum? In: Der Tagespiegel 20.04.2020.

[8] Zitate siehe Jörn Kersten: Protest … [wie Anm. 4].

[9] Mosse-Lectures: Verschwörungstheorien. Sommersemester 2020.

[10] Bundesregierung: Antworten auf häufige Zweifel und Mythen. Zuletzt aktualisiert am 17.04.2020.

[11] Siehe Torsten Flüh: Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken. Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2020.

[12] Bundesregierung: Antworten … [wie Anm. 10].

[13] Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung: Coronaviren.

[14] Ernst Leberecht Wagner: Handbuch der allgemeinen Pathologie. Leipzig: Otto Wigand, 1865. (Digitalisat)

[15] Ebenda S. 146.

[16] Ebenda S. 143,

[17] „Es lassen sich eben die Fragen über Entstehungs- und Verbreitungsweise der Infectionskrankheiten nach den beiden Categorieen des Miasma und des Contagium in keiner Weise erschöpfend behandenln, sie lassen sich überhaupt nicht im Allgemeinen lösen; es wird später bei jeder einzelnen dieser Krankheiten der Stand unserer heutigen Kenntnisse über diese Verhältnisse im Einzelnen ausgeführt werden.“ Wilhelm Griesinger: Infectionskrankheiten. Erlangen: Enke, 1857, S. 4.

[18] Ernst Leberecht Wagner: Handbuch … [wie Anm. 14], S. 146.

[19] Robert Koch: Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfectionskrankheiten. Mit 5 Tafeln Abbildungen. Leipzig: Vogel, 1878, S. 4. (Digitalisat)

[20] Siehe Trump beim White House: Members of the Coronavirus Task Force Hold a Press Briefing vom 17.04.2020 (ungefähr: 1:24:00)

[21] Patrick Eiden-Offe: Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik. In: ZfL Projekt 2017-2019.

[22] Siehe Twitter-Konto von Steve Holland @steveholland1.

[23] White House: Members … [wie Anm. 20] 1:24:00 bis 1:24:11.

[24] White House: Members … [wie Anm. 20] 1:24:00 bis 1:24:11.

[25] Pei Xu: Eine Erklärung für die FES-Ehemaligen von XU Pei aus Köln. Di 21.04.2020 19:40.

[26] Douglas Selvage, Christopher Nehring: Die AIDS-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB. Berlin: BSTU, 2014. (Der Beauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik)

[27] Mosse-Lectures: Verschwörungstheorien… [wie Anm. 9].

[28] RKI-Ratgeber: HIV-Infektion/AIDS. Stand: 22.11.2018.

[29] Tuofu Zhu, Bette T. Korber, Andre J. Nahmias, Edward Hooper, Paul M. Sharp & David D. Ho: An African HIV-1 sequence from 1959 and implications for the origin of the epidemic. In: nature a natureresearch journal 05 February 1998.

[30] Michael Worobey, Thomas D. Watts, Richard A. McKay, Marc A. Suchard, Timothy Granade, Dirk E. Teuwen, Beryl A. Koblin, Walid Heneine, Philippe Lemey & Harold W. Jaffe: 1970s and ‘Patient 0’ HIV-1 genomes illuminate early HIV/AIDS history in North America. In: Ebenda 26 October 2016.

Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken

Redaktion – Medizin – Information

Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken

Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall

Seit Beginn der „Kontakt-Beschränkungen“ am 18. März 2020 mit der Ansprache der Bundeskanzlerin sind kaum vier Wochen vergangen. Doch schnell wurde aus der Bitte „am besten kaum noch Kontakte zu den ganz Alten“ aufzunehmen, in den Medien eine „Kontaktsperre“.[1] In der Rede kommt einmal das Wort Kontakte vor, doch keine Kontaktsperre! Durch die Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 22. März wird an die „Reduzierung von Kontakten“ appelliert. Unter Punkt V. heißt es: „Verstöße gegen die Kontakt-Beschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden.“[2] Am 23. März traten die „Kontakt-Beschränkungen“ in Kraft. Der Begriff der „Kontaktsperre“ hat sich trotzdem für die Maßnahme seither selbst in Öffentlich-rechtlichen Medien verbreitet und als Wissen durchgesetzt.[3]

Schon am 17. März hatte der Berichterstatter eine Veranstaltung mit einem Hinweis auf Heinrich von Kleists „Zweck“ der Polizei-Rapporte in den Berliner Abendblättern vom 4. Oktober 1810 absagen müssen. Denn Kleist war in seiner titellosen Anmerkung über die „Polizeilichen Notizen“ als Redakteur auf „oft ganz entstellte Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse“, auf das „Stadtgespräch“ und „Maasregeln“ – einmal mit s und einmal mit ß – eingegangen. Berlin war in Aufruhr, weil es zu Brandstiftungen und mehreren Unfällen mit Kutschen gekommen war. Kleist wollte mit seinen Polizei-Rapporten zur „Sicherung des Publici“ beitragen.[4] Zugleich thematisierte er in „Tagesbegebenheiten“, „Polizeiliche(n) Tages-Mittheilungen“, „Gerüchte(n)“, einem „Polizei-Ereigniß“, einem „Stadt-Gerücht“ und dem „Charité-Vorfall“ über Tage hinweg Erzählweisen, die wiederholt in der Literaturforschung behandelt worden sind. Doch die narrativen und lexikalischen Transformationen von Nachrichten in einer Krisensituation sind bislang wenig berücksichtigt worden. Was weiß der literarische Text Charité-Vorfall von Wissensprozessen in extremen Krisen wie der Corona-Pandemie?

Aus der Zeit um 1810 gibt es auf dem Charité-Campus in Berlin-Mitte am sogenannten Humboldt-Hafen kein einziges Gebäude mehr. Die ältesten Gebäude wurden um 1900 errichtet. Das Pathologische Institut, das Medizinische Institut, das Chirurgische und das Psychiatrische Institut, die Prosektur und das Medizinhistorische Museum wurden mit neo-gotischen und antikisierenden Elementen zwischen 1896 und 1917 erbaut. Forschung und Lehre bildeten seit dem frühen 19. Jahrhundert an der Charité heraus. Das Berliner Medizinhistorische Museum mit seiner Geschichte der Charité ist bis Ende 2021 geschlossen, um baulich erweitert, modernisiert und neu ausgerichtet zu werden. Währenddessen kann ein virtueller Erinnerungsweg mit dem Smartphone oder Tablet nicht zuletzt über die Verbrechen in der Geschichte der Medizin an der Charité unter dem Titel REMEMBER erkundet werden. Schließlich ist die Geschichte der Charité mit erbitterten Machtkämpfen unter leitenden Ärzten zwischen Chirurgen und Medizinern verknüpft.

Um 1810 findet an der Charité eine Ausdifferenzierung weiterer Disziplinen und der Klinik unter Chirurgen, Gynäkologen, Medizinern und „Irrenärzten“ statt, an deren einem Ende 1818 die Herausbildung der Psychiatrie durch Ernst Horn stattfindet.[5] Für Heinrich von Kleists Charité-Vorfall vom 13. October 1810 kann vor allem die Chirurgie bzw. Unfall-Chirurgie in Anschlag gebracht werden, weil von einer ärztliche Befragung nach der Verletzung durch einen Unfall im Text berichtet wird, was in der literaturwissenschaftlichen Forschung so gut wie keine Beachtung gefunden hat und hier einmal vorausgeschickt werden soll.[6] Dr. Ernst Horn (1774-1848) und Dr. Heinrich Kohlrausch (1780-1826) liefern sich um 1810 an der Charité einen erbitterten Konkurrenzkampf. Horn hatte bereits mehrere Schriften zur Klinik veröffentlicht.[7] Von Heinrich Kohlrausch sind keine umfangreicheren Schriften überliefert. 1810 wird der 6 Jahre jüngere Kohlrausch zum „zweite(n) dirigierende(n) Wundarzt und Geburtshelfer“, also stellvertretenden Leiter der Charité ernannt.

Heinrich Kohlrausch hatte gute, wenn nicht die besseren Kontakte zum Berliner Hof bzw. der Berliner Administration. Denn er war 1803 der Hausarzt von Wilhelm und Caroline von Humboldt in Rom, so dass er eine Erwähnung in den Briefen Carolines findet: er habe „eine ungemeine Erfahrung, weil er als Arzt und Chirurgus mehrere Jahre bei der Armee war und daher die wichtigsten Fälle gesehen und behandelt hat“.[8] 1810 wird Wilhelm von Humboldt zur Gründung der modernen Universität seine Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin veröffentlichen. Sie führt zur Gründung der Berliner Universität durch Friedrich Wilhelm III. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Kohlrausch und dem zweiten dirigierenden Arzt des Charité-Krankenhauses Horn kommt es ab 1811 zu wiederholten öffentlichen Anschuldigungen, Rechtfertigungen und Prozessen am Berliner Kammergericht, die 1818 mit dem ersten Arzthaftungsprozess als Criminalgeschichte des Sackes beendet werden. Seit 1817 gehörte Kohlrausch als geheimer Ober-Medizinalrat der Abteilung der „Angelegenheiten der Medizinal-Polizei“ im Preußischen Ministerium des Innern an.[9]

Die Chirurgie geht im 18. Jahrhundert aus der Tradition der Armeeärzte oder „Feldscherer“ hervor, die als Barbiere und Wundärzte vor allem mit der Amputation von Gliedmaßen im Krieg befasst waren. Ernst Horn hatte 1807 als „Professor für Medizin in Berlin“ zusammen mit Adolph Henke, „Professor für Medizin in Erlangen“ das Klinische() Taschenbuch für Aerzte und Wundärzte publiziert, obwohl es die Berliner Universität noch nicht gab.[10] Der Titel Professor wird offenbar noch elastisch für akademische Lehrer gebraucht. In der „Einleitung“ der „Grundzüge der Klinik der wichtigsten Knochenkrankheiten“ widmen Horn und Henke überhaupt der Beschreibung der Knochen als „wichtige Anhänge des lebenden Ganzen (…) nach Maaßgabe ihres chemischen Gehaltes und ihrer organischen Bestimmung“ ihre besondere Aufmerksamkeit.[11] In der Chirurgie verändern sich nicht zuletzt mit Horn die Aufmerksamkeit für und das Wissen über Knochen, in denen „ein vollkommner Kreislauf der Säfte statt finde“.[12]

Die Knochen als Wissensgegenstand der Klinik und des ärztlichen Blicks werden von Horn und Henke quasi belebt. Denn sie befinden sich an der Grenze von Leben und Tod, weshalb sie in ihrer „Einleitung“ ausdrücklich formulieren müssen, dass die „Knochen (…) keine harte und unorganische Massen, nicht bloß Theile des Skelettes (sind), welches den übrigen Systemen des Organismus nur zur Stütze, zur Festigkeit und zum Schutz gegen äußere Gewalt dient“.[13] Das Skelett wird i. d. R. erst nach dem Tod sichtbar. So kennt Adelung nicht nur den „Röhrenknochen, Marsknochen, Todtenknochen“, sondern führt zugleich „(e)inen Knochen abnagen“ als Redensart an.[14] Und das Skelett wird um 1800 für „die mit einander verbundenen Knochen eines thierischen Körpers, nachdem alles Fleisch und weichern Theile davon abgesondert worden“, gebraucht.[15] Auch über das „Knochenhaus“ oder „Beinhaus“ sind die Knochen und die Kenntnis über sie wie in Goethes Gedicht Bei Betrachtung von Schillers Schädel noch 1826 mit dem Tod verknüpft – „Im ersten Beinhaus wars, …“. Deshalb ist das Klinische() Taschenbuch mit seiner „Klinik der wichtigsten Knochenkrankheiten“ exemplarisch für ein neuartiges Wissen in der Medizin. Da es mit dem Charité-Vorfall und der Anamnese der Verletzung u.a. der Beine um chirurgisches Wissen geht, gibt der Text einen Wink auf dieses.

Doch es gibt nicht mehr und nicht weniger als den Text mit dem Titel Charité-Vorfall im Kontext der Berliner Abendblätter nebst „Extrablatt“ zwischen dem 1. und 13. Oktober 1810. Die Abfolge der Texte in unterschiedlichen Genres und Literaturen kündigen den Vorfallstext an und rahmen ihn. Kleist als Redakteur schreibt nicht nur eigene Texte für seine Zeitung, sondern redigiert ebenso die anderer und ordnet sie an. Für das redaktionelle Verfahren der Anordnung von fremden und eigenen Texten wird der Charité-Vorfall zu einem Scharnier. Zugleich wird im Verlauf einer Krise der sprachliche Prozess selbst zum Ereignis, indem der Wissensprozess der Anamnese von ἀνά aná, deutsch auf und μνήμη mnémē, deutsch Gedächtnis, Erinnerung selbst als unhintergehbares Ereignis in Szene gesetzt wird. Die Abfolge der Texte und ihre Lexik wurden bereits mikrologisch analysiert.[16] Doch der Kontext der Polizei-Rapporte und ihr „Zweck“ in Zeiten einer Abfolge von Ereignissen – Bränden und Unfällen – zu einer Krise wurden bisher nicht berücksichtigt. Stattdessen wurde von Matthias N. Lorenz verstärkt ein biographischer Kontext in Anknüpfung an Günter Blambergers Kleist-Biografie in Anschlag gebracht.[17] 

Die Anamnese findet als „Verhörsituation“ statt, wie Lorenz es nennt.[18] Nicht zuletzt berichtet Kleist wiederholt von Verhören in jenen Tagen in den Polizeirapporten. Doch dieses Verhör, durch das Wissen erlangt werden soll, trägt einerseits komische Züge durch die „lächerlichsten Mißverständnisse“ und das Lachen der „Todtkranken, die in dem Saale auf den Betten herumlagen“. Andererseits geht es durchaus darum, dass der „Geheimerath Hr. K.“ und „ein Arzt“ nachdrücklich wissen wollen, wo den „Mann, namens Beyer,“ nicht nur ein „Rad (…) getroffen“ oder „des Doktors Wagen (..) beschädigt“ haben, vielmehr noch das Rad des Schicksals überfahren habe.[19] Der „hineingefahren(e)“ „linke Ohrknorpel“ lässt sich schließlich nicht sehen und zeigen, sondern nur durch die Aussage des Befragten vernehmen. Doch Kleist setzt gerade für das, was sich nicht sehen lässt, die geläufige Formulierung „(b)is sich endlich zeigte“ als Erlangung des Wissens, als Erkenntnis durch Evidenz ein. Bereits Adelung kennt die Erkenntnis als „Augenscheinlichkeit“ und Evidenz.[20]

In der Konstellation der Befragenden von Geheimrat und Arzt nimmt der Doktor im Text eine besondere Funktion ein. Denn ein Doktor muss kein Arzt sein, obwohl landläufig im Lesen schnell vom Arzt auf einen Doktor med. geschlossen wird. Quasi unter der Hand verwandelt sich der Wagen „des Professor Grappengießer“, wie es noch im „Polizei-Ereigniß. Vom 7. October.“[21] heißt erst in „des Doktors Wagen“ und dann einen „Doktorwagen“.[22] Wird der „übergefahrne Mann, Namens Beyer,“ überhaupt von einem Doktor befragt? Ausdrücklich wird es nicht im Text formuliert. Es steht nicht im Text, dass „Doktoren das Unfallopfer (verhören)“.[23] Weder sind der „Geheimerath Hr. K.“ noch „ein Arzt, der dem Geheimenrath zur Seite stand“, als Doktor der Medizin ausgewiesen. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch ist „Doctor, ein Lehrer, ein Ehrennahme dessen, der die höchste Würde in der Theologie, Rechtsgelehrsamkeit, Arzeneykunde und Weltweisheit erhalten hat. Daher die Doctor-Würde, das Doctor Diplom, der Doctor-Hut u. s. f.“[24] Kleist, der wenigstens an der Universität in Frankfurt/Oder ein Studium begonnen hatte, weiß sehr wohl als Schriftsteller und Redakteur, dass eine Doktorwürde durch eine wissenschaftliche Arbeit in anderen als nur der medizinischen Disziplin erlangt werden kann.

Im Medium Zeitung generieren Lesepraktiken beispielsweise durch Nachträglichkeit einen Eigensinn, der nicht immer durch den Text selbst gedeckt wird. Stillschweigend wird mit dem Verhör „in der Charité“ davon ausgegangen, dass dort nur noch Doktoren der Medizin anwesend und die wiederholt benannten Doktoren Mediziner sind. Das Verhältnis von Informationsvermittlung und Vergessen in der Zeitung wird dem Redakteur mit den Beschreibungen von Ereignissen aufgefallen sein. Durch die ihm überlassenen „Polizeirapporte“ wird Kleist zum Leser von Verhören und Erzählungen, die bei den Ermittlungen zu einer zeitnahen Brandserie immer wieder zu Täuschungen, Lügen, Verrat und nachträglichen Schlüssen führen. Im Allergehorsamste(n) Polizei Rapport vom 30. September bis 6. Oktober 1810 heißt es beispielsweise:
Das erste Verhör wurde mit ihm in Schöneberg bei seiner Verhaftung gehalten, wo er sich den Namen Noelling gab.
Bei diesem Verhöre standen, wie sich nachher ergeben hat, einige seiner Spießgesellen vor dem Fenster und gaben ihm Winke und verabredete Zeichen, wie er sich zu benehmen habe.
Dieses Verhör wurde während des ersten Tumults und wie der Brand noch nicht einmal völlig gelöscht war, gehalten, und niemand konnte damals die Wichtigkeit dieses Verbrechens ahnden, die sich erst aus seinen Geständnißen in der Nacht vom 2. zum 3. d. M. ergab.
[25]

An der beschreibenden Zusammenfassung der Verhöre im Polizeirapport wird deutlich, wie schwer es dem Berliner Polizeipräsidenten Justus Brunner fällt, die Reihenfolge der Ereignisse und das erlangte Wissen zu ordnen. Im Extrablatt vom 7. Oktober 1810 übernimmt Kleist diese Passage fast wörtlich, redigiert sie aber in dem Schluss auf, wie man sagen könnte, elegantere Weise, wenn er mit der temporalen Nebensatzkonstruktion  „und niemand konnte damals schon ahnden, mit welchem gefährlichen Verbrecher man zu thun habe“, endet. Was Brunner syntagmatisch als Temporalität misslingt, weil er zusätzlich „die Wichtigkeit des Verbrechens“ herausstellt, bringt Kleist in eine klare Ordnung von Vorzeitigkeit und Nachträglichkeit. Als Redakteur befasst sich Kleist insofern mit der Erzählung von einem Ereignis und dem nachträglichen Wissen darüber, das im Charité-Vorfall auf die Spitze getrieben wird. Auch die Angabe des falschen Namens „Noelling“ interessiert Kleist nicht, vielmehr arbeitet er eine klare Zeitfolge der Ereignisse und ihrer Kausalität für seine Zeitungsleser heraus.
„Nachdem er sich (…), ging er (…) Zufällig war (…), welcher (…) und (…) erkannte.
Dieser Umstand (…), näher (…), und nach (…), wo (…) fanden.
Bei diesem ersten Verhöre (…), wie (…), mehrere (…), wie (…) habe.
Dieses Verhör wurde während des ersten Tumults gehalten, wie der Brand noch nicht einmal völlig gelöscht war, und niemand konnte damals ahnden, mit welchem gefährlichen Verbrecher man zu thun habe.“[26]   

Im Unterschied zum Polizeipräsidenten Brunner ordnet Kleist die Ereignisse und filtert die Informationen besser, könnte man sagen. Zugleich weiß er, dass damit die Ereignisse durch ihre Erzählbarkeit erzeugt und verfehlt werden. Brunners Polizeirapport war durch eine gewisse Unordnung selbst Ereignis geworden. In der Unordnung der Polizeirapporte, in denen wiederholt Kinder und ein „Arbeitsmann“ innerhalb weniger Tage „übergefahren“ werden, steckt nicht nur die Information der Unfälle durch Kutschen auf Berlins Straßen, vielmehr erfordern die Ereignisse eine auch unmögliche Einordnung. Die Leser wollen wissen, wann was warum passiert ist. Und es sind die Doktoren unterschiedlicher Fakultäten, die für die professionelle Generierung von Wissen zuständig sind. Verbrechen und Unfälle fordern in einer heillosen Welt insbesondere Wissen oder wenigstens eine Fiktion des Wissens, womit ich an Claudia Reiche und die vorausgegangene Besprechung anknüpfe. Der Erklärung der Zwecke der „Polizeilichen Notizen“ geht der Unfall eines 5jährigen Kindes voraus:
„Das 5jährige Kind des Schuhmachermeisters Langbrand, ist in der Brüderstraße, vom Kutscher des Geh. Commerz. Rath Pauli, übergefahren, und durch einen Schlag des Pferdes am Kopfe, jedoch nicht tödlich, beschädigt worden.“[27]   

Der Text unter dem Titel Charité-Vorfall steht in krassem Kontrast, ja, Widerspruch zum erwünschten Wissen. Die Erzählung wird an der Grenze von Leben und Tod mit den Todkranken heillos. Dabei hatte Kleist die „Polizeilichen Notizen“ eingeführt, um „das Publikum zu unterhalten, und den (…) Wunsch, von den Tagesbegebenheiten authentisch unterrichtet zu werden, zu befriedigen“.[28] Doch der Wunsch erweist sich gerade an dem Unfall mit einem 5jährigen Kind als problematisch. „(Z)ugleich“ will der Redakteur Kleist „oft ganz entstellte Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse (…) berichtigen“. Doch die Entstellung im Modus einer augenscheinlichen Verkennung gehört nicht nur zum Modus des „Stadtgespräch(s)“, vielmehr wird sie mit dem Verhör in der Charité auf die Spitze getrieben. Das „Stadtgespräch zu berichtigen, welches aus einem (…) Brandbrief deren hundert macht, und ängstliche Gemüther ohne Noth mit Furcht und Schrecken erfüllt“, erweist sich nicht nur für Kleist als das Allerschwierigste, wenn nicht Unmögliche. Stattdessen wird mit den „Doktoren“ und „Doktorwagen“ ein gewaltiges Wissen und die Gewalt des Wissens an der Grenze von Leben und Tod in Erinnerung gerufen – und belacht.

Auf dem Charité-Campus in Berlin-Mitte befindet sich im Neubau Rahel-Hirsch-Weg 3 das Institut für Virologie, dessen Direktor Prof. Dr. Christian Drosten zum Gesicht über das Wissen von SARS-Cov-2 in Deutschland geworden ist, so dass Miriam Lau ihm ein staatstragendes Schlüsselwissen zuschreibt und in keiner Boulevardzeitung, sondern in der ZEIT vom 18. März 2020 fragt: „Ist das unser neuer Kanzler?“ Drosten forscht zur „Evolution und Biodiversität von RNA-Viren, Coronaviren“. Seit den 1990er Jahren hat er zum Aufbau von Testsystemen für HIV-1 und Hepatitis B Viren geforscht.[29] Anders gesagt: Als Virologe wünscht „das Publikum“ von Drosten derzeit, alles Wissen über den neuartigen Virus und einen möglichst baldigen Impfstoff zu erfahren. Doch als Virologe weiß Drosten nur all zu gut, dass es selbst für HIV-1 noch immer keinen Impfstoff, wohl aber wirksame Medikamente gibt. Der Wunsch des Publikums nach einer schnellen Lösung, einem Verschwinden der Pandemie ist groß, übermächtig und verfehlt zu einem guten Teil, was Forschung leisten kann. Aber das Wissen der Virologie ist zugleich in mehrere Arbeitsgruppen ausdifferenziert, so dass sich gewiss nicht alles, aber einiges und das mit einer beachtlichen Geschwindigkeit über SARS-Cov-2 wissen lässt. Insofern geht es insbesondere darum, Informationen zu ordnen, zu hinterfragen und bisweilen auszuhalten.

Torsten Flüh

Stadtführung zur Geschichte der Charité
Torsten Flüh
310 Jahre Charité und die Geburt der Psychiatrie
Stadtführungen sind ab 25. Mai 2020 unter Einhaltung der Kontakt-Beschränkungen wieder erlaubt. (Stand 7. Mai 2020)
Nächste Führungen:
Sonntag 31. Mai 2020 14:30 Uhr bis 16:30 Uhr
Samstag 4. Juli 2020 15:00 Uhr bis 17:30 Uhr


[1] Ansprache der Kanzlerin: „Dies ist eine historische Aufgabe – uns sie ist nur gemeinsam zu bewältigen“. Bundesregierung: Mittwoch, 18. März 2020.

[2] Besprechung der Bundekanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 22. März 2020. (PDF)

[3] Einhaltung der Kontaktsperre am Ostermontag (13.04.2020) 13.04.2020 aktueller bericht ∙ SR Fernsehen. (Link)

[4] Heinrich von Kleist: ohne Titel. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Herausgeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Frankfurt/M.. Basel. Bd. II/7 Berliner Abendblätter I 1997, S. 24.

[5] Als Folge einer langjährigen Auseinandersetzung wird Ernst Horn 1818 seine Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin, nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten stehen, die als ein Beginn der modernen Psychiatrie gelesen werden kann. Ernst Horn: Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin, nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1818. (Digitalisat)

[6] Matthias N. Lorenz hat im jüngsten Forschungsbeitrag zum Charité-Vorfall zwar darauf hingewiesen, dass beim Arzt „Geheimrat K.“ die „Zeitgenossen unschwer auf den damaligen Leiter der Charité, den Geheimen Obermedizinalrat Kohlrausch, schließen konnten“. Doch er ist den weiteren möglichen Implikationen dieses Schlusses nicht nachgegangen. Matthias N. Lorenz: Anatomie einer Störung. Vier Lesarten von Kleists >Charité-Vorfall<. In: Kleist-Jahrbuch 2019. Berlin: J.B. Metzler, 2019, S. 348. 

[7] Zur Klinik siehe: Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt am Main: Fischer, 1988.

[8] Anna von Sydow (Hrsg.): Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. 2. Auflage. Band 2. Mittler und Sohn, Berlin 1907, S. 121.

[9] Rumpf, Johann Daniel Friedrich: Der Preußische Secretär: ein Handbuch zur Kenntiß der preußischen Staatsverfassung und Staatsverwaltung. Berlin, Hahn, 1817, S. 345.

[10] Ernst Horn: Klinisches Taschenbuch für Aerzte und Wundärzte. Berlin: Friedrich Braunes, 1807.

[11] Ebenda S. 2.

[12] Ebenda S. 3. 

[13] Ebenda S. 2.

[14] Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. 2. Aufl. Leipzig 1793–1801, Knóchen.

[15] Ebenda Skelétt.

[16] Vgl. Torsten Flüh(e): Sichtbar Unsichtbares. Zu Kleists Problematisierung des Augensinns. In: Runa 28 (2000). S. 239-254.

[17] So etwa in Bezug auf „Kleists Lebenswelt“ und dem nach Blamberger „(p)ermanente(n) Kampf ums Obenbleiben“. Matthias N. Lorenz: Anatomie … [wie Anm. 6] S. 356.

[18] Ebenda S. 355.

[19] Heinrich von Kleist: Charité-Vorfall. In: ders.: Sämtliche … [wie Anm. 4] S.63.

[20] Grammatisch-kritisches Wörterbuch … [wie Anm. 14] Augenscheinlichkeit.

[21] So hatte sich ein Professor Grapengießer im Januar 1810 um die Stelle des Stadtphysikus in Berlin beworben. (Siehe Martin Sürzbecher: Beiträge zur Berliner Medizingeschichte. Berlin: Walter de Gruyter, 1966, S. 18, Anm. 30.)
Heinrich von Kleist: Polizei-Ereigniß. In: ders.: Sämtliche … [wie Anm. 4] S. 41.

[22] Heinrich von Kleist: Charité … [wie Anm. 19].

[23] Matthias N. Lorenz: Anatomie … [wie Anm. 6] S. 348.

[24] Grammatisch-kritisches Wörterbuch … [wie Anm. 14] Dóctor.

[25] Polizeirapporte. In: Roland Reuß und Peter Staengle (Hrsg.): Brandenburger Kleist-Blätter 11. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 59.

[26] Heinrich von Kleist: Extrablatt. In: ders.: Sämtliche … [wie Anm. 4] S. 41.

[27] Heinrich von Kleist: Polizei-Rapport. Vom 4ten Oktober. In: Ebenda S. 24.

[28] Heinrich von Kleist: ohne … Ebenda S. 24-25.

[29] Institut für Virologie: Labor Drosten.

Unheimlich unheimlich – Zum Live Talk über Die Mondmaschine

Maschine – Bakterien – Menschen

Unheimlich unheimlich

Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom

Am 1. April 2020 hätte auf Kampnagel in Hamburg im Rahmen des Festivals HAUPTSACHE FREI die Lecture-Performance Die Mondmaschine von Brigitte Helbling mit Antonia Labs als Produktion von MASS & FIEBER OST aufgeführt werden sollen. Doch der Festivalleiter Julian Kamphausen und sein Team mussten das Festival in HAUPTSACHE ONLINE transformieren. Kurz vor 20:30 Uhr suchte der Berichterstatter schon ein wenig gespannt auf der angegebenen Seite den Link zum Live Talk via zoom. Hatte er vergessen, irgendeine App herunterzuladen? Live-Aufgeregtheit wie im Theater zur Premiere. Ziemlich genau um 20:30 Uhr erschien eine neue Zeile auf der Seite mit einem Link zur zoom-App. „Wollen Sie zulassen, dass Zoom auf ihrem PC installiert wird?“ Ja. Fenster öffnen sich. Animierte Grafiken zeigen Arbeitsvorgänge als Darstellung von Datenaustausch. Dann erscheint die zoom-Screen, die Teilnehmer*innen schalten sich in Echtzeit zu. Julian Kamphausen, Brigitte Helbling, Antonia Labs, Leonardo Raab und Claudia Reiche kommen nach und nach in eigenen Fenstern zusammen.

Live ist anders als auf YouTube aufgezeichnet, wo der Live-Talk weiterhin abgerufen werden kann. Live ist spannender. Auf dem Hauptfenster wird ein Trailer zu Die Mondmaschine eingespielt. Julian Kamphausens Stimme erklärt über den Trailer und die Musik noch die Software, wodurch sich Trailerton und Live auf seltsame Weise vermischen. „DIE MONDMASCHINE Lecture Performance zu Maschinen, Menschen und Bakterien mit Antonia Labs Text: Brigitte Helbling MASS + FIEBER OST“. Dann nach Vorstellung der Teilnehmer*innen: „Ihr habt den digitalen Raum. Herzlich Willkommen.“ Währenddessen fotografiert der Berichterstatter den Bildschirm. Brigitte Helbling sitzt vor einem Bücherregal. Claudia Reiche sitzt mit Brille, Mütze und Jacke am Laptop vor einem offenen Fenster in die dunkle, leere Nacht. Es ist der erste „bakterielle() Live Talk“, an dem der Berichterstatter als Gast teilnimmt. Worum geht es mit der Mondmaschine und den Bakterien?

Das offene Fenster in die Nacht, vor dem sich Claudia Reiche als Künstlerin und Philosophin für das Live eingerichtet hat, gibt einen Wink. Fenster/Windows gelten im Bauwesen schlicht als Lichtöffnungen. Das Flügelfenster im Live von Claudia Reiche geht nicht auf ein Licht oder einen Sternenhimmel hinaus. Es öffnet sich in ein schwarzes Nichts. Dementgegen erscheinen heutzutage auf den Bildschirmen der Computer ein oder mehrere Fenster mit „Content“, mit Inhalt. Auch zoom ist auf das Öffnen der Fenster designed, programmiert, in denen die Konferenzteilnehmer*innen visuell zusammenkommen. Oder der Bildschirm bleibt schwarz, gleich einer Maske, wenn die Teilnehmer*in die Kamera nicht freischaltet. Fenster oder auch nur Licht- oder Sehschlitze gehen seit Platons Höhlengleichnis der Politeia auf das Versprechen eines Ausbruchs aus einer Gefangenschaft in einer Höhle hinaus, um neues Wissen, Erkenntnis über sich selbst und die Welt zu erlangen, woran die Aufklärung in Europa transformierend anknüpfte.[1]   

Fenster sind heute gewissermaßen intelligent bzw. werden von Künstlicher Intelligenz gesteuert.[2] Fenster wird in der deutschen Sprache für eine Öffnung im Bauwerk, für gerahmtes Glas, eine temporäre Öffnung, ein Zeitfenster, und das variable Element auf dem digitalen Bildschirm gebraucht. Das Deutsche Wörterbuch weist ebenso auf die Bezüge „zwischen fenster und auge“ in der Literatur hin, wie dass es auf Lücke, Luke, Loch für Fenster verweist.[3] Als digitales Fenster werden sie mit unterschiedlichen Schrift- und Wissensformationen gefüllt, so dass Fenster nicht zuletzt zur Observation und Wissensgenerierung genutzt werden. Das Fenster von Brigitte Helbling wird mit einem Bücherregal als Lektüreraum inszeniert, an dessen mittigen Platz eine DVD-Hülle mit „Symbiotic Earth: How Lynn Margulis rocked the boat and started a scientific revolution“ von John Feldmann aus dem Jahr 2017 platziert ist.

Brigitte Helbling knüpft mit ihrem Text Die Mondmaschine an die Forschungen zu Bakterien von Lynn Margulis an. Doch zunächst tritt für das Publikum erst einmal die „MFO-Wissenschaftlerin Celeste Abernathy“ (Antonia Labs) auf, um einen Vortrag zu Raumfahrtprojekten der NASA zu halten. Es geht um die Mondlandung und den ersten Schritt von Louis Armstrong auf dem Mond, der ein großer für die Menschheit gewesen sein soll. Yuri Gagarin und sein Flug um die Erde[4] verarbeitet Celeste Abernathy ebenso in ihrem Vortrag wie A Cyborg Manifesto (1985) von Donna Harraway. Unterschiedliche Wissensbereiche werden von Celeste Abernathy unter professionellen Vortragsgesten miteinander überzeugend verknüpft. NASA-Talk müsste man vielleicht eine derartige Vortragsweise nennen, die von Antonia Labs wohl deshalb so souverän verwendet wird – Regie: Niklaus Helbling, Maske: Miria Germano, Kostüm: Genia Leis –, weil sie in Charisma-Seminaren etc. vermittelt und massenhaft erlernt werden kann. Zugleich gibt der Name Abernathy einen Wink auf ein Leben als gut ausgeklügelte und strukturierte Lüge. Denn Google weiß, dass Dolores Abernathy am prominentesten für eine Figur aus der Science-Fiktion-Serie Westworld von Jonathan Nolan gebraucht wird.

Das Weltraumfahrtwissen wird von Brigitte Helbling in ihrem Text auf verschiedene Weise montiert und verarbeitet, so dass schließlich die prototypische Bakterienforschung von Lynn Margulis hinzugezogen wird. Mit den Worten des Berichterstatters aus der Erinnerung des Live-Talks: Wie wäre es denn, wenn die Mondmaschine, mit der Armstrong zum Mond geflogen ist, sich aus symbiotischen Bakterien zusammengesetzt hätte. Brigitte Helbling bemerkt im Live Talk sehr wohl, dass Bakterien und Viren ganz unterschiedliche Mikroorganismen sind. Trotzdem bekomme ihr Text eine unheimliche Nähe zur aktuellen Corona-Pandemie, die immerhin die Aufführung verhindert habe. Bakterien, so wird im Talk getalkt, seien immer und überall. Es sei immer nur eine Frage, ob sie am richtigen Ort wären. Darmbakterien z.B. seien für unser Überleben unverzichtbar. Und man werde deshalb mit Margulis auch von einem symbiotischen Leben des Menschen mit Bakterien sprechen können. Das Bakterienmodell Raumkapsel bringt den Menschen zum Mond.

Wann verwandelt sich ein Mensch in eine Maschine? Wann tritt eine Schauspielerin als „Mensch“ auf? Und wann werden Bakterien zur „ultimativen Fiktion“, wie es Claudia Reiche nennt? – Bakterien sind zunächst einmal keine Viren. Auf der Website des Robert-Koch-Instituts, eben jenes Instituts dessen Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler seit Wochen für Reporter*innen die neuesten epidemiologischen Statistiken für SARS-CoV-2 verkündet, gibt es die Rubrik „Geschichte“, in der die Geschichte „1901 bis 1910: Erregern auf der Spur – die Rolle der Mikroskopie bei der Erkennung und Erforschung von Krankheitserregern“ mit Bildern erzählt wird.[5] Allerdings kann man noch ein Stückchen weiter zurück gehen, um in Robert Kochs Entdeckung der Mikroorganismen mittels Fotografie und Mikroskop eine Mediengeschichte der Biomedizin freizulegen. Mit dem Mikroskop, der Fotografie und der Färbung des Gewebes wird für Robert Koch seiner eigenen Darstellung zu folge, allererst die Wissenschaft von den Mikroorganismen konzeptualisiert haben.
„In einem Aufsatze über Untersuchung und Photographiren der Bakterien (…) hatte ich den Wunsch ausgesprochen, dass, um möglichst naturgetreue Abbildungen der pathogenen Bakterien zu erhalten, dieselben photographirt werden möchten. Um so mehr fühlte ich die Verpflichtung, die bei den Wundinfectionskrankheiten in thierischen Geweben aufgefundenen Bakterien photographisch abzubilden und habe es an Mühe, dieser Pflicht nachzukommen, auch nicht fehlen lassen. Die kleinsten und gerade die am meisten interessierenden Bakterien lassen sich jedoch nur durch Färbung und Benutzung ihres Farbenbildes in thierischen Geweben sichtbar machen und es hat in diesem Falle die photographische Aufnahme mit demselben Schwierigkeiten zu thun, wie bei der Photographie makroskopischer gefärbter Objekte z.B. eines farbigen Tapetenmuster.“[6]

Bakterien bilden visuelle Muster wie ein „Tapetenmuster“, schreibt Robert Koch diskret, die durch Färbung stärker kontrastiert werden können, indessen mit der Photographie auf beschichteten Glasplatten um 1878 noch nicht in Farbe abgebildet werden können. Dennoch ist Robert Kochs Ätiologie, als Ursachenforschung von den Wundinfektionskrankheiten mit 5 Tafeln in Schwarzweiß ein epochaler Umbruch. Die Kombination von Mikroskop und Fotoapparat liefert zum ersten Mal Muster, die allererst durch die Einfärbung sichtbar werden und aus denen sich verschiedene Formen isolieren lassen, die als das Bakterium selbst eingeteilt werden können. Anders gesagt: Gleichsam zwischen Kunstbeschreibung und den Differenzen durch Details wird die Bakteriologie unter dem Mikroskop herausgelesen. Historisch fällt die Genese der Bakteriologie mit jener „Spurensicherung“ zusammen, die Carlo Ginzburg für die Zeit „(z)wischen 1874 und 1876“ in einer „Reihe von Aufsätzen über italienische Malerei“ ausgemacht hat[7], nämlich die Herausbildung des Details als Wissensgegenstand.
„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – genauer: zwischen 1870 und 1880 – begann sich in den Humanwissenschaften ein Indizienparadigma durchzusetzen, das sich eben auf die Semiotik stützte.“[8]

Robert Koch schreibt beiläufig von „Färbung“. Doch mit welchem Farbstoff färbte er sein Material unter dem Mikroskop ein? Der Farbstoff müsste besonders dünnflüssig sein, was für viele Farben in der Malerei gerade nicht zutrifft. Man müsste Robert Kochs Färbemethode noch einmal genauer rekonstruieren. Doch der Berichterstatter vermutet, dass er die neuartigen Anilinfarben aus der chemischen Industrie verwendete. Denn seit den frühen 1860er Jahren stellten mehrere Unternehmen in Deutschland aus Steinkohlenteer ein breites Spektrum neuer Farben für die Textil- und sogar Lebensmittelindustrie her. Während sich Bakterien also unter dem Mikroskop sichtbar machen ließen, wurde dies bei Viren viel schwieriger. Doch wir sehen heute hochauflösende, farbige SARS-CoV-2-Virus-Bilder. Für die Sichtbarkeit von Viren sind umfangreiche Rechenprozesse notwendig, um visuelle Modelle als Bilder zu generieren. Das Foto mit Celeste Abernathy zeigt als Hintergrund offenbar ein Stäbchenbakterium, das als Wissensgegenstand vorgeführt wird. Und im Trailer kommen mehrfach animierte und gefärbte Stäbchenbakterien zum Einsatz. Wir haben die farbigen Bilder von Bakterien als ihre Natur und „naturgetreue Abbildung“ akzeptiert.

Corona-Viren werden als bunte Kugeln mit Zacken dargestellt. Niemand hat jemals ein derartig farbiges, also gefärbtes Corona-Virus gesehen. Doch das Verfahren der Färbung zur Sichtbarmachung hat sich seit Robert Koch weiterentwickelt. D. h. nicht, dass es keine Viren gibt, aber die Funktion einer beobachtbaren Sichtbarkeit durch Färbung wird als Paradigma für die Forschungen von Lynn Margulis entscheidend. Denn Lynn Margulis beschreibt recht bildhaft Organismen und Mikroben als bakteriellen Prozess. Das Bakterium wird für sie gar zum Ursprung aller Organismen.
„Life is bacterial and those organisms that are not bacteria have evolved from organisms that were. …Gene exchanges were indispensable to those that would rid themselves of environmental toxins. …Replicating gene-carrying plasmids owned by the biosphere at large, when borrowed and returned by bacterial metabolic geniuses, alleviated most local environmental dangers, provided said plasmids could temporarily be incorporated into the cells of the threatened bacteria. The tiny bodies of the planetary patina spread to every reach, all microbes reproducing too rapidly for all offspring to survive in any finite universe. Undercover and unwitnessed, life back then was the prodigious progeny of bacteria. It still is.“[9]

Wenn sich das Leben der Bakterien beobachten lässt, dann können auch andere Beschreibungsverfahren generiert werden. Für Lynn Margulis wird das Leben schlechthin bakteriell. Damit lässt sich nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel des Bakteriellen und eine literarische Operation beschreiben. Denn zuvor hatten die Autor*innen Lynn Margulis und Dorion Sagan bereits phänomenologisch formuliert: „Life today is an autopoietic, photosynthetic phenomenon, planetary in scale.“[10] (Das heutige Leben ist ein autopoetisches, photosynthetisches Phänomen von planetarischer Größe.) In der Praxis der Autopoiesis überschneidet sich der Prozess der Selbstreferenzialität des Lebens in den Lebenswissenschaften mit jener der Literatur in der Literaturforschung. Das Indizienparadigma ist, man darf davon ausgehen nicht ohne Zwischenschritte, zu einem Autopoiesisparadigma gewechselt. Insofern formuliert das Bakterielle einen Prozess des Sichselbstmachens als Lebensbeschreibungen. Bakterien bilden aus sich selbst Filme, Schleime, Boote und Raumschiffe. Oder mit der Einführung „Life: The Eternal Enigma“:
„Life—from bacterium to biosphere—maintains by making more of itself.”[11]
(Das Leben – vom Bakterium bis zur Biosphäre – erhält sich, indem es mehr aus sich selbst macht.)

Für Lynn Margulis gibt es unter den Mikroorganismen keine Viren. Sie glaubte aus ihrem bakteriellen Denken heraus, dass AIDS in Wirklichkeit bakterielle Syphilis sei und leugnete noch 2011 in einem Interview im Magazin Discover, dass AIDS viral sei.[12] Um es einmal in Anknüpfung an Robert Koch zu sagen: Es gibt sowohl Bakterien wie das Mycobacterium tubercolosis[13] als auch Viren wie die Human-Immundefizienz-Viren (HIV)[14], die sich durch keinen Impfstoff behandeln lassen. Bekanntlich versuchte Robert Koch 1890 einen Impfstoff gegen die Tuberkulose zu entwickeln und testete das sogenannte Tuberkulin an sich selbst, seiner 17jährigen Geliebten Hedwig Freiberg und seinem japanischen Assistenten Kitasato Shibasaburō. Liebe, Verehrung, Opferbereitschaft und der Wunsch, eine Heilung zu wissen, waren im Spiel. Nach erheblichen körperlichen Abwehrreaktionen wie starkem Fieber genasen sie alle wieder und Koch ließ sich unter Zeitdruck und politischem Druck dazu hinreißen, die Impfung mit Tuberkulin als Therapie zu verkünden. Es kam in Berlin zu einem plötzlichen, zuvor nie gekannten, massenhaften Tuberkulin-Tourismus. Doch Tuberkulin war wirkungslos. Die Tuberkulose und HIV sind lediglich durch Medikamenten-Kombinationen zu behandeln.

Da im Live-Talk die Frage nach dem Unterschied von Bakterien und Viren aufkam und schnell zu beantworten versucht wurde, erschien mir der hier entfaltete kurze mikrologische Exkurs notwendig, zumal ich mich seit einigen Jahren mit den Forschungen von Robert Koch befasse.[15] Konzeptuell sind Bakterien nach Margulis expansiv, während Virenkonzepte eher invasiv angelegt werden. Vor allem lassen sich Bakterien und Viren als Wissensformate von Mikroorganismen formulieren, die durch Praktiken wie z.B. Mikroskopieren, Einfärben und Fotografieren oder Elektronenrastermikroskopieren, Berechnen, Färben und Formatieren generiert worden sind und mehr oder weniger gut in Therapien funktionieren. Was im Kontext von Die Mondmaschine als unheimlich wahrgenommen wird, sind weniger die bakterio- oder virologischen Ähnlichkeiten als vielmehr das epidemiologische Geschehen der Ausbreitung. Dementsprechend wird die Verdopplung des Unheimlichen im Titel aus einem Brief über eine aktuelle Leseerfahrung von Albert Camus‘ La Peste (1947) zitiert. Dabei ist zu bemerken, dass der Pesterreger Yersinia (Y.) pestis als „ein fakultativ anaerobes, gramnegatives, nicht sporenbildendes, unbegeißeltes, kleines (0,5-3 µm) Stäbchenbakterium“ beschrieben wird.[16]

Unheimlich unheimlich ließe sich insofern als Kombination des Adverbs mit dem Adjektiv in ein nicht messbares, gesteigertes Unheimliches bzw. das Unheimliche bei Sigmund Freud auflösen. Die Erzählung vom epidemiologischen Geschehen in Kombination mit der Unsichtbarkeit des Erregers konfrontiert die Leser*innen oder Zuschauer*innen mit einer existentialistischen Geworfenheit ihrer Existenz. Mit dem Unheimlichen nach Freud wird allerdings eine weitere, für Die Mondmaschine relevante Lektüre möglich. Denn Brigitte Helbling zitiert und montiert in ihrem Text die Arie der Olympia aus Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, die dieser wiederum aus der Novelle Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann zitiert. Sigmund Freud wiederum zitiert E.T.A. Hoffmann in einer literarisch durchgearbeiteten Beschreibung über Das Unheimliche (1919). Er fragt nach dem Unheimlichen als Gefühl des „Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden“.[17] Nathanael verguckt sich[18], wie man sagt, verliebt sich in Olympia und bekundet seine Liebe vor einer Festgesellschaft. Doch Olympia ist nicht nur eine Puppe, sie ist eine Maschine, die Nathanael als Mensch/Frau wahrnimmt.[19] Die geradezu automatische Verliebtheit in eine Maschine dürfte für Nathanael weit unheimlicher sein als die Maschine Olympia selbst.

Während Freud in seinem Text mehrfach die Formulierung gebraucht, dass sich etwas „nicht verkennen“ lasse, geht es doch um die Figur einer Verkennung. Was als bekannt wahrgenommen wird, lässt sich gerade nicht kennen bzw. wissen. Die Liebe zu Olympia unterliegt einer Verkennung. Oder auch auf Lynn Margulis bakterielles Wissen vom Leben – „Life is bacterial“ – bezogen: Das Wissen vom Leben als „Symbiotic Earth“ bleibt Fiktion. Es geht bei Margulis mit dem Bakteriellen einerseits um einen antievolutionistischen Transhumanismus mit einer transkapitalistischen Prägung – „making more of itself“ – und anderseits um eine permanente Übertragung als Bewegung in einem Modus, der sich Ansteckung nennen ließe. Doch das heißt nicht, dass der Text von Brigitte Helbling genauso funktioniert. Sie montiert vielmehr mehrere Texte so, dass sich Fragen zu Menschen, Maschinen und Bakterien aufwerfen, worauf an anderer Stelle zurückzukommen sein wird. In gewisser Weise wirft Claudia Reiche im Life Talk zu Die Mondmaschine in diesem Moment den Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin ins Gespräch.  

Reiche erzählt die Geschichte von Kropotkin als eine des Unterschieds. Denn er macht vieles anders, als es für ihn nach seiner Herkunft aus dem russischen Hochadel vorgesehen war. Er macht zwar zunächst eine Karriere als Page am Hof Zar Alexander II., geht dann aber nach Sibirien in die Verwaltung, was eigentlich ein Abstieg in seiner Karriere bedeutete. Dann entdeckt er als „Fürst“ und „Prinz von Smolensk“ seine Leidenschaft für die Geographie und Geologie als Leitwissenschaften seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Er knüpft damit quasi an Alexander von Humboldt und seine Russlandreise an.[20] 1887 und 1888 erscheinen in der 9. Ausgabe der Encyclopedia Britannica mehrere Einträge, die sowohl geographische wie geologische Beschreibungen der Orte enthalten.[21] Zur 11. Ausgabe der Enzyklopädie steuert er zwischen Altai und Yeniseisk ca. 70 Artikel bei.[22] Doch Claudia Reiche will nicht so sehr auf den Wissenschaftler, sondern den Anarchisten hinaus, der aus seinen Beobachtungen in der Natur zwischen 1890 und 1896 in dem englischen Periodikum The Nineteenth Century eine Reihe von Aufsätzen zum Thema „Mutual Aid“ veröffentlicht, die 1902 bei McClure in New York als Buch unter dem Titel Mutual Aid: A Factor of Evolution und 1904 als Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung als Übersetzung von Gustav Landauer erscheinen.[23] 

Kropotkin entwirft mit Mutual Aid eine andere Evolutionstheorie im Unterschied zu Charles Darwins Dictum des „Survival of the Fittest“, das sich als kapitalistischer Sozialdarwinismus verbreitet hatte, eine Entwicklung durch gegenseitige Hilfe. In der deutschen Übersetzung verschwindet ein wenig, dass die gegenseitige Hilfe, ein Faktor in der Evolution wäre. Claudia Reiche verschiebt den Begriff der Anarchie von altgr. ἄναρχος (ánarchos) „ohne Oberhaupt, führerlos“ aus verneinendem ἄ– (á–) bzw. an vor Vokal zu griech. ἄρχειν (árchein) wie der erste sein, vorangehen, anfangen, herrschen zu einer Verneinung des Herrschens. Anarchie nimmt damit nicht nur die Bedeutung einer schreckenerregenden Führungslosigkeit an, vielmehr wird nunmehr mit ihr das Prinzip der Führung und des Herrschens umgangen, wie es dem Darwinismus inhärent ist. Die Gegenseitige Hilfe wird somit zum Modell der Anarchie.

Gustav Landauer ordnete Mutual Aid im Vorwort seiner Übersetzung in den Kontext der Anarchie ein, während im Englischen Originaltext der Begriff aufgespart wird. Auch von ihm wird Kropotkins Anarchismusbegriff gegen den landläufigen Gebrauch umgeschrieben. Kropotkin spreche stattdessen lieber von „communisme litertaire; libertaire im Gegensatz zum communisme autoritaire oder étatiste, freiheitlicher oder freiwilliger Kommunismus (sei) eine Übersetzung, die für beide Worte nicht die richtigen Nuancen (gebe), indem vor allem communisme von uns Deutschen nicht richtig verstanden (werde), wenn wir nicht dabei an die Organisationsform der Commune oder Gemeinde denken“.[24] Mutual Aid wird nicht nur als gegenseitige Hilfe gebraucht, vielmehr wird mutual auch für gemeinsam, wechselseitig, korrelativ, einvernehmlich, beiderseitig benutzt. Kropotkin grenzt sich vor allem im Vorwort gegen die Darwinisten ab:
“Paucity of life, under-population–not over-population–being the distinctive feature of that immense part of the globe which we name Northern Asia, I conceived since then serious doubts–which subsequent study has only confirmed– as to the reality of that fearful competition for food and life within each species, which was an article of faith with most Darwinists, and, consequently, as to the dominant part which this sort of competition was supposed to play in the evolution of new species.[25]
(Der Mangel an Leben, Unterbevölkerung – nicht Überbevölkerung – als charakteristisches Merkmal dieses riesigen Teils der Welt, den wir Nordasien nennen, habe ich seitdem ernsthafte Zweifel – die die nachfolgende Studie nur bestätigt hat – in Bezug auf die Realität dieses furchtbaren Wettbewerbs um Nahrung und Leben innerhalb jeder Art, der bei den meisten Darwinisten ein Glaubensartikel war, und folglich die dominierende Rolle, die diese Art von Wettbewerb bei der Entwicklung neuer Arten spielen sollte.)[26]

Kropotkin formuliert sein Anarchismuskonzept strategisch als Erfahrungswissen seiner Reisen und Studien in Nordasien. Vor allem aber dreht er damit den marktkapitalistischen „furchtbaren Wettbewerb um Nahrung und Leben“ in eine Notwendigkeit der Hilfe für das Überleben um. Mehr noch in großen Populationen sieht er ein intelligentes Verhalten der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Mit den intelligenten Tieren (intelligent animals) setzt Kropotkin um die Jahrhundertwende einen Schlüsselbegriff für die Konkurrenz gegenläufig für die gegenseitige Unterstützung ein.
“On the other hand, wherever I saw animal life in abundance, as, for instance, on the lakes where scores of species and millions of individuals came together to rear their progeny; in the colonies of rodents; in the migrations of birds which took place at that time on a truly American scale along the Usuri; and especially in a migration of fallow-deer which I witnessed on the Amur, and during which scores of thousands of these intelligent animals came together from an immense territory, flying before the coming deep snow, in order to cross the Amur where it is narrowest–in all these scenes of animal life which passed before my eyes, I saw Mutual Aid and Mutual Support carried on to an extent which made me suspect in it a feature of the greatest importance for the maintenance of life, the preservation of each species, and its further evolution.”[27]
(Auf der anderen Seite, wo immer ich Tierleben im Überfluss sah, wie zum Beispiel auf den Seen, wo Dutzende von Arten und Millionen von Individuen zusammenkamen, um ihre Nachkommen zu erziehen; in den Kolonien der Nagetiere; bei den Vogelwanderungen, die zu dieser Zeit im wirklich amerikanischen Maßstab entlang der Usuri stattfanden; und besonders bei einer Damwildwanderung, die ich auf dem Amur gesehen habe und bei der Dutzende von Tausenden dieser intelligenten Tiere aus einem riesigen Gebiet zusammenkamen, das vor dem kommenden Tiefschnee flog, um den Amur dort zu überqueren, wo er am engsten ist – In all diesen Szenen des Tierlebens, die vor meinen Augen vergingen, sah ich gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung in einem Ausmaß, das mich darin verdächtigte, ein Merkmal von größter Bedeutung für die Erhaltung des Lebens, die Erhaltung jeder Art, zu sein und seine weitere Entwicklung.)

Claudia Reiche sieht nicht nur im Neo-Darwinismus, sondern auch in dieser neu interpretierten Erzählung vom Leben als kooperativem Miteinander bei Kropotkin wie bei Margulis eine ideologische Geste, mit der eine Fiktion des Wissens einhergeht, die zur biologistischen Grundlegung gesellschaftlicher Gestaltung angeboten wird. Die Intelligenz nimmt bei Kropotkin wie bei Margulis eine interessante Funktion ein. Denn während Kropotkin das Damwild in seinen Wanderungen als intelligent handelnd, weil sich gegenseitig unterstützend, beschreibt, wird bei Margulis das Bakterielle selbst zur Intelligenz, gleich einem „bakteriellen Gespräch“. Die Intelligenz wird nicht von einem zum anderen Bakterium durch Ansteckung übertragen, vielmehr wird die kollektive Verhaltensweise der Bakterien zur Emergenz von Intelligenz z.B. hinsichtlich der Klimakrise. In den Ökowissenschaften werden mittlerweile Lynn Margulis‘ Thesen zum Bakterium als breiter Konsens eingesetzt. Was bei Kropotkin und Margulis nicht zuletzt als eine antikapitalistische oder zumindest kapitalismuskritische Bewegung gegen ein vorherrschendes Wissen begonnen hat, wird als Ideologie herrschaftsförmig. – Was könnte das in der SARS-Cov-2-Pandemie heißen?

Brigitte Helbling, Antonia Labs, Leonardo Raab und Claudia Reiche sprechen mit anderen Worten und in anderer Reihenfolge über Die Mondmaschine und Menschen, Maschinen, Bakterien sowie vom Wissen und der Intelligenz in Zeiten der Pandemie, was sich im Video des Live Talk anhören und ansehen lässt. Das wenige, äußerst vage Wissen von dem neuartigen Corona-Virus – und diese Formulierung wird vermutlich jeder Virologe teilen können – entfaltet durch seine Einwirkungen auf das Volk bzw. die globale Bevölkerung gemäß des altgriechischen ἐπί epí ‚auf, bei, dazu‘ und δῆμος dēmos ‚Volk‘ als teilweise tödliche Erkrankung und Wissen eine kaum zuvor für möglich gehaltene Macht. So wären einige finanzpolitische Maßnahmen z.B. der Bundesregierung oder der EU noch vor kurzem als blanker Kommunismus bekämpft worden. Heute gelten sie als systemerhaltend. Wir befinden uns mitten in einer Umwertung aller Werte.

Torsten Flüh

Nur für kurze Zeit können der Live Talk und eine Aufzeichnung von Die Mondmaschine hier abgerufen werden:
Das Mondmaschinen-Team und Claudia Reiche:
Live Talk

MASS & FIEBER OST
Die Mondmaschine
mit Antonia Labs und Leonardo Raab
Regie: Niklaus Helbling
Text: Brigitte Helbling
Video: Georg Lendorff
Musik: Felix Huber
Kostüm: Genia Leis
Maske: Miria Germano
Artwork: Thomas Rhyner
Assistenz: Leonardo Raab
Produktion: Manu Wiessner
www.massundfieber.ch
19. und 20. Mai 2020
Zürich, Hörsaal, spartenübergreifende Koproduktion
Theater Winkelwiese, Universität Zürich, Helferei Kulturzentrum

Termine für die Aufführung der Lecture-Performance.

Mehr online von
HAUPTSACHE FREI
Festival der darstellenden Künste Hamburgs


[1] Vgl. zum Höhlengleichnis Torsten Flüh: Kunst-Nebel-Rebell. Zu Sebastian Hartmanns Woyzeck am Deutschen Theater mit Benjamin Lillie. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 31, 2014 12:00.

[2] Die Steuerung von Fenstern durch KI gilt in zweierlei Hinsicht. Einerseits sind die Fenster immer schon ein visuelles Design durch Programmierung, andererseits werden heute diverse Fenster an Bauwerken von Museen bis zum Eigenheim oder z.B. auf Schiffen digital verdunkelt oder geöffnet. Zeitfenster sind in digitalen Kalenderprogrammen mit Erinnerungen etc. programmiert.

[3] Jacob und Wilhelm Grimm: Das deutsche Wörterbuch: fenster.

[4] Zu Yuri Gagarins Flug und Raumanzug siehe auch: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56 und ders.: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: ebenda November 17, 2015 20:52.

[5] Robert-Koch-Institut: Geschichte: 1901-1910.

[6] Robert Koch: Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfectionskrankheiten. Mit 5 Tafeln Abbildungen. Leipzig: Vogel, 1878, S. 4. (Digitalisat)

[7] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Such nach sich selbst. In: Spurensicherungen. München: dtv, 1988, S. 78.

[8] Ebenda S. 87.

[9] Lynn Margulis, Dorion Sagan: What Is Life? New York: Simon & Schuster, 1995.

[10] Ebenda (Zitiert nach Wikiquote Lynn Margulis.)

[11] Ebenda S. 3.

[12] Jerry Coyne: Lynn Margulis disses evolution in Discover magazine, embarrasses both herself and the field. In: Why Evolution is true April 12, 2011 at 10:00.

[13] Robert-Koch-Institut: Tuberkulose.

[14] Robert-Koch-Institut: HIV/AIDS.

[15] Die Forschungen sind eingegangen in einen Roman und eine Stadtführung:
Torsten Flüh: Beriberi. Robert Kochs Reise um die Welt. Berlin: Kindle, 2012. (Amazon)
Berlin-Feuerland: Robert Koch.

[16] Robert-Koch-Institut: Pest.

[17] Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919). S. 297. (Digitalisat)

[18] Nathanaels „vergucken“ wird relativ ausführlich und umständlich über den Optiker Giuseppe Coppola erzählt. Der preist nämlich Okuli für lateinisch Augen an: »Ei nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke.« Diese Okuli sind als Brillen Augen und Fenster(!) zugleich. Und auch das „Taschenperspektiv“, das Nathanael Coppola abkauft, lässt sich als eine Art Fenster denken. Mehr noch der Verkäufer namens „Coppola“ (ver)koppelt beim Autor E.T.A. Hoffmann, einem Juristen, mehrere Wissensbereiche miteinander. Siehe DWDS: koppeln.  

[19] In der Fußnote 4 wendet Freud seine Analyse der „automatischen Puppe“ in „die Materialisation von Nathaniels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit“.

[20] Siehe zu Alexander von Humboldts Russlandreise: Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.

[21] Siehe Wikisource: Peter Kropotkin.

[22] Ebenda.

[23] Peter Kropotkin: Mutual Aid: A Factor of Evolution. New York: McClure, 1902. (Digitalisat)

[24] Gustav Landauer: Vorwort des Übersetzers. In: Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung. Leipzig: Thomas, S. 6-7.

[25] Peter Kropotkin: Mutual … [wie Anm. 23].

[26] Die eigene Übersetzung weicht hier von der Gustav Landauers ab.

[27] Peter Kropotkin:  Mutual … [wie Anm. 23].

Von der Liebe zu Büchern und dem Hass

Lesen – Bücher – Dresden

Von der Liebe zu Büchern und dem Hass

Zur Buchpremiere von Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder und dem Buchhandel in Zeiten der COVID-19-Pandemie

Als Ingo Schulze am 4. März 2020 im Plenarsaal der Akademie der Künste am Pariser Platz unterstützt von Ulrike Vedder und Thomas Rosenlöcher seinen Roman Die rechtschaffenen Mörder vorstellte, ahnte niemand, dass Angela Merkel 14 Tage später, am 18. März, nicht zuletzt die Schließung aller Antiquariate und Buchläden einleiten würde. Was würde Ingo Schulzes Protagonist, der Antiquar Norbert Paulini, zu dieser staatlichen Maßnahme sagen? Allein die Vorstellung einer „Kontaktsperre“, die Angela Merkel am 22. März in Abstimmung mit den Ministerpräsidenten der Länder verkündete, war undenkbar. Beim anschließenden Empfang unterhielt man sich noch über den Aufenthalt von Freunden in Santa Barbara wie Kalifornien überhaupt und das kontaktfreudige Leben dort. Am 20. März hat der Gouverneur von Kalifornien schon ein „stay-at-home order“ erlassen.

Die rechtschaffenen Mörder wird eröffnet als ein Bücherroman. Zu Zeiten der DDR ist das Antiquariat von Norbert Paulini ein Faszinosum und er Herrscher eines Königreichs aus Büchern. „Lesehungrige“ reisen selbst von den Ostseeinseln Rügen und Usedom an, um in das Reich der Bücher eingelassen zu werden. Paulini selbst lebt mit und von Büchern, in einer Bücherwelt, wie man sie sich zumindest noch vor dreißig Jahren oder so erträumt hat. Das Antiquariat ist eine Art Schutzraum, wenn Ingo Schulze aus dem ersten Kapitel vorliest. Und dann kommt es zu einem Medienwechsel, der sich mit einem Politikwechsel überschneidet oder umgekehrt. Ingo Schulze führt seinen Protagonisten in Dresden-Blasewitz liebevoll ein. Der Autor liebt Bücher. Thomas Rosenlöcher liebt ebenfalls Bücher und erinnert sich an das Leben in den Antiquariaten als Kulturgut. Im Plenarsaal sitzen mit u.a. Volker Braun und Ginka Steinwachs, Kerstin Hensel und anderen mehr ebenfalls nur Menschen, die gern lesen und Bücher lieben.

In Deutschland sind wegen Maßnahmen zur Abflachung der Infektionswelle – „Flatten the curve!“, wird jetzt auf Verkehrsinformationstafeln angezeigt – nicht nur Antiquariate und Buchhandlungen geschlossen, sondern auch Bibliotheken, Lesesäle und Bücherhallen. Allein in Berlin und Sachsen-Anhalt dürfen Buchhandlungen geöffnet bleiben, teilt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf seiner Website mit. Das „Kulturkaufhaus“ Dussmann am Bahnhof Friedrichstraße hat trotzdem seit dem „21.03. bis auf weiteres geschlossen“. Was gerade stattfindet im Buchhandel, könnte selbst Norbert Paulini interessieren. Die Bundesregierung wird ungeahnte Mengen Geld selbst in den deutschen Buchhandel pumpen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann veröffentlicht am Sonntag, den 29.03. um ca. 17:00 Uhr einen Post mit der Formulierung: „Wichtige Korrektur bei Anträgen auf Soforthilfe: kein Verbrauch von Privatvermögen erforderlich!“ Es ist wahrhaftig eine Zeit der Umwertung aller Werte selbst im Buchhandel. Das geht über sozialistische Zeiten in Dresden-Blasewitz weit hinaus.

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Ingo Schulze sagt im Gespräch mit Ulrike Vedder über sein Erzählen, dass er nicht gewusst habe, wie sich sein Protagonist Norbert Paulini im Roman entwickele. Erzählen hat etwas mit Empathie zu tun, die Thomas Rosenlöcher auf dem Podium und am Rednerpult bestätigt. In einem sächsischen Idiom hält Rosenlöcher, der mittlerweile in Prenzlauer Berg lebt, eine Laudatio auf das feine erzählerische Gespür Schulzes. Selbst das Geräusch der Straßenbahn habe er beschrieben und sich unwillkürlich gefragt „Wie hieß der doch eigentlich“. Schulze sei als Erzähler ganz nah dran an der Geschichte. Man könne im Text finden, was nur er gespürt habe. Es geht Rosenlöcher anscheinend darum, eine Authentizität des Erzählten zu beschreiben. Allein schon das sächsische Idiom verleiht Rosenlöcher eine gewisse Autorität für die Einschätzung der Straßenbahnpassage.
„Plötzlich hörte er das Singen der Straßenbahn in der Kurve am Schillerplatz. Ihr Klang spannte sich tröstlich über den Nachthimmel. Seine Großmutter würde dasselbe Geräusch hören und an ihn denken. Norbert sah die Straßenbahnfahrerin, die aufrecht saß wie immer und ernst und konzentriert an den Kurbeln drehte. Sie war für alle da, die ganze Nacht. Aber nur ihm nickte sie zu. Er sollte nun einsteigen, sie würde ihn zur Großmutter bringen.“[1]

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Mich erinnert die Erzählung vom Antiquariat und den Büchern ein wenig an eines von Friedrich Kröhnke mit dem Titel Ein Geheimnisbuch[2], das Ingo Schulze sicher nicht gelesen hat. Es ist auch ganz anders geschrieben, weil Kröhnke mit den Büchern nicht vom Aufstieg und Fall des Antiquars Norbert Paulini erzählen will oder muss. Vielmehr erzählt er von seiner Büchersammelleidenschaft, die er schon in frühester Jugend mit seinem Bruder Karl entwickelte. Im Geheimnisbuch reisen Alexander und Abel gar bis nach Hamburg, um Antiquariate zu durchstöbern. Wenn ich mich hier zu einer Abschweifung und Kontextualisierung hinreißen lasse, dann wegen des Erzählens von Büchern und Antiquariaten. Das kann nämlich unterschiedlich ausfallen. Von Büchern und Antiquariaten in Büchern zu erzählen, hat fast immer Aussicht auf Erfolg, gelesen zu werden. Deshalb hier nun ein Einschub aus Ein Geheimnisbuch:  
„In Hamburg konzentriert sich die Arbeit auf gewisse Ecken der Grindelallee, aber auch auf jenen scheinbar schon immer existierenden Pavillon am U-Bahnhof Stephansplatz nahe Planten un Blomen, um den auch Hubert Fichte herumstreifte: Fundgrube für Bücherfreunde. Da gibt es eine ganze Wand von Reisebeschreibungen aus dem 20. Jahrhundert, in denen die Wüsten noch schwarz und weiß sind und die Welt wunderschön.“[3]  

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Das Antiquariat als Buchhandlung hatte – und hat es bisweilen heute noch – einen besonderen Zauber, der vom Geheimnis der Bücher ausgeht. Dabei handelt es sich nicht nur um alte Bücher, sondern um benutzte, bereits von einer oder mehreren Menschen gelesenen Büchern. Es hat fast die Intimität einer Vereinigung durch‘s Lesen. Bei neuen Büchern ist das nicht so. Die Gerüche von alten Büchern und ihr Äußeres bekommen etwas Voyeuristisches. Ingo Schulz beschreibt das Antiquariat in der Brucknerstraße von Dresden-Blasewitz nicht nur als Ort des Lesens, vielmehr als Lebensraum mit Büchern.
„Ob die Bücher in den drei schönsten Zimmern Norbert Paulinis wohnten oder ob er sich bei den Büchern niedergelassen hatte, blieb unentschieden. Die Bücher und der Antiquar lebten zusammen, am Tag und in der Nacht, und da vor den Fenstern zur Straße Ahornbäume standen und vom Hof aus eine große Kastanie das Haus beschirmte, verloren sich die Tages- und die Jahreszeiten in einem Halbdunkel, das jederzeit das Licht einer Leselampe rechtfertigte.“[4]

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Das Verhältnis zu den Büchern und zur Macht, vielleicht gar der Macht des Imaginären, wie es Ulrike Vedder mit Michel Foucault bei der Buchpremiere nennt, unterscheidet sich z. B. von der erotischen Begeisterung für Bücher der Gebrüder Alexander und Abel Amelung. Die andere Seite der Bibliophilie nimmt der Antiquar ein. Die alten Bücher verleihen Paulini Macht, die er genießt. Er vermag das Begehren nach den anderen Büchern, nach dem anderen Wissen jenseits der Nomenklatura zu kontrollieren. Ingo Schulze beschreibt von Anfang an Machtverhältnisse, wenn es heißt:
„Norbert Paulini ähnelte einem Kirchendiener oder Museumspförtner, wenn er den Türspalt mit seinem Körper schützend, den Besucher über die Brille hinweg musterte und sein »Sie wünschen?« in Verlegenheit brachte oder gar zum Unbefugten degradierte, der die Parole nicht wusste. Erkannte der Herrscher über die Bücher einen denn nicht? Hatte er die gemeinsamen Gespräche vergessen?“[5]

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Welches Gespür für Aktualität muss ein Autor haben, um in seinem gerade veröffentlichten Buch den vor noch ein paar Wochen gänzlich aus dem Gebrauch gekommenen, abwegigen Begriff Hamsterkäufe in seinem Roman über einen Antiquar zu verwenden? „Hamsterkäufe“ ist binnen Tagen zu einem Zeitwort geworden. Die allererste Einrichtung des Antiquariats „sah aus, als hätten die Bewohner Hamsterkäufe getätigt.“[6] Sehen Antiquariate nicht immer nach „Hamsterkäufe(n)“ aus? Plötzlich sind da die Aufnahmen der Buchhandlung Calligrammes von Fritz Picard im Film Paris Calligrammes von Ulrike Ottinger.[7] Die Genese des Antiquariats wird von Ingo Schulze in die Nähe von Hamsterkäufen gerückt. Das gibt einen Wink auf die Hamsterkäufe von Klopapier, Nudeln, Tomatensoßen und Fertiggerichten, wie sie auch am gestrigen Montag wieder ansatzweise bei Aldi zu beobachten waren. Hamsterkäufe werden nicht getätigt, weil es zu Versorgungsengpässen kommt, weil womöglich gar Hunger droht. Aber warum dann? Geht es um einen Hygienewunsch? Geht es um Kontrollwünsche im Kontrollverlust? Oder gibt das Klopapierhamstern einen Wink auf eine Regression in die anale Phase von Kleinkindern? Hamstern und eine einzigartige Ordnung, die sich auf keinen Fall verändern darf wie bei Norbert Paulini, bedingen einander.
„Was die Regale nicht fassen konnten, wuchs an den Wänden dicht an dicht in Stapeln empor. Es sah aus, als hätten die Bewohner Hamsterkäufe getätigt. Doch anstelle von Konserven, Zucker- und Mehltüten horteten sie Bücher. Die Registrierkasse thronte auf dem Nähmaschinentisch wie ein selbstherrlicher Bonze.“[8]

Es sind derartige Formulierungen, durch die nicht etwa eine ebenso imaginäre wie harmonische Welt der antiquarischen Bücher aufgebaut wird, vielmehr kontaminiert Ingo Schulze das Antiquariat und den Antiquar mit einem Begehren nach Macht, weil seine Welt eine vermeintliche Alternative zum Machtapparat bilden soll. Dorothea Paulini stirbt nach der Geburt ihres Sohnes, um ihrem Mann und ihrem Sohn ein Antiquariat in Kartons zu hinterlassen. Klaus Paulinis „Traum“ besteht nicht zuletzt darin, „als Gehilfe einer stillen und sauberen Arbeit nachzugehen, statt sich einer lärmenden Maschine zu verschreiben, die seinen Körper Tag für Tag von den Sohlen bis in die Haarwurzeln durchdrang und ihm den verbrauchten Odem einer von Schmieröl gesättigten Luft ins Gesicht blies“.[9] Das Antiquariat wird insofern als eine Gegenmaschine formuliert. Doch genau diese imaginäre Formation einer Maschine wird sich später gegen Norbert den Sohn wenden. Man kann in der Exposition des Romans also fragen, was die Maschine und ihr imaginärer Gegenentwurf ausmacht.

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Der „Dreher“ Klaus Paulini imaginiert (s)eine Maschine als eine, von der er träumt, ihr zu entkommen. Wir wissen nicht, ob und wie intensiv Ingo Schulze Franz Kafkas In der Strafkolonie gelesen hat.[10] Kafkas Maschine wird genauer beschrieben. Dennoch lässt sie sich mitlesen. Die „lärmende Maschine“ ist zumindest für Klaus Paulini in den 50er Jahren in Dresden eine andere imaginäre Größe als für den Maschinisten bei Kafka. Doch das Durchdrungenwerden von der Maschine ähnelt jenem stark. Die Maschine ohne Namen und genauere Funktion „(durchdrang) seinen Körper Tag für Tag von den Sohlen bis in die Haarwurzeln und (blies) ihm den verbrauchten Odem einer von Schmieröl gesättigten Luft ins Gesicht“. Anders gesagt: die imaginäre Maschine verwandelt den Körper und das Ich in eine ebensolche oder in ihren „Gehilfe(n)“, wie es Schulze nennt. Die auslöschende Transformation des Menschen in eine Maschine gehört nicht erst seit Kafka zu den Schrecken der Moderne. In der Produktionsästhetik des Sozialismus in der Prägung der DDR wird der Schrecken in ein Heilsversprechen umgewandelt. Doch nicht der Maschinist beherrscht die Maschine, vielmehr muss er sich ihr „verschreiben“ bzw. unterwerfen.

Das Verhältnis von Antiquariat und Maschine bildet insofern eine Ausgangslage für die Erzählung, als es als Machtverhältnis formuliert wird. Norbert Paulini wird bereits als „Neugeborene(r)“ ganz dem Antiquariat verschrieben. Der 1953 geborene Norbert hatte quasi keine andere Existenzmöglichkeit, als den alten Büchern und dem wuchernden Antiquariat verschrieben zu werden. Warum setzt Ingo Schulze die Platzierung seines Protagonisten derart stark in Szene? Geht es um einen Charakter? Oder geht es um eine Schuldfrage, die von vornherein entschieden wird? Es gibt für Norbert Paulini so gut wie kein Entkommen. Er wird lesen müssen, weil er quasi gleich der Matratzen ohne Bettgestell auf den Büchern abgelagert wird. Fluch oder Segen? Macht oder Ohnmacht? Man könnte das eine Erzähllogik oder einen Determinismus durch Sozialisation unter den Randbedingungen der DDR nennen.
„Klaus Paulini verkaufte zum Leidwesen seiner Mutter die Bettgestelle. Fortan lagerten die Matratzen auf Büchern. Auch der Korb mit dem Neugeborenen ruhte auf einem Unterbau gleichen Materials.“[11]   

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Was heißt lesen für Norbert Paulini? Im fortgeschrittenen Jugendalter des VI. Kapitels will er „Leser werden“.[12] Die rechtschaffenen Mörder ist nicht zuletzt ein Roman über das Lesen, insbesondere das von Büchern. Wie liest er? Was liest er und was soll er lesen bzw. studieren? Das Lesen wird als brotlose Profession vorgeführt und von Vater und Sohn mit der Nachbarin Frau Kate diskutiert. „Frau Kate befragte die Karten.“ Auch das lässt sich als eine Art des Lesens bedenken. Vielleicht ist es die Lesepraxis, die eben die Nachbarin, aber nicht Norbert anwendet. Denn das Kartenlesen gibt keine eindeutigen Antworten, sondern zutiefst widersprüchliche, nach denen sich bei Schulze zumindest nicht entscheiden lässt. Die „Klassenlehrerin“ bietet da schon eher ein berechenbares Lesen an, das im produktionsorientierten Sozialismus der DDR Macht verspricht. Er „beugte sich der Entscheidung wie einem Urteil“, heißt es. Die höchste Macht besteht darin als „BMSR-Techniker“ die Maschinen lesen und steuern zu können. Norbert wird „als Kind eines Arbeiters und als Halbwaise das Privileg (eingeräumt), eine Ausbildung zum BMSR-Techniker mit Abitur zu beginnen“.
„»Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regeltechnik«, klärte sie ihn auf. »Danach steht dir die Welt offen.«“[13]

Lesen heißt demnach algorithmische Entscheidungen treffen. Lange bevor das Internet zugreift, hat sich Norbert Paulini auf Zeit qua seiner Ausbildung als „BMSR-Techniker“ den Algorithmen verschrieben. Die heißen noch nicht so, aber sie folgen der algorithmischen Maschinenlogik. Lesen und Algorithmen werden insofern miteinander verkoppelt. Betreiben, messen, steuern, regeln läuft immer auf binäre, Entweder-Oder-Entscheidungen hinaus. Nichts könnte dem Wunsch „Leser (zu) werden“, ferner liegen. Nichts könnte der Ambiguität des Kartenlesens ferner sein. Es gehört zu Ingo Schulzes Erzähltalent, mit wenigen Formulierungen gravierende Unterschiede aufzureißen. Norbert positioniert sich schließlich wie sein Vater gegen die Maschine. Denn ihn „bestürzte (…) die Vorstellung, sein Leben fortan zwischen Apparaten in Betrieben zu vertrödeln“. Er schmeißt die Ausbildung hin und wird Gefreiter und trifft einen Kameraden in der Bibliothek, der zwei Bücher ausleiht.
„»Wie kommen die denn hierher?«, fragte der Soldat und legte die beiden Bücher vor ihm ab. Das eine, von einem polnische Autor namens Gombrowicz, hatte einen unaussprechlichen Titel und noch nie ausgeliehen worden, das andere, das schlicht »Das Schloß/Der Prozeß« hieß und von Kafka stammte, trug zwei Ausleihstempel.“[14] 

Während der „Soldat“ dem Lesen ein geradewegs analytisches Interesse an Erzählpraktiken entgegenbringt, bleibt Norbert Paulini erstaunlich defensiv, obwohl er sich zu einer „Ausbildung zum Buchhändler“ entschlossen hat. Zum Abschied schenkt er dem Soldaten Gräbendorf nicht etwa Kafka oder Gombrowicz, sondern „ein antiquarisches Exemplar von Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, was freilich literarisch weit zurückbleibt. Lesen, so lässt sich mit dem Zitat aus den Wanderungen sagen, heißt für Norbert Paulini vor allem ein Wiederlesen, ein Spiegeln und Kennen. Das Fontane-Zitat lässt sich durchaus als charakteristisch verfehlt beschreiben. Denn Fontane formuliert sein Lesen als kennen und „heimisch“. Fontane beschreibt und imaginiert Schloß Oranienburg als Ort seines Wissens. Die Wanderungen sind immer auch Wissensverarbeitung und Andeutung eines Gemeinwissens. Es gibt bei Fonatane häufig in den Wanderungen eine Wissensgeste des Wir.
„»Wir lieben das Stück, aber wir kennen es, und während die Sonne hinter Schloß und Park versinkt, ziehen wir es vor, in Bilder und Träume gewiegt, auf >Schloß Oranienburg< zu blicken, eine jener wirklichen Schaubühnen, auf der die Gestalten jenes Stücks mit ihrem Haß und ihrer Liebe heimisch waren.«[15]    

Das Jahr 1989 und der 9. November werden für Norbert Paulini zu einer ambivalenten Erfahrung von Ausbleiben seiner Kunden im Antiquariat und politischen Neuerungen, die er begrüßt. Plötzlich passiert ihm auf einem Spaziergang ein Ausbleiben der Sprache, das mit einer Leseerfahrung beschrieben wird. Die Leseanordnung korrespondiert durchaus mit Fontanes Wahrnehmung und Lesen als Wissen von sich selbst. Paulini nimmt sich mit einem Mal als „»Opfer«“ wahr.
„Doch plötzlich, nur für einen Augenblick, vor sich das »Blaue Wunder«, um ihn die rauchige Luft und das Gekreisch einer einzelnen Möwe, wusste Norbert Paulini nicht mehr, wer er war. Es besaß keine Sprache, keinen Wunsch, kein Ziel. Er lief weiter, er schob den Wagen mit dem Kind, ein sanftes Holpern – und schon war es wieder vorbei. Früher war ihm das nur beim Lesen widerfahren.“[16]   

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In gewisser Weise erodiert der Roman als Erzählung gegen Ende des zweiten Teils. Während zunächst vom Antiquariat und dem Lesen erzählt wird, wechselt Ingo Schulze nun die Perspektive auf (s)eine Auseinandersetzung mit Norbert Paulini. Es geht nun mehr um das Schreiben eines Romans in Auseinandersetzung mit dem Antiquar und seinem apodiktischen Wissen von den Büchern und der Literatur. Ingo Schulze blendet den Medienwechsel weitgehend aus. Was sich noch im ersten Teil als Frage des Lesens ankündigte, wird im zweiten Teil kaum noch komponiert, sondern in einer Art Bericht erzählt. Dabei ist Pegida zutiefst in einem Medienwechsel verstrickt, der nicht thematisiert wird. Bei Pegida und AfD geht es ausschließlich ums Erzählen, um Erzählungen und Gegenerzählungen, ums Imaginäre, um die Anderen und Wir, ums Internet und Apps. Doch das findet bei Ingo Schulze enttäuschender Weise keine Berücksichtigung.
„Ich hatte diesem Dresdner ein Denkmal setzen wollen, den Westlern zeigen, wo wahre Bildung lebte, und nebenbei auch meine Herkunft adeln. Ich hatte uns Ostlern die eigene Geschichte bewusst machen wollen. Aber ich hatte Paulini verkannt, verkannt, wozu ihn das, was wir an ihm bewundert hatten, prädestinierte: zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab. Ich hatte ein Manuskript in den Sand gesetzt, aus Liebe zu Lisa, aus der Hoffnung auf eine Kontinuität meines Lebens. Aber auch ich war der Hybris erlegen. Denn was sonst als Selbstüberhebung und Anmaßung war meine Hoffnung gewesen, mein Schreiben für etwas einsetzen, für etwas benutzen zu können, auch wenn dieses Etwas die Liebe war. Was für ein Irrtum, was für ein Verrat!“[17]  

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Ist die Frage, ob Norbert Paulini zu einem Reaktionär oder Revoluzzer geworden war, eine Medienfrage? „Die Medien, also die regionalen“, werden im Dritten Teil mit Nachrufen auf Norbert Paulini erwähnt. Doch das Lesen wird nicht im Kontext der Medien bedacht. Es gibt Über-Neunzigjährige, die fröhliche Urständ im Internet feiern. Das wird weniger beachtet und thematisiert. Man bekommt es eher nur vom Hörensagen mit. Doch eben diese Über-Neunzigjährigen oder etwas Jüngeren genießen im Netz eine hohe Glaubwürdigkeit mit Erzählungen aus ihrer Kindheit von Adolf und ich. Meistens haben diese Menschen ihre Meinungen und Ansichten seit 70 und mehr Jahren nicht verändert. Aber sie sind im Internet auf eine andere Plattform getroffen, auf der sie bereitwillig und begierig gehört und gelesen werden. Der Medienwechsel, die Aufmerksamkeitswünsche und Leseweisen hätten insofern in einem Roman mit dem Anspruch auf Darstellung eines Dresdner Bildungsmilieus wie auch immer erzählt werden müssen. Es ist eben ganz und gar eine Herausforderung des Erzählens und der Erzählweisen. Selbst Bücher und gerade der Buchmarkt existiert heute insbesondere über das Internet.

Torsten Flüh

Ingo Schulze
Die rechtschaffenen Mörder


[1] Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2020, S. 58.

[2] Friedrich Kröhnke: Ein Geheimnisbuch. Zürich: Ammann, 2009. (Siehe auch: Torsten Flüh: Der Mythograph. Ein Werkaufriss zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Friedrich Kröhnke. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 9, 2016 17:31.)  

[3] Ebenda S. 137.

[4] Ingo Schulze: Die … [wie Anm. 1] S. 12.

[5] Ebenda S. 10.

[6] Kapitel II hier ohne Seitenzahl, weil ein dummer EPUB-Reader ohne Seitenzahlen benutzt wird. EPUB-Reader, stellt der Blogger fest, sind nichts für ihn. Bücher kann und will er nicht ohne Seitenzahl lesen.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2020.

[8] Ingo Schulze: Die … [wie Anm. 6] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. zur Maschine: Torsten Flüh: Kafkas Schreibmaschine. Die Oliver 5-Schreibmaschine und Franz Kafkas In der Strafkolonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. August 2019.

[11] Ingo Schulze: Die … [wie Anm. 6] Ebenda.

[12] Ebenda Kapitel VI.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda Kapitel VII.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda Kapitel XIX.

[17] Ebenda Teil II.