Im Netz der Literaturen

Jugend – Sprache – Liebe

Im Netz der Literaturen

Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel

Die Spinnennetze in den Büschen und zwischen den Pfeilern der Balustrade zum Großen Wannsee des Literarischen Colloquiums Berlin drohten unter stürmischen Regenböen zu zerreißen. Nachdem Michel Decar aus seinem Text und Künstlerroman Kapitulation, der am 1. September 2023 im Verlag März erscheinen wird, auf der Seebühne unten im Garten fünfzehn Minuten gelesen hatte, zog eine Regenwand heran. Die Mikrofone und das Mischpult wurden von den Technikern des LCB abgebaut. Stecker raus. Fortsetzung nach 30 Minuten Pause und Ortswechsel in den Saal mit der Ausstellung LCB-Editionen 1968-1989 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Assemblage – 60 Jahre Literatur intermedial. Das LCB feiert sein sechzigjähriges Bestehen und zum 18. Mal Kleine Verlage.

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Literarische Texte lassen sich dehnen und verweben wie Netze der fleißigen Spinnen. Texte bilden Texturen, Romane als fleißig und oft gegen die Zeit ausgelegte Gespinste. Sigrid Behrens wird von ihrem Hamburger Verleger von MTA (Minimal Trash Art) mit dem Roman Gute Menschen angekündigt. Lesepremiere des neuen Buches. Fünfzehn Minuten. Die Fünfzehn dauern meistens länger. Danach betritt Friedrich Kröhnke die Lesebühne innen. Er liest aus seinem gerade im Rimbaud Verlag aus Aachen erschienenen Roman Spinnentempel die Passage, als der Ich-Erzähler den Spinnentempel der Baha’I von Battambang besucht. Dann denkt er auf einem Bett im Hotel liegend über sein Leben nach. Sehr viel später liest Christoph Geiser fünfzehn Minuten aus seinem Caravaggio-Roman Das geheime Fieber, der gerade als Teil der Werkausgabe bei Secession in Berlin erschienen ist. Alle Lesungen lassen sich gar nicht hören und bedenken, sie hinterlassen schon so im Flash ein eigentümliches Gespinst.

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Es ist ja nicht so, dass sich alle Besucher*innen, Autor*innen, Lektor*innen und Verleger*innen auf der Seewiese versammelt hätten, um z.B. dem Autor Michel Decar aufmerksam zu lauschen. Viele tummeln sich gleichzeitig oben an der LCB-Villa um die Verlagsstände draußen. Vielmehr geht es bei diesem Event ebenso um ein Sehen und Gesehenwerden, Streunen und Blättern an den Verlagsständen, Signaturensammeln eines Autors, um die Bücher einer oder einem Lieben mit Widmung zu schenken oder, durch das Autogramm aufgewertet, auch nur antiquarisch zu verkaufen. Die veganen Speisen vom Grill oben am Eingang links sind schnell ausverkauft. Bratwurst und Nackensteak werden eher als Drohung wahrgenommen. Frischhaltedosen werden auf der steil abschüssigen Wiese ausgepackt und mit Familien, der oder dem Liebsten geteilt, bis das Wetter doch zu ungemütlich wird.  

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Die kleinen Verlage aus vielen Teilen des Leselandes Deutschland sind besonders eigentümlich, eigenwillig und oft auf ein bestimmtes, von den großen Publikumsverlagen wie Suhrkamp vernachlässigtes Lesepublikum spezialisiert. So das Credo. MTA wirbt mit „MTA ist für die Kunst, nicht für den Profit.“[1] März gibt sich „immer radikal, niemals konsequent“, und schreibt seine Geschichte seit 1967 dem „Vormärz“ mit seinem Verleger Jörg Schröder.[2] Bernhard Albers gründete und leitet seit 1981 die Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH mit dem Credo „zeitgenössische Lyrik und Prosa“[3], der Name des Lyrikers Arthur Rimbaud gibt einen Wink nicht zuletzt auf das komplizierte Verhältnis zu dem zehn Jahre jüngeren Paul Verlaine oder umgekehrt. 1995 spielte Leonardo DiCaprio, gerade 21, Arthur Rimbaud in Agnieszka Hollands Total Eclipse – Die Affäre von Rimbaud und Verlaine.   

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Das allerdings wollte der Berichterstatter gar nicht so genau erzählen, das schlich sich vielmehr ins Erzählen ein. Das Einschleichen ganz anderer Erzählungen macht unterdessen Literaturen unterschiedlicher Genres aus. Heute wird fast jeder Text zum Roman. Die kürzere Form der Erzählung erscheint immer seltener unter dem Titel. Ein Roman soll es schon sein. Romane waren einst lang bzw. dick bis sehr, konnten wie bei Proust keine Grenzen und kein Ende finden. Heute sind sie eher kurz, versprechen aber eine komplexe Geschichte über eine gewisse Zeitspanne. Kapitulation – Roman[4], Gute Menschen – Roman[5], Spinnentempel – Roman[6], Das geheime Fieber – Roman[7]… Der Romantitel ist eine eigene Formulierungskunst. „Noch wach?“[8], der Roman des Benjamin von Stuckrad-Barre über Julian Reichelt und Bild traf voll die What’s App-Sprach- und Aufreiß-Praktiken aller Menschen, die What’s App nutzen – und das sind fast alle. Nur Verkopfte gendern, Reichelt und Stuckrad-Barre nie:
„Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden.“[9]

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Kapitulation ist auch gut – aber wer möchte schon seine eigene Kapitulation – vor was auch immer – erleben oder eingestehen müssen. Bei „Noch wach?“ wollen alle Leser*innen – aus welcher Perspektive auch immer, Frauen, gar Feministinnen – durch das Messanger-Schlüsselloch gucken. Von der Lesebühne am Wannsee werden Satzfetzen von Michel Decar herangepeitscht, als sich der Berichterstatter nähert. Es geht um die Literaturpreisverleihung einer Kreissparkasse, die mit irgendwelchen Nazis ganz früher oder auch schon nicht mehr so ganz früher ihr Preisgeldvermögen angelegt haben könnte oder hat. Der Schriftsteller im Künstlerroman gerät in einen Konflikt. Die Verlagsbeschreibung klingt fast gleich: „Als die Preisverleihung im Wolfsburger Ritz-Carlton zur Farce gerät …“[10] Preisgeld von altem Geld oder gar kein Geld – zum Überleben als Künstler? Passt. Künstler-Tristesse funktioniert heute so oder auch schon länger, wenn man an den Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung-Fall Fritz Martini von 1966 denkt.[11]  

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Der Gute Menschen-Romantext wird im Saal schon nicht mehr so brutal von der Witterung zerfetzt. Gedränge im Saal. Es treibt auch die zuvor wandelnden Besucher*innen vor Platzregen oder doch nur Schauer ins LCB-Innere. Bevor Sigrid Behrens zu lesen beginnt, erklärt sie. Zeitverlust. Bei der Lesung soll vor allem der neu publizierte Text, in diesem Fall ein Milieuroman, sprechen. Kann man nicht erklären, muss der Text selbst machen. Verlagsbeschreibungen sogenannte Klappentexte verfehlen i.d.R. den Roman oder wecken bedenkliche Identifikationswünsche. Und „Idylle“ ist fast wie Kitsch schon immer falsch.
„Eine Frau geht. Sie verlässt die jugendlichen Kinder, den loyalen Ehemann, das schöne Haus, das sie über Jahre hinweg gestaltet hat, die liebenden Familien und den innig verbundenen Freundeskreis. Sie verlässt eine Idylle, sie bricht ins Ungewisse auf. Warum? Wofür?“[12]   

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Der Stich der 15-Minuten-Stechuhr beendet die Lesung. Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und die schöne, farbige Frau, die sich aus den knapp 100 Bänden der LCB-Editionen von 1968 bis 1989 nicht recherchieren lässt, bleiben aus der temporalen Ferne ungerührt der Kamera zugewandt. Wong May veröffentlichte Wannsee-Gedichte (1975), György Konrád Gesicht und Maske (1978), und Jiří Kolář Suite (1980). Regine Ehleiter, die an der Freien Universität den Exzellenzcluster Temporal Communities leitet, hat die Ausstellung LCB-Editionen, 1969-1989 – eine Re-Lektüre kuratiert.[13] Ab 1974 gingen die Editionen aus dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) hervor. Die Wannsee Poems der 1944 geborenen Wong May wurden von Nicolas Born, der im LCB aktiv war, ins Deutsche übersetzt. Die Ausstellung läuft noch bis zum 31. Oktober 2023 und wurde begleitet von einem Festival im Juni.

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Temporal Communities könnte beinahe zum Spinnentempel von Friedrich Kröhnke überleiten, weil der Roman um die verlorene Zeitlichkeit von Gemeinschaften kreist, könnte ich schreiben im Hinüberwerfen des Fadens. Kröhnkes Roman vom Ich, das sich wiederholt an die Leser*innen adressiert – „Sie sagen, das sind beliebige und oberflächliche Eindrücke, und wie in allem will ich Ihnen ja gar nicht widersprechen.“[14] – webt sich aus Erinnerungen wie Literaturen z.B. Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas und gibt sich, in der vor May, Konrád, Kolář und der Schönen gelesenen Passage, ironisch. Die Passage befindet sich schon im 4. Teil der mit Versen aus Leonard Cohens Song So long, Marianne als Motto versehenen 5 Teile des Romans.
„… Oh you are really such a pretty one.
I see you’re gone and changed your name again …
In den weiteren Jahren meines Lebens habe ich kaum etwas getan. Eigentlich bin ich nur herumgereist.“

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Der Spinnentempel und das Spinnen werden von Kröhnke in vielfältiger Weise durchkomponiert. Baha’I-Tempel, Paris, die OCI erinnern an Spinnen und insbesondere Taranteln, die sprichwörtlich wie von einer Tarantel gestochen, was eigentlich gebissen heißen müsste, den Gebissenen in Ekstase versetzen. In Battambang übernachtet und überlebt der Ich-Erzähler Fips für „lachhaft geringe Summen in geradezu prächtigen Hotels“ gelegentlich gegenüber einer Markthalle:
„Die Markthalle war ein weiterer Anziehungspunkt. Frühstück gab es keins im Hotel, und  ich frühstückte in der Markthalle. Sie war spinnenförmig, ein Bau im Stil des Art Déco aus der französischen Kolonialzeit. Man genoss das bunte Treiben, die Geräusche und Gerüche unter einem Kuppeldach, das sich in alle Himmelsrichtungen verzweigte, ihre Seiteneingänge waren Spinnenarme, …“[15]

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Friedrich Kröhnke liest in einem lakonischen Tonfall, der mit der sprachlichen Ironie das Publikum mehrfach zu einer amüsierten Reaktion reizt. So schon bei der Begründung des Aufenthalts in Battambang für „lachhaft geringe Summen“. Die dem Namen der kombodschanischen Verwaltungshauptstadt inhärente Alliteration wird lakonisch gelesen komisch. In Battambang überkreuzen sich für Fips mehrere Erinnerungsstränge an seine frühe Jugend wie den Spinnentempel der Baha’I in Langenhain im Taunus, einer Jugendliebe und die Kommunistische Internationale nicht zuletzt an das kommunistische Regime in Kambodscha. Ein Verbrechen. Kröhnke beherrscht einmal mehr die kompositorischen Verfahren der Themensetzung, ihrer Wiederholung und Variation. In Battambang und im Kröhnke-Tonfall wird die Religionsfrage im Alter bittere Ironie:
„Ich war sechzig und wollte noch einmal etwas anderes in meinem Leben. Einer religiösen Richtung anzugehören! Da hat man doch ein gutes Recht drauf: im Alter religiös zu werden.“[16]  

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Der Roman Spinnentempel entwickelt in seiner Verdichtung einen eigenen Sound zwischen Velosolex-Knattern, dem Allegro con fuoco oder feurig schnell des 4. Satzes aus Antonín Dvořáks Aus der Neuen Welt, der Internationale und So long, Marianne. Geräusche tragen zum Sound bei. Nicht zuletzt der „so süße(), schöne(), melodische() Gesang, der über die Dächer ringsum schwebte“[17] in Jerusalem – der Ruf des Muezzin. Das Fips genannte Ich, das einen Zwillingsbruder namens Falk hat, verliebt sich sechzehnjährig in den fünfzehnjährigen Tibor Teichmann in „der sogenannten Wissenschaftsstadt“.[18] Sie besuchen auf Fahrrad und Velosolex im Jahr 1972 den Spinnentempel, weil eine „spinnerte alte Dame über Baha Ulla undsoweiter geredet hatte“.[19] Frühzeitig setzt Kröhnke die Ambiguität von Spinnen und spinnen zur literarischen Komposition ein. An den Grenzen der Fakten wird entlang erzählt, so dass die Erzählung wie am Faden einer Spinne in der Schwebe und elastisch bleibt. Anders formuliert: Spinnentempel lässt sich ebenso als Literatur-Roman lesen. Als Roman von der literarischen Produktion.[20]

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Die Jugendliebe zu Tibor Teichmann wird vom Erzähler Fips mit dem Wunsch, „von diesen jungen Lehrern anerkannt zu sein“, verknüpft.[21] Diese jungen Lehrer waren links. ’68 hinterließ seine Spuren und Fips und Falk waren mittendrin. Sie wurden Trotzkisten, genauer Lambertisten „nach ihrer führenden Persönlichkeit, Pierre Lambert“.[22] Fips‘ Erzählung wird zu einer generationellen Geschichtserzählung von Reisen nach Paris in die Faubourg St. Denis, wo die Organisation Communiste Internationaliste, kurz OCI ihre Zentrale hatte, die sogleich literarisch mit Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas verwoben wird:
„die Zentrale der OCI, Michael Kohlhaas‘ „Sitz unserer provisorischen Weltregierung“. Wir waren müde und bekamen gleich unsere Lager zugeteilt: nebeneinander zu zehnt oder so kampierten die nach und nach nachts Eintreffenden auf Matten oder in Schlafsäcken auf den unsauberen Fußböden der großen Büroräume, welche Namen hatten, Salle Rosa Luxemburg, Salle Friedrich Engels, Salle Léon Sedow…“[23]   

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Es geht nicht nur um „Tagträume … und Träume“[24], die erzählt werden, vielmehr um ein Trauma zugleich. Das Trauma des Verlusts einer Jugendliebe durch Verbot und gesellschaftlicher Ächtung, weil gleichgeschlechtlich, und durch eine kaderförmige Organisation.  Aus den Romanen und Erzählungen von Friedrich Kröhnke können die Leser*innen wissen, dass er und sein Bruder Karl sich als Gymnasiasten euphorisch in „eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte(n)“.[25] – Wie eine Sprache finden für das, was einem angetan wurde beziehungsweise wo man mitmachen musste? – 1977 schrieb Friedrich Kröhnke zum ersten Mal über Zweiundsiebzig. Als er es 1987 veröffentlichte, hatte er im August 1986 in einer „Nachbemerkung“ vermerkt:
„Ich habe das alles nämlich zu einer Zeit geschrieben, als ich mich in eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte, geradezu heimlich geschrieben, denn „Subjektives“ war nicht angesehen.“[26]

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Ist das Subjektive Kitsch? Das wiederholte Einräumen, dass die subjektive Erzählung von Tibor Teichmann ebenso wie von der OCI Kitsch sein könnte, gibt einen Wink. – „Das alles, sagen Sie, ist offensichtlich ein Kitsch.“[27] – Nicht Fips sagt, dass es ein Kitsch ist, sondern eine imaginäre/r Leser*in, die angeschrieben wird. Wer die imaginäre Leser*in sein könnte, wissen wir nicht. Das heimlich Subjektive und der Kitsch durchziehen den Roman thematisch.[28] Seit 1986 ist schon eine gewisse Zeit vergangen. Ist die imaginäre, lambertistische Leser*in eine Art Über-Ich, das zensiert und zugleich den Kitsch für notwendig hält, wenn es um das Subjekt Fips geht, das als Ich erzählt? Wenn man die Zweiundsiebzig in Anschlag bringt, dann kehrt 50 Jahre später 2022 ein Liebesobjekt wieder, das zuvor schon vielfach abgewandelt worden war. Transformiert in immer wieder neue, eher flüchtige Verhältnisse mit Fünfzehnjährigen. Die Jugendliebe zweier Jungen, die man heute queer benennen würde, schwul gar, scheitert nicht zuletzt am – autoritären – Medium Festnetztelefon, das zwischenzeitlich immer weniger, kaum noch genutzt wird. Über das Festnetztelefon übten die Väter und Mütter ihre Autorität aus.
„Es gab noch keine Mobiltelefone und kein What’s App, nichts von alledem. Wenn ich bei seinen Eltern oder in der Arztpraxis anrief, wurde auf der anderen Seite aufgelegt.“[29]

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Wie schwul ist ein Roman, in dem das Lemma nicht einmal vorkommt? Schwul ist nicht irgendein Lemma. Im Caravaggio-Roman Das geheime Fieber (1987!) wird schwul zwar nicht in der Passage verhandelt, die Christoph Geiser am Nachmittag der Kleine(n) Verlage am Großen Wannsee zu fortgeschrittener Zeit mit Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und der schönen, farbigen Frau im Rücken vorliest, aber sonst geradezu um Legitimation ringend im kunsthistorischen Kontext bearbeitet. Ein Restaurator gebraucht schwul eher abwertend, wenn Maler „noch das von Michelangelo kopiert (hätten)“. Lässt sich schwul kopieren?
„Schwul, sagt der Restaurator, waren doch auch seine Nachfolger, diese Manieristen, fast eine Mode, als hätten sie noch das von Michelangelo kopiert – aber ins Süßliche verkehrt; der ist wenigstens nicht süßlich, nicht einmal süß, auch darum ist es kein Kitsch, sondern eine Provokation, gegen diese Moden, diese Idealisierung.“[30]

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Mit der Restaurator-Szene zum Gemälde Amor als Sieger, der in der Berliner Gemäldegalerie hängt, wird der Roman über Caravaggio und schwul eröffnet. In zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung des Romans hatte 1986 Derek Jarmans biografischer Film Caravaggio Premiere. Die vom Restaurator formulierte „Provokation“ in der Darstellungsweise eines fünfzehn- oder sechzehnjährigen, fast noch kindlichen nackten Jungen umgeben von allegorischen Instrumenten wie einer Violine, einer Laute, einem Winkel und Zirkel, aber auch zwei Pfeilen in der linken Hand, einer Schreibfeder und einem Teilen einer Rüstung, schließlich einer Art Himmelsglobus mit Sternen und einem Bogen für die Violine, die Flügel aus dunklen oder verschatteten Schwanenfedern nicht zu vergessen, wird vor allem durch ein angedeutetes Lachen im abgeschatteten Knabengesicht gestützt. Der Amorknabe provoziert. Er triumphiert nicht – Cupid as Victor. Das Gemälde ist eher dunkel als hell gehalten, doch der Körper, die Haut, das Glied sind hell ins Licht gerückt.[31]

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An der exponierten Nacktheit und dem Lachen brechen sich die Imaginationen und Identifikationen. Schuld oder Unschuld. Provokation oder Triumph. Religiöse Allegorie oder sich exponierender Junge aus dem Volk. Und was daran, an der Haltung und dem Verhalten ist schwul? Der Bogen aus dem italienischen 17. Jahrhundert ins emanzipative Schwul des 20. Jahrhundert lässt sich nicht so einfach schlagen. „Ich bin schwul“, wurde erst im 20. Jahrhundert in Berlin sagbar, wie es Robert Beachy mit W. H. Auden gezeigt hat. Im beginnenden 21. Jahrhundert, um die natürlich immer schleichende Transformation von Kulturpraktiken wie meist geübt in Jahrhunderten beizubehalten, ist der Amorknabe oder Cupidboy prekär geworden. 1987 war es eine Provokation:
„Ein nackter Bub auf einer Holzbank, nichts sonst, wenn ich mir die Zutat, das Stilleben wegdenke. Haut und Fleisch zum Greifen. Das ist nicht irgendeiner, das sind alle, alle zusammen in einem. Der Kopf eines Halbwüchsigen, fünfzehn-, sechzehnjährig, dem ich die Haare auf der Stirne streichen möchte, während er, ganz weggeräumt noch, lächelt geniert ein wenig, weil er sich einem wildfremden Schwulen hingegeben hat, in irgendeinem Hotelzimmer, einer einschlägigen Pension – amüsiert von der Erregung, aber befriedigt – versöhnlich nach dem geilen Spiel; das Schwänzchen eines Zwölfjährigen – nichts kommt, wenn es ihm beim Spielen plötzlich kommt – geil, aber verboten heute, auch in den größten Städten unberührbar, damals bloß ein wenig sündig; Pubertätsspeck an den Flanken, für die Gier der Hände, zum Kneifen wenigstens.“[32]

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Wie eine Sprache finden im Schreiben? Literaturen müssen sich immer eine Sprache erschreiben. Die Provokation, die emanzipatorische Geste, sich in einen Diskurs einschreiben oder gegen den Zeitgeist anschreiben haben immer die künstlerische, die literarische Produktion – um Amor als Sieger nicht zuletzt der Künste nachklingen zu lassen – beflügelt. Woher die Flügel genau kamen und kommen, wie lange sie tragen, über What’s App hinaus oder nur den Moment einer groß orchestrierten Hype der Ex-Freunde um eine Herrn Döpfner herum, der Medienturm exponiert, lässt sich auch bei kleinen Verlagen nicht so schnell entscheiden. Trash oder zeitgenössische Prosa? Kapitulation oder Spinnentempel? Gute Menschen oder das geheime Fieber? Der Roman Spinnentempel in seiner Ambiguität und Verdichtung zu einer lakonischen Sprache zwischen Schulverweis und Weltregierung fällt dann doch auf, vielleicht gar heraus. Queer history ist er allemal. Im 15-Minutes-Time-Slot fällt das noch nicht einmal so stark auf. Literaturen brauchen Zeit.

Torsten Flüh

Michel Decar
Kapitulation
Berlin: März, 2023.

Sigrid Behrend
Gute Menschen
Hamburg: Minimal Trash Art, 2022.

Friedrich Kröhnke
Spinnentempel
Aachen: Rimbaud, 2023.

Christoph Geiser
Das geheime Fieber
Berlin, Secession, 2023.

Literarisches Colloquium
LCB-Editionen, 1968-1989 – eine Re-Lektüre
bis 31. Oktober 2023.


[1] MTA: Über MTA.

[2] März-Verlag: Google Header.

[3] Rimbaud-Verlag: Google Header.

[4] Michel Decar: Kapitulation. Berlin: März, 2023. (Website)

[5] Sigrid Behrens: Gute Menschen. Hamburg: Minimal Trash Art. 2022. (Website)

[6] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel. Aachen: Rimbaud, 2023. (Website)

[7] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Berlin, Secession, 2023. (Website)

[8] Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2023. (Website)

[9] Ebenda S.

[10] Michel Decar: Kapitulation [wie Anm. 4] ebenda.

[11] Siehe: Torsten Flüh: Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt. Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juni 2023.

[12] Sigrid Behrens: Gute … [wie Anm. 5]

[13] LCB: https://lcb.de/programm/lcb-editionen-ausstellung/

[14] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 94.

[15] Ebenda S. 75.

[16] Ebenda S. 81.

[17] Ebenda S. 92.

[18] Ebenda S. 5.

[19] Ebenda S. 16.

[20] Zu weiteren Werken von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Der Mythograph

Ein Werkaufriss zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Friedrich Kröhnke. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[21] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 19.

[22] Ebenda S. 34.

[23] Ebenda S. 52.

[24] Ebenda S. 26.

[25] Friedrich Kröhnke: Zweiundsiebzig. Das Jahr, in dem ich sechzehn wurde. Frankfurt am Main: Materialis Verlag, 1987, S. 86.

[26] Ebenda.

[27] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 23.

[28] Zu weiteren Romanen von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Farbenfroh wuchernde Sehnsucht. Friedrich Kröhnke feiert den 150. Geburtstag von Max Dauthendey mit dem paradoxwitzigen Text Wie Dauthendey starb Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2017. (Jetzt unter Publikationen)
Und: Torsten Flüh: Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur. Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Oktober 2018. (Jetzt unter Publikationen)

[29] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 27.

[30] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Zuerst: Zürich: Nagel & Kimche, 1987, S. 16.
Zum Lemma schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (Jetzt unter Publikationen)

[31] Amor als Sieger von Caravaggio https://smb.museum-digital.de/object/60794?navlang=de

[32] Christoph Geiser: Das … [wie Anm. 30] S. 18.

Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse

Terror – Architektur – Staat

Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse

Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste

Der Saal 1 der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 wurde in der Zeit um 1943 zur Ausarbeitung eines Fassadenmodells im Maßstab 1:10 für die Nord-Süd-Achse von Albert Speers Hauptstadt Germania schon im Detail genutzt. Vier Männer in weißen Kitteln mit pomadisierten Haaren stehen auf einer Leiter oder sitzen auf einem Klappschemel mitten im Krieg und malen mit Pinseln an dem Holzmodell, wie auf einem Foto in der Ausstellung Macht Raum Gewalt zu sehen ist. Der Durchgang zur Verbindungshalle ist an seinem Bogen zu erkennen, von dem ein Teil in den Neubau der Akademie von Günter Behnisch ab 2005 integriert worden ist. Die planerische Tätigkeit der vier Männer im Jahr 1943 für das monumentale, die Dimensionen sprengende Bauvorhaben sind gespenstisch. Ab November 1943 war Berlin massiven Lustangriffen der Alliierten ausgesetzt. Am 23. November 1943 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zerstört.

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Gespenstisch monströs wirkt ebenso der Schwerbelastungskörper in der General-Pape-Straße in der Nähe vom Südkreuz oberhalb der Süd-Nord-Bahntrasse, die unter dem zerbombten Lehrter Bahnhof, dem neuen Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel entlang erst nach dem Hauptbahnhof wieder an die Oberfläche kommt. In einem Modell auf dem Aussichtsturm des Informationsortes Schwerbelastungskörper wird die massive Gewalt fühlbar, mit der sich die Achse der Staatsbauten in die Stadt hineingefräst hätte. Die Ausmaße als Versprechen von nationaler Größe im kleinen Modell mit einem 10 Mal größeren Triumphbogen als dem Arc de Triomphe de l‘Étoile in Paris auf der Avenue des Champs-Élysées verkehren sich in blanken Staatsterror. In der Akademie der Künste näherten sich nun Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze literarisch dem Unfassbaren des SCHWER BELASTUNGS KÖRPERs.

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Ab 1937 war der Sitz der Akademie der Künste am Pariser Platz von Albert Speer zum Ort des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ geworden. Dort wurden die nationalsozialistischen Bauten in Berlin geplant, gezeichnet, berechnet und wie mit dem Fassadenmodell detailliert vorbereitet. Der Planungsaufwand nicht nur für die Nord-Süd-Achse wurde derart vorangetrieben, dass das zweckentfremdete Akademiegebäude aufgestockt und erweitert werden musste. Zwar blieb die Aufschrift „Akademie der Künste“ bestehen, doch seither wurden weitere Gebäude am Pariser Platz und sogar Räume des beschädigten Reichstags für die totale Planung von der Reichskanzlei über die neuen Gebäude am Flughafen Tempelhof bis zur gigantischen „Großen Halle“ am Nordende der Hauptstadtachse entworfen. Der Neubau des Tempelhofer Flughafens war bei seiner Fertigstellung 1941 bereits das flächengrößte Gebäude der Welt.[1] Wenig später wurde das Pentagon in Washington das flächengrößte.

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Die Lüge der Größe verdeckte bereits beim Flughafen Tempelhof mit seinen riesigen Hangars aus Beton, Stahl und Glas die Funktion der Kontrolle. Der Beton der massiven Treppentürme an den Hangars wurde geradezu programmatisch mit Tengener Muschelkalkplatten verklebt.[2] Dadurch erhielt die Bauweise des „Weltflughafens“ programmatischen Charakter. Nur ca 1.000 Meter westlich der Flughafenhangars wurde der Schwerbelastungskörper zum Test für den Baugrund auf der Nord-Süd-Achse gebaut. Die versprochene Größe des Triumphbogens und anderer Bauten bis zur „Großen Halle“ erwies sich nicht nur als ein physikalisches Belastungsproblem durch Betonmassen, vielmehr sollte der Beton hinter Muschelkalk und ähnlichen Werkstoffen verschwinden, damit die Gebäude visuell historisiert werden konnten.

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Die nationale wie architektonische Größe wurde beim Flughafenbau wie beim Bau des Schwerbelastungskörpers exemplarisch durch systematische Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erreicht. Insofern lässt sich die Ambivalenz der Größe im Bauen immer zugleich mit Praktiken der Unterwerfung und der Ausbeutung bedenken. Für die Erzeugung der Größe beim Flughafenbau als „Infrastrukturanlage“ wurden bereits Zwangsarbeiter*innen in sklavenähnlichen Verhältnissen eingesetzt. Das Autorenkollektiv der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste formuliert die „Kernbotschaften“ ein wenig anders, was möglichweise mit der Größe als blindem Fleck zu tun hat:
„Die Ausstellung soll zeigen,

  • dass das Planen und Bauen im Nationalsozialismus alle Lebensbereiche durchdrang und sowohl der Integration der „Volksgenossen“ als auch dem völkisch-rassistischen Ausschluss und der Vernichtung von „Gemeinschaftsfremden“ diente;
  • dass als prägendes Ergebnis der Dynamik und Radikalisierung des Planens und Bauens im Nationalsozialismus weniger die meist nicht verwirklichten Repräsentationsbauten als vielmehr Wohnsiedlungen, Verwaltungsbauten, Rüstungskomplexe, Infrastrukturanlagen, Bauruinen, Baracken, Bunker und vor allem die zahllosen Zwangsarbeits- sowie die Konzentrations- und Vernichtungslager anzusehen sind;“[3]
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Die Ausstellung in der Akademie der Künste, zu der ein 320 Seiten umfassender Katalog mit ca. 420 Abbildungen erschienen ist, hat insbesondere hinsichtlich einer „Egalisierung“ der „Baufachleute und Bauunternehmer“ nach 1945 zu einigem Widerspruch geführt, den Friedrich Dieckmann in Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? formuliert hat. Die Ambiguität der Architektur in der Moderne führt zu einer Egalisierung von Menschen, die für das Planen und Bauen im Nationalsozialismus verantwortlich waren. Dieckmann kritisiert die Ausstellungspraxis von 150 Portraitfotografien alphabetisch aneinander gereihten, teilweise verfolgten „Baufachleuten“ scharf.[4]  

  • dass sehr vielen Baufachleuten und Bauunternehmern in allen Bereichen des Planens und Bauens eine Mitverantwortung für die Ausübung von Gewalt und Verbrechen zugeschrieben werden muss – nicht nur den wenigen bekannten Architekten. Viele Verantwortungsträger konnten nach 1945 ihre Karrieren fortsetzen.
  • dass Planen und Bauen auch im Nationalsozialismus eine internationale Perspektive besitzt und entsprechend betrachtet werden muss – mit Blick auf Rivalitäten, Einflussnahmen und Demonstrationen vermeintlicher Überlegenheit;
  • dass zur baubezogenen Erinnerung nach 1945 Verdrängungen, Verharmlosungen und Ausblendungen gehören und dass ein bewusster und angemessener Umgang mit dem gebauten Erbe des Nationalsozialismus eine herausfordernde Aufgabe bleibt.“[5]  
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Wäre ein Spaziergang in den Schluchten der staatlichen Großbauten vom Regime überhaupt erwünscht worden? An das Klima und die Hitzestauungen dachten ein Albert Speer und seine Planungsfanatiker natürlich nicht. Kerstin Hensel, seit 2021 Direktorin der Sektion Literatur in der Akademie der Künste, setzte im Plenarsaal am Pariser Platz den Begriff Spaziergang, zu dem sie mit der Lesung einlud. Cécile Wajsbrot habe sie schon vor einiger Zeit nach dem Schwerbelastungskörper gefragt, ob sie ihn kenne und schon einmal dort gewesen sei. Schwerbelastungswas …? Der Ort, der von Speers Hauptstadt Germania, übriggeblieben sei. Spazieren ist eine eher absichtslose Fortbewegungsart, die kein Ziel kennt, doch Wissen generieren kann. Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze nähmen uns mit auf einen Spaziergang zum Schwerbelastungskörper. Immerhin ein Ort, der durch einen eigens gebildeten Namen bezeichnet wird. In der bis dato einzigartigen Kombination physikalischer Begriffe von Schwere, Belastung und Körper benennt der Eigenname einen Ort und ein Bauwerk.

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Mit dem Schwerbelastungskörper ging es den nationalsozialistischen Bauingenieuren um die Vorbereitung der zentralen „Repräsentationsbauten“ in dem Maße, wie dieser selbst zur Repräsentation und noch bis in die 1970er technisch genutzt wurde. Denn für die Baufachleute repräsentierte der Testkörper bereits die in Planung befindlichen Bauten. Schriftsteller*innen sehen, fragen und formulieren anders. Sie generieren Wissen vom Corpus anders. So schreibt die in Paris geborene, französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot in ihrem essayistischen Text Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen zum Schwerbelastungskörper:
„Da haben wir ein solides Wort, ein Wort, das Gefühle wirkungsvoll eindämmt, ein Wort aus Fakten, Fakten … dieser Betonzylinder wurde 1941 von Kriegsgefangenen, oft aus Frankreich stammenden Zwangsarbeitern gebaut. Albert Speer, der Architekt des Dritten Reiches, wollte damit den Widerstand des Bodens testen, um herauszufinden, ob dieser die Übergröße des Triumphbogens aushalten würde, der als Abschluss der Nord-Süd-Achse zur Strukturierung der künftigen Hauptstadt Germania vorgesehen war – ein Triumphbogen, der als Zeichen der Revanche zehnmal so groß sein sollte wie der von Paris.“[6]

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Wajsbrot verfolgt in ihrem Text die vielzähligen Vernetzungen, in die der Schwerbelastungskörper über den Widerstand verwoben war oder ist und womöglich weiter vernetzt werden kann. Nicht nur der physikalische, vielmehr noch der politische Widerstand gegen die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Praktiken des „völkisch-rassistischen Ausschlusses“ kommen zum Zuge. Die Akademie der Künste, zu denen der Architekt Erich Mendelsohn in der Sektion Bildende Künste bis 1933 gehörte, wurde für Speers Projekte und seine Mitarbeiter*innen homogenisiert. Die paradoxe Gleichzeitigkeit der Messungen und Vermessungen als Strategie der Moderne nicht zuletzt im Krieg wird von Cécile Wajsbrot herausgearbeitet:
„Tausende von Kilometern weiter stand in einer anderen Zeitzone, in einer Wüste Utahs, 145 Kilometer von Salt Lake City entfernt, zu der Zeit, als man maß, wie tief der Betonzylinder in den Boden einsank, ein von dem Architekten Eric Mendelsohn entworfenes »Deutsches Dorf«. Erich Mendelsohn war jüdischer Herkunft und gleich 1933 nach Großbritannien ausgewandert, wo er seinen Vornamen ins englische Eric geändert hatte. Im Dezember desselben Jahres war er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen worden, baute jedoch zehn Jahre später Berlin in einem unwirklichen Landstrich von Utah nach, indem er ein Berliner Arbeiterviertel zu rekonstruieren half, sechs Mietskasernen mitten in der Wüste. (…) Es ging darum, den Widerstand dieser Gebäudeart zu testen, Teil der Vorbereitungen, die die amerikanische Armee für die Bombardierung deutscher Städte traf – insbesondere Berlin.“[7]  

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Die planerischen Praktiken, die Berlin auf brutale Weise neu strukturieren sollten, damit Kontrolle und Überwachung zwischen Massenaufmärschen und Verfolgung Einzelner in Gebäudefluchten optimiert werden könnten, führten sozusagen am anderen Ende der Welt mit einer widerständischen Geste Mendelsohns zur Planung der Auslöschung des Regimes. Die Vermessungspraktiken der Größe, die am Schwerbelastungskörper symmetrisch, glatt, massig in nie zuvor bekannten Ausmaßen erprobt wurden, generierten zugleich Szenenarien der Zerstörung. Bauen und zerstören: bauen, um zu zerstören. Cécile Wajsbrot spitzt die Ambiguität der Größe und ihres Schreckens in ihrem Text auf kaum auszuhaltende Weise zu.
„Zerstören, aufbauen. Nach Babi Yar, zum riesigen Massengrab in einer Schlucht am Rand von Kiew, die in Sergei Lozenitsas Film »Babi Yar. Context« auf den darin gezeigten Archivbildern weitab von jeder menschlichen Gegenwart zu liegen scheint, gelangt man heute mit der U-Bahn. Man muß ein Stück laufen, aber das ist nichts im Vergleich zu jener Wüste damals, die Zeugin von hunderttausend Toten wurde, jeder davon ein einzelner. Die Städte überdecken die Spuren, werden zum schwer entzifferbaren Palimpsest. Das etwas höher gelegene Viertel von Warschau, das die Ruinen des Ghettos überdeckt. Der Berliner Teufelsberg, unter dem Rester einer technischen Fakultät liegen, die ebenfalls zum Projekt Germania gehörte.“[8]

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In Yoko Tawadas Titel Der Zylinderpilz schwingt, wenn ich ihn lese, der Atombombenpilz über Hiroshima mit, der unter seinem Ausmaß der Zerstörung den II. Weltkrieg in Japan beendete. Umrundet man den Schwerbelastungskörper am Boden zeigt sich, dass der Versuchskörper fast freischwebend auf einer Betonsäule, die sich tief in den Boden hineinsenkt, steht. Für Tawada „verwandelte (die Zeit) ein Gebäude in ein organisches Wesen“[9], einen gewissermaßen unförmigen und atypischen Pilz. Pilze sprießen aus Rhizomen unter der Erde an die Oberfläche. Sie brechen hervor. Doch als Schriftstellerin bezweifelt sie, dass diesem Bauwerk, das den Rechenoperationen der „Vernunft“ entsprungen ist, wirklich mit der „Vernunft“ beizukommen ist. Vielmehr kommen in Tawadas Texten immer wieder plötzlich Wendungen aus einer Art Rhizom in den Text, die unter mehrfachen Drehungen des Sinns ganz anders Sinn machen.
„Er hat im weitesten Sinne die Form eines Pilzes. Um die Bezeichnung »Schwerbelastungskörper« zu vermeiden, nenne ich ihn zuerst Pilz. Wie jene Atompilze, die nach den Bombenexplosionen in den Himmel wuchsen. Vor einigen Jahren kurz vor Mitternacht hat ein Berliner Taxifahrer mich mit einer Frage überrascht: »Wußten Sie, daß es keine Atombomben gibt?« – »Wie meinen Sie das?« – »Ich meine es genauso, wie ich es Ihnen sage. Die Atombomben existieren nicht. Niemand hat es bis jetzt geschafft, solche Waffen zu bauen.« – »Wie kommen Sie darauf?« – »Wundern Sie sich nicht, daß die sogenannte Explosionswolke in Hiroshima auf jedem Foto anders aussieht? …«“[10]  

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Tawadas Berliner Taxifahrer speist seine Argumentation gegen die Atombombe aus dem Internet, das sich mit seinem frei flottierenden Wissen nach einer Recherche ebenso als kurzlebig erweist, weil die „Beiträge“ gelöscht werden. Yoko Tawada formuliert ihre „Fragmente zu einem Spaziergang“ von der Sprache her und fragt nach der Sprache, wie sie mit dem Schwerbelastungskörper Wissen generiert. Der Begriff Beton wird von ihr gewendet und befragt.
„Das Wort Beton kam aus dem Französischen, in seiner Wurzel entdeckte ich zwei weitere Wörter: Erdharz und Bergteer. Was in einem Text dicht zusammenwächst, ist konkret. So wie das Bauwerk vor meinen Augen steht, ist es zuerst nicht konkret genug. Erst muß durchs Schreiben ein Prozeß der Verdichtung stattfinden.“[11]

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Die höchst unterschiedlichen Texte zum verstörenden Spaziergang von Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze sind gerade im Junihelft von Sinn und Form – Beiträge zur Literatur erschienen. Wie lässt sich der Architektur in ihrer Mehrdeutigkeit von Baukunst, Baustil und Bauwerk sprachlich beikommen? Die Architektur kommt im 17. Jahrhundert im Deutschen in Gebrauch.[12] Sie wird insofern ein Projekt der Moderne, indem sich eine Matrix der Berechnungen und Vermessungen und Formen über Bauwerke, Städte, ganze Landschaften, legt. Im Schwerbelastungskörper findet die moderne Architektur zumindest der Größe nach einen End- und Schreckenspunkt. Nicht zuletzt werden Bauwerke von den Pyramiden bis zum Eiffelturm von den nationalsozialistischen Architekten bemüht, um die Größe ihrer Germania-Bauten als Höhe- und Endpunkt der Architekturgeschichte zu avisieren. Womöglich wäre der übergroße Beton-Triumphbogen im Berliner Urstromtal einfach umgekippt oder im Boden versunken, hätte man den Beton-Testkörper nicht gebaut. – Immerhin sind bereits Milliarden Euro in der Museumsinsel zur Stabilisierung des Baugrundes versenkt worden. Ganz zu schweigen von den Berechnungsproblemen beim Bau des BER, der einst einen Skywalk erhalten sollte.

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Das Problem der Architektur und die Probleme, die sie generiert, liegen zutiefst im Projekt der Erfassung der Welt in der Moderne. Die vermeintliche Berechenbarkeit folgt sehr oft, wenn nicht meistens einer Problemlösungspraxis, die sich nicht voraussehen lässt. Albert Speers Germania-Bauten waren keine Luftschlösser, sondern staatliche Kontrollregime und Rechenexempel der Moderne, die sich als Kunst und Geschichte maskierten. Im fünfzehnten und letzten Fragment ihres – literarischen – Spaziergangs kommt Yoko Tawada mit einer Ich-Formulierung an einen paradoxen Schluss.
„Ich werde versuchen, den Schwerbelastungskörper nicht umzubenennen. Ich werde seinen Namen beibehalten. Er klingt weiter unsinnig, lächerlich, furchterregend, belastend und schwer. Das war nicht die Absicht der Nationalsozialisten. Der Name enthält wie sein Bau eine Materialität, die nicht schnell veränderbar ist. Er wird uns die düstere Melodie des Namensgebers, die er unfreiwillig verraten hat, noch lange vorspielen.“[13]   

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Ingo Schulze wich in seiner Lesung mit einem neuen Manuskript am stärksten von seinem bereits zur Veröffentlichung freigegeben Text Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße ab.[14] Er schränkte die Gültigkeit seines Textes mit einem Kommentar ein und widmete sich verstärkt dem Konzept der englischsprachigen Mall als Vorbild für die brutale Nord-Süd-Achse. Weder dem Ausmaß des benannten Körpers noch dem SA-Gefängnis lassen sich erzählerisch leicht beikommen. Die Verschiebung des massig benannten Körpers, der kein menschlicher, vielmehr ein geradewegs entmenschlichender Körper sein sollte, zu Reflektionen über die National Mall in Washington, D.C., verfehlte den Spaziergang möglicherweise zurecht. National Mall wird meistens mit „Nationalpromenade“ ins Deutsche übersetzt. Im deutschen Wortschatz ist gar das Verb promenieren für spazieren gehen gebräuchlich.[15]

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Die National Mall in Washington ist 4,8 Kilometer lang und 500 Meter breit. Die Nord-Süd-Achse Germanias hätte vom Schwerbelastungskörper bzw. Triumphbogen bis ungefähr zum Europaplatz des Berliner Hauptbahnhofs schnurgerade durch die Stadt gefräst ungefähr die gleiche Strecke einnehmen sollen. Ungefähr 5 Kilometer sind indessen keine Distanz zum Spazierengehen. The Mall in London als Vorbild der historischen oder imperialen Malls ist gar nur 930 Meter lang. Da lässt sich dann promenieren oder spazieren. Nichts dergleichen lässt sich auf den Modellen für Germania erblicken. Ingo Schulze kontrastiert die Speer-Achse zur Mall wie folgt:
„Da die National Mall das Aufmarschgelände durch Rasenflächen und Wasserbassins ersetzt, wird der entscheidende Platz dem einzelnen eingeräumt, sei es bei der Teilnahme an der zeremoniellen Vereidigung eines neuen Präsidenten, beim Sonnenbad oder Spaziergang, sei es bei einer Demonstration oder dem Besuch der Museen oder Denkmäler.“[16]     

 

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Der Gestus der Erzählung, wie Ingo Schulze ihn vorführt, scheitert an der gespenstischen Einzigartigkeit des Bauwerks, für das ein eigener Name gefunden werden musste. Wie weit gehört das SA-Gefängnis in der gleichen Straße dazu? Welch monströse Schrecken mögen die Parzellen der Schrebergärten „Kolonie: General-Pape-Straße“ bergen? Lenken Sie nicht eher ab vom Beton und Schrecken? Auf dem Gelände des Informationsortes stehen im Sommer 2023 Bienenstöcke mit fleißig arbeitenden Fluginsekten. In den Hohlräumen des Bauwerks sind alte Messgeräte gleich einer Installation aufgestellt. Auf Fotografien von einstigen Synagogen-Standorten – Missing Synagogues – in Berlin kontrastieren Spielplätze, Kohlendepots etc. das Verschwinden der Synagogen mit der monströsen Präsenz des Betonzylinders. Melissa Gould schreibt 1991 dazu:
„(…) als ich die einzelnen Standorte auf meinem klapprigen Fahrrad abfuhr, wurde ich sehr bald von den Eindrücken der Erinnerung und den Fakten der Vergangenheit, kombiniert mit der leeren Trostlosigkeit der modernen Hässlichkeit, überwältigt. Da und dort waren einige Gedenktafeln angebracht, aber ein allgemeines Gefühl von Unwirklichkeit durchdrang die Präsenz des gegenwärtigen Alltagslebens (manchmal in Form eines Spielplatzes oder eines Kohlendepots), das sich so gelassen auf den früheren heiligen Stätten installiert hatte.“[17]  

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Das Bauen im Nationalsozialismus in einer Kombination aus Macht Raum Gewalt lässt sich schwerlich von der Architektur der Moderne abkoppeln. Der Berichterstatter hat mehr als 20 Jahre gebraucht, um den Informationsort Schwerbelastungskörper aufzusuchen. Freunde hatten teilweise mit einer gewissen Faszination von dem Bauwerk gesprochen. Diese Faszination war ihm unheimlich oder besser: fühlte sich unpassend an. In unzähligen Kontexten tauchten, die Fotos von Albert Speer mit Germania-Modellen wenigstens mit einer Größenfaszination auf. Mit der Weltpremiere von Speer Goes to Hollywood auf der Berlinale 2020(!)[18], einem Film, der dann bald wieder in den Archiven verschwand, rückte die Perfidität seines Protagonisten unangenehm näher. Doch warum der Architekt mit seinen Versprechen auf Größe keinesfalls Hitlers guter „Nazi“, sondern ein autoritärer, machtversessener und brutaler Haupttäter des Regimes war, wird erst und exemplarisch am Schwerbelastungskörper deutlich. Die Maske der Kunst und der Geschichte verbarg, das Projekt der Herrschaft durch Angst und Schrecken.

Torsten Flüh

PS: Eine Verlängerung der Ausstellung über den 16. Juli 2023 hinaus wäre wünschenswert.

Sinn und Form
Beiträge zur Literatur
Akademie der Künste (Hg.)
Heft 3/2023
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Akademie der Künste
Macht Raum Gewalt
Planen und Bauen im Nationalsozialismus
Pariser Platz 4
U/S-Brandenburger Tor
bis 16. Juli 2023    


[1] Zur Hangar-Architektur des Flughafens Tempelhof siehe: Torsten Flüh: Faszination und Versäumnis der künstlerischen Vielfalt Europas. Zur Großausstellung Diversity United in Hangar 2 und 3 des Tempelhofer Flughafens. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juni 2021.

[2] Ebenda.

[3] Siehe: Macht Raum Gewalt: Kernbotschaften und Themenfelder.

[4] Friedrich Dieckmann: Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? AdK: News 5.7.2023.

[5] Macht Raum Gewalt: … [wie Anm. 3].

[6] Cécile Wajsbrot: Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen. Aus dem Französischen von Esther von der Osten. In: Sinn und Form fünfundsiebzigstes Jahr, 2023, Drittes Heft, Juni 2023, S. 330.

[7] Ebenda S. 333.

[8] Ebenda S. 334-335.

[9] Yoko Tawada: Der Zylinderpilz – Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang. In: Sinn und Form. Ebenda S. 339.

[10] Ebenda S. 340.

[11] Ebenda.

[12] Siehe DWDS: Architektur.

[13] Yoko Tawada: Der … [wie Anm. 9] S. 347.

[14] Ingo Schulze: Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen ab. Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße. In: Sinn … [wie Anm. 6] S. 351.

[15] DWDS: promenieren.

[16] Ingo Schulze: Weisse … [wie Anm. 14] S. 361.

[17] Melissa Gould: Rooms of Memory: The Evolution Of An Idea. A biographical note on Floor Plan. 1991. Siehe: Melissa Gould A.K.A. MeGo. January 2012.

[18] Torsten Flüh: Bildgewaltige Faszination und Verstörung. Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2020.

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Juden – Antisemitismus – Reich

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag

Der Ort der Vorstellung der neuen, überarbeiteten und erweiterten Auflage des Berliner Antisemitismusstreits hatte es in sich: der Berliner Dom. Kaiser-Nostalgie und internationales Tourismus-Highlight. Im Berliner Dom predigte 1879/80 der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker. Nur wenige hundert Meter den Boulevard Unter den Linden hinauf geschlendert in der Berliner Universität hielt der Historiker Heinrich von Treitschke seine Vorlesungen über die Geschichte der Deutschen. Die räumliche Nähe in der noch jungen Hauptstadt des Kaiserreichs wurde zum Schnittpunkt eines qualitativ neuen Redens und Wissens über die jüdischen Bürger im Reich. Wilhelm von Treitschke dockte an den Begriff der „Antisemiten“ des Journalisten, Publizisten und Vereinsgründers Wilhelm Marr an, um ihn als einen akademisch-wissenschaftlichen Diskurs des „Antisemitismus“ auszuformulieren.

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Der Berliner Dom in seiner prunkvollen Architektur, wie sie durch die DDR in den 1980er Jahren restauriert worden ist, wurde 1905 geweiht. Stoecker predigte in seinem weniger ausladenden klassizistischen Vorgängerbau von Friedrich Schinkel. Nach der Reichsgründung 1871 war dieser Raum nicht mehr repräsentativ. Das Unbehagen des deutschen Kaisers aus dem Haus der Hohenzollern mit dem Dom korrelierte mit der Suche des dynastisch und nicht – wie 1848 versucht – demokratisch gebildeten deutschen Reiches nach sich selbst. Hof ebenso wie Kirche und Universität als Institutionen der Macht mussten, wie man heute sagen würde, ihre Meinungsführerschaft darüber, was das Deutsche am Reich sein sollte, beweisen. In dieses diskursive Vakuum hinein, begleitet vom sogenannten Gründerkrach 1873 in New York, Österreich-Ungarn, Deutschland, bricht der Berliner Antisemitismusstreit als ein neuartiges Wissen über die jüdischen Mitbürger.

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Der Altarraum des Berliner Doms war mit 4 Clubsesseln und einem Rednerpult zu einem Debattenraum für die Buchvorstellung umgewandelt worden. Thomas Sparr vom Suhrkamp Verlag, dem der Jüdische Verlag angehört, moderierte den Abend mit Nicolas Berg, Superintendentin Silke Radosh-Hinder und dem Schauspieler Garry Fischmann. Zuvor hatte Jonathan Landgrebe als Vorstandsvorsitzender der Suhrkamp AG einen historischen Überblick zur Situation um 1879/80 gegeben. Er verwies auf unterschiedliche Krisen in jener Zeit. Gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt der Begriff der Krise in entstehenden Zeitungen und Zeitschriften steil ansteigend in Gebrauch.[1] Die Wortverlaufskurve für Antisemitismus[2] zeigt deutlich eine Korrelation zwischen einem Beginn der Rede von Krisen noch im 18. Jahrhundert und dem Aufkommen wie Gebrauch des Antisemitismus‘ als Reaktion auf Krisendebatten.

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Welche Rolle spielte Adolf Stoecker als evangelischer Prediger der Hof- und Oberpfarrkirche, genannt Berliner Dom, für die Ausformulierung des Antisemitismus? Stoecker wollte sich ab dem 19. September 1879 vor allem parteipolitisch in der Debatte um Bismarcks Sozialistengesetz vom 19. Oktober 1878 positionieren. Mit dem Sozialistengesetz sollten im jungen 2. Reich vor allem die sozialen Konflikte der Industrialisierung neutralisiert werden, die Friedrich Wilhelm IV. schon 1848 durch Schüsse vor dem Berliner Schloss hatte bekämpfen lassen. Der Hofprediger Stoecker suchte sozusagen ein Ventil, um Dampf aus dem Kessel der Industrialisierung abzulassen. Bereits 1965 und 1988 hatte Walter Boehlich in seinem Nachwort zur Herausgabe der wichtigsten Dokumente wie Zeitschriftenartikel, Reden und Briefe zum Berliner Antisemitismusstreit die initiale Funktion des „Hofprediger(s) Adolf Stoecker“ für Heinrich von Treitschke – mit einem heute ganz anders klingenden Begriff – beschrieben: „Stoeckers öffentliches Auftreten zeigt einen Klimawandel an.“[3]  

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Die Verschiebung des Begriffes Klimawandel nach Walter Boehlich gibt einen Wink auf die sprachlich-rhetorischen Prozesse, mit denen Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke ein neuartiges Wissen von Nation und Reich, Juden und Deutschen sowie Parteipolitik und Antisemitismus erzeugten, in die Welt setzten und es bis auf den heutigen Tag beispielsweise durch den AfD-Politiker Alexander Gauland wiederholbar machten.[4] Sie schafften eine Redeweise für den Antisemitismus, die sich in ihrer elastischen, keinesfalls theologisch begründenden Art als hoch anschlussfähig für die unterschiedlichen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Biologie etc. erwies. Boehlichs „Klimawandel“ benennt einen Diskurswechsel, den Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke erzähl- und sagbar machten. Heute kursiert ein generationelles Wissen über den Klimawandel, der politische Debatten zutiefst strukturiert und mit der Generation Z bzw. Letzten Generation vermeintlich grenzenlos legitimiert.[5]

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Der Hofprediger und damit per Amt zugleich Seelsorger des Kaisers und seiner Familie Adolf Stoecker wird über die „Judenfrage“, wie er es nennt, zum theologischen Politiker. Den Begriff Antisemitismus verwendet er in seiner 1880 veröffentlichten Rede Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin nicht.[6] Gleichwohl führt Adolf Stoecker den Titel „Hof- und Domprediger zu Berlin“ auf der Titelseite. Im Untertitel wird sie als eine von „Zwei Reden in der christlich-sozialen Arbeiterpartei“ angekündigt. Die Grauzone von Prediger und Politiker bespielt Adolf Stoecker bewusst als theologisch legitimierender Parteipolitiker. Sie verschafft ihm allererst den Raum für seine Rede im Umfeld der kaiserlichen Macht in der Reichshauptstadt. Walter Boehlich hat das Zusammenspiel von Stoecker und Treitschke deutlich formuliert.
„Stoecker … schaffte (dem Antisemitismus) Einlaß in die Wahlversammlungen, er deckte ihn mit der Achtung, die einem Hofprediger durchaus entgegengebracht wurde, er machte ihn hoffähig. Aber hoffähig, das war nicht auch 1879 nicht genug. Sollte das Bildungsbürgertum für ihn gewonnen werden, dann konnte das nicht im Namen der Religion oder eines auch noch so verwaschenen Pseudo-Sozialismus geschehen; dann mußte der Antisemitismus nicht nur von der Kanzel, sondern vom Katheder verkündet werden. Diesen historischen Part hat Heinrich von Treitschke übernommen.“[7]

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Die „Judenfrage“ wird von Stoecker in der „christlich-sozialen Arbeiterpartei“ nicht zuletzt in einem marxistischen Diskurs von Kapital und Arbeit verhandelt[8], um den Sozialismus in einem anachronistischen, hierarchisch-monarchistischen Ständestaat zu neutralisieren. Insofern füllt die Beantwortung der „Judenfrage“ unter dem Namen „Antisemitismus“ eine Leerstelle in der Debatte um die sich mit der Industrialisierung zuspitzenden kapitalistischen Produktionsweisen, die sich im „Börsenkrach“ als reine Spekulation erwiesen hatten.[9] Die evangelische Kirche am Berliner Hof hatte mit Adolf Stoecker die Verpflichtung im mit den Hohenzollern evangelisch dominierten Deutschen Reich die Leerstelle der sozialen Frage im industriellen Kapitalismus zu besetzen. Nochmals mit einer Formulierung Walter Boehlichs:
„»Die Judenfrage, sagte Stoecker, ist schon lange eine brennende Frage; seit einigen Monaten steht sie bei uns in hellen Flammen.« »Unterdessen, schrieb wenig später Treitschke, arbeitet in den Tiefen unseres Volkslebens eine wunderbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selbst besänne …«“[10]    

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Die Evangelische Kirche in Deutschland formulierte am 19. Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, das hoch umstritten war. Damit bekannte sich die EKD halbherzig zur Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Erst „mit dem „Wort zur Schuld an Israel“, das im April 1950 auf der Synode in Berlin-Weißensee(!) beschlossen wurde, bekannte sich die EKD erstmals zur Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber Jüdinnen und Juden.“[11] Die initiale Rolle für den modernen Antisemitismus durch Adolf Stöcker hatte sie gar nicht im Blick, weil er durch den Diskurs nachgerade naturalisiert worden war. Nicht zuletzt deshalb kam der Buchvorstellung im Berliner Dom mit Superintendentin Silke Radosh-Hinder eine besondere Aufgabe zu. Am Schnitt- wie Brennpunkt des modernen Antisemitismus erklärte sie, dass Stoeckers Reden aus der Perspektive der EKBO und des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte eine „Sünde“ seien. Das Eingeständnis der Schuld als Sünde an diesem Ort hat für die Jüd*innen in Deutschland keine geringe Bedeutung. Sie ist allein dem persönlichen Engagement von Thomas Sparr und dem scheidenden Superintendenten Dr. Bertold Höcker zu verdanken.[12]

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Das Auf-sich-selbst-besinnen der Nation durch den Antisemitismus benennt zugleich dessen Leerstelle, die durch Treitschke formuliert und machtvoll benannt wird. Die Ursprungsfrage der deutschen Nation wird von Treitschke durch das Als-ob „sich auf sich selbst besänne“ mit dem Antisemitismus beantwortet. Boehlich trieb bei der Erstveröffentlichung 1965, wie Nicolas Berg schreibt, „die Sprachkritik“ an. Nach 1945 war die Sprache des Antisemitismus, die Treitschke entworfen hatte, nicht aus den Köpfen der Deutschen verschwunden. Vielmehr stieg der Gebrauch des Begriffs nach 1953 in den Zeitungen wieder an, um 1962 einen erneuten Höhepunkt zu erreichen. Ab 1963 bis 1974 fiel die Rede vom Antisemitismus wieder ab.[13] Nicolas Berg verweist darauf, wie sich nicht nur Worte und Formulierungen festsetzten:
„Viele der antisemitisch geprägten Formulierungen und Codewörter des 20. Jahrhunderts waren von Treitschke geprägt worden und hatten »im Kanon der Antisemiten geradezu sprichwörtliche Berühmtheit« erhalten, und Boehlich wollte mit diesen Denkfiguren brechen; zudem litt er auch an der fehlenden klaren Sprache über ihre Wirkung, die nach 1945 aber nötig geworden war, um die antisemitischen Formeln und Phrasen wieder aus der Sprache herauszubekommen.“[14]

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Die Sprachkritik Boehlichs betraf nicht zuletzt die Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland und damit die akademische Rede. Gleich einer pathologischen Amnesie war die Verschränkung von Ursprungsfrage der Deutschen mit dem Antisemitismus durch den Historiker Treitschke vergessen. Auf der Suche der Bundesrepublik nach sich selbst wurde der Antisemitismus entweder beschwiegen oder gar geleugnet wie bei dem befürchteten Büchner-Preis-Laudator Fritz Martini, der als ein „gerichtsnotorischer Nazi“ galt. Martini war seit 1954 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Als Beirat der Jury wirkte er 1957 an der Verleihung des Büchner-Preises an Erich Kästner mit.[15] Doch Boehlichs Befürchtung einer Laudatio von Fritz Martini wurde erst 1979 für den Friedrich-Gundolf-Preis an Zdenko Škreb wahr.[16] Zu einer Laudatio auf Wolfgang Hildesheimer kam es 1966 nicht, doch Fritz Martini war zum vollwertigen Jurymitglied aufgestiegen.[17]
„Bei Boehlich gehörte beides zusammen, und so schärfte er den Blick beim einen für das andere: Seine Kritik an Treitschke machte ihn hellsichtig und auch hellhörig für den Unwillen der bundesrepublikanischen Universitäten und des ganzen Politik- und Kulturbetriebs, eine angemessene Sprache für die eigenen Verfehlungen zu finden; der Ärger über die Martinis lenkte seinen historisch-editorischen Blick wieder zurück auf die Sprache der Quellen, sozusagen auf die sprachliche Verfasstheit des modernen Antisemitismus selbst, den er in der Nachfolge von Karl Kraus als Korrumpierung von Sprache und Denken, also als ein politisches Sprachereignis betrachtete.“[18]

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Die Veröffentlichung der Quellen des Berliner Antisemitismusstreits umfasste für Boehlich nicht nur Treitschkes folgenreichen Antisemitismus-Aufsatz, vielmehr ebenso „die Verteidigung der je eigenen Sprachidentität“ durch Joël, Bresslau, Lazarus, Cohen, Bamberger und Auerbach.[19] Nicolas Berg bringt Boehlichs Sprachkritik an Treitschke nun auf den Punkt:
„Generell gehörte das sprachlich-ideologische Hantieren mit absoluten Gegensätzen, Boehlich zufolge, zu Treitschkes Weltanschauungsstil; der hohe Aufwand Treitschkes, einander völlig ausschließende Wertewelten sprachlich zu konstruieren, die in religiösen oder nationalen Kollektiven verkörpert seien und sich unvereinbar gegenüber stünden – das eben war der Antisemitismus, darin bestand er, das war seine Intention, sein Ziel, seine Methode und seine sprachliche Form: Er produziert, verbreitet, legitimiert und politisiert Antinomien, Gegensätze und Ausschließlichkeit, Antisemitismus – das ist die Grenzziehung in und durch Sprache mit der Absicht, sie möge eine zweigeteilte Wirklichkeit in Wahrnehmung und Wissen, in Recht und Politik herstellen.“[20]

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Berg beschreibt Treitschkes Rhetorik des Antisemitismus nicht zuletzt deshalb genau, weil sie weiterhin kopiert wird und lebhaft kursiert. Treitschkes Sprache des Antisemitismus war in der Lesung durch Garry Fischmann kaum auszuhalten. Die Elastizität des „Sprachantisemitismus“ führt zur Sagbarkeit und zwingt „faschistisch“ zum Sagen und Aussagen, wie es Roland Barthes einmal in seiner Antrittsvorlesung am College de France formuliert hat. Mit der Geste des Wissens werden unablässig neue Antisemitismen formuliert, die nach Bejahung und Gebrauch lungern. Einmal gesagt, gehört oder gelesen zwingen sie zu Anschluss oder Widerspruch, der dem Wissen dennoch nicht entkommen kann.    
„Und es gehörten, drittens, auch schlicht rhetorische Tricks zu diesem Sprachantisemitismus, die Treitschke auch dort verrieten, wo er in »Unsere Aussichten« Beschwichtigungen vortrug, Distanzierungen vom Radauantisemitismus der Straße zum Beispiel. Antisemitismus, das machte bereits Boehlich deutlich, konnte somit zum bösen Sprachspiel werden, mit der »Behauptungen« aufstellen konnte, »für die er keinen einzigen Beweis« erbringen musste.“[21]

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Besonders eindrücklich war die Lesung der Briefe von Berthold Auerbach durch Garry Fischmann, in denen von „Judenhass“ und „Judenhetze“ nicht aber von „Antisemitismus“ geschrieben wird. Diese Briefe sind von Nicolas Berg in die Quellensammlung neu aufgenommen worden, weil durch das „Briefwerk … seit den 1870er Jahren mit der Aufmerksamkeit der Bruch in der öffentlichen Kommunikation und der Sprache aus der präzisen Sicht eines deutsch-jüdischen Schriftsteller dokumentiert“ werde.[22] Die andere Lexik der Briefe gibt einen Wink auf den Begriff und seine Konstruktion selbst. Dennoch wird der Begriff Antisemitismus heute ebenso für die antijüdischen Schriften Martin Luthers wie für einen ganzen Wissenschaftsbereich als Antisemitismus-Forschung gebraucht. Er hat sich zur Benennung von Schreibweisen und Verhalten festgesetzt, weil er paradoxerweise wissenschaftlich „klingt“. „Judenhass“ und „Judenhetze“ erheben gerade keinen Anspruch einer wissenschaftlichen Begründung.

Die Sprachforschung oder Linguistik gibt einen Wink auf die Wortteile, die ein Wissen ankündigen. Durch das Präfix anti- wird nicht nur eine gegnerische Haltung mit einem polarisierenden Element verkoppelt, vielmehr wird mit dem Suffix -ismus ein abwertendes Ideologem zusätzlich hinterhergeschickt, das den verfehlenden Mittelteil semit einschließt. Als semitische Sprachen wird seit dem 18. Jahrhundert eine Sprachfamilie benannt, die biblischen Ursprungs ist und die eine Genealogie erzeugen. Treitschke dockt allerdings an ein Wissen von den Sem an, das er zu einer rassischen Unterscheidung verwendet. Eingedenk der sprachlichen Fehlkonstruktion insbesondere bezüglich aller deutschsprechenden Jüd*innen, mag es verwundern, dass der Begriff weiterhin politisch als Wissen funktioniert. Umso mehr tritt Treitschkes diskursive Leistung als Verbrechen hervor.

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Das Imaginäre des Antisemitismus wird von dem Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke an der Berliner Universität im Dienste einer Nationenbildung als Reich formuliert. John Conolly hatte er vor kurzem das Imaginäre des Reichs in der American Accademy untersucht.[23] Das Feld des imaginären Reichs überschneidet sich mit dem Antisemitismus, der nicht etwa ein nebensächlicher Aspekt, sondern durch Treitschke ein konstitutiver wird. Durch seine Sprachoperationen gelingt es Treitschke mit dem Antisemitismus, eine Reinheit des Reiches unter rassistischen Vorzeichen zu konstruieren. Die vermeintlich christliche Reinheit „wurzelt“ paradoxerweise in einem heidnischen Germanentum, das an körperlichen Merkmalen sichtbar gemacht wird. Für das Reich spielt im 19. Jahrhundert Martin Luther als Autor, Übersetzer und Sprachentwickler eine entscheidende Rolle. Ab 1821 werden mit der historisierenden Luther-Statue von Schadow nach und nach Lutherdenkmäler im protestantischen Deutschland errichtet.

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Eine judenfeindliche Sprache im Deutschen hatte sich seit Martin Luther im 16. Jahrhundert tief in die deutschen Literaturen eingeschrieben. Luther und seine Sprache werden für das Reich eine einende Funktion einnehmen. Ob 1543 in seiner Schrift Von den Jueden und iren Luegen oder in der Vermahnung wider die Juden 1546, sie erfahren eine besondere Wahrnehmung.[24] Luthers Sprache, sein Deutsch pendelt zwischen Narrativen des Judenhasses und Sprachpoesie[25], wenn sich beispielsweise „Jueden“ und „Luegen“ reimen. Die Narrative bekommen Züge des Aberglaubens, wie Matthias Morgenstern 2017 ausgeführt hat:
„Wie Luther am 1. Februar 1546 seiner Frau Katharina schrieb, verdächtigte er die Juden, für seine gesundheitlichen Probleme, sein „Schwäche“, verantwortlich zu sein. Jedenfalls hatten sie ihn unterwegs „hart angeblasen“:
So sind hier in der Stadt Eisleben jetzt diese Stunde über fünfzig Juden wohnhaft. Und wahr ist’s, als ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen ein auf meinen Kopf, durchs Barett, als wollte er mir das Hirn zu Eis machen. Solcher mag mir zum Schwindel etwas geholfen haben.“[26]

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Luthers Ängste – im Berliner Dom steht er als Autorität hoch über dem Altar mit einer Art Genie-Frisur und der Bibel in der Rechten furchtlos wirkend – kurz vor seinem Tod am 18. Februar 1546 werden in den Juden narrativ verkörpert. Sie vermögen ihm das Denken einzufrieren – „mir das Hirn zu Eis machen“. Das alleinige An-ihnen-vorbeifahren wird als gesundheitliche/intellektuelle Gefahr bzw. als Machtverlust in Form der „Impotenz“, wie Morgenstern schreibt, imaginiert. Juden imaginiert Luther als feindliche Macht, die seiner Kraft zu schaden vermögen. Doch entspricht dieser Aberglaube und wirklich volkstümlicher Gegenglaube zum Christentum bei Luther dem modernen Antisemitismus Treitschkes? Die Redeweisen sind sehr unterschiedlich. Für das Deutsche Kaiserreich des 19. Jahrhunderts übernimmt die Figur Luther eine einigende Funktion, für die Redeweisen transformiert werden, um sie in den Diskurs des Antisemitismus einzuspeisen. Die Wissensformen Luthers wie sein Aberglaube unterscheiden sich signifikant vom elastischen Antisemitismus. – In der Architektur des Berliner Doms wird zumindest mit LUTHER die Lösung der Widersprüche der Industrialisierung behauptet. Finanziert von Industrie und Kirchenbauverein ist er mit dem elektrischen Fahrstuhl für die Mutter des Kaisers eine machtvolle Demonstration des Kapitals.  

Torsten Flüh

Hg.: Walter Boehlich, Nicolas Berg
Der Berliner Antisemitismusstreit
Klappenbroschur, 544 Seiten
978-3-633-54311-3
Jüdischer Verlag, 1. Auflage
28,00 € (D), 28,80 € (A), 38,50 Fr. (CH)
ca. 13,0 × 21,0 × 3,6 cm, 610 g


[1] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1600“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Krise.

[2] Ebenda Antisemitismus.

[3] Walter Boehlich: Der Berliner Antisemitismusstreit. In: Nicolas Berg (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Berlin: Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, 2023, S. 457.

[4] Zur Verkoppelung von Nation als Reich in Alexander Gaulands „Fliegenschiss-Rede“ siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[5] Zu generationellen Klimaprotesten siehe: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[6] Adolf Stöcker: Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin. O.O.: Wiegandt und Grieben, 1880. (Wikisource).

[7] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 457-458.

[8] Vgl. zum Kapitalismus und den Ökonomischen Schriften Karl Marx‘: Torsten Flüh: Der MEGA-Coup. Zum Abschluss der „Kapital-Abteilung“ der Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2013. (PDF unter Publikationen)

[9] Siehe zur Geschichte des Börsenkrachs und des Spekulierens: Torsten Flüh: Das Börsengesumse und das Rauschen des Eichwaldes. Ulrike Vedders Vortrag „Spekulieren und ruinieren.“ In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Januar 2010. (PDF unter Publikationen)

[10] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 458.

[11] Siehe: bpb: Kurz und knapp: Vor 75 Jahren: „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der Evangelischen Kirche. 16.10.2020.

[12] Zur Funktion der Schuldbekenntnisse in der EKBO siehe: Torsten Flüh: Redet freundlich miteinander. Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021.

[13] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1946“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Antisemitismus.

[14] Nicolas Berg: Einführung. In: ders. (Hg.): Der … [wie Anm. 3] S. 46.

[15] Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Erich Kästner.

[16] Ebenda Fritz Martini: Laudatio. Zdenko Škreb.

[17] Ebenda Walter Jens: Laudatio. Wolfgang Hildesheimer.

[18] Nicolas Berg: Einführung … [wie Anm. 14] S. 46-47.

[19] Ebenda S. 47.

[20] Ebenda S. 48.

[21] Ebenda S. 49.

[22] Ebenda S. 53.

[23] Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[24] Der Judenhass Martin Luthers wurde in der Ausstellung des DHM Der Luthereffekt marginalisiert. Siehe: Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[25] Siehe Torsten Flüh: Performative Sprachpoesie mit Luther. Zu Robert Wilsons faszinierender Luther-Collage mit dem Rundfunkchor Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[26] Matthias Morgenstern: Luther letzte Tage in Eisleben und seine „Vermahnung wider die Juden“ – Judenhass, Teufelsfurcht, Impotenz und Angst vor dem Jüngsten Gericht. In: Judaica : Beiträge zum Judentum. Band 73 (2017), S. 448. (Digital)

Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Quilombismo – Welt – Pluriversum

Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Zur Wiedereröffnung des HKW in der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Ausstellung und Freiluftkonzert

Welt macht jetzt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im HKW. Bona, wie ihn viele im Berliner Bezirk Wedding nennen, wo er 2009 SAVVY CONTEMORARY gründete, bald ins aufstrebende Kulturquartier silent green zog und er bis zu seiner Berufung zum Intendanten des HKW in einem Brutalismus-Bau an der Reinickendorfer Straße kuratierte[1], ist jetzt, wie Claudia Roth in ihrer Eröffnungsrede betonte, „aus der Unabhängigkeit von Savvy herausgetreten und in die staatlich geförderte Kultur eingetreten“[2]. Die Welt ist eine andere geworden. Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hatte schon bei seiner Vorstellung des neuen HKW-Teams am 14. März mutig  und lässig dazu aufgerufen, das Substantiv world zum Verb zu machen: „to unworld, to world, to reworld“. Das Universum wurde von ihm zum Pluriversum erklärt.[3]

Fannie Lou Hamer Spiegelteich – Semra Ertan Garten – Pavillon raumlaborberlin

Am 2. Juni nachmittags um 16:30 Uhr hatte sich eine noch eher kleine Schar vor dem Eingang des HKW versammelt, um einer afrikanischen Zeremonie mit Wasser, elektrischen Teelichtern, einem weißen Granulat und geheimnisvollen Ornamenten beizuwohnen. Zugleich begann damit das neue Jahr nach dem nigerianischen Kalender der Yoruba. Fernsehteams und Fotograf*innen waren anwesend. Freund*innen, Künstler-Freund*innen wie Ulrike Ottinger und queere Afrika-Aktivist*innen wie Mahide Lein waren gekommen, bevor die offiziellen Reden der Kulturstaatsministerin, des neuen Intendanten und weiteren Redner*innen gehalten werden sollten. Mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde zugleich die Ausstellung O Quilombismo eröffnet. Auf der Dachterrasse spielte abends der kongolesische, in Frankreich lebende Sänger Awilo Longomba ein umjubeltes Konzert mit einem ironischen Berlin-Josefine-Baker-Zitat. Zwei Tänzer*innen von Longomba tanzten in Bananen-Röcken auf der Bühne.

Itō Noe Eingang

Die Koinzidenz der Bühnenshow mit den mondänen Auftritten von Josefine Baker auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor 1926 und ihrem Burlesque-Auftritt mit Bananen[4] war gewiss kaum jemandem im rhythmisch tanzenden, überwiegend jungen Publikum bewusst. Vielleicht spielte Awilo Longomba auf Baker in seinem Song an, was sich indessen nicht so genau verstehen ließ. Eine „Pluralität der Kulturen“ und die „Zukunft der Wissenschaft“ sollen nach der Eröffnungsrede Setzen wir unsere eigenen Akzente! von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Programm des HKW bestimmen.[5] Ndikung, der in Biotechnik über Leukämie an der Technischen Universität Berlin 2006 promoviert wurde und die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, kennt auch die Wissenschaften und ihre Wissensverfahren in den Naturwissenschaften. Kulturen und Wissenschaften generieren Wechselwirkungen, die politisch gerne noch separiert werden. Eine Kulturstaatsministerin des Bundes gibt es noch nicht lange in Deutschland. Und das Bundeswirtschaftsministerium heißt seit der aktuellen Bundesregierung Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz!

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Gegenüber seinem Vorgänger und einstigem Goethe Institut-Mitarbeiter Bernd Scherer als Intendant des HKW ist der Posten für Ndikung weitaus politischer geworden. Die Debatten um Kulturen und Wissenschaften, Geschichten und Künste, Politiken und Erbe haben sich zugespitzt. Wie Claudia Roth in ihrer sehr persönlich gehaltenen Rede mitteilte, schrieb Ndikung vor knapp zehn Jahren seiner Mutter, dass er die Wissenschaften („sciences“) aufgegeben habe. Doch als Intendant befindet er sich nun mitten in den Debatten um Wissenschaften und Kulturen:
„Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie und zahlreiche Umweltkatastrophen haben gezeigt, wie begrenzt die uns bekannten Wissenschaften sind. Die Zukunft der Wissenschaft lässt sich daher nur aus ihrer Geschichte heraus verstehen, und diese Geschichte ist eng mit der Erfindung der Moderne und ihrem nahen Verwandten, dem Kapitalismus, verbunden. Sie ging auch einher mit dem Kolonialismus, einem wissenschaftlich verbrämten Rassismus und der Diskriminierung von Frauen. Welche alternativen – für den Menschen wie die Natur gerechteren – Wissenschaften gibt es und wie kann man ihren Erkenntnissen Raum verschaffen?“[6]    

Miriam Makeba Auditorium, 14. März 2023

Bernd Scherer versuchte, die Debatten um die Welt und die Kulturen im Anthropozän-Projekt zu bündeln.[7] Das Zeitalter des Menschen und seine Industrialisierung hatte alarmierende Klimaspuren hinterlassen, was um 2014 keinesfalls dazu führte, Wirtschaft und Klimaschutz in einem Bundesministerium zu bearbeiten. Lexikalisch erwies sich das Anthropozän als ein neuer Begriff, der kaum verbreitet war. Der unablässige Verbrauch der Ressourcen der Erde kündigte das Ende der Welt, wie wir sie kannten, an. Die Fakten über den Verbrauch der Ressourcen änderten wenig. Kaum zehn Jahre später spricht Ndikung von der Welt im Plural – „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ –, womit ein entschiedener Perspektivwechsel vollzogen wird:
„Wir brauchen Kraft und Inspiration für die Suche nach Antworten auf die virulente Fragen, was mir der Welt zu tun ist, und wissen: Wir dürfen nicht müde werden, sie zu stellen. Sie laut zu stellen.
Denn diese Welten sind unsere, for better or worse.“[8]   

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Gegenüber dem Philosophen und Kulturmanager Scherer knüpft Ndikung an einen Diskurs der Praxeologie an, wenn er formuliert: „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ Das kulturelle und historische Erbe der Deutschen wurde denn auch wie Skylla und Charypdis von der Kulturstaatsministerin rhetorisch aufgebaut. Was sich leicht und flockig als Welten und Kulturen formulieren lässt, wird zu einer Gefahr, wenn gleichwertige Welten aufeinanderprallen. Roth wünschte sich ein „modernes Deutschland“ als „Einwanderungs- und Erinnerungsland()“. „Kurz: … eine() Kulturnation, die diesen Namen verdient.“[9] Als Intendant des Hauses der Kulturen der Welt muss Ndikung nun zwischen der Einwanderung aus vielen, heute islamisch geprägten Ländern Afrikas und der Erinnerung an die Shoa geradezu bundespolitisch navigieren. Ndikungs in häufigen Anzugswechseln zwischen Rosa, Blau und Schwarz performte, anerkennenswerte Lässigkeit im Unterschied zum Understatement eines Yamamoto-Schwarz ist erfrischend und gefahrvoll.

Prof Dr Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Staatsministerin Claudia Roth, Acts of Opening Again: Eine Choreografie der Konvivialität, Haus der Kulturen der Welt (HKW), Les Nana benz Terasse, © Marvin Systermans/HKW (Ausschnitt)

Das HKW wurde unter dem Namen „Kongresshalle“ als Geschenk der amerikanischen Regierung zur Interbau im Hansaviertel 1957 den Ideen und der Lebenspraxis Benjamin Franklins gewidmet. Die erst kürzlich restaurierten Widmungsinschriften auf Englisch und Deutsch werden nun durch Texte von Erna Brodber, Saša Stanišič, Ken Bugul, Hinemoana Baker und anderen auf farbigen Plexiglasplatten kontrastiert. Das Geschenk, englisch gift, war immer ambig. Die US-Regierung mit John Foster Dulles als Außenminister in der Regierung von Dwight D. Eisenhower und Richard Nixon als Vizepräsident war in eine ganze Reihe von Konflikten verstrickt. Allerdings stand für John Foster Dulles vor allem die Gefahr kommunistischer Regierungen in Nordafrika im Blickfeld. Die Institutionen der Moderne wie dem Museum gilt Hinemoana Bakers Kritik, die seit 2015 in Berlin lebt und väterlicherseits Maori-Angehörige ist.
„We’re carved into sky, born into museums. Marched into land, old money. We are layers and slayers and everywhere, all. Don’t ask me to speak for the nations, we shift the hate with the light from our fascinators.”
(Wir sind in den Himmel gemeißelt, in Museen hineingeboren. Ins Land marschiert, altes Geld. Wir sind Schichten und Jäger und überall, alle. Bitten Sie mich nicht, für die Nationen zu sprechen, wir vertreiben den Hass mit dem Licht unserer Faszinatoren.)

Alberto Pitta

Eine Reihe von Umbenennungen zur Wiedereröffnung des Hauses lässt einen Bruch mit seiner Geschichte erkennen: Itō Noe Eingang, Sylvia Wynter Foyer, Mrinalini Mukerjee Halle, Hedwig Dohm Eingang, Paulette Nardal Terrasse, Angie Stardust Foyer, Lili Elbe Garten, Anna Seghers Garten etc. und nicht zuletzt das Miriam Makeba Auditorium. Wohl allein die Magnus Hirschfeld Bar hieß schon vor dem Wechsel so. Das ist eine ziemlich plurale, feministische Raumverteilung zwischen der Frauenaktivistin Hedwig Dohm, der dänischen Transfrau Lili Elbe, der japanischen Feministin und Anarchistin Itō Noe, der jamaikanischen Schriftstellerin und Philosophin Sylvia Wynter, der indischen Bildhauerin Mrinalini Mukerjee, der südafrikanischen Sängerin, Komponistin, Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Miriam Makeba u.a.m. Die durch (weiße) Männer konstruierte Kongresshalle mit ihrer Benjamin Franklin-Widmung erhält mit den Namen ihrer Räume eine feministisch-diverse Widmung und Geschichte. Allein Magnus Hirschfeld als weißer, schwuler Mann, „jüdisch-deutscher Arzt, Sexualwissenschaftler, Empiriker und Sozialist“ bleibt in das Haus eingeschrieben:
„2015 nach Magnus Hirschfeld benannt, bewahrt die Magnus Hirschfeld Bar dessen zukunftsweisendes Erbe und wird künftig vom angrenzenden Lilie Elbe Garten ergänzt.“[10]      

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Die Ausstellung O Quilombismo führt wiederum einen nicht ganz neuen, aber in Deutschland zuvor kaum verwendeten Begriff von gesellschaftlichem Handeln ein, den Abdias do Nascimento 1980 als eine „Afro-Brazilian Political Alternative“ beschrieben hat. 2019 wurde in Sao Paulo postum eine größere Dokumentensammlung zum Quilombismo aufgelegt.[11] Ndikung hat seinem Vorwort eine längere Passage aus diesem Text vorausgeschickt. Das ist nicht ganz einfach zu lesen, weil die Leser*innen auf diese Weise direkt in die Begriffsbildung aus der Brasilianischen Sklaverei-Geschichte hineingestoßen werden. Nascimento formuliert den Begriff neu, um ein Gesellschaftsmodell zu konstruieren. „Quilombo“ bedeute keinesfalls „nicht entflohener Sklave“, vielmehr bedeute es „brüderliche und freie Wiedervereinigung oder Begegnung“.[12]
„Die quilombistische Gesellschaft verkörpert ein hochentwickeltes Stadium des soziopolitischen und menschlichen Fortschreitens im Sinne eines wirtschaftlichen Egalitarismus.“[13]

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Mit O Quilombismo vollzieht das HKW unter seinem neuen Intendanten eine Geste der Revolution. So zitiert Ndikung aus dem Manuskript Black Metamorphosis: New Natives in a New World von Sylvia Wynter als eine „Spirale … der Geschichte des Quilombismo“. Geschichte wird von ihm als Prozess von Häutungen formuliert. „Durch ihre Häutungen wird die Geschichte aufgefrischt, neu justiert, regeneriert und verjüngt, und gewinnt so stets einen weiteren Anfang, ein weiteres Ende hinzu.“[14] Das Häutungsparadigma steht jenem einer Erinnerungskultur an die Shoa vielleicht nicht entgegen, denn auch diese hat sich in Deutschland über einen längeren Zeitraum entwickeln müssen, aber es greift eine hegemoniale Geschichtsschreibung herrschender Klassen und Staaten an. Die 1928 in Holguin, Kuba, geborene jamaikanische Schriftstellerin Sylvia Wynter lebt als Professor Emerita an der Stanford University in Kalifornien. Sie war Vorsitzende für Afro-American Studies und kritisiert die „kulturelle Kolonisierung“.
„Jede Rückführung, ob symbolisch oder tatsächlich, war ein schwerer Schlag für die große kulturelle Mission der Revolution. […] Jedes Entkommen, jede Flucht war eine Form von Maroonage, diese Suche nach einem freien Ort, von dem aus die fortwährende Revolte gegen die kulturelle Kolonisierung seitens der unentwegt produktiven Bourgeoisie geführt werden konnte, die Amerika nach ihrem Abbild zu entwerfen suchte.“[15]

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Der von Sylvia Wynter verwendete Begriff der Maroonage kommt aus dem Spanischen von cimarron für entlaufenes Vieh, das in der Freiheit der Wildnis lebt und wird ebenso für Fluchtbemühungen von versklavten Afrikanern gebraucht. Insofern geht es Wynter um ein positives Verständnis von Flucht als ein ursprüngliches Recht auf Flucht. Wynter schreibt und argumentiert auf poetische Weise. Die Geschichte der Sklaverei in Brasilien, Jamaika wie Amerika schimmert deutlich als immer noch zu wenig bearbeitetes Thema programmatisch in der Ausstellung durch.[16] Freiheit artikuliert sich auch in den großformatigen, bunten, überschwänglich bedruckten Stofftüchern von Alberto Pitta, der 1961 in Salvador de Bahia geboren wurde und weiterhin dort lebt. Er leistet damit „einen wichtigen Beitrag zur afro-bahianischen Ästhetik, die mit Stickmotiven, spirituellen Symbolen der diasporischen Candomblé-Religion und Dokumentarfotografie dem Karneval ein ganz eigenes Gepräge  gibt. Nicht von Ungefähr würdigen Pittas Stoffe oft afro-bahianische Meister wie den Künstler und Candomblé-Priester Meister Didi.“[17]    

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Es ist ein Feuerwerk der visuellen Kulturen, das quasi überall im Haus mit der Ausstellung entfacht wird. Die Ausstellung erfordert allerdings auch das Handbuch, um die Skulpturen, Bilder, Videos, Stoffe näher erschließen zu können. Das günstige Handbuch in englischer und deutscher Version ist mit viel Sachverstand und Engagement zusammengestellt. Denn indigene Visualisierungen funktionieren häufig auf andere Weisen als die europäischen. In der Mrinalini Mukerjee Halle dominiert geradezu eine Art monumentaler Schlangenhahn Piwuchen (2023) von Bernardo Oyarzún den Raum.
„Im Kontext des Widerstandes der indigenen Mapuche-Kultur („Menschen der Erde“) in Chile und Argentinien thematisiert Bernardo Oyarzún in seiner Arbeit Erfahrungen mit Rassismus. Der Künstler, der selbst von den Mapuche abstammt, reaktiviert seit den 1990 Jahren ihre populären Praktiken und Ästhetiken, um das in ihnen geborgene Wissen zu bewahren – sei es in Handwerk, Erzählungen, kulinarischen Fertigkeiten, Ritualen oder Festivitäten. In Kilombo: Piwuchen nimmt er die mythologische  Gestaltwandler-Figur Piwuchen die allegorische Form eines Paradewagens an, wie er für die Welt des Karnevals typisch ist.“[18]

Bernardo Oyarzún: Kilombo: Piwuchen (2023)

Die Geschichten und Erzählungen zu den visuellen Installationen wie Transatlantic Stargate (2023) von Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic sind unerlässlich. In der Ausstellungshalle sind Arbeiten oft mehr oder weniger direkt für O Quilombismo angefertigt. Indigo-gefärbte Textilien mit unterschiedlichen Mustern lassen den aus Panama stammenden Guzman mit der in Jugoslawien geborenen Jankovic zu einem transatlantischen Projekt aufbrechen.
„Für O Quilombismo präsentieren sie ein neues Arrangement eigens hergestellter Textilien, die in der traditionellen Indigo-Blockdrucktechnik Ajtakh gefärbt wurden. Wie schon bei früheren Werken kooperieren Guzman und Jankovic mit dem Team von Sufiyan Ismail Khatri im indischen Ajrakhpur. Das 4.000 Jahre alte Ajrakh ist mehr als eine Drucktechnik; im Geiste des Quilombismo ist es eine Lebens- und Lernweise, die über Generationen hinweg mündlich weitergegeben wurde.“[19]

Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic: Transatlantic Stargate (2023)

Quilombismo zeigt sich in der Ausstellung als eine äußerst vielschichtige Strategie, die Queerness miteinbezieht. In der Magnus Hirschfeld Bar treffen wir auf den international agierenden philippinischen Tänzer, Performer und Aktivisten Joshua Serafin. Zwar wird die Performance VOID überwiegend nur als Film gezeigt, aber am 23. Juni soll sie live aufgeführt werden. Der spanische Kolonialismus des 17. Jahrhunderts hat mit der katholischen Mission und seinem Binarismus von Adam und Eva nach Serafin eine indigene Queerness zerstört.
„Serafins Beitrag zu O Quilombismo ist der Film VOID, Teil der Trilogie Cosmological Gangbang (2021-2024), der auf eine totale Nicht-Präsenz Bezug nimmt – und das damit verbundene Potenzial, etwas – was auch immer – zu werden: eine Situation, in der sich queere Subjektivitäten wiederfinden, wenn sie sich mit ihrer Tilgung aus Geschichte und Zukunft konfrontiert sehen. VOID ist eine Dualität: eine nicht-binäre, geisterhafte Gottheit mit Braunem Körper und alternativer Identität, sowie ihre eigene Repräsentation oder deren Fehlen. Sie bricht auf, findet Stärke in sich selbst und bietet Zuflucht in der indigenen Welt der Vorfahren und ihrer Queerness. Passender Modus hierfür ist der Mythos, der für die fluiden, vorkolonialen philippinischen Vorstellungen der Geschlechter charakteristisch ist, in einer mündlich über Generationen hinweg überlieferten Spiritualität.“[20]

Joshua Serafin: VOID (2023)

Das Handbuch in Englisch und Deutsch zur Ausstellung O Quilombismo ist nach dem Eröffnungswochenende vergriffen. Das ist erfreulich, weil es das große und intensive Interesse am – neuen – HKW zeigt. Aktuell wird das Handbuch bis zum Eintreffen der 2. Auflage als PDF zur Verfügung gestellt. Ein Ausstellungsbesuch hat immer mit Wissensformationen zu tun, die wir gemeinhin Interesse nennen. Allerdings werden meistens Kataloge wie zuletzt bei Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit publiziert, die das Vorwissen nicht leichter erweiterbar machen. Oft wird die visuelle Wahrnehmung schon als Wissen verkannt. Mit der Ausstellung und dem Handbuch ist es dem HKW-Team um Cosmin Costinaş und Paz Guevara gelungen, das Nichtwissen als eine Barriere durchlässig zu machen und Interesse zu wecken, indem sie das „Publikum“ dazu einladen, „sich ein Bild vom HKW als einem konvivalen, kollektiv organisierten und pluriversalen Haus zu machen. O Quilombismo folgt in seiner Komposition den Rhythmen der ästhetischen Welten, die das Projekt versammelt.“[21]

Olu Oguibe: DDR: Decarbonize, Decolonize, Rehabilitate (2023)

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat mit dem Eröffnungswochenende die Rede vom Pluriversum als eine Praxis von Vielfalt in der Welt eindrucksvoll vorstellen können. Vielleicht haben am Eröffnungstag einige Besucher*innen das Handbuch nur genommen, weil es kostenlos auslag. Entscheidend ist allerdings, ob sie sich von den Texten begeistern lassen. Die geradezu homerischen Gefahren – Skylla und Charybdis – der Intendanz sind nicht zuletzt deshalb von der Kulturstaatsministerin angesprochen worden, weil Kulturpolitik an politischer Brisanz in einer pluralen Welt gewonnen hat, wie der BDS-Skandal um die documenta fifteen im Sommer 2022 gezeigt hat. Die Hegemonie der „westlichen“ von amerikanischen Konzernen zwischen Warner Bros. Discovery, Netflix oder Amazon dominierten Kultur, ganz zu schweigen von einer kulturdeutschen Akademismus, steht exemplarisch mit O Quilombismo wenigstens zur Debatte.

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Auf der Paulette Nardal Terrasse waren nicht nur die Fahnen des Dichters und bildenden Künstlers Olu Oguibe mit Anspielung auf das deutsche Schwarz, Rot, Gold und Grün mit den Buchstaben D, D, R gehisst. In der Nähe zum Kanzleramt und dem Regierungsviertel konnte diese Buchstabenfolge für Irritationen sorgen. Doch „Oguibes Fahnen (…) mit den Buchstaben DDR bestickt, die hier für Dekarbonisieren, Dekolonisieren, Reparieren (Rückführen oder Rehabilitieren) stehen“[22], verweisen einmal mehr auf die Vieldeutigkeit und die Praxis der Benennung als Strategie. Unter den Fahnen von Olu Oguibe fand zur Musik von Awila Longomba am Freitagabend eine erfrischend wilde Party statt, in der sich die Debatten und Wissensformationen rauschhaft verflüchtigten.

Torsten Flüh

Haus der Kulturen der Welt
Ausstellung
O Quilombismo
Vom Widerstand
und Beharren.
Von Flucht als Angriff.
Von alternativen
demokratisch-
egalitären politischen
Philosophien
bis 17. September 2023
Mi.-Mo. 12:00-19:00 Uhr
Tickets: 8 €/6 € ermäßigt.

Beim Kauf einer Eintrittskarte
zur Ausstellung ist das Handbuch
im Preis inbegriffen.

Freier Eintritt immer montags
und jeden ersten Sonntag im Monat
(Museumsmontag Berlin)

Joshua Serafin
VOID
Live-Performance
23. Juni 2023


[1] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[2] Bundesregierung: Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Wiedereröffnung des Hauses der Kulturen der Welt unter dem neuen Intendanten Ndikung. Freitag, 2. Juni 2023.

[3] Anm. der Berichterstatter hatte die Pressekonferenz am 14. März 2023 im Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt besucht, kam aber nicht dazu, eine Besprechung zu schreiben.

[4] Zu Josephine Baker in Berlin siehe: Torsten Flüh: Macht Euch sichtbar! Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020 Begegnungen und Verbindungen – sichtbar werden – sichtbar bleiben in der P120. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2020.

[5] Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Setzen wir unsere eigenen Akzente! In: Eröffnungsprogramm 2.- 4. Juni 2023, S. 1. (Zeitungsformat).

[6] Ebenda.

[7] Zum Anthropozän-Projekt siehe: Torsten Flüh: Die Erde, die Fakten und der Mensch – Zum Anthropozän-Projekt im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Oktober 2014. (als PDF auf Publikationen)

[8] Bonaventure …: Setzen … (wie Anm. 5).

[9] Bundesregierung: Rede … [wie Anm. 2].

[10] HKW: Andere Geschichten schreiben: Zur Benennung der Räume am HKW. In: Eröffnungsprogramm … [wie Anm. 5] S. 7.

[11] Abdias do Nascimento: O Quilombismo. Documentos de uma Militância Pan-Africanista, 3a. ed. Com textos de Kabengele Munanga e Valdecir Nascimento. São Paulo: Editora Perspectiva / IPEAFRO, 2019.

[12] Zitiert nach Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: O Quilombismo. Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien. In: HKW: O Quilombismo. Berlin: HKW, 2023, S. 6.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 7.

[15] Zitiert nach ebenda.

[16] Zum Thema von Sklaverei und Rassismus siehe auch: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[17] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 45.

[18] Ebenda S. 104.

[19] Ebenda S. 108.

[20] Ebenda S. 138.

[21] Cosmin Costinaş, Paz Guevara: Ein Gang durch die Ausstellung O Quilombismo. In: Ebenda S. 20.

[22] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 240.

Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit

Zoom – Übertragung – Vorhang

Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit

Zur Ausstellung Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit in der Gemäldegalerie

Im März und April 2023 erschien plötzlich der junge König Balthasar in einem prächtig ausgemalten grünen Samtmantel eine goldene Schale in der rechten Hand haltend auf vielen Plakaten überall in der Stadt. Er richtete seinen konzentrierten Blick auf etwas, was nicht zu sehen war. Seine Lippen umspielte ein leichtes Lächeln, wenn man genau hinschaute. Das kurze, lockige, schwarze Haar über der bräunlichen Haut des Kopfes war akkurat geschnitten. Vielleicht war Balthasar noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Dass dieser junge, hübsche Mann kaum aus unserer Zeit sein konnte, wurde nicht nur durch das Gewand und die Malweise, sondern mit dem Schriftzug HUGO VAN DER GOES und kleiner ZWISCHEN SCHMERZ UND SELIGKEIT signalisiert.

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Dem Gemälde, das in der Stadt per Zoom für die Werbung zur Ausstellung im Ausschnitt vergrößert worden war, sieht man an, dass die portraitierten, individuellen Züge des jungen Mannes ein reales Vorbild gehabt haben müssen. Der farbige der heiligen drei Könige auf dem weltberühmten Monforte-Altar der Gemäldegalerie zu Berlin mit dem Titel „Anbetung der Könige“ muss existiert haben. Der Zoom als Ausschnitts- und Vergrößerungsfahren lässt den jungen Mann mit den einzeln gemalten Haaren allererst als Star des Gemäldes selbst sichtbar werden. In der Komposition des Gemäldes steht er am rechten Rand fast unscheinbar, während die älteren, weißen Könige schon vor dem Neugeborenen im Schoß der Mutter knien und es anbeten. Der Detailreichtum seiner Darstellung machte für den Kunsthistoriker und späteren Direktor der Gemäldegalerie Max J. Friedländer zu einem Werk Hugo van der Goes‘.

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Hugo van der Goes und sein Werk werden um 1900 zu einem Effekt der neuartigen Praxis des Vergleichs von Details in der Kunstwissenschaft. So kommt denn auch der Kurator der Berliner Ausstellung Stephan Kemperdick in seiner akademisch gehaltenen Diskussion der Chronologie des Werks zu dem Schluss, dass „(a)lle Werke Hugos (…) nicht allein mit einer in den Niederlanden zuvor unerreichten Monumentalität auf(warteten), sondern ebenso mit einer höchst prägnanten, mitunter geradezu detailbesessenen Ausarbeitung und einer einzigartigen Erfindungskraft im Ganzen wie in den Einzelheiten“.[1] Hauptargument für die Chronologie beispielsweise vom Florentiner Pontinari-Altar und dem Berliner Monforte-Altar werden die Details, die erst nach einer Restaurierung sichtbar wurden. Denn „die große Berliner Tafel (sei) dem Florentiner Triptychon in Wirklichkeit nahe verwandt (…), und zwar sowohl was Gesichtstypen und Gewandfalten als auch das farbige Helldunkel oder die malerische Durcharbeitung der Details betrifft“.[2]

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Stephan Kemperdick verwendet viel Sorgfalt auf das Detail, weil sich erst dadurch das Werk Hugo van der Goes generiert. Er hat seine Werke nicht signiert. Nur wenige gelten als erhalten. Mit der Signatur als Abschluss eines selbst geschaffenen Bildes in der Malerei schreibt der Künstler dem Bild seinen Namen ein. Doch das Fehlen der Signatur auf den Bildern aus dem 15. Jahrhundert sorgt für „Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers“[3], der 1482/83 im Roode Kloster bei Brüssel gestorben sein soll. Durch den Brüsseler Bibliothekar Alphonse Wauters wird 1863 die handschriftliche Klosterchronik von Caspar Ofhuys aus den Jahren 1509/13 veröffentlicht, in der er von seinem Mitbruder und dessen Wahn wie Tod berichtete. Erstmals konkretisierte sich die Existenz des Malers im 19. Jahrhunderts. Seit den 1820er Jahren war es zu zahlreichen Zu- und Abschreibungen nicht zuletzt von zwölf Gemälden durch eine Monographie Alphonse Wauters gekommen, „von denen lediglich der Portinari-Altar seinen Platz zu Recht einnahm“[4].

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Die aktuelle Werbung für die Hugo van der Goes-Ausstellung in der Gemäldegalerie im Kulturforum zoomt Ausschnitte aus den Tafeln und Tüchern auf der zentralen LED-Tafel zu einer monumentalen Höhe von mehr als 2 Stockwerken. Der Ausschnitt von, nennen wir ihn noch einmal, Balthasar aus dem Monforte-Altar und dem nur 33,8 x 23 cm großen Sündenfall aus der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien werden, per Kamerafahrt nach oben geschoben. Eine Art Animation im Doppelsinn. Animiert werden Details, die seit den 1870er Jahren zur „Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst“ beitragen, wie es Carlo Ginzburg formuliert hat.[5] Hugo van der Goes und die das Detail feiernde Werbung verdanken sich der nach dem Kunsthistoriker Giovanni Morelli benannten Methode, woran Ginzburg erinnert. „Man solle (…) die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflusst sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Figuren, Händen und Füßen.“[6]         

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Das unbeabsichtigte Detail hat sich als Paradigma in der Kunstgeschichte und für den Kunsthistoriker wie Experten für Mittelalterliche Malerei ebenso wie Kurator für deutsche, niederländische und französische Malerei vor 1600 in der Gemäldegalerie Stephan Kemperdieck gehalten und wird in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt. „Gesichtstypen“ wie „Ährenbündel“[7] können als Details zur Argumentation für Herkunft wie Chronologie eines Werks eingesetzt werden. Wo die Grenze zwischen Künstler und seiner Werkstatt oder seinen Helfern im Roode Kloster verlaufen, lässt sich schwer verifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der halluzinatorische Wahnsinn Hugo van der Goes zu einem so entscheidenden Künstlermythos, dass der Neffe des Bibliothekars und Chronikherausgebers, der Maler Émile Wauters, das Gemälde 1872 La folie d’Hugues van der Goes malt und eine kunsthistorische Debatte u.a. mit Erwin Panofsky[8] und Max J. Friedländer zur Chronologie[9] entfacht.

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Über Hugo van der Goes weiß die Kunstgeschichte wenig. In der ersten niederländischen Kunstgeschichte von Karel van Mander, dem Schilder-Boeck von 1604, wird ein „seit langem schon verschwundenes Werk“ von ihm ausführlich beschrieben.[10] Deutlich über 100 Jahre nach seinem Tod geht er somit in das Format eines historiografischen Wissens von den Bildern ein. Bilder bekommen eine Geschichte und werden räumlich wie zeitlich verortet. Das ist im 17. gegenüber dem 15. Jahrhundert eine neuartige Betrachtungsweise. Albrecht Dürer hatte bereits 1520/21 die Niederlande bereist und Hugo van der Goes als „grosz maister“ in seinem Tagebuch erwähnt.[11] Da war Hugo ca. 40 Jahre tot. Dürers Reise diente auch seiner Generierung von durch Malerzünfte organisiertem praktischem Wissen in Malweisen wie Motiven. Denn das Zunftwesen des Spätmittelalters spielt in der Auswertung der „Schriftzeugnisse“ zu Hugo van der Goes eine wichtige Rolle. So heißt es im genalogischen wie mediävistischen Essay Hugo van der Goes in den Quellen, dass „die meisten Menschen im Spätmittelalter in einem komplexen Netz von gegenseitigen Mikrokrediten verstrickt“ gewesen wären.[12]

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Hugos Eintritt ins Roode Kloster und damit in den Augustinerorden als Novize und als zuvor in der Genter Zunft organisierter Maler-Meister wird in der Kunstgeschichte als individuelle, autonome Entscheidung formuliert. Weniger Beachtung hat offenbar bislang die Frage nach dem Organisationswechsel von der Zunft zum Orden gefunden. Die ausgewerteten Quellen legen „einen erfolgreichen und bestens vernetzten Künstler“ nahe, „der die Anerkennung der gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit genoss“.[13] Dagegen setzt die Kunstgeschichte mit der Morelli-Methode das unbeabsichtigte Detail als das das Individuum verratende Indiz voraus. Der Wechsel von der Zunft in den Orden wird allerdings zugleich zum theologisch-organisatorischen Problem und gefährdet die Ordens- wie Mönchsregeln, was sich mit der Chronik von Caspar Ofhuis entfalten lässt. Durch den fast schon identifikatorischen Streit um den Wahnsinn wurde das strukturell lebenspraktische Problem der Ordensregeln überlesen. Die Regel für das Klosterleben legte Augustinus von Hippo auf der Schwelle vom 4. zum 5. Jahrhundert schriftlich fest. Sie wird als Augustinusregel tradiert.[14]

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Dankenswerterweise wird die lateinische Textpassage des Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia im Katalog vermutlich erstmals alsmöglichst genaue Umsetzung des lateinischen Textes ins Deutsche“ zugänglich.[15] Der lateinische Text mit seinen stilistischen Eigenheiten wird nicht geglättet.[16]
Im Jahr des Herrn 1482 stirbt der Konverse Hugo, der hier seine Profess abgelegt hatte. Dieser war so berühmt in der Malkunst, dass diesseits der Berge keiner seinesgleichen, wie man sagte, in jener Zeit gefunden werden konnte. Wir waren zur gleichen Zeit Novizen, er und ich, der ich dies hier niederschreibe. Bei seiner Einkleidung und im Noviziat gestattete ihm Pater Prior Thomas sehr vieles, was die Unterhaltung der Weltlichen betrifft, allerdings aus guten Gründen, weil er unter den Weltlichen bedeutend gewesen war, was mehr zum Prunk dieser Welt führte als zum Pfad der Buße und Demut.[17]    

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Mit den ersten Sätzen der Passage formuliert Caspar Ofhuys ein Ordens- bzw. Ordnungsproblem in theologischer Hinsicht. Das Weltliche außerhalb der Klostermauern und das Geistliche der Klosterpraktiken werden von Ofhuys argumentativ gegeneinander in Stellung gebracht. Dabei geben die schriftlichen Quellen einen Hinweis darauf, dass Caspar „aus einer begüterten Brüsseler Familie“, der des Goldschmieds Jan van Ofhuys d. Ä.[18], mithin ebenfalls zünftig organisierten Familie entstammte. Doch Hugo unterwirft sich nicht restlos den geistlichen Ordnungsregeln, sondern der Abt des Klosters „gestattet ihm … sehr vieles“. Die Tagesabläufe im Kloster sind streng geregelt, wie z.B. früh morgentliche Gebete und gemeinsame Gesänge, die nicht zuletzt Giorgio Agamben im vierten Teil seines Homo Saccer-Projekt unter dem Titel Höchste Armut – Ordnungsregel und Lebensform erforscht hat.[19] Hugo hätte kaum noch Malen können, wenn er die Mönchspraktiken des Klosters eingehalten hätte. Stattdessen wird er nach Caspar „von vielen hohen Herrschaften und sogar von seiner Durchlaucht Erzherzog Maximilian besucht“.[20]

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Liest man Caspar Ofhuys Klosterchronik mit Agamben als einen Beitrag zur „Literaturform“ der „Mönchsregeln“[21], dann verschiebt sich der identifikatorische Blick auf Hugo, weil er lediglich zu einem Exemplum einer Krise der Mönchsregeln wird. Der Chronist und Verteidiger der Mönchsregeln berichtet von Hugos Wahnsinn, „weil Gott dies alles meiner Meinung nach erlaubte, …, … auch um uns zu belehren“.[22] Die Einhaltung der Mönchsregeln schützt nicht zuletzt vor Wahnsinn, lässt sich sagen. Zum Schlüsselbegriff für das Leben im Kloster wird die Demut (humilitas), welcher Hugo nicht gerecht werden konnte, weil er bereits berühmt und „erhöht“ worden war. Deshalb betont Caspar, dass „(a)ls der Bruder selbst dies begriffen (intelligens) hatte, übte er, sobald der genesen war große Demut (humiliavit), indem er freiwillig unser Refektorium verließ und demütig mit den Laien die Mahlzeiten zu sich nahm“.[23] (Unterstreichungen T.F.) Die zeitlich und hier ebenso räumlich genau eingeteilte Einnahme der Mahlzeiten von Mönchen und „Laien“ gibt einen Wink darauf, „dass das gesamte Leben des Mönchs von einer ebenso lückenlosen wie unerbittlichen Zeiteinteilung bestimmt war“[24], wie es Agamben formuliert hat.[25] „Das Zönobium ist also zunächst ein lückenloser Stundenplan des Daseins: Jedem Augenblick entspricht ein Offizium, sei es das des Gebets, der Lesung oder der Handarbeit.“[26]     

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Hugo van der Goes‘ Eintritt ins Kloster sorgt für nahezu chaotische Verhältnisse in der getakteten Lebenspraxis der Mönche. Sie macht die Mönche (fast) wahnsinnig, weil nun ständig Ausnahmen von der Regel geschaffen werden. Hugo kleidet sich nicht wie alle anderen Augustiner-Mönche – und noch der Augustinermönch Martin Luther –, er hält kaum den Zeitplan ein und bekommt auch noch ständig weltlichen Besuch, mit dem er zu Unzeiten spricht, isst und trinkt. Was womöglich gut für die Finanzen und die weltliche Reputation des Klosters ist, greift die Mönchsregeln zutiefst an. Dass das Malen eine Form der meditatio sein könnte wird von Caspar gar nicht erst erwähnt, stattdessen suchen Hugo nach Caspar „fantasiis et emaginationibus“ heim.[27] Dabei war es gerade Augustinus, der die meditatio als Lese- und Gedächtnispraxis nach Agamben ins Mönchsleben einführte.
„Bekanntlich verbreitet sich seit dem 4. Jahrhundert die Praxis des leisen Lesens, die Augustinus mit Erstaunen bei seinem Lehrer Ambrosius zur Kenntnis nimmt. »Wenn er las«, schreibt Augustinus (Conf., 6, 31), »glitten die Augen über die Seiten und das Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten«.“[28]

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Was der Kunstgeschichte und den Feuilletontiteln – Wirklich ein Genie im Wahnsinn? (Berliner Zeitung), Genie im Großformat (Süddeutsche) – heute als Anknüpfungspunkt zwischen Geniediskurs und Wahnsinnszweifel bei Hugo van der Goes zur Identifizierung eines Malerindividuums gilt, wird durch eine andere Leseweise der Klosterchronik ad absurdum geführt. Noch dem Spätmittelalter widerstrebte eine derartige Denkweise. Über den Wahnsinn Hugos wissen wir durch Caspar Ofhuys nicht mehr und nicht weniger, als dass er ihn präzise im Kontext der Mönchsregeln als Wissensfeld diskutiert wird. Obwohl Caspar eine Unterscheidung von „er“ und „ich“ einführt, richtet sich die Kritik auf eine den Mönchsregeln nicht konforme Lebensweise, die nur durch „große Demut“ geheilt werden kann. Die Kunstgeschichte als eine Disziplin des Individuums als Genie ignorierte geflissentlich die Forschung der Mediävistik. Der Katalog zur Ausstellung und die Ausstellung selbst verschieben nicht zuletzt mit der Präsentation der Handschrift die schwierige kunsthistorische Perspektive nur ein wenig. Quasi im letzten Ausstellungsraum trifft das fatale Wahnsinnsbild von Émile Wauters auf die Chronik, als hätten wir den Maler nun selbst vor Augen, von dem es weder ein Bild noch eine Signatur gibt.

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Die malende Hand Hugo van der Goes‘ lässt sich als Schnittstelle von Handwerk und Kunst bedenken. Produziert die Hand den Stil? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten, weil sie eine entscheidende für die Zu- und Abschreibungen der Gemälde im Werk gilt. Wir wissen wenig von der Hand im Spätmittelalter. Wie werden Malweisen mit der Hand praktisch eingeübt? Wie wird die Hand motorisch trainiert? Mittelalterliche Handschriften wie die Caspars folgen Regeln. Obwohl Hugo nach Caspar berühmt ist, signiert er seine Bilder nicht. Das Fehlen einer handschriftlichen Signatur im Zeitalter der illuminierten Handschriften gibt eher einen Wink darauf, dass Hugo van der Goes sich nicht als Individuum begreift. Wir kennen keine Signatur Hugos weder in Bildern noch in Dokumenten. Womöglich argumentiert Erik Eising in seinem Essay Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weydens auch deshalb mehr über „Motive“ und „Figuren“. Die Hand bleibt diskret und wird dann doch in Bezug auf einen Maler aus Hugos Umfeld explizit zum Argument der Herkunft zweier Gemälde:
„Eine Königsanbetung in New York (Kat. 23) kann derselben Hand wie die Tafel in Urbino zugeschrieben werden. Obwohl die Komposition gewisse Parallelen zu zwei von Hugo entworfenen Königanbetungen zeigt (Kat. 2, 24), reichen aber auch diese nicht, um den jungen Hugo in Joos an Wassenhoves Werkstatt zu lokalisieren.“[29]  

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Die Hand als Indizienparadigma in der Kunstgeschichte bleibt elastisch und wird kaum näher formuliert.[30] Sie entzieht sich in ihrer Komplexität einer Beschreibung, um genau deshalb „die auf geringfügige(n) und unwillkürliche(n) Merkmale(n) basierende Kenntnis vom Individuum“[31] zu generieren. Wir wissen heute beispielsweise durch das biometrische Passfoto, dass sich das Individuum datentechnisch erfassen lässt. Doch in der Kunstwissenschaft führt die Hand dennoch bislang zu keiner eindeutigen Zuschreibung von Gemälden oder Zeichnungen. Vielmehr bleibt die Hand immer in einem Bereich individuell-visuellen Wissens von Kunsthistoriker*innen, das sich sprachlich schwer erfassen lässt. Hinsichtlich der „einige(n) hundert niederländische(n) Zeichnungen des 15. Jahrhundert“, die bewahrt geblieben sind, bemerkt Stephanie Buck, dass keine „signiert“ sei. Genau deshalb kommt die Hand Hugos wiederum prominent zum Zuge:
„Zwei Zeichnungen haben sich in der Forschung als eigenhändige Werke von Hugo van der Goes durchgesetzt: Jacob und Rachel in Oxford (Kat. 6) und Christus am Kreuz in Windsor (Kat. 7.1).“[32]  

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Die Hand als heuristisches Werkzeug, um die Herkunft zu klären, gehört in der Kunstwissenschaft zum Feld des Geschlechts. Mit der Hand soll die Herkunft des Gemäldes wie der Zeichnungen geklärt werden. Für das 15. Jahrhundert als Schwellenzeit in den Niederlanden lässt sich zumindest praxeologisch sagen, dass die Hand sich möglicherweise ankündigt, gewissermaßen im Kommen ist, aber keinesfalls da ist. Die Grenzen zwischen Malerindividuum und Werkstatt bleiben unscharf. Doch gleichzeitig vermag Hugo van der Goes als Maler und Mönch, die Mönchsregeln zu sprengen. Gesprengt werden sie indessen nicht zuletzt durch Gespräche, Gerüchte, Empfehlungen, Schmeichelleien, kolportierten Geschichten, neuartigen Erzählungen. Und Caspar formuliert zugleich einen Zweifel an der Hand und ihrer Leistungsfähigkeit. Die Hand kommt ins Spiel, wenn der Glaube in Gott schwindet, wenn der Chronist schreibt:
„Was die Leiden der Seele betrifft, so weiß ich genau, dass sie dem erwähnten Konversen sehr zusetzten. Er sorgte sich nämlich sehr darum, wie er die Werke, die er malen sollte, zu Ende bringen sollte. Er hätte sie, wie es damals hieß, kaum in neun Jahren vollenden können.“[33]

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Möglicherweise gehört die manus scientia oder das Wissen von der Hand deshalb auch in einen exklusiven Bereich der Übertragung, wie sie nicht zuletzt in den christlichen Gemälden von Hugo van der Goes immer wieder dargestellt wird. Die beispielsweise des sogenannten Monforte-Altars ist eine geschlossene. Herrscherfiguren wie die Könige suchen das neugeborene Jesuskind nicht nur auf, sondern erkennen es als Macht über der von ihnen verkörperten Macht an. Sie wollen an der im Neugeborenen unschuldig dargestellten Macht teilhaben. Maria trägt als Mutter keine materielle Krone, aber eine immaterielle aus Gold gemalten Lichtstrahlen. Der erste König im Vordergrund hat seine Krone aus Pelz und Goldgeschmeide bereits zur Seite gelegt, um mit barem Haupt die Strahlen des Heiligenscheins, wie man sagt, empfangen zu können. Dieser Übertragungsvorgang wird als Altarbild ein großes Geheimnis, das nur an bestimmten Tagen des christlichen Jahres zu schauen gegeben wird, denn die Scharniere für die verdeckenden Altarflügel sind noch gut erhalten.

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Die Übertragung, des mit einem anderen Wort, Heiligen Geistes muss als erstrebenswerter, gleichwohl geheimnisvoller Vorgang auf einer Bühne in Szene gesetzt werden. Deshalb setzt sich mit Hugo van der Goes und seinem Umfeld eine Theatralisierung der Übertragungsszenen durch. Diese Übertragungsszene soll den Regeln entsprechend kniend in anbetender Haltung geschaut werden. Die Mönche, die Auftraggeber etc. sollen sich am besten Verhalten wie der bereits kniende König. Er ist in Haltung und Verhalten das zentrale Vorbild. Im Katalog heißt es unter anderem:
„Die Gestalten sind groß im Verhältnis zur Bildfläche, die sie in der Höhe beinahe ausfüllen. Eine bis dato unbekannte, den Eindruck von Monumentalität steigernde Perspektive wird vor allem beim König deutlich: Als stünden (besser: knieten, T. F.) wir unmittelbar vor ihm, blicken wir auf seine Füße hinab, sehen aber von seiner rechten Hand an alles in Untersicht, sodass seine Gestalt über unsere Köpfe aufzuragen scheint.“[34]

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Die Geburt Christi aus der Zeit von 1480, die Hugo van der Goes zugeschrieben wird, steigert in gewisser Weise die Theatralisierung im Modus einer Erfüllung der Heiligen Schrift bzw. des Alten Testaments. Zwei Propheten ziehen nunmehr allegorisch einen halbtransparenten Vorhang auf einer Stange zur Seite. Denn das Neue Testament, das mit der Geburt Christi in den Evangelien beginnt, generiert sich als Realisierung der Ankündigung des Messias. Die Vorhänge werden im 14. Jahrhundert zu einem verbreiteten Motiv der Gemälde, die das Schauen und Wissen einüben sollen.
„Erwin Panofsky deutet (die Propheten mit Vorhang) als Umsetzung einer im Mittelalter geläufigen Vorstellung, die Aurelius Augustinus so formulierte: „Das Alte Testament wird im Neuen enthüllt, im Alten siehst du das Neue [Testament] verhüllt“ (Enarrationes in Psalmos 105, 369). Hier enthüllen die Propheten selbst, was sie vorausgesagt haben, …“[35]    

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Theatralisierung erzeugt Emotionen, die im Verhaltensrepertoire der Menschen im Mittelalter eher neu waren. Ob sie sich Zwischen Schmerz und Seligkeit abspielten, wie die Ausstellung vorschlägt, wissen wir nicht. Wann, wo und durch welchen Maler sie zum Motiv werden, lässt sich schwer verifizieren. Der medial stark vernetzte Mensch des 21. Jahrhunderts hat andere Praktiken entwickelt, Emotionen hör- und sichtbar zu machen. Seligkeit gehört in vielen Gesellschaften nicht mehr zu einem der bevorzugten Gefühle. Zumindest hat der Gebrauch des Begriffs Seligkeit seit dem 17. Jahrhundert und dann noch einmal seit den 1950er Jahren rapide abgenommen.[36] Seligkeit als Versprechen und Empfinden ist selten geworden. Sie hatte womöglich auch weniger mit einem Gefühlsmoment als vielmehr mit der streng geregelten Lebensführung im Weltlichen wie im Kloster zu tun. Insofern wird der Ausstellungsbesuch in der Gemäldegalerie zu einer Entdeckungsreise in eine fremdgewordene Welt des niederländischen Spätmittelalters, in dem Künstlernamen selbst als Promis, Signaturen wie Autogramme und die Hand eine geringe Rolle spielten.

Torsten Flüh

Gemäldegalerie
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit

bis 16. Juli 2023

Katalog zur Ausstellung:
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit

Hg. Erik Eising, Stephan KemperdickBeiträge von M. W. Ainsworth, T.-H. Borchert, S. Buck, L. Campbell, E. Capron, K. Dyballa, E. Eising, S. Kemperdick, B. Ridderbos, G. Wedekind u.a.
304 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
24 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3847-4
55,00 EUR0 (D) 


[1] Stephan Kemperdick: Hugo van der Goes. Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit. München: Hirmer, 2023, S. 17.

[2] Ebenda S. 15.

[3] Ebenda. S. 11.

[4] Ebenda S. 12.

[5] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. D/er Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kund und soziales Gedächtnis. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988, S. 78.

[6] Ebenda S. 79-80. 276

[7] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 17.

[8] Siehe: Gregor Wedekind: Hugos Wahn. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 81.

[9] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 12.

[10] Ebenda S. 11.

[11] Ebenda.

[12] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo van der Goes in den Quellen. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 23.

[14] Wikipedia: Augustinusregel.

[15] Katalog: Caspar Ofhuys: Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 276-279.

[16] Ebenda Anm. 3 S. 279.

[17] Ebenda S. 276.

[18] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo … [wie Anm. 12] S. 22.

[19] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Homo Saccer IV,1. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.

[20] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 276.

[21] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 15.

[22] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.

[23] Ebenda.

[24] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.

[25] Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt siehe auch: Torsten Flüh: Leben auf der Schwelle. Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt und der Pfingstserenade in Kloster Chorin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28.05.2012. Jetzt als PDF unter Publikationen.

[26] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.

[27] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 279.

[28] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 43.

[29] Erik Eising: Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weysens. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 35.

[30] Zum Indizienparadigma siehe: Carlo Ginzburg: Spurensicherung … [wie Anm. 5] S. 108-109.

[31] Ebenda S. 109.

[32] Stephanie Buck: Hugo van der Goes als Zeichner. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 63.

[33] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.

[34] S. K.: Anbetung der Könige (Monforte-Altar). In: In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 114/118.

[35] S. K.: Geburt Christi. Ebenda S. 220.

[36] Siehe die Wortverlaufskurven ab 1600 und ab 1946 im DWDS für Seligkeit.

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Universum – Nebel – Sichtbarkeit

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin

Auf spektakuläre Weise finden die Mosse-Lectures im Sommersemester 2023 im Tieranatomischen Theater von Carl Gotthart Langhans statt. Aus der architektonischen Kombination von Rundtempel und Amphitheater konstruierte der Erbauer des Brandenburger Tores, Langhans, einen Raum des Wissens vom Pferd. Pferdeschädel mit Girlanden versehen schmücken seit 1790 die Fassade über den Fenstern. Am Ort des Todes der in Folgezeiten Hunderten, wenn nicht Tausenden von Pferden und anderem Getier wurde ein enzyklopädisches Wissen der Zootomie generiert. Um 1800 waren Pferde, wie man sagt, mit „walzenförmige(m) Körper und langem Hals“[1] für den Transport, die Ökonomie und das Militär zentral. Sie waren Fortbewegungsmittel und Kriegsgerät. Zur Generierung des Wissens von diesem staatspolitisch entscheidenden Tier ließ Friedrich Wilhelm II. einen Rundtempel mit zentraler Aufsicht bei der Sektion erbauen.

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Lothar Müller erinnerte am 20. April in seiner Vorstellung des Semesterthemas wie des Veranstaltungsortes an dessen Funktion für die Wissensgeschichte. Das Wissen vom Pferd durch die aktuelle Verknüpfung der Ansicht seines Inneren mit der Sprache durch Benennung erzeugte beispielhaft eine umfangreiche Hippologie. Das Tieranatomische Theater wurde zum Schauen und Hören als Übertragungsraum des Wissens konzipiert. Mit einem medial großen Bogen, doch in gewisser Weise bereits vom Titel naheliegend, führte Lothar Müller in den Vortrag Der Himmel auf Erden. Zur Geschichte der Sichtbarmachung und Medialisierung des Universums von Charlotte Bigg ein. Schon am 27. April kündigte am gleichen Ort, wo einst die Pferdekörper auf einem aus dem Untergeschoss hydraulisch hinauf geschobenen Seziertisch dem Blick freigegeben wurden, Stefan Willer den poetologisch anders gelagerten Vortrag Im Staub der Sterne des Science-Fiction-Autors Dietmar Dath an.  

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Im 19. und 20. Jahrhundert machte das Tieranatomische Theater nicht zuletzt wegen neuartiger Apparaturen des Sehens wie dem Mikroskop, der musealen Präparate-Sammlung und der Fotografie erhebliche Transformationen durch. Es bildet sich die Tierärztliche Hochschule heraus, die nach 1933 als Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät der Berliner Universität, der Vorgängerin der Humboldt-Universität, angeschlossen wird. Die dynamischen Bau- und Nutzungsgeschichten von Institutionen der Wissensgenerierung und -vermittlung sind immer zugleich mit medialen Wechseln und sprachlichen Verschiebungen verknüpft. So wird das illustre Tieranatomische Theater in den 1920er Jahren umgangssprachlich zum eher obskuren Trichinentempel.[2] Die Tierbeschau diente nunmehr den Hygienemaßnahmen des Staates im mikroskopischen Bereich der ca. 1 Millimeter kleinen Fadenwürmer (Trichinen), die als parasitäre Erkrankung durch Verzehr von rohem Fleisch auf den Menschen übertragen werden können.   

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Nach langjährigen restauratorischen Baumaßnahmen ist das Tieranatomische Theater der Humboldt-Universität auf dem Gelände der Philippstraße 13 von einem Ort der Wissensgenerierung zu einem der Wissensbefragung geworden. „Wissenschaften und gestalterische Disziplinen“ werden in einen Austausch gebracht, um „die Vielfalt der Wissensformen (in Ausstellungen) sichtbar zu machen und dabei zugleich neue Formate und Perspektiven für das Ausstellungsmachen und für Museen zu entwickeln“.[3] Als TA T situiert es sich ähnlich wie die Mosse Lectures an der Schnittstelle von Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaften bzw. Literaturwissenschaft. Gleichwohl führt das Tieranatomische Theater auf dem Campus Nord der Universität angrenzend zum Charité Campus Mitte und dem Institute for Theoretical Biology ein verborgenes Dasein. Die Zugänge zum Campus von der Luisen-, Friedrich- und Philippstraße sind, obschon mittig gelegen, nur Anwohnern und Eingeweihten vertraut.[4]

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Von Innen spiegelt sich in den Fenstern der Kuppel des Tieranatomischen Theaters bei Dunkelheit dieses selbst. Doch die Dunkelheit des Nachthimmels, wenn die Sterne als Reflektoren oder ferne Sonnen sichtbar werden, bricht im Sommersemester in nördlichen Breiten erst spät an. Bei Tag blendet die Sonne, sodass ihr Untergang erst den Blick auf den Sternenhimmel und das Universum, in dem wir uns befinden, freigibt. Von den Planeten unseres Sonnensystems wird das Sonnenlicht hinter unserem Rücken reflektiert. Mit dem bloßen Auge des Menschen lassen sich Strahlungen und Reflektionen kaum unterscheiden. Der als „holder Abendstern“ – „Da scheinest du, o lieblichster der Sterne,/dein sanftes Licht entsendest du der Ferne;/die nächt’ge Dämmrung teilt dein lieber Strahl,/und freundlich zeigst du den Weg aus dem Tal.“ – besungene Planet Venus macht die sprachlich-poetologischen Wirren und Verfehlungen im 19. Jahrhundert exemplarisch deutlich. Aktuelle Astronomen und Astrophysiker bedienen sich neuartiger Medien und Rechenverfahren, um das Universum zu erforschen und sichtbar werden zu lassen, worauf Charlotte Bigg in ihrem Vortrag einging.  

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Das Universum wird unabhängig von seiner auf viele Millionen Lichtjahre berechneten Existenz etymologisch im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache hinein geboren.[5] Mit dem Begriff Universum als Ganzheit und Einheit, so groß sie zeitlich und räumlich auch sein mag, entsteht ein neuartiger Zugriff auf Welt und All. Noch die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts debattieren über das Universum als ein philosophisches Problem von Unendlichkeit und Räumlichkeit. Alles, was aus unendlich vielen Teilen besteht, könne unendlich sein, wird aus Chambers’s Encyclopaedia mit dem Motto „Universal Knowledge For The People“ anscheinend übernommen.[6] Universales Wissen und Universum korrespondieren seither als Wissensformen miteinander. Die Einheit und Ganzheit des Universum in seiner Unendlichkeit, wird im Chambers’s weniger als ein astrologisches Problem formuliert.
„Plusieurs philosophes ont prétendu que l’univers étoit infini. La raison qu’ils en donnoient, c’est qu’il implique contradiction de supposer l’univers fini ou limité, puisqu’il est impossible de ne pas concevoir un espace au-dela de quelques limites qu’on puisse lui assigner./
Mehrere Philosophen haben behauptet, dass das Universum unendlich sei. Sie begründen dies damit, dass es einen Widerspruch impliziert, das Universum als endlich oder begrenzt anzunehmen, da es unmöglich ist, sich einen Raum jenseits einiger Grenzen vorzustellen, die man ihm zuordnen kann.“[7]  

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Lothar Müller stellte das Programm der Mosse Lectures mit Fragen nach der Vermittlung des Wissens vom Weltall bzw. Universum vor. Die „Vermitteltheit und Popularisierung kosmologischen Wissens“ wollten die Mosse Lectures „in den Blick nehmen und nach den Medien und Technologien fragen, mit denen das Universum über die Astrophysik hinaus ästhetisch, kognitiv und affektiv »besiedelt« wird.“ Dafür haben die Organisator*innen der Veranstaltungsreise mehrere Fragen formuliert. „Inwiefern werden die der Lebenswelt entrückten, oft unvorstellbaren Dimensionen des Weltalls zu Einsatzpunkten fiktionaler Zugänge? Auf welchen medialen, sprachlichen und ästhetischen Vermittlungsstrategien basiert die astrophysikalische Forschung selbst (historisch und gegenwärtig)?“[8] Damit war nicht zuletzt eine Überleitung zu Charlotte Biggs Vortrag gegeben. Denn sie eröffnete ihn mit aktuellen Bildern vom Universum durch das James Webb Space Telescope vom 12. Juli 2022 wie dem „Carina Nebula“[9] ebenso wie einen historischen, mechanischen Automaten des Sonnensystems: „The Solar System, shewing the Revolution of all Planets whith their Satellites round the Sun.“  

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Charlotte Bigg wies nicht nur auf das Bild, vielmehr auf dessen bedenkenswerten Titel Carina Nebula und seine Beschreibung hin. Die beziehungsreiche Benennung und das Genre de Bildbeschreibung sind ein derart elementares, dass es eine frühe Rolle spielt im Sprachenlernen. Was zeigt also eines der ersten Bilder des technologisch neuen James Webb Space Telescopes? Die von der NASA, ESA (European Space Agency) und CSA (Canadian Space Agency) gemeinsam betriebene Mission in die Tiefen des Universums sendete während einer Fernsehübertragung um 10:30 a.m. Ostküstenzeit die ersten Bilder. Der mediale Aufwand für die ersten full-color images and spectroscopic data“ des Teleskopes war insofern erheblich. Beschrieben wird es, worauf Charlotte Bigg aufmerksam machte, wie folgt.
„This landscape of “mountains” and “valleys” speckled with glittering stars is actually the edge of a nearby, young, star-forming region called NGC 3324 in the Carina Nebula. Captured in infrared light by NASA’s new James Webb Space Telescope, this image reveals for the first time previously invisible areas of star birth.
Called the Cosmic Cliffs, Webb’s seemingly three-dimensional picture looks like craggy mountains on a moonlit evening. In reality, it is the edge of the giant, gaseous cavity within NGC 3324, and the tallest “peaks” in this image are about 7 light-years high. The cavernous area has been carved from the nebula by the intense ultraviolet radiation and stellar winds from extremely massive, hot, young stars located in the center of the bubble, above the area shown in this image.”[10]

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Sichtbar wird durch die Beschreibung eine Landschaft (landscape) aus Bergen (mountains) und Tälern (valleys) im Carina Nebel (Carina Nebula). Die höchsten Gipfel im Bild sind ungefähr 7 Lichtjahre hoch. Im Vergleich mit den höchsten Gipfeln der Erde, müssen die Gipfel (peaks) des Carina Nebels sehr viel höher sein, obwohl eine fast irdische, wenn nicht gar idyllische Landschaft beschrieben wird. Auf die Nebel und Landschaften im Universum wird zurück zu kommen sein. Das Format der Bildbeschreibung lässt allererst eine Landschaft entstehen, die nicht nur durch eine zuvor ungekannte Bildgenerierungstechnologie „previously invisible areas of star birth“ gewesen war. Das Faszinosum der Bilder von neuen Nebeln und dem Stephan’s Quintet wird auf der NASA-Seite als groß beschrieben und mit populären Medien und Narrativen verknüpft. Die Namen und Formulierungen sind elastisch und docken an populäre Wissensformen und Formate wie dem „holiday classic film, „It’s a Wonderfull Life““ an. Die besondere Fähigkeit der NASA und ihr verwandter Forschungsorganisation zur visuellen wie sprachlichen Verknüpfung unter beiläufigen Gebrauch des Konjunktivs („may have driven“) im Dienste der Astrophysik ist bedenkenswert.
„This enormous mosaic is Webb’s largest image to date, covering about one-fifth of the Moon’s diameter. It contains over 150 million pixels and is constructed from almost 1,000 separate image files. The information from Webb provides new insights into how galactic interactions may have driven galaxy evolution in the early universe.”[11] 

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Charlotte Bigg zitierte für das Verhältnis des Menschen zum Universum Blaise Pascals (1623-1662) Disproportion de l’homme aus seinen Pensées von (1669-1670). Im Unterschied zur Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot entfaltet Pascal ca. 100 Jahre zuvor mit dem Universum den Menschen auch kränkende Gedanken. Der Mensch wird von ihm durchaus aufklärerisch als ein winziger Teil des Universums formuliert.
„Er (Der Mensch) betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät; er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; und er möge darüber erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmament dahinrollen, umfassen. …
Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann es begreifen? Aber um ihm ein anderes ebenso erstaunliches Wunder zu zeigen, forsche er in den kleinsten Dingen, die er kennt. Ein Milbe z.B. biete ihm in der Winzigkeit ihres Körpers Theile unvergleichlich viel winziger, Beine mit Bändern, Adern in diesen Beinen, Blut in dien Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen dieser Feuchtigkeit, Dämpfe in diesen Tropfen…
Wer sich so betrachtet, wird ohne Zweifel erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben, gleichsam schweben zu sehen zwischen beiden Abgründen der Unendlichkeit und des Nichts, von welchen beiden er gleichweit entfernt ist. …
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts gegenüber der Unendlichkeit, ein All gegenüber dem Nichts, ein Mittelding zwischen Nichts und Allem.“[12]

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Abgesehen von den Zitaten durch Charlotte Bigg benutzt Blaise Pascal in seinem Fragment mit dem Titel Disproportion de l’homme den Begriff univers fünfmal, so dass die jüngsten Herausgeber zu dem Schluss kommen, dass das „Ziel des Transition 4-Fragments … darin bestehe, zu zeigen, dass der Mensch von dem Wunsch brennt, „eine feste Basis und eine letzte konstante Basis zu finden“, dass aber „unser Fundament Risse bekommt“: die Suche nach einem festen Punkt, obwohl sie in den Menschen eingeschrieben ist. Als tiefster Wunsch ist die Suche nach „einem unteilbaren Punkt, der der wahre Ort ist“, von dem aus der Mensch das ihn umgebende Universum verstehen könnte, aufgrund der Disproportion de l‘homme in Bezug auf dieses Universum zum Scheitern verurteilt“ sei.[13] Das ebenso natürliche wie kränkende Missverhältnis, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Pascal formuliert wird, stößt nicht zuletzt die Konstruktion und Produktion von Apparaten nach dem Vorbild der Uhr an, die das Universum in eine berechenbare Ordnung bringen.

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Die Versprechen des Universums, wie sie mit dem James Webb Space Telescope von der NASA u.a. als Blick in eine einst graue, heute vielfarbige und „seemingly three-dimensional“ Geburtsbildes wie Geburtsgeschichte eines Sterns beschrieben werden, beginnen bei Pascal mit einem Schrecken und einer narzisstischen Kränkung über die Disproportion des Menschen im Universum. Der Adelige, Physiker und Mathematiker ebenso wie Religionskritiker Blaise Pascal markiert eine Schnittstelle des Wechsels vom christlichen Gottesdiskurs, in dem der Mensch als Krone der Schöpfung figuriert, zu einem Naturdiskurs vom Universum, in dem der Mensch zu einem „Mittelding zwischen Nichts und Allem“ qua mathematischer Größenparameter wird. Pascal verstarb bereits mit 39 Jahren im Umfeld einer Religionsdebatte zwischen Jansenisten und Jesuiten, so dass seine jansenistischen Freunde die Fragmente als Pensées erst nach seinem Tode zusammenstellten und herausgaben. Die Funktion des Universums als Argument gegen die göttliche Herkunft des Menschen dürfte lange überlesen worden sein. Das univers erscheint in der Vormoderne im Moment einer Diskussion um die mathematisch-philosophische Unendlichkeit, in der der Mensch machtlos zu verschwinden droht.   

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Charlotte Bigg führte im weiteren Fortgang ihres Vortrages nicht nur das Universum als Apparat an, vielmehr stellte sie ebenso die Technologie des Zooms mit der Kritik von Bruno Latour in seinem Text L’Anti-Zoom (2014), die Big Science der Raumfahrtindustrie und die Berliner Sternwarte von 1874 in Moabit vor. Konnte beim Anblick des Nachthimmels Pascal das Universum in seiner Unendlichkeit erschrecken, zeichnet sich mit der Berliner Sternwarte bereits eine Verlagerung in städtische Außenbereiche wegen der zunehmenden Sichtbehinderung durch Licht- und Rauch-Emissionen der Stadt ab. Die zunehmende Lichtverschmutzung auf allen Kontinenten behindert heute den Blick in die Unendlichkeit des Nachthimmels. Je heller die Nächte werden, desto weniger Sterne lassen sich in den unendlichen Weiten sehen. In einem abschließenden Gespräch würdigte Hans-Christian von Herrmann als Experte für die Konstruktion des Planetariums die Ausführungen von Charlotte Bigg.

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An dieser Stelle soll die ebenso literarische wie wissenschaftliche Formierung der Universums im 19. Jahrhundert in der sogenannten Science Fiction-Literatur von Jules Verne angeschnitten werden. Das Universum stellt bei ihm die Frage nach einem anfänglichen Chaos, das geordnet, eingeteilt und vermessen werden muss. Die von Jules Verne 1865 formulierte „l’époque chaotique de l’univers“, das Zeitalter des Chaos des Universums, wird mit einigen begrifflichen Wiederholungen beschrieben. Das anfängliche Chaos erscheint heute technologisch und visuell bis in eine Dreidimensionalität z.B. als Carina Nebel in einer Landschaftsbeschreibung geordnet und geradezu idyllisch. 1868 veröffentlichte Jules Verne, der die wissenschaftliche Praxis der Fußnote für seinen Roman nutzte, seine Reise zum MondDe la Terre à la Lune. Im Kapitel V mit dem Titel Le Roman de la Lune kommt es zu einer Reihe lexikalischer Überschneidungen. Die Erzählung vom Mond wird nicht etwa als l’histoire angekündigt, sondern als Roman im Schwanken zwischen Imagination, Fiktion und Wissenschaft. Der biblische Schöpfungsdiskurs vom Chaos wird elastisch in die Wissenschaft übertragen.
„Un observateur doué d’une vue infiniment pénétrante, et placé à ce centre inconnu autour duquel gravite le monde, aurait vu des myriades d’atomes remplir l’espace à l’époque chaotique de l’univers. Mais peu à peu, avec les siècles, un changement se produisit ; une loi d’attraction se manifesta, à laquelle obéirent les atomes errants jusqu’alors ; ces atomes se combinèrent chimiquement suivant leurs affinités, se firent molécules et formèrent ces amas nébuleux dont sont parsemées les profondeurs du ciel.[14] / „Ein Beobachter, der mit einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet ist und sich in diesem unbekannten Zentrum befindet, um das sich die Welt dreht, hätte in der chaotischen Epoche des Universums Myriaden von Atomen gesehen, die den Raum füllen. Aber nach und nach, im Laufe der Jahrhunderte, fand eine Veränderung statt; es zeigte sich ein Gesetz der Anziehung, dem die wandernden Atome bis dahin gehorchten; diese Atome verbanden sich chemisch gemäß ihrer Verwandtschaft, wurden zu Molekülen und bildeten jene Nebelhaufen, mit denen die Tiefen des Himmels übersät sind.“

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Die Verneschen „amas nébuleux“ oder „Nebelhaufen“ werden zu einem Vorläufer der aktuell beschriebenen Nebel. Sie haben eine lange Tradition im Sprechen vom Universum. Denn Nebel sind seit alters her die Scheidestelle zwischen einem Unsichtbaren im Nebel verhüllten und der Sichtbarkeit des Nebels selbst, der aus einem Tal oder einer Tiefe aufsteigt. Insofern ist der als Wissen formulierte Nebel bzw. Nebelhaufen oder auch Nebelschleier jener Bereich, in dem das Begehren zu sehen geweckt wird. Der Beobachter muss mit „d’une vue infiniment pénétrante“, einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet sein, um die Herausbildung der Nebelhaufen aus Atomen durch „ein Gesetz der Anziehung“ zu sehen bzw. zu imaginieren. Das Voyeuristische des Beobachters spielt sich bereits bei Jules Verne im libidinös aufgeladenen Bereich der Penetration ab. Zugleich hat der Diskurs vom Universum gegenüber Pascal gelernt, dass es nur eines „unendlich durchdringenden“ Blicks des Menschen bedarf, um die Unendlichkeit zu erfassen.

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Jules Verne formuliert mit Fußnoten und einer Technik des Zoom all jene Versprechen, die sich die Astrophysik und der NASA für Popularisierung zu eigen gemacht hat. Der Zoom wird eben jenes Verfahren des Sichtbarmachens, das das Universum zu einem Ganzen zusammenbringt. Unter den Millionen Sternen wird die Sonne nur zu einem „Stern vierter Ordnung“. Auf diese Weise wird mit dem nicht zuletzt sprachlichen Zoom eine Ordnung bzw. ein ordnendes Wissen vom Universum hergestellt. Das geordnete, überschaubare Universum lädt zu reisen ein. Selbst dann, wenn es nur bis zum Mond gehen soll. Doch darin wird Jules Vernes literarisches Kombinations- wie Wissensverfahren lesbar.
„Si l’observateur eût alors spécialement examiné entre ces dix-huit millions d’astres l’un des plus modestes et des moins brillants[2], une étoile de quatrième ordre, celle qui s’appelle orgueilleusement le Soleil, tous les phénomènes auxquels est due la formation de l’univers se seraient successivement accomplis à ses yeux.
[2] Le diamètre de Sirius, suivant Wollaston, doit égaler douze fois celui du Soleil, soit 4,300,000 lieues./
Wenn der Beobachter dann unter diesen achtzehn Millionen Sternen einen der bescheidensten und am wenigsten glänzenden [2], einen Stern vierter Ordnung, den man stolz Sonne nennt, besonders untersucht hätte, alle Erscheinungen, denen die Entstehung der Sonne zu verdanken ist, wäre in seinen Augen das Universum sukzessive vollendet worden.
[2] Der Durchmesser des Sirius muss laut Wollaston dem Zwölffachen des Durchmessers der Sonne oder 4.300.000 Meilen entsprechen.“[15]

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Die Vermessung des Universum wird als eine weit fortgeschrittene mit den „achtzehn Millionen Sternen“ und dem „Durchmesser des Sirius“ formuliert. Dem herausragenden deutschen Science Fiction-Autor Dietmar Dath geht es weniger um eine Vermessung des Universums als vielmehr um vielschichtige Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen, wie Stefan Willer bereits 2013 analysierte und in seiner Einführung zum fast frei gehaltenen Vortrag Im Staub der Sterne am 27. April ansatzweise wiederholte.
„Dietmar Daths Romane, … , beschäftigen sich in großem Stil mit der fiktionalen Verwaltung von Wissen. Physikalische und mathematische Theoreme, Elemente und Versatzstücke aus Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, dazu eine Fülle von literarischen, alltäglichen, politischen und popkulturellen Diskursen werden in diesen Romanen personalisiert, ventiliert, diskutiert, kritisiert, angeordnet und umgewälzt. Dath verfügt über die, je nach Sichtweise, beeindruckende oder enervierende Fähigkeit, in kurzer Folge Bücher von teils erheblichem Umfang zu produzieren, in denen alles Mögliche vorzukommen scheint.“[16]

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Mit der Ankündigung seines Vortrages wird schnell deutlich, was Dath in seinem stark assoziativen Vortrag praktizierte, indem er in den rhetorischen und diskursiven Werkzeugkasten der Rede vom Universum griff. Anders als in der bemühten Wissenschaftlichkeit Jules Vernes geht es nun um „Zeug“ und „viel Nichts“. Das Geschichtenerzählen wird hier wie in seinem 2019 erschienenen 942 Seiten starken Buch Niegeschichte – Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine in Zweifel gezogen.
„Das Universum scheint ungefähr so groß zu sein wie alles, was es gibt, zusammengepackt. Wir gehen davon aus, dass dieses Universum in jeder Richtung sich selbst ähnelt und überall aus demselben Zeug besteht: aus viel Nichts mit ein paar Quantenfluktuationen drin, außerdem etwas Staub sowie einigen Rätseln. Darin finden wir Muster. Wie kommen wir aber dazu, über weit entfernte, lang vergangene und möglicherweise zukünftige Muster Behauptungen aufzustellen, Geschichten zu erzählen und Gleichungen zu bauen? Und hat das alles vielleicht sogar damit zu tun, dass eine Gesellschaft, in der über Leute entschieden wird, die dabei nicht mitreden dürfen, leerer als die Leere ist und schmutziger als der staubigste Dreck?“[17]

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In Niegeschichte schreibt Dietmar Dath über das Genre Science Fiction. Er wirft die Frage auf, wie dieses funktioniert. Der einfachste Grund liegt nach Dath auf der Hand: „Science Fiction erzählt Geschichten von Vorkommnissen, die nie geschehen sind und nie geschehen werden.“ Es sei „ungeheuer unwahrscheinlich, dass die Fantasie etwas in weltadäquater Detaildichte errät, das anschließend wirklich wird.“[18] Daths Vortrag wurde im Tieranatomischen Theater mit mehreren Kameras gestreamt und aufgezeichnet. Doch er wurde bislang nicht im Mosse-Lecture-Channel von YouTube veröffentlicht. Während des Vortrags versuchte der Berichterstatter sich Notizen zu machen und scheiterte an der Rede- und Erzählweise von Dath. Er hatte zur Demonstration eine Box Quantum Tarot Version 2.0 von Kay Stopforth und Chris Butler bereitgelegt. Die Nebel auf dem Bild der Box gleichen jenen neuesten Bilder des James Webb Space Telescopes. Tatsächlich knüpft das Spiel zu psychologischen Zwecken und als Wahrsagekartenspiel an den NASA-Diskurs an:
„The Quantum Tarot combines modern theories of physics and quantum mechanics with tarot, through vivid space images from NASA and the Hubble telescope. It’s now out in a reworked second edition from Lo Scarabeo, with two extra cards, some changed images, and new black borders.”[19]

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In jüngster Zeit wird die Rede vom Universum vom Pluriversum konterkariert und tendenziell abgelöst. Obwohl Dietmar Dath den Begriff nicht prominent benutzte macht das Pluriversum aktuell eine erstaunliche Karriere. 2018 nannte Alexander Kluge seine Ausstellung zum 85. Geburtstag als Werkschau Pluriversum.[20] Im Herbst 2022 stellte Jennifer Gabry im Haus der Kulturen der Welt zum Programm Where is the Planetary? „Zeitreisen und Raumfahrt, Cyborgs und Eskapismus“ die Frage: „Wie können wir tödliche Gewohnheiten in etwas verwandeln, das das lebende Pluriversum kultiviert?“[21]Und Dietmar Dath schrieb im gleichen Kontext: „SF ist eine Maschine, die Wissen vergessen hilft, um neues Wissen in Vorstellung und Darstellungen zu ermöglichen.“[22] Und der neue Intendant des Hauses der Kulturen der Welt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung kündigte am 14. März 2023 das Zeitalter des Pluriversums und das Sonic Pluriversum Festival für Juni und Juli an. Der Begriff geht auf William James‘ Buch Politics in the Plurivers von 1907 zurück und zirkuliert aktuell in hohem Maße, weil es ein deutlicher Gegenbegriff zum homogenisierend gebrauchten Universum denkbar macht. Durch den vielfältigen Gebrauch verändert er derzeit auch sein Bedeutungsspektrum, so dass er bald auch für die Science Fiction-Literatur und die Astrophysik gebraucht werden könnte.

Torsten Flüh

Nächste Mosse Lecture im Tieranatomischen Theater
Across the Univers.
Aktuelle Blicke ins All

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
»Mars, Musk und Metaverse.
Der Plattformkapitalismus und das All«
6. Juli 2023 19:15 Uhr
Hörsaal des Tieranatomischen Theaters
Philippstraße 13 (Campus Nord, Haus 3)
10115 Berlin

Begleitet werden die Mosse-Lectures in diesem Semester von einem Filmprogramm im Kino Arsenal, das am 23. Mai 2023 den Film Solaris zeigt.


[1] Wikipedia: Pferde.

[2] Zur Geschichte des Tieranatomischen Theater: TA T: Das Gebäude. Humboldt-Universität zu Berlin 2020.

[3] Ebenda: Über uns.

[4] Torsten Flüh bietet über Berlin-Feuerland Stadtführungen mit Geschichten rund um das Tieranatomische Theater auf Anfrage an. Siehe: https://berlin-feuerland.de/Medizin/

[5] Siehe DWDS: Universum.

[6] Wikipedia: Chambers’s Encyclopaedia.

[7] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : L’Encyclopédie/1re édition/UNIVERS

[8] Mosse Lectures: Programm: Across the Univers. Aktuelle Blicke ins All. Sommersemester 2023.

[9] NASA: First Images from the James Webb Space Telescope. Jul 12, 2022.

[10] Ebenda.

[11] NASA: Stephan’s Quintet. Ebenda.

[12] Zitiert nach Projektion im Vortrag: Blaise Pascal, Disproportion de l’homme. Pensées (1669-1670), übersetzt von Heinrich Hesse. Im Original mit dem Gebrauch des Begriffs „univers“ siehe: Le Pensées de Blaise Pascal: Fragment Transition n° 4 / 8. In : Dominique Descotes et Gilles Proust : Édition électronique des Pensées de Blaise Pascal 2011.

[13] Ebenda.

[14] Jules Verne : De la Terre à la Lune. J. Hetzel et Compagnie, 1868 (p. 24-30). (Wikisource)

[15] Ebenda.

[16] Stefan Willer: Dietmar Daths enzyklopädische Science Fiction“ Arcadia, vol. 48, no. 2, 2013, pp. 391-410. https://doi.org/10.1515/arcadia-2013-0026.

[17] Mosse Lectures: Programm … [wie Anm. 8]

[18] Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine. Berlin: Matthes und Seitz, 2019, S. 14.

[19] Aecletic: Quantum Tarot: Version 2.0 (Werbeseite)

[20] Kulturstiftung des Bundes: Alexander Kluge: Pluriversum. BILD UND RAUM.

[21] Jennifer Gabry: Planetar werden. In: HKW: Where is the Planetary? Berlin 2022, S. 5. (Online)

[22] Dietmar Dath: Was für eine Maschine ist die Science Fiction? In: ebenda. S. 14.

Generationenwechsel per Gong im LCB

Generation – Erbe – Literaturen

Generationenwechsel per Gong im LCB

Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin

Funktioniert Ihre Generationenhaftung? Mit oder ohne Haftcreme? Was könnte das sein: Generationenhaftung? – Im LCB am Wannsee begrüßten am 15. März Felix Schiller und Laura Ott das Publikum zum Abend Drei Generationen Erbe der Veranstaltungsreihe XYZ – Im Alphabet der Generationen. Das „Alphabet der Generationen“ kommt aus der Soziologie. Es teilt die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland chronologisch in Generationen zwischen Alpha und Omega oder A bis Z ein. Die Generation Z, englisch GenZ macht derzeit als „Letzte Generation“ oder im BILD-Jargon als „Klimakleber“ von sich Reden. Am 15. März wechselte das überschaubare Publikum per Gong zwischen den Schriftsteller*innen Ginka Steinwachs und Christina Esther Hansen, Valerie Fritsch und Barbara Frischmuth sowie Kerstin Hensel und Peter Neumann.

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Die generationellen Paarungen waren hinsichtlich der literarischen Genre Performance/Theatertext, Roman und Lyrik günstig kombiniert. Generationen generieren sich aus Geschichte und Erzählungen, mit denen das schreibende Individuum mehr oder weniger übereinstimmt. Meistens stellt sich das generationelle Wissen nachträglich her. Vielleicht ist die sich selbst als Generation Z titulierende Bewegung aus jungen Menschen, die einen apokalyptischen Klimadiskurs für sich in Anspruch nimmt, die erste prophetische Generation. Im LCB geht es mit dem Alphabet der Generationen um Literaturen, die sich gewiss nicht nur generationenverortet unterscheiden. Ginka Steinwachs hat früh eine ebenso poetische wie performative Schreib- und Vortragsweise im feministischen Kontext entwickelt. Christina Esther Hansen kann da auf ganz andere Weise im Treppenhaus des LCB mit neuen Theatertexten mithalten.

©gezett (Ausschnitt)

Die Veranstaltungsreihe XYZ – Alphabet der Generationen verblüfft mit ihrem generationellen Wissen, wenn es heißt, dass „(r)adikale Transformationen … in Gesellschaften eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Weisen, die Welt zu betrachten“, erzeugten. Der Generationendiskurs betone die „Differenzen zwischen Gruppen, die sich schnell auf Neues einstellen, und jenen, die an Bestehendem festhalten wollen“. Oder ist das ein eher altes Gespräch mit „Meinung(en)“ von Generationen: „Ob Klimakrise oder Gerechtigkeitsdebatten: In vielen gegenwärtig hochfrequent diskutierten Themen zeichnen sich generationelle Entfremdungs- und Verhärtungseffekte ab. Progressive oder bewahrende Konzepte für das künftige Zusammenleben hängen nach viel geäußerter Meinung auch mit dem Lebensalter zusammen: bei den ›Baby-Boomern‹ und den sogenannten drei Generationen ›X‹, ›Y‹ und ›Z‹ scheint es verschiedene unhinterfragte Gewissheiten zu geben.“[1] – In welche Narrative fallen und verfallen Schriftsteller*innen, wenn sie das Generationelle benennen? Oder wie umgehen sie es im Gespräch?

©gezett

Wie lässt sich unter Schriftsteller*innen in ein Gespräch kommen über das Thema Generationen? Das Ins-Gespräch-kommen ist gar nicht so einfach. Für das Publikum wird die Teilhabe am Gespräch dadurch schwierig, dass die drei Paare gleichzeitig in drei verschiedenen Räumen sprechen. Nach dreißig Minuten ertönt ein Gong und die Zuhörer*innen sollen den Raum wechseln. Der spielerische Gong zerfetzt auch die Gespräche. Der Gong funktioniert wie das Zappen oder durch Programme auf dem Screen scrollen. „XYZ alle Dinge, die ein Ende haben, haben auch einen Anfang ABC.“ – „Das Gärtnern verbindet uns.“ – „Der Garten ist ein umfassendes Bild.“ – „Lyrik funktioniert anders.“ – „Wer ist bitte Barthes. Ich kenne keinen Bart.“ (Gehört funktioniert das anders als geschrieben. Die Tücken des ABCs und des Geschriebenen.) – „Feminismus“ – „Sie ging mit sicherem Tritt, stieß unbeeindruckt gegen Mauerkanten und Regentonnen, Obstbäume und Zaunpfähle“ – „oft habe ich mich gefragt, wie wohl eine topographie der zeit aussehen würde.“ – „Aber der Garten ist das pure Leben.“ – „Schön ist der Tag. Die Sonne schickt einen Boten“

©gezett

Die Steiermärkerinnen Barbara Frischmuth und Valerie Fritsch sprechen über den Garten, das Gärtnern und Feminismus. Feminismus ist eine generationelle Schnittstelle für Frischmuth und Fritsch wie für Steinwachs und Hansen beim Schreiben, Dichten, Performen. Der Feminismus hat sich gewandelt. Die Zeit der Schwarzen Botin wird weiter bearbeitet.[2] Alma in Valerie Fritschs Herzklappen von Johnson & Johnson unterscheidet sich von den Klosterschülerinnen, von denen Barbara Frischmuth nur als ein formbares Wir in Die Klosterschule (1968) schreibt:
„Unseren Leib hätten wir von Gott, so wie alles, und wir dürften ihn nicht willkürlich schädigen, ihn nicht wissentlich vernachlässigen, noch ihm Nötiges entziehen, es wäre denn zum Zwecke der Läuterung, was wir in unserem Alter aber nicht recht beurteilen könnten, da müssten wir doch wohl Rat einholen, wenn wir das Bedürfnis hätten, und da sollten wir uns lieber gleich an jemanden wenden, der zuständig wäre für uns, sowie für die Läuterung, die ein Prozess sei zwischen uns und Gott, zu dem es eines Leiters bedürfe, wie auch die Wärme – denkt an den Physikunterricht – nur über einen solchen von einem zum anderen dringt.“[3]   

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Ginka Steinwachs und Christina Esther Hansen haben für ihre Performance im Treppenhaus neue Texte, Gesten und „Abtreter“ produziert. „Abtreter“ sind Bild- und Text-Schnipsel in transparenten Taschen, die sich betreten lassen. Wir werden darauf zurückkommen. Der spielerische Umgang mit Textmaterial interessiert beide. Das führt zu performativen Überschreitungen auf Texten und Bildern. Sie und Hansen lesen nicht aus publizierten Büchern. Ginka Steinwachs wollte sich nie auf das Format der Lesung aus ihren Büchern festlegen lassen. Das ist anders. Sie buchstabiert das ABC als Lebensmittel im Lebenslauf durch und schneidet auch das Gespräch an:
„J   K   L
das klingt hell
FEHLANZEIGE DUNKEL ?
als ich christina esther zum ersten mal sehe,
sage ich zu ihr: ich möchte so gerne jung sein
wie DU und alles offen.
sie sagt bei anderer gelegenheit: ich möchte
von DIR auch einmal etwas dunkles hören.
J   K   L
das klingt hell.
wie soll das dunkel sein? ich zäume das pferd
am schwanze auf und fange lateinisch an:
o ginka, tute tati tanta tibi tulisti
was für ein zungenbrecher und tonguetwister!
ach, meine liebe ginka, was hast DU DIR mit
DEINEM nein da nicht wieder alles zugezogen.“[4]

©gezett

Die Jugend als generationelle Offenheit wird von Ginka Steinwachs redewendend als „gerne jung sein“ angeführt, während dies von der Generation Z angesichts der Klimakrise entschieden angezweifelt wird. Für die GenZ und ihren Diskurs erscheint gar nichts offen, sondern apokalyptisch be- und geschlossen. Die Klebeaktionen, um den automobilen Verkehr zu stoppen, die immense Aggressionen bei den Gestoppten freisetzen, durchkreuzen nicht etwa symbolisch oder metaphorisch das Konzept der Offenheit in der Jugend, sondern real. Die Jugend ist für sie nicht leicht, beschwingt und offen, sondern unfair, deprimierend, bedrohlich. Psychologisch wird der Z-Jugend Hypersensibilität diagnostiziert. Psychologie Heute bietet ein internetgestütztes Tool zur Selbstdiagnose, die zum Wunsch (!) nach einem stationären Aufenthalt führen kann.[5] Der Diskurs der Generation Z dreht radikal die Wissenskonzepte von der Generation um. Der Wunsch nach dem Dunkel, in dem der nach Tiefe und Grund mitschwingt, kommt von der Jüngeren.

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Die Verneinung der Jugend als Zukunftsversprechen durch die Generation Z markiert einen Wendepunkt im modernen Konzept der Generation. Die Generation Z spricht in einer Verantwortungsrhetorik, wie sie üblicherweise der Jugend in ihrem Bedeutungsspektrum von Alter oder jungen Lebensjahren, jungen Leuten und Wesenhaftigkeit abgesprochen wird, wie mit der Formulierung „er hat uns seine unbekümmerte Jugend voraus“.[6] Für die Generation Z ist die Jugend gerade nicht „unbekümmert“. Sie wird mit viel Kummer und Kümmern erlebt. Ob die Jugend trotzdem unbekümmert sein könnte oder mehr oder weniger Kümmernisse mit sich bringt „als früher“, ist unerheblich. Früher, in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert war mehr Jugend. Die Gebrauchsfrequenz des Wortes Jugend erreichte Mitte der 50er ihren Höhepunkt![7] Nach einer leichten Zunahme des Gebrauchs zu Beginn der sogenannten Nullerjahre, als Florian Illies von der Generation Golf schrieb, sinkt die Verwendung der Jugend in Zeitungen und Literatur wieder.

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Sigrid Weigel hat in ihrem Buch Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften den Generationenbegriff um 2000 genauer erforscht. „Als Erzählung über die Abfolge von Geschlechtern oder Generationen in der Dimension der Zeit beerbt die Genealogie Literatur und Mythos, die zu den älteren Formen genealogischer Darstellungen und genealogischen Wissens zählen.“[8] Das Konzept der Generation als eines des Geschlechts, das mit der Generation Z aktuell auf dem Spiel steht, wird in einer Vielzahl von Wissenschaften als Wissensformation eingesetzt, wirkt auf das Selbst und seine Wahrnehmung ein und wird in den Medien oft in Kurzformen der Benennung und des Wissens gebraucht. Insofern korrespondiert es mit der geschlechtlichen Diversität und erweist sich doch als hartnäckiger. Als Erzählformat und Zählmethode legt es sich wie eine Matrix über die Welt und das Selbst.
„Generationen werden nicht nur erzählt, sondern auch gezählt, womit das Konzept der Generation sich an der Schwelle zwischen empirisch/ positivistischen und hermeneutischen/ historischen Betrachtungsweisen bewegt: dort Zahl und Messung, hier Rhetorik und Ikonographie. Es ist Voraussetzung und Fluchtpunkt, Schnittpunt und Verdichtung des genealogischen Diskurses.“[9]

©gezett

Das Wissen der Generation ist hoch produktiv, generiert durch Benennung ständig neue Generationencluster und wird nach der Logik des begrenzten Alphabets und seiner Kombinatorik mit dem Buchstaben Z an ein Ende geführt. Das ist bedenkenswert. Wie werden danach die Generationen eingeteilt werden? Die „Boomer“ haben sich quasi aus der GenZ generiert. „Das moderne Konzept der Generation hat mythische Qualitäten. Nimmt man Roland Barthes‘ Definition ernst, der zufolge das fundamentale Prinzip des Mythos in der Verwandlung von Geschichte in Natur liegt, so erschließt sich ein für die Erfolgsgeschichte der Generation seit dem späten 18. Jahrhundert zentraler Mechanismus der Sinnstiftung und Evidenzproduktion“, schreiben Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer.[10] Das Wissen von sich selbst wird über die Generation mit der Geschichte und heterogenen Zusammensetzung der Gesellschaft kombiniert und kurzgeschlossen. In der Literatur zeichnete sich um 2000 nach der „Verabschiedung“ von „Generation, Genealogie und Generativität“ in „zahlreichen Generationenromanen … das Fehlen oder Verweigern der Nachkommenschaft ausdrücklich“ ab.[11]

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Gegenüber der Verabschiedung vom generationellen Wissen in der deutschen Belletristik um 2000 könnte nach dem Ende der Generationen eine gespenstische Wiederkehr der Generation um 2020 im Gesellschaftsdiskurs formuliert werden. Verfolgt man die Spur der apokalyptischen Rhetorik der Generation Z, die so mächtig ist, dass sie unablässig die Nachrichtenmeldungen und Talkshows mit allen Formen der Gegenrede, Polemik, Strafandrohungen, Festnahmen, Arreste und Gesetzesdiskussionen beschäftigt, könnte es zu einem Umkippen des generationellen Wissens kommen, insofern es terroristische Formen entwickelt. Nach allen Regeln der Angst werden politische Entscheidungen getroffen. In diesem Kontext wirkten die „Gespräche“ im „XYZ-Casino“ seltsam verfehlend. Die generationelle Verhaftung wurde durch die Lesungen aus einst geschriebener Prosa oder Lyrik eher bestätigt, als hinterfragt. Das galt für die Paarung Frischmuth und Fritsch ebenso wie für die von Hensel und Neumann. Die Frage des Alters webt sich auch durch jüngere Gedichte von Kerstin Hensel. Das Generationelle wird in Räumarbeit nicht zuletzt mit „Revolution“ angespielt.
„RÄUMARBEIT
In meinem Schreibtisch finde ich
Mehrere alte Brillen. Seit einundsechzig
Mache ich Fortschritte
In Kurzsichtigkeit. In einem anderen Fach
Gilbe Programme nach denen
Die Revolution stattfand
Auf dem Theater.

Drei Brillen setz ich
Übereinander damit ich erkenne: mein Name
Steht unter den Spielern.“[12]

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Es gibt womöglich in der Sprache und selbst der Lyrik kaum ein Entkommen aus dem Konzept der Generation. Nicht nur spielt Kerstin Hensels Gedicht auf ein paradoxes Fortschrittsdenken der „einundsechzig“-Geborenen an, das sich in einer zunehmenden „Kurzsichtigkeit“ durch „alte Brillen“ erinnerbar macht, vielmehr noch bleibt offen, ob „(d)ie Revolution … Auf dem Theater“ ein Fortschritt war oder nicht. Angeschrieben wird damit ein Erfahrungswissen des Selbst zur „Revolution“, das nur ihre Generation und sie zwischen Proletarischer Revolution und Friedlicher Revolution gemacht haben kann. Die Ambiguität der Lyrik kann einer generationellen Signifikanz nicht entkommen, sie ist womöglich bei der Mehrdeutigkeit der Räumarbeit zwischen weg-, um-, ab- und aufräumen gar nicht gewünscht. Bedenkenswerter Weise wird von Peter Neumann das Generationelle anders angeschrieben:
„blue screen
großmutter trug eine kittelschürze, die legte sie
morgens um und abends ab, da waren
taschentücher, bonbons, wäscheklammern. die tasche
der kittelschürze war der intimste ort, vielleicht
der einzige, der sie im ganzen umschloss.
was ist das gegenteil von stadt: nicht land, nicht dorf,
provinz schon gar nicht, was es heißt, so zu leben.
programmierer müsste man sein, wie wäre
dieses tal sonst entstanden, hier tragen die berge
sehr viele tannen, wie eine fehlermeldung
multipliziert sich auf den breiten wegen das licht.“[13]

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In der Performance und lexikalischen Kombinatorik blitzt bei Steinwachs ein Transgenerationelles gar mit TikTok als Videoportal für Lippensynchronisation(!) von Musikvideos und zugleich soziales Medium vor allem zur Selbstdarstellung auf.[14] Das TikTok-Programm und -Konzept hat mit der Lippensynchronisation nicht zuletzt Folgen für die Generationen. Jede und jeder kann sich jenseits generationeller Grenzen Musikvideos mit Lippensynchronisierung aneignen. Durch die Lippensynchronisation könnten z.B. alle plötzlich lateinisch sprechen bzw. singen. Die visuelle Programmierung ersetzt Lateinkenntnisse und macht das Lateinsprechen jenseits des Wissens möglich.
„ich warte nun auf TIK TOKER für mich. vielleicht
ist ja auch schon der eine oder die andere hier im
raum. uns verbindet die lust auf fin de siecle-eleganz
und die lust am alten rom und dessen bewohner, die
seinerzeit fliessend lateinisch gesprochen haben.
colamus latinitatis in omnibus finibus orbis.
wir tragen das lateinische bis an die grenzen des
weltalls heran oder versuchen uns doch wenigstens daran.“[15]

©gezett

Es bleibt die Frage des Erbes. Das Erbe siedelt sich seit der Zeit um 1800 als Übertragungskonzept zwischen Natur und Kultur an. Während das sprachliche Erbe der Altsprachen wie Latein und Altgriechisch in der Literatur wie der Kultur und Bildung schwindet, wird das Erbekonzept von der Generation Z eher gecancelt als gewahrt, weil das Erbe als erdrückende Last und Gefahr wahrgenommen wird. „Neben jener gelehrten und rechtlichen Engführung von >Erbe< und >Familie<, die (…) als Naturalisierung, Kodifizierung, Futurisierung und Familialisierung gekennzeichnet wurde, ist um 1800 eine Engführung von >Erbe< und >Nation< zu beobachten, die man als Politisierung bezeichnen kann“, schreiben Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen. „Diese neue, politisierte Bedeutung des Wortes >Erbe< begründet die Denkfigur des kulturellen Erbes, die zum Medium für die ideologische Etablierung der Nationalstaaten wurde.“[16] Eine Auslotung des Erbes erfolgte von Steinwachs und Hansen, Frischmuth und Fritsch kaum, während bei der Paarung Hensel und Neumann in einer nicht nur regionalen Verortung zwischen Neubrandenburg und Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt ein Erbe aufschimmerte.

Torsten Flüh

Die mit ©gezett gekennzeichneten Fotos unterliegen dem Copyright von Gerald Zörner.

LCB
Programm
XYZ – Im Alphabet der Generationen
Nächste Veranstaltung: Buchpremiere: Felwine Sarr
Die Orte, an denen meine Träume wohnen
22. Mai 2023, 19:30 Uhr
Am Sandwerder 5
14109 Berlin
S-Wannsee


[1] Zitiert nach: LCB: Programm: XYZ.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Feminismus und die Radikalität der Gefühle. Zur Performance Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980 im Literaturhaus Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. August 2022.

[3] Barbara Frischmuth: Die Klosterschule. Zuerst: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.

[4] Ginka Steinwachs: A B C für  X Y Z im L  C  B. Berlin (Manuskript) 17.03.2023.

[5] Corinna Hartmann: Hochsensibilität. Helles Licht, Lärm, große Menschenmengen – hochsensible Menschen reagieren empfindlicher auf Reize. Aber was ist Hochsensibilität überhaupt? In: Psychologie Heute 10. Oktober 2022.

[6] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Jugend.

[7] Siehe Gebrauchsfrequenz ebenda.

[8] Sigrid Weigel: Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Wilhelm Fink, 2006, S. 9.

[9] Ebenda S. 10.

[10] Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer: Das Konzept der Generation: eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 10.

[11] Ebenda S. 324.

[12] Kerstin Hensel: RÄUMARBEIT. In: Lyrik-line angespielt.

[13] Peter Neumann: Areale & Tage. Dresden: Azur, 2018, S. 10. (Leseprobe)

[14] Zur Frage der Lippensynchronisation und der Stimme siehe: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[15] Ginka Steinwachs: A B C … [wie Anm. 4]

[16] Stefan Willer, Sigrid Weigel, Bernhard Jussen (Hg.): Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 25.

Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Reich – Deutschland – Imagination

Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy

Am 28. März hielt John Connelly in der American Academy in Berlin am Wannsee seinen Vortrag The Power of the „Reich“ in the German Imagination. – Was war das „Reich“? Wie kehrte es als Deutsches Reich, Kaiserreich und Tausendjähriges Reich wieder? Was macht den Begriff „Reich“ so attraktiv, dass sich heute deutsche Staatsbürger hinter einem machtlosen Adligen, Heinrich XIII. Prinz Reuss, als „Reichsbürger“ zu einem terroristischen Staatsstreich versammeln und diesen in gewissen abstrusen Details planen, woraufhin der Generalbundesanwalt einschreiten muss und ihn Bundespolizisten in Tweed und Handschellen abführen müssen? Das imaginäre „Reich“ kursiert weiter in Texten, Gesprächen, Debatten und Medien. In seinem Vortrag forschte der Sidney Hellman Ehrman Professor of European History an der University of California, Berkeley, John Connelly der Wandlung dessen nach, was mit dem „Reich“ verknüpft wurde und wird.

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Eine Transformation des Reichs wurde am 4. April mit der Anbringung der Großen Kartusche am Eosanderportal des wiederaufgebauten Berliner Schlosses wieder sichtbar. Die nicht erst beim Wiederaufbau verspätete Anbringung der Großen Kartusche als Hoheitszeichen muss in der Geschichtserzählung der Gesellschaft Berliner Schloss e. V. nur ein wenig gegen den Strich gelesen werden, um die Konstruktion von neobarocker Schlosskuppel mit der zentralen Schlosskapelle und Kartusche zu hinterfragen.[1] Johann Friedrich Eosander hatte 1707 für das zentrale Schlosstor in barocker Weise den Konstantinbogen des antiken Roms nachempfunden. Einem antiken Torbogen eine neobarocke Kuppel aufzusetzen, wie es König Friedrich Wilhelm IV. selbst in drei Architekturzeichnungen tat, musste eine Umdeutung des Schlosses, der Herrschaft und des Verhältnisses zur Evangelischen Kirche zur Folge haben.

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Die zivilgesellschaftlich heute durch Spenden finanzierte Große Kartusche wurde erst 1902/1903 in der Blüte des Kaiserreichs am Eosanderportal angebracht. Das darf man eine gehörige Verspätung des Bauelementes aus zwei Adlern, die einen königlichen vergoldeten Adler mit Zepter und Reichsapfel umrahmen, unter einer vergoldeten Krone, mit Palmenwendeln, einer Halskette und Orden, nennen. Auf der Brust trägt der Adler die Initialen FR für Fredericus Rex, König Friedrich. Gemeint ist mit diesem historistisch, neobarocken Element Friedrich I., der durch den Schlossbau 1705 Preußen als Königreich legitimiert hatte, um sich in Königsberg aus dem Kurfürstenstand zum König krönen zu lassen.[2] Die aktuelle Vervollständigung der Schlossfassade sollte in ihrer Geschichtskonstruktion zukünftig erinnert werden. Für das Imaginäre des Kaiserreichs musste die Geschichte des Berliner Schlosses lückenlos sein. Die Große Kartusche kann insofern mit der Verspätung als ein Indiz für den deutschen „Sonderweg“ der Nationenbildung gesehen werden, den John Connelly in seinem Vortrag zur Transformation des Reichsbegriffs darlegte.

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John Connelly hatte für die Ankündigung seines Vortrags als Visualisierung des Kaiserreichs Anton von Werners zweieinhalb mal zweieinhalb Meter großes Gemälde Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles in der dritten Fassung gewählt. Man darf davon ausgehen, dass der Moment der Proklamation mit geschwenkten Hüten und Kappen so nie ausgesehen hat. Die dritte Version erhielt Otto von Bismarck zu seinem 70. Geburtstag 1880 vom Kaiserhaus, der Familie Hohenzollern, geschenkt. Anton von Werner fertigte für seine Gemälde mehrere Tausend Handzeichnungen an.[3] Besonders viele werden dem Werkkreis der Kaiserproklamation zugerechnet. Einerseits wäre 1871 medienhistorisch durchaus eine Fotografie für diesen geschichtsträchtigen Anlass möglich gewesen. Doch bedurften Fotografien jener Zeit eine lange Belichtungszeit, weshalb die Bilder bestimmt verwackelt gewesen wären. Fliegende Hüte undenkbar. Die Skizzen zur ersten Fassung von 1877 sind vielfältig und werden offenbar erst Jahre nach dem Ereignis angefertigt, um ein Bild nach einem Darstellungskanon der Königs- und Kaiserproklamation zu generieren.

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Der Vortrag von John Connelly ist weiterhin auf der Seite der American Academy verfügbar.[4] Nach einer Eröffnung des Abends durch den Präsidenten der American Academy Daniel Benjamin stellte Jan C. Behrends als Professor für Osteuropastudien an der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) den Vortragenden als herausragenden Experten für Osteuropa, Deutschland und die Nationenbildung vor. Beide erwähnten in ihren Vorstellungen John Connellys fast tausend Seiten starkes Buch From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe von 2020.[5] Die Nationenbildung hatte er bereits in jenem Großwerk erforscht. Seine Einleitung beginnt er mit dem Paradox, dass niemand von den „Yugoslaws“ vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges gehört hatte:
„War broke out in Europe in 1914 because of a deed carried out in the name of a people no one had previously heard of.
That June, after years of internecine turmoil and armed conflict in southeastern Europe, a Bosnian Serb named Gavrilo Princip shot and killed Franz Ferdinand, heir of the Habsburg throne, in Sarajevo. The assassin said he was acting to defend the interests of the Yugoslaws, or South Slavs, who were seeking independence from the Austro-Hungarian monarchy.“[6]

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Ein nie gehörter Name und der Begriff „Reich“ liegen bei John Connelly methodologisch nah beieinander. Er untersucht in seinem Vortrag mit „Reich“ die langfristigen Folgen des Aufstiegs Deutschlands zur Nation im Kaiserreich, die gleichzeitig imperial, ethnisch und konfessionell lutherisch sein sollte – ein Land, das einen riesigen Raum in Mitteleuropa einnahm und versuchte, Millionen unterschiedlicher Menschen zu ethnischen Mitbürgern zu machen. Die Vielfalt der Menschen in jenem Raum wird zu Deutschen im Deutschen Reich normalisiert. Den Begriff „Reich“ verfolgt er bis kurz nach dem Fall Roms zurück. Mit dem imaginären „Reich“ versucht Connelly, die zerstörerische Rolle zu erklären, die die jüngere „Deutsche Frage“ spielte. Der Bogen der visuellen Materialien zum „Reich“, die John Connelly vorstellt, reicht von der Briefmarke mit dem Portrait Friedrich Eberts und der Aufschrift „Deutsches Reich“ aus der Weimarer Republik über das Luther-Denkmal in Eisleben bis zu Darstellungen der Krönung Karl des Großen.

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Die Nationenbildung verläuft für John Connelly zentral über den Gebrauch des Begriffs „Reich“ als Name und den Narrativen wie Bildern, die mit ihm insbesondere in Preußen und damit Berlin verknüpft werden. Bis zum Ende des Deutschen Reiches und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – für einige allerdings darüber hinaus – kursierte die Imagination eines einheitlichen, geschlossenen Reichs. Deshalb machte Connelly auf Hitlers Rede vom „Heim ins Reich“ bei der ebenso manipulierten wie willkommenen Besetzung Österreichs durch die deutschen Nationalsozialisten mit dem gebürtigen Österreicher Adolf Hitler aus Berlin aufmerksam. Im Namen des Reichs wurden zwei Nationen vereinheitlicht, um im „3. Reich“ aufzugehen, die sich noch im 18. und 19. Jahrhundert zuletzt 1866 im Deutschen oder Preußisch-Österreichischen Krieg u.a. aus konfessionellen Gründen heftig bekämpft hatten. Der Begriff stellt eine Einheit und ethnische Zugehörigkeit her, die es so nie gegeben hatte. Dem Fragmentarischen der politischen und wirtschaftlichen Reichsrealität wird seit dem 19. Jahrhundert, forciert seit dem Kaiserreich eine Normalisierung entgegen gesetzt. Damit das „Reich“ nicht zuletzt im Zuge der Industrialisierung mit einem neuartigen Schienennetz real wird, müssen die Menschen beispielsweise ähnlich aussehen oder im Unterschied zu anderen ähnlich gemacht werden. – Ich komme darauf zurück.

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John Connelly zitiert nicht zuletzt des AfD-Politikers Alexander Gaulands Rede vom „Vogelschiss“ als geschichtslosem Zwischenfall in der Geschichte des Deutschen Reichs. Am 2. Juni 2018 hatte Gauland als Partei- und Fraktionschef der AfD im Bundestag vor der Nachwuchsorganisation seiner Partei, der Jungen Alternative gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.[7] Damit hatte der 77jährige, 1941 geborene Gauland allerdings genau das Narrativ der Nationalsozialisten vom „Tausendjährigen Reich“ übernommen und bestätigt. Gauland hatte weiter ausgeführt: „Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen. Gerade weil wir die Verantwortung für die 12 Jahre übernommen haben, haben wir jedes Recht den Stauferkaiser Friedrich II., der in Palermo ruht, zu bewundern. Der Bamberger Reiter gehört zu uns wie die Stifterfiguren des Naumburger Doms.“[8] Er benutzt zwar nicht den Begriff „Reich“, aber die „deutsche Geschichte“ und das vereinigende Personalpronomen 1. Person Plural „wir“, um das imaginäre „Deutsche Reich“ aufzurufen.

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Im weiteren Verlauf seines Vortrages kam John Connelly auf Martin Luther und seine Verteidigungsrede vor dem „Reichstag“ zu Worms am 18. April 1521 zu sprechen: „Ich stehe hier. Ich kann nicht anders. Amen“.[9] Martin Luther sei in der Mitte der deutschen Dialekte in Eisleben aufgewachsen, wo jetzt auf dem Marktplatz ein Luther-Denkmal stehe. Die Rolle Martin Luthers bei der Generierung der deutschen Sprache durch seine Bibelübersetzung ist gewiss entscheidend. Das hatte allerdings in Eisleben kaum nennenswerte Spuren hinterlassen bis 1883, als der Magistrat der durch die Industrialisierung zu einem gewissen Wohlstand gekommenen Stadt von dem Berliner Bildhauer Rudolf Siemering zum 400. Geburtstag des Reformators ein Bronze-Standbild des Reformators aufstellen ließ. Es gehört zu jenem visuellen Nationalisierungs- und Vereinigungsprozess durch Martin Luther, der bereits 1805 mit Johann Gottfried Schadows Entwurf eines Denkmals für den Marktplatz von Wittenberg eingesetzt hatte. Schließlich wurde Schadows Luther am 31. Oktober 1821 mit einem Sockel aus Granit und einem Baldachin aus Berliner Gusseisen von Karl Friedrich Schinkel eingeweiht. Damit war der Prototyp für alle weiteren Luther-Denkmäler geschaffen, die nur noch mehr oder weniger z.B. in der Körperfülle abgewandelt wurden.[10]

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Die Ausführungen zum „Reich“ im 2. Reich bzw. Kaiserreich unter der Führung Preußens bzw. dem Hause Hohenzollern als Kaiserhaus von John Connelly können in vielerlei Hinsicht bei der Bilderproduktion unterstützt werden. Erst kürzlich hat sich Johann Gottfried Schadow als zentrale Figur der sogenannten Berliner Klassik in der Bilderproduktion für die Nation, Preußen und Berlin erwiesen. Um 1805 noch vor der Besetzung Berlins durch die Truppen Napoleons treibt Schadow die Frage nach der Nation um. Einerseits entwirft er ein Luther-Standbild, andererseits hatte er schon 1802 in seinem Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia das Projekt einer „Nationalphysiognomie“ mit der Methode der Vermessung öffentlich gemacht.[11] Eunomia nach der griechischen Göttin für gesetzlich Ordnung nannte sich 1801 mit der ersten Ausgabe im Untertitel selbst „Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten“.[12] Sie wurde bis 1805 in Berlin herausgegeben. In der Zeitschrift wird u.a. in der Rubrik „Politische Zeitgeschichte“ über den Begriff der Nation debattiert.[13]

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Das Projekt der Nationalphysiognomie hat Schadow offenbar bis zu seinem Tod 1850 in Berlin weiter beschäftigt. Schadows Begriff „der einen Menschenrace“ bleibt für die „Nationalphysiognomie“ unscharf. Genauere Untersuchungen zur Genese und Produktion einer „Nationalphysiognomie“ stehen aus. Er macht Skizzen von Chinesen, Türken, Afrikanern und anderen Besuchern Berlins und vermisst sie. 1803/04 bedauerte er, dass er aufgrund des Turbans des türkischen Gesandten Mehmed Essad „den Durchmesser des Schädels nicht nehmen konnte“.[14] Aus Gips formt er „Selim da Dafour“ (1807) und den „Kaffernprinzen“ (1823). Der gesellschaftliche Rang hat insofern Einfluss darauf, ob Schadow die Person für sein Projekt vermessen und in Gips formen konnte oder nicht. Das wenigstens ambivalente Projekt der „Nationalphysiognomie“ war für die Ausstellung vor allem durch das Material Gips ins Interesse geraten. Die Erwähnung in dem autobiographischen Text für die Zeitschrift Eunomia findet allerdings in einem Kontext der Frage nach der Nation statt. Einerseits hatte sich Eunomia das revolutionäre Motto „Omnibus aequa.“ (Alle gleich) gesetzt, andererseits führen Schadows Vermessungsmethoden zu einer ethnologischen Ausdifferenzierung, um zu entscheiden, was zur Nation bzw. „Nationalphysiognomie“ gehören soll und was nicht.

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Ein wichtiges Scharnier in der Umdeutung der Rede vom Reich in Verbindung mit dem Gottesgnadentum bildet der Aachener Kongress oder Monarchenkongress vom 29. September bis 21. November 1818. „Vor allem Zar Alexander war bestrebt, die Monarchien Mittel- und Osteuropas vom aufgeklärten Absolutismus abzubringen und sie auf die Lehre vom Gottesgnadentum einzuschwören“, hat erst kürzlich Andreas Gängel hervorgehoben.[15] Die Berliner Eisengießkunst und Karl Friedrich Schinkels Entwürfe zum Denkmal für die „Preußischen Befreiungskriege“ auf dem nach einer Order des Königs genannten „Kreuzberg“ gegen das postrevolutionäre, napoleonische Frankreich stehen im engen Konnex mit der neuen Imagination des Reiches. Das Eiserne Kreuz als Orden für die Kriegsteilnahme und das christliche Kreuz sollen sich spätestens mit dem Denkmal in der Imagination überschneiden. Schinkels Entwurf für das Eiserne Kreuz löst sich im neuen Design vom christlichen Malteserkreuz und lässt es dennoch durchschimmern. Erst verschwommen im Verlauf des Kaiserreichs bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlicher. Bereits am 26. September 1815 hatte der russische Zar Alexander (orthodox) mit Kaiser Franz I. (römisch-katholisch) und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen (lutherisch-protestantisch) die Heilige Allianz gegründet[16], um die revolutionären Kräfte abzuwehren.[17]

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Wann kippt das Ringen um die deutsche Nation genau zum monarchistischen Kaiserreich? Die Märzrevolution von 1848 hat sich in diesen Tagen zum 175. Mal gejährt. Sie wird gar von Jochen Bittner im Leitartikel für DIE ZEIT erwähnt: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist.[18] In Berlin baute Friedrich August Stüler als Schüler von Karl Friedrich Schinkel seit 1845 die Kuppel des Berliner Schlosses nach den Skizzen Friedrich Wilhelm IV.. Albert Dietrich Schadow, der Sohn Friedrich Gottliebs, war Bauleiter an dem fast acht Jahre andauernden Großbauprojekt. Die Bildung eines Reiches nach einer demokratischen Ordnung wird vor dem Schloss durch Schüsse auf die Revolutionäre und Industriearbeiter von August Borsig auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor beendet. In seiner heute vieldiskutierten Inschrift auf der Kuppel gebraucht der König nicht den Begriff „Reich“, aber er proklamiert es, während 1848 in der Frankfurter Paulskirche über eine Reichsverfassung debattiert wurde und die Revolution vor seinem Schloss blutig niedergeschlagen worden war.

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Politik- und industriehistorisch ist der Bau der Kuppel eng mit der Revolution von 1848 und der Frage der Nation als einer des Reichs verzahnt. So gesehen wohnte der Anbringung der Großen Kartusche unter der Schlosskuppel im 175. Jahr der Märzrevolution eine gewisse Ironie bei. Durch die Rekonstruktion der Fassade und Kuppel durch einen zivilgesellschaftlichen Verein werden aktuell die Paradoxien der Geschichte am Berliner Schloss wieder sichtbar, aber nur wenig diskutiert. Schließlich wird 1853 unter dem vergoldeten Kreuz, den vergoldeten Palmwedeln und den schwarzen Englein aus Eisenguss eine goldene Inschrift auf hellblauem Hintergrund stehen, die auch 1853 fast unmöglich zu lesen gewesen sein wird. Gleich einer geheimen Agenda soll jeder sehen, dass da etwas geschrieben steht, aber nicht lesen können. Unter der Kuppel ziemlich entrückt, aber weithin deutlich zu sehen, feierte der König und das Haus Hohenzollern Gottesdienst. Die Dramaturgie und das Versprechen der Kuppelinschrift sollte erst 52 Jahre später 1905 mit der Weihung des Berliner Doms durch Kaiser Wilhelm II. als Materialisierung des Kaiserreichs von Julius Raschdorf in Erfüllung gehen:
„Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

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John Connelly verwies auf das lutherische Vaterunser mit der Formulierung „Dein Reich komme“. Als nicht mehr allgemein bekannt und seltener praktiziert, darf man anmerken, dass zur Bekundung der höchsten Autorität die Gemeinde das Vaterunser im Stehen betete und betet. Das Vaterunser war und ist Bestandteil jedes Gottesdienstes. Es wurde und wird in den Gottesdiensten insofern permanent wiederholt. So auch im Berliner Dom, wo der Kaiser mit seiner Familie zumindest oft in der Kaiserloge saß. Finanziert war der Dombau vom Evangelischen Kirchenbauverein worden, der 1890 als Folgeorganisation der Kirchenbaukommission von Kaiser Wilhelm I. 1888 gegründet worden war,. Der Evangelische Kirchenbauverein wurde vor allem durch die Großindustrie und Unterstützer wie dem Fürsten von Donnersmarck, d. i. Guido Henckel von Donnersmarck, der die Orgel stiftete, finanziert.[19] Mit der elektrisch betriebenen Orgel und einem elektrischen Aufzug für die Mutter des Kaisers etc. war der Berliner Dom 1905 bei seiner Weihung zugleich eine Leistungsschau vor allem der Berliner Industrie.

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Nicht nur visuell, sondern gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitisch wird der Berliner Dom zur Manifestation der Rede vom „Reich“ umgeben von einem städtebaulichen Ensemble, das die Kathedrale des Protestantismus mit der Lutherrose über dem Portal zum Dreh- und Angelpunkt des Machtanspruchs in der Welt macht. Kaiser Wilhelm II. konnte sich als Karl der Große der Moderne imaginieren. In die neuen Wohn- und Arbeiterviertel des industriellen Berlin um 1900 pflanzte der Evangelische Kirchenbauverein unter der Schirmherrschaft der Kaiserin Auguste Viktoria neogotische Backsteinkirchen. Auguste Viktoria, genannt im Berliner Volksmund „Kirchenjuste“, weihte die neuen Kirchen häufig ein und spendete eine Bibel für den Altar. In der Imagination des imperialen Geschenks wird noch mehr als 100 Jahre später von der Bibel gesprochen, die die Kaiserin schenkte, während vergessen worden ist, dass sie vom Evangelischen Kirchenbauverein und seinen Mitgliedern aus sozial- und wirtschaftspolitischen Interessen finanziert worden war.

KOMMET HER ZU MIR ALLE DIE IHR MUEHSELIG UND BELADEN SEID, ICH WILL EUCH ERQUICKEN

Die Anbringung der Großen Kartusche dauerte von morgens um zehn bis spät in den Abend hinein. Erst am nächsten Morgen fotografierte der Berichterstatter die Große Kartusche mit aufgesetzter Krone. Der Orden und Teile der goldenen Kette fehlen noch. Die Anbringung des Bauelementes dauerte trotz moderner Technik einen ganzen Tag und machte deutlich, dass die im Kaiserreich konstruierte und am Eosanderportal angebrachte Große Kartusche eine technologische Meisterleistung gewesen sein muss. Paradoxerweise wird der technologische Fortschritt zur Historisierung eingesetzt.       

Torsten Flüh

American Academy
John Connelly:
The Power of the “Reich” in the German Imagination.
Video vom 28. März 2023.


[1] Gesellschaft Berliner Schloss e.V.: Große Kartusche. (online)

[2] Siehe zur Schlossarchitektur als Machtpolitik: Torsten Flüh: Angenommen. Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums sowie Durchlüften – Open Air im Schlüterhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2021.

[3] Siehe: Dominik Bartmann: Anton von Werner – Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs (18. Januar 1871) (1877). (Online-Projekt)

[4] American Academy: John Connelly: The Power of the “Reich” in the German Imagination. Berlin 28. März 2023.

[5] John Connelly: From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe. Princeton: Princeton University Press, 2020.

[6] Ebenda S. 1.

[7] Siehe: DW: Gauland bezeichnet NS-Zeit als „Vogelschiss in der Geschichte“. 02.06.2018.

[8] Siehe AfD-Bundestagsfraktion: Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. (Pressemitteilung)

[9] Dieser Wortlaut wird allerdings in der Darstellung der Stadt Worms zum Reichstag als „später“ als zusätzlich gekennzeichnet. Siehe: Worms: Der Wormser Reichstag 1521. (online)

[10] Bereits 2014 hatte das Projekt Cranach Digital Archive die Bildpolitik Lucas Cranachs zur Verbreitung von Darstellung oder Porträts Martin Luthers umfangreich erforscht. Zum Druck der neuen Bibeln gehörte zugleich eine Bildproduktion. Siehe: Torsten Flüh: Lucas Cranach im digitalen Umbruch. Zwischen Werkkatalog und Datenbank: Cranach Digital Archive. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2014 18:48.

[11] Siehe Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[12] Feßler und Rhode (Hg.): Eunomia. Berlin 1801-1805. (Digitalisat)

[13] Ebenda. Politische Zeitgeschichte. Jahrgang 1 S. 379. (Digitalisat)

[14] Das Porträt en face und im Profil ist im Katalog zur Ausstellung aufgeführt. Allerdings wird der Text der Tafel zur Zeichnung aus der Ausstellung im Katalog nicht abgedruckt. Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 281.

[15] Andreas Gängel: Das Kriegsdenkmal – ein Kriegsdenkmal preußisch-russischer Verbundenheit. In: Verein für die Geschichte Berlins: Mitteilungen 119. Jahrgang, Heft 2, April 2023, S. 27.

[16] Torsten Flüh: Vom … [wie Anm. 13].

[17] Die Religionszugehörigkeit des Hauses Hohenzollern in Berlin-Brandenburg war seit der Reformation variabel, um es einmal so zu sagen. Es gab mehrere Wechsel. Kurfürst Johann Sigismund war 1613 zum Calvinismus übergetreten. Der Hof nutzte die reformierte Parochialkirche. Um 1815 findet insofern eine Normalisierung zur protestantisch-lutherischen Kirche statt.

[18] Jochen Bittner: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist. In: DIE ZEIT 5. April 2023, S. 1 (Print).

[19] Zur Baugeschichte des Berliner Doms siehe u.a.: Torsten Flüh: Gemeinsam Haltung zeigen. Zum Konzert „Künstler stehen zusammen“ im Berliner Dom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2019.

Zwischen Ton und Stille im Festivalstrudel

Hören – Geschlecht – Text

Zwischen Ton und Stille im Festivalstrudel

Zu den Performances von Claire Chase, Liping Ting, Rafał Ryterski, Noa Frenkel mit Werken von Liza Lim, Luigi Nono, Chaya Czernovin, Pauline Oliveros bei MaerzMusik 2023

Am 19. März fanden im Kulturquartier Silent Green gleich 7 audiovisuelle Performances statt. Der Begriff der Musik wird in den zeitgenössischen Kompositionen durch erweiterte Spiel- und Gesangspraktiken, Elektronik und Instrumentenforschung beim Festival MaerzMusik unablässig befragt und ausgeweitet. Was ist ein Ton? Welche Rolle spielt die Lautstärke? Welche das Geschlecht und geschlechtliche Zuschreibungen? Welche Gesangspraktiken lassen sich neu entdecken? Timo Kreuser legt mit seinem Ensemble PHØNIX16 gleich eine ganze Spur im Festivalprogramm mit Grenzräumen des Hörens. Dafür nutzte er mit seinem Ensemble im Silent Green auch den Hof vor der Kuppelhalle. – Gong – Klack – Ein Gong, Klangsteine und sehr langsame Bewegungen der ganz alltäglich gekleideten Ensemblemitglieder. Meditation.

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Zwischen den Performances der amerikanischen Starflötistin Claire Chase, Gong und Sonic Meditations von Pauline Oliveros durch PHØNIX16 ereigneten sich breitangelegte Exerzitien des Hörens für das Publikum. Wie hören Sie? – Wie hörst Du Musik? – Hörst Du, wie Du hörst? – Headset- oder Headphoneträger*in immer und überall? – Joggst Du mit Musik auf den Ohren durch die Stadtnatur? – Die akustische und soziale Praxis des Hörens hat sich in letzter Zeit durch die Kopplung von Smartphone und Kopfhörern verschoben. Es wird gestreamt und gehört, was das Zeug hält. Oder hören wird dann gerade nicht oder weg oder unbewusst? Die Praktiken des Hörens haben sich verschoben. Gibt es überhaupt noch jüngere Menschen, die sich nicht permanent beschallen lassen? Musik und das Hören von Musik verändern sich.

© Fabian Schellhorn

Claire Chase kündigte in ihrem kurzen Konzert am Nachmittag in der Kuppelhalle eine weitere Weltpremiere innerhalb ihres langfristig angelegten Kompositionsprogramms Density 2036 an. Sie hat bereits mehr als 100 Kompositionsaufträge für die unterschiedlichen Flöteninstrumente von der Piccolo- über die Pan- bis zur Kontrabassflöte vergeben. Einerseits ist für sie die Flöte das älteste in der Instrumentengeschichte, andererseits ermutigt sie in Kooperation mit Komponist*innen, die Spielpraktiken zu erweitern. Mit Liza Lim hat sie Sex Magic für Kontrabassflöte, „electronics and an installation of percussion instruments“ entwickelt. Am Nachmittag spielte sie auf einer Bassflöte das erste Stück aus Sex Magic. Am Abend fand die Europäische Erstaufführung des mehrteiligen, feministischen Musikstücks über weibliche Sexualität in der Betonhalle statt.

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Die Flöte in ihren unterschiedlichen Ausfertigungen ist für Chase nicht nur ein Blas-, vielmehr ein Ateminstrument. Das Atmen und nicht nur das Blasen mit den Lippen des Labialinstruments Flöte wird mit erweiterten Spielpraktiken zu einem musikalischen Experiment. Claire Chase ist 2017 Professorin für „Practice“ am Institut für Musik der Harvard Universität geworden und nimmt derzeit den namhaften Barbara Debs Composer’s Chair an der Carnegie Hall in New York für die Saison 2022-23 wahr.[1] Mit ihrem Programm Density 2036 dockt sie in der Musikgeschichte an Edgar Vareses Density 21.5 von 1936 an. Welche Implikationen bringt Density 2036 zum einhundertjährigen Jubiläum von Vareses Komposition mit?

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Varese hatte sich mit dem Titel auf die Dichte und das entsprechende Gewicht von 21,5 Gramm der Platinflöte von Georges Barrère bezogen.[2] Insofern wird die Mehrdeutigkeit von physikalischer wie musikalisch-kompositorischer Dichte von Chase für ihr Projekt aufgenommen. Im Deutschen lässt sich mit der Dichte ebenso an die Dichtung als Poesie denken. Barrère war 1936 bereits selbst zur Legende geworden, insofern als er 1894 in der Uraufführung von Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune die Flöte gespielt hatte. Statt einer Erzählung vom Faun komponierte Debussy nach seiner Formulierung „différentes atmosphères“.[3]

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Die Figur des Pans knüpft bei Claire Chase ebenfalls für die gleichnamige Komposition von Marcos Blatter als eine dem Faun verwandte an. Pan ist nicht nur als männliches Mischwesen aus Mensch und Ziegenbock der Erfinder der Panflöte und Hirtengott aus der griechischen Mythologie, vielmehr schwingen in Pan bei Claire Chase und ihrer Performance auch Erotik und die knabenhafte Figur des Peter Pan von J. M. Barrie mit.[4] In Pan geht es Chase zugleich um das gemeinsame Musikmachen. Am 24. Februar 2023 hat sie mit Casa Circulo Cultural-Mitgliedern in der Soundbox der San Francisco Symphony zusammen mit Marco Balter Pan aufgeführt.[5] In der Kuppelhalle lud sie die Zuhörer*innen ebenfalls ein, einen Ton zu machen, der sich dann in der Halle veränderte. Chase hat im Musikinstitut der Havard Universität das Curriculum ganz grundlegend verändert.
“In the concert hall and in the classroom, she is equally attuned to “the art of doing, and also the play of doing and the rigor of doing,” she explains. “I think about those three things—the art, the play, and the rigor—as inseparable.””[6]

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Das Publikum wird an jenem Nachmittag nach dem Chase-Konzert nicht zuletzt durch Marisol Jiménez mit dem Gong im Hof der ehemaligen Feierhalle in die Klangpraxis anders einbezogen. Claire Chase beobachtete die Szene aufmerksam. Denn das Berliner Publikum aus Musiker*innen, Künstler*innen und Besucher*innen ließ ich augenblicklich von der Stille zwischen Gong und Klack faszinieren. Als sei für einen Moment die Zeit stehen geblieben, hielt das Publikum inne, um nur ja nicht Stille und Meditation zu stören. Die Konzentration der Meditation übertrug sich mit dem Schlag des Gongs. Das Publikum machte mit. Was als artifizielle Aktion mit gewöhnlichen Steinen stattfand, korrespondiert mit der fernöstlichen Tradition der „Klangsteine“, wie sie im September mit dem Gastspiel des National Gugak Centers aus Seoul beim Musikfest in der Philharmonie aufgeführt wurde.[7]

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Die unterschiedlichen Räume des Silent Green verwandelten sich wie die Rampe hinunter zur Betonhalle in temporäre Bühnen. Die taiwanische Performance-Künstlerin Liping Ting führte auf dem Weg zur Klangperformance von Rafał Ryterski Echoing Contemporary auf. Sound, Licht, Körperbewegungen wiederholen ablaufende Handlungen. Mit Silberfolien, die wie kleine Umschläge gefaltet sind, hüllt sich Liping Ting ein oder lässt sie im Raum rascheln. Diese Folien werden als Notfalldecken, Hitzefolien oder Wärmedecken verwendet. Sie sollen den Menschenkörper schützen und sind aus strapazierfähigem, isolierendem Mylar-Material, das von der NASA für die Weltraumforschung entwickelt wurde. Zugleich erzeugen sie mit der Licht- und narrativen Klanginstallation visuelle und akustische Effekte. Echoing Contemporary konzipiert Ting als „poésie d’action“, was sich als Poesie durch die Aktion ebenso wie poetische Aktion denken lässt.

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Die Poesie der Aktion entfaltet im wahrsten Sinne des Wortes zu unterschiedlichen Zwecken einsetzbare Silberfolien, die zwischen extraterrestrischer Raumfahrt und Lebensrettung auf Erden eingesetzt werden. Sie werden zweckentfremdet und zugleich verdichtet. Der Modus der Wiederholung korrespondiert mit dem der Kontrolle, wenn Liping Ting mit ihrem Körper arbeitet. Zugleich wird so von ihr die Performance als Meditation praktiziert. Denn sie kontrolliert ihre Bewegungen wie eine Extremsportlerin. Sie sagt, dass sie sieben Stunden meditiere, bevor sie ein Stunde performe, wie es im Programmheft heißt. Die Praxis der Meditation durch Wiederholung und Kontrolle in Kombination mit akustischen Ereignissen findet insofern auch hier statt. Einzelne Personen aus dem Publikum sind fasziniert, lassen sich in die Meditation hineinziehen. Andere gehen vorüber oder fotografieren die Lichteffekte.

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Rafał Ryterski reagierte 2021 mit Haphephobia zusammen mit Aleksander Wnuk programmatisch auf die Covid19-Pandemie. Die Haphephobie von dem griechischen Verb ἅπτειν (haptein) wie berühren, tasten oder kontaktieren wird von Ryterski mit politischem Statement aufgeführt. Die Angst vor der Berührung war 2020 nicht neu, woran Ryterski mit der Erinnerung an die AIDS-Pandemie aufmerksam machen will.[8] Als polnischer „LGBTQ+“-Aktivist und Komponist erinnert er nicht nur an die Pandemie, sondern ebenso an die Angst vor der Berührung von mit HIV infizierten Menschen in den 80er und 90er Jahren. Bekanntermaßen führte die Covid19-Pandemie zu Kontaktbeschränkungen in Deutschland und anderen Staaten. Ryterski hat für seine Performance eine Art Plexiglaskäfig bauen lassen, dessen Flächen mit Sensoren präpariert sind. Das Reiben, Schlagen oder Trommeln auf den Flächen wird elektronisch verstärkt und verarbeitet.

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Geschlecht und geschlechtliche Praktiken waren entscheidend für die Entstehung und den Titel der Komposition. Das Stück ist, wie Ryterski auf seiner Website schreibt, auf Anregung Jerzy Kornowicz für das WE’RE HERE-Konzert in Warschau 2021 komponiert worden. Es beginnt mit leisen, kaum wahrnehmbaren Tönen, durch das einzelne, zögerliche Berühren der linken Plexiglaswand mit einzelnen Fingern der linken Hand. Die zaghafte körperliche Berührung unter Menschen wird nicht zuletzt als erotische Praxis wahrgenommen. Es lässt sich ebenso daran denken, dass die erste Berührung von Angst vor einer Abweisung begleitet wird. Zwischen Angst vor Abweisung und Infektion durch einen Krankheitserreger lässt sich somit eine vieldeutige Haphephobie denken. Ryterskis Percussion Performance steigert sich in einen lauten, schnellen gesteigerten Tanz, nach dem er eine Wand öffnet und aus dem Plexiglaskäfig entflieht. Haphephobia wurde von der Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert.

© Fabian Schellhorn

Es irritiert, dass im Programmheft von MaerzMusik der durch die sexualautoritäre Politik der polnischen Regierung relevante „LGBTQ+“-Hintergrund nicht erwähnt wird. Das Programmheft belässt es bei der Formulierung, dass Haphephobia, die „Angst berührt zu werden und andere zu berühren“ erkunde.[9] Natürlich ist Haphephobie nicht auf die „LGBTQ+“-Community in Polen beschränkt, aber Rytersky hat das Stück aus einem besonders sensibilisierten, queeren Wissen heraus komponiert. Rytersky spricht mutig und explizit die politische Situation in Polen an und rahmt damit seine Komposition deutlich. Wobei die Offenheit für weitere Interpretationen in der Musik immer gegeben sein mag. Dennoch es ist eben nicht „weniger“ wichtig, wenn der konkrete Entstehungskontext von Ryterski selbst herausgestellt wird. Vielmehr gehört es zum Diskurs der Musikgeschichte z.B. auch bei Karol Szymanowski, woran Yannick Nézet-Séguin erst im September mit den Philadelphians beim Musikfest erinnert hat, dass das Geschlecht in seiner Mehrdeutigkeit zur Marginalisierung von Komponist*innen beigetragen hat und im Konzertbetrieb weiterhin beiträgt.[10]
„On the other hand, year 2020 was a very difficult one in Poland and poles, regarding presidential elections, LGBTQ+ protests, Woman protests and many more. Ryterski wanted to create a piece, that would somehow embrace all these elements, while also remaining much more open for the interpretations.”

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Noa Frenkel präsentierte in ihrem neuen Liedkonzert Longing, Belonging wieder in der Kuppelhalle einerseits eine Reihe von Liedern und Texten, die von Sebastian Schottke mit Elektronik live bearbeitet wurden. Andererseits nennt sie die Lieder „Lost and Found Texts“. Die Kompositionen von Luigi Nono, Dániél Péter Biró, Yannis Kyriatkides, Alvin Lucier, Chaya Czernowin und Caroline Shaw setzen weniger auf eine Textverständlichkeit als vielmehr auf eine Befragung der Texte und ihrer Textlichkeit. Dániel Péter Bró, Yannis Kyrakides und Chaya Czernowin waren anwesend und traten zum Schlussapplaus mit auf, was insofern erwähnt werden soll, als es deutlich macht, dass das Festival MaerzMusik immer auch ein großes Treffen der Komponist*innen Szene für zeitgenössische Musik ist. Die Performer*innen und Komponist*innen hören sich oft gegenseitig ihre Stücke an. Das Festival ist immer zugleich eines für das Publikum und ein großes, zwangloses Treffen der Szene.

© Fabian Schellhorn

Noa Frenkel knüpft mit ihrem Programmtitel an einen Text aus John O’Donoghues Textsammlung Eternal Echoes an. Als irischer, theologischer Philosoph schrieb der mit 53 früh verstorbene O’Donoghue über die Zugehörigkeit und die Sehnsucht, dass sie zusammen gehörten. Die Zugehörigkeit biete der unstillbaren menschlichen Sehnsucht Schutz. „As memory gathers and anchors time, so does belonging shelter longing. Belonging without longing would be empty and dead, a cold frame around emptiness.”[11] Die Mezzosopranistin verfügt über ein breites Repertoire zwischen barockem Gesang und zeitgenössischer Musik. Das Wort in der Liedkomposition wird etwa in Dániel Péter Birós Hadavar (2011) mit einer einzigartigen Praxis der jüdischen Liturgie für heilige Texte befragt. Denn es geht hier weniger um das Textverständnis als um die Artikulationspraxis in der jüdischen Liturgie.

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Das Verhältnis von Text und Artikulationspraxis spielt für Noa Frenkel nicht zuletzt durch die Elektronik mit echoartigen Effekten eine wesentliche Rolle für ihr Liedprogramm. Seit der Romantik, wenn man so will, kommt es im deutschen Lied auf eine Textverständlichkeit an. Doch es gab und gibt in der Liedpraxis immer zugleich andere Praktiken. Das wird ebenso deutlich in Yannis Kyreakides Fire of Myself (2003) wie in Chaya Czernowins Shu Hai Miamen Behatalat Kidom (Shu Hai Practices Javdin) von 1997. Sie hat dazu formuliert, dass in der musikalischen Komposition der Gedichte alles weggeschnitten sei und „used to illuminate each other in an imaginery inner space (inner theater)“.[12] Es gibt Töne, aber keine verständlichen Worte. Durch die Vermeidung einer Verständlichkeit, was sie immer sein könnte, entsteht im Konzert von Noa Frenkel eher eine imaginäre oder meditative Atmosphäre.  

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Die Europäische Erstaufführung von Liza Lims Sex Magic als Reflektion weiblicher Sexualität durch Claire Chase mit großer Installation auf der Bühne war gewiss der Höhepunkt des zweiten Festivaltages. Liza Lim gehört aktuell zu den international wichtigsten Komponist*innen, die gesellschaftliche Themen und Diskurse in ihren Kompositionen verarbeiten. Sie ist seit 2022 gewähltes Mitglieder der Berliner Akademie der Künste. Lim positioniert ihre Kompositionen zwischen Transkulturalität, Anthropozän, Kapitalismuskritik und mit Sex Magic weiblicher Sexualität und ihrer transkulturellen Geschichtlichkeit. Das ist vor allem kein einfaches Themen, wenn es um eine Darstellung von Sexualität in der Musik und einer leicht misszuverstehenden Bühneninstallation geht. Auf andere Weise, um nur daran zu erinnern, geht es mit Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune ebenfalls um die Darstellung von Sexualität in der Musik. Zur Aufführung waren mit Rebekka Saunders, Chaya Czernowin, Gastkurator und Komponist Enno Poppe und vielen anderen bestimmt die wichtigsten Performer*innen und Komponist*innen in der Betonhalle zugegen.

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Weiblichkeit wird von Liza Lim mit der Bühne als machtvolles Arrangement aus Blumen, Früchten, Kontrabassflöte, Elektronik, Lichterketten, einer riesigen Trommel und Perlenschnüren visualisiert. Claire Chase wird auf einem erhöhtem Podium mit der Kontrabassflöte, die sie „Bertha“ nennt, zur Priesterin eines weiblichen Rituals. Das namentlich weibliche Geschlecht der Kontrabassflöte wird von Lim in der Partitur erwähnt. Die sonoren Töne der riesigen Kontrabassflöte werden durch Praktiken des Schlagens erweitert. Im zweiten Teil nach Pythoness für Kontrabassflöte mit dem Titel Oracles verwendet Lisa Lim zusätzlich Kaurimuscheln, eine „womb-bell“, eine Pedalbasstrommel, eine aztekische „death whistle“, ebenso wie eine Okarina und die Stimme.[13] Mit Pythoness knüpft Lim an die Figur der Pythia als Wahrsagerin in Delphi aus der griechischen Mythologie an. Wegen der Pandemie bedingten Beschränkungen, kann die Inszenierung und Aufführung vom 18. März auch als eine eigentliche szenische Uraufführung gedacht werden.

© Fabian Schellhorn

Die Elektronik wurde von Senem Pirler, die als Klangkünstlerin und Komponist*in in Brooklyn lebt und arbeitet gesteuert. Die Darstellung einer alternativen weiblichen Kultur ist der Komponistin ebenfalls so wichtig, dass sie sie als Konzept der Partitur vorausschickt und ausführlich erläutert. Insofern wird Liza Lim zu einer transkulturellen Forscherin, die sich in erweiterten Spielpraktiken und Klangräumen hören lässt. Der hohe Grad der Konzeptualisierung wird ebenso durch das Glossar der Partitur vermittelt.
“Cowrie shells have been widely circulated as a form of currency, particularly in the Arabic and African worlds taking on a raft of symbolic meanings including associations with fertility and pregnancy. Amongst their many uses, cowries have been employed in rituals for increase, for divination and healing, as amulets to ward off the evil eye, to pay for the passage of the dead, in dowries and love magic.”[14]

© Fabian Schellhorn

Liza Lim möchte mir ihrer Komposition nicht weniger als die Welt durch mehr Weiblichkeit verändern. Das ist ein hoher und nicht leicht einzulösender Anspruch. Sex Magic endet mit einem Zitat aus dem Gedicht Ulysses von Alfred Tennyson als sechstem Teil der Komposition unter dem Titel Telepathy. Die Emphase des 1842 veröffentlichten Gedichts formuliert als dramatischen Monolog die Hoffnung auf eine neue Welt. Lin nimmt damit eine fast schon befremdliche Form der Utopie im 19. Jahrhundert für das 21. Jahrhundert auf.
„The long day wanes
the slow moon climbs
Come, my friends
Tis not too late to seek a newer world.”

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Die Aufführung von Sex Magic und ihre Performer*innen wurden ausgiebig gefeiert, obwohl die Direktheit der rituellen Darstellung von Weiblichkeit manch einer Komponisten-Kollegin vielleicht auch zu direkt oder gar komisch vorkam. Dennoch erweitert Liza Lim mit dem breiten Klangspektrum und dem vielschichtigen Spiel der Narrative und Versprechen die Debatte um Weiblichkeit in den Künsten. Liza Lim ist als internationale Komponist*in äußerst produktiv und will sich in aktuelle Debatten einmischen. Damit werden ihre Kompositionen zu musikalischen Statements, die vor allem bei jüngeren Menschen ankommen könnten. Als Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg 2021-22 hat Liza Lim an ihrem Projekt Post-Human Songs for the Anthropocene gearbeitet.  

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Als eine Art Late-Night-Performance führte PHØNIX16 im Rahmen von Grenzraum HÖREN 8 eine etwas schwierige Form der Meditation durch Pauline Oliveros Sonic Meditations von 1971 auf. Das Schwierige daran war vor allem die körperbedrohende Lautstärke der Aufführung. Pauline Oliveros mag eine Pionierin der Elektronik sein, doch Ohrstöpsel halte ich immer noch für ein musikfeindliches Requisit. Wahrscheinlich waren die Dezibel genau kalkuliert und das Experiment lockte auch viele Hörer*innen an. Aber der Berichterstatter musste die Betonhalle wegen der Lautstärke nach kurzer Zeit verlassen.

Torsten Flüh

MaerzMusik im Radio

31. März, 20:03 Uhr
asamisimasa-zyklus“ von Mathias Spahlinger
(22. März, Kammermusiksaal der Philharmonie)
Deutschlandfunk Kultur

6. April 2023, 00:05 Uhr
ensemble mosaik
(21. März, Haus der Berliner Festspiele)
Deutschlandfunk Kultur


[1] Siehe: Claire Chase: Professor of the Practice, Harvard University Department of Music: DACA Seminar.

[2] Siehe: Wikipedia (englisch): Density 21.5.

[3] Debussy zitiert nach: Wikipedia: Prélude à l’après-midi d’un faune.

[4] Zur Figur Peter Pan siehe auch: Torsten Flüh: Kindsein bittersüß. Robert Wilsons gefeierter Peter Pan mit Musik von CocoRosie. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 19, 2013 18:29.

[5] Siehe: Claire Chase: Pan.

[6] Lucy Caplan: “The Art, the Play, and the Rigor” Flutist Claire Chase marks a key change for Harvard music. In: HAVARD MAGAZIN May-June 2018.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas. Zur begeistert aufgenommenen Vorführung von Jongmyo Jeryeak des National Gugak Centers in Seoul beim Musikfest Berlin 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2022.

[8] Siehe: Rafał Ryterski: Haphephobia.

[9] Berliner Festspiele (Hg.): Paul Rabe (Redaktion): MAERZMUSIK 18.3.2023. Berlin 2023, S. 7.

[10] Siehe Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[11] Zitiert nach: Noa Frenkel: Longing, Belonging. Lost and Found Texts. Berlin 2023.

[12] Ebenda S. 3.

[13] Partitur: Liza Lim: Sex Magic. Berlin: Ricordi, 2020. (Online)

[14] Ebenda.

Die Jalousie, die Box und die Porreestange

Synapsen – Internet – Musiktheater

Die Jalousie, die Box und die Porreestange

Synapsenreizende Eröffnung des Festivals MaerzMusik 2023 mit Michael Beils Hide to Show

Die Jalousien rauschen hinunter. Projektoren werfen soeben aufgenommene Szenen auf die Jalousien. Die Musiker*innen des Nadar Ensembles drehen an den Jalousiestangen. Die Lamellen schließen oder öffnen sich. Außen? Innen? Oberflächeneffekt! Jede Musiker*in spielt in einer Box von Jalousiebreite für sich – und mit allen anderen. Die Ebenen der Live-Visuals von Warped Type überschneiden sich mit den unsichtbar sichtbaren Live-Musiker*innen. Die Jalousie und das Drehen an der Stange oder das Ziehen am Jalousieband funktionieren wie das Wischen auf dem Smartphone. Michael Beil fragt nach der „Unsichtbarkeit in aller Öffentlichkeit“, nach dem Alleinsein in einem Raum. Die Premiere war für Mai 2020 geplant. – Doch dann beamten uns die Kontakteinschränkungen im März 2020 wirklich allein in einen Raum. Wenig später wurde die Kontaktperson neu formatiert.[1]

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Das Festival MaerzMusik musste 2020 wegen der Einschränkungen durch die Maßnahmen zur COVID-19-Pandemie plötzlich abgesagt werden. Die für 2021 und 2022 unter der Leitung von Berno Odo Polzer entwickelten digitalen Formate konnten das Festival nur notdürftig ersetzen. Festival hat immer etwas mit Come together, Meet & Greet, CU again oder schlicht „Familie“ zu tun. Es ist ein Austausch im geteilten Raum, in geteilter Luft. Seit März 2023 haben die Berliner Festspiele mit MaerzMusik ein neues visuelles Erscheinungsbild, weil nicht zuletzt Matthias Pees neuer Intendant geworden ist. Die Pandemie hat tatsächlich für einen Bruch gesorgt. Kamila Metwaly ist neue Künstlerische Leiterin von MaerzMusik geworden und der seit langem dem Festival verbundene Komponist und Dirigent Enno Poppe hat das Gastkuratorium übernommen. Plötzlich nach drei Jahren Corona ist die Eröffnung ausverkauft.

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Matthias Pees begrüßte als neuer Intendant der Berliner Festspiele in der Library of MaerzMusik als eine Art Leselounge die Gäste des Eröffnungskonzertes Hide to Show. Die Installation und die Leselounge, die täglich zwischen 14:00 und 18:00 Uhr bis zum 26. März bei freiem Eintritt im Haus in der Schaperstraße geöffnet ist, geben einen Wink auf das neue Zusammenkommen. Die Eröffnungsrede von Matthias Pees fiel kurz und wenig programmatisch aus. Die Library of MaerzMusik selbst ist wohl gar schon ein Wink auf das Programm. Der Diskurs und das Lesen sind offener geworden als zu Zeiten des „Festivals für Zeitfragen“. Online-Festivals haben sich vor allem durch Zuhörer- und Zuschauerschwund ausgezeichnet. Als Experiment hat es sich als nützlich erwiesen, aber nicht die Form des Live-Streams bestätigen können.[2] Matthias Pees lädt ein ins Festival als „Pluriversum“. Damit knüpft er an den neuen Intendanten und Chefkurator des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) Bonaventure Soh Bejeng Ndikung an, der am 14. März sein Programm und Team vorgestellt hatte.

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Das neue Zusammensein im Pluriversum, das das hegemoniale Konzept eines Universums ablöst, verlangt Liebe und Respekt. „HKW shall be a space in which love, respect, and generosity are realized through daily practice”, hatte Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, den viele nur kurz Bona nennen, auf der Pressekonferenz mit Live-Musik gesagt. Vielleicht ist das genau die Formulierung und Formel, der die Kulturen aktuell bedürfen. Denn Liebe, Respekt und Großzügigkeit werden aktuell an vielen Orten der Welt bedroht, bekämpft und in Frage gestellt. Die tägliche Praxis von Liebe, Respekt und Großzügigkeit kann nicht zuletzt in der Library of MaerzMusik stattfinden. In der Bibliothek finden sich neben Partituren von Rebekka Saunders, Enno Poppe und Chaja Czernowin ebenso Publikationen von Savvy Contemporary wie We have dilivered ourselves from the tonal – of, towards, on, for Julius Eastman (2020) mit Beiträgen u. a. von Elaine Mitchener, Kamila Metwaly, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und Berno Odo Polzer.

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Kamila Metwaly hat zuvor seit 2017 mit Savvy Contemporary im Wedding an der Reinickendorfer Straße gearbeitet.[3] Sie ist Musikjournalistin, elektronische Musikerin und Kuratorin. Seit 2018 ist sie wesentlich an der Wiederentdeckung von Julius Eastman und Halim El-Dabh beteiligt. Die steile Karriere von Kamila Metwaly von Kairo über Berlin und Donaueschingen (2021) zurück nach Berlin gibt zugleich einen Wink auf eine Diskursverschiebung, die mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im Kulturquartier Silent Green eingesetzt hat.[4] Das pluriverse Zusammenkommen und Afrika werden für die nächsten Jahre eine prominentere Rolle spielen. Die mit der Installation fast schon institutionalisierte Bibliothek eröffnet die Teilnahme und Teilhabe am Diskurs. Räume zum Lesen und zum Zusammenkommen lassen sich einerseits als Anachronismus wahrnehmen, andererseits bieten sie damit eine Gegenbewegung zu Praktiken im Internet. Der während der Pandemie durchaus als vorteilhaft empfundene Rückzug auf digitale Plattformen und Arbeitstreffen lässt sich kaum verstetigen. Das Menschliche entsteht durch körperliche Praktiken.

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Hide to Show wurde von Michael Beil mit der Frage nach dem Alleinsein und der Vereinsamung an der Schnittstelle von Musiktheater, Elektronik und Internetpräsenz entwickelt. Damit nahm Beil mit den Liedtexten von Charlotte Triebus eine Fragestellung vorweg, die in den digital begleiteten Lockdowns als eine entscheidende aufbrach. Denn die Frage schneidet das Feld von Internet und Ich, Digitalität und Politik, Welt und Autorität an. Franz Kafka hat in seinem ebenso um Aufmerksamkeit wie um Bewältigung seiner „Furcht“ vor dem Vater ringenden Brief 1917 formuliert: „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal.“[5] Der Brief erreichte den Vater nie. Mit dem Smartphone in der linken Hand auf dem Sitzsack werden wir heute alle zu kleinen Kafka-Vätern. Avital Ronell hatte im Juni 2010 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung mit Kafkas Brief an den Vater die Frage nach der Autorität im Kontext der amerikanischen Politik und der Bush Administration gestellt.[6] Politik hat seither weiterhin massiv an Autorität eingebüßt und zugleich im Zeitalter des Smartphones zu einer direkten Einflussnahme bei zeitgleicher Vereinsamung geführt. Ubiquitärer Hass ist zu einem Mittel der Politik geworden.

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Das Smartphone erlaubt die Handhabung von Internet und Welt durch einen Wisch als Vote. „Algorithms, ones and zeros. I will always be a network, you are all alone“, dichtet Charlotte Triebus und singen die Musiker*innen auf der Bühne. Über das Smartphone, das in seiner senkecht-quadratischen Form, den Boxen auf der Bühne mit den Jalousien ähnelt, wird das Ich immer vernetzt und dabei allein sein. Das Alleinsein durch die Handhabbarkeit des World Wide Web formuliert ein wesentliches Paradox der Digitalität. In diesem Jahr gibt es keine Live-Streams vom Festival, obwohl überall jüngere Menschen mit sicherlich verlinkten Kameras umherlaufen und speichern. Zugleich wird das SP von den Festivalbesucher*innen ständig gezückt wie ein Abwehrwaffe gegen zu viel Algorithmus oder Nähe. Mein persönlicher Algorithmus hat mich mit einer ganzen Kette von Entweder-oder-Entscheidungen mit einem Zeitpuffer ins Haus der Berliner Festspiele gebracht. Das mit dem Algorithmus ist ja so eine Fiktion des Ichs. Die ganze Realität ist gescriptet, sonst wäre ich gar nicht angekommen, wo ich war. Anziehen, losgehen, gehen, links in die Müllerstraße zur U-Leopoldplatz einbiegen, runtergehen, in die U6 einsteigen …

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Die Synapsen werden von Warped Type, Andreas Huck und Roland Nebe, ordentlich gereizt. Michael Beil setzt auf Tempo und Volumen. Vor der Einlasstür wird vor Stroboskopeffekten gewarnt. Ohrstöpsel können vor Eintritt angenommen werden. Mein Algorithmus sagt: „wenn ich ins konzert gehe, dann will ich hören bis an die grenzen“. Deshalb nehme ich heute keine Ohrstöpsel. Das Hören und das Sehen sollen direkt von den Synapsen an die Gehirnzellen weitergeleitet werden. Dafür habe ich ja schließlich Ohren und Augen, die durch die Synapsen auf mein Ich wirken. Das Ereignis und Ich im Raum mit ca. 600 anderen, teilweise geladenen Gästen und Mitwirkenden. Nora Eckert habe ich schon vor der Tür getroffen und und und Die Synapsen sind meine Stecker zur Welt. Sie sind so ein analoges Kommunikationsmodell. Ohne Synapsen kommt nichts an bei mir. Okay, das Ich ist allein, wenn es keine Kontakte hat. „Sketch me, mask me, crop me, get my parodies‘ avatar. (Online is the new alone.)”, hat Charlotte Triebus schon vor Corona-Kontaktbeschränkungen getextet.[7]

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Hide to Show ist tolles Musiktheater über das paradoxe Leben im Internet. Algorithmen und Visual Effects sind technisch avanciert. ABER, wie funktioniert denn das nun mit der Unsichtbarkeit der Musiker*innen in den Boxen? Jalousiestange und -band werden von ihnen per Hand betätigt. Das ist noch nicht einmal digitales Schnickschnack. Eher witzig: Null und Eins, Auf und Zu, Hoch und Runter und Hoch … Aber nicht im Lehnstuhl oder Sitzsack. Das macht dann schon einen Unterschied. „It’s an imitation. There’s remedy for reality“, heißt es in einem Lied. Das kann sowohl heißen, dass das Drehen und Ziehen in den Boxen mit den Jalousien eine Imitation des Internetverhaltens mit dem SP sind, als auch, dass das Smartphone die Welt imitiert. Oder wir nutzen das handliche Ding wie einen Weltzugang. TicToc inbegriffen. In einer kurzen Szene auf der Jalousieoberfläche tanzt eine Person mit zwei Lauchstangen in den Händen. Sie trägt Gummistiefel und einen Sonnenhut. Das ist ja sowas von real: Tanzen mit zwei Porreestangen in den Händen. Fast bäuerlich. Real and rural.

Michael Beil arbeitet mit einer guten Praxis von Humor: Am Schluss tanzen alle Ensemblemitglieder in Gummistiefeln mit Sonnenmützen und Lauchstangen in der Hand vor den Jalousien. Das TicToc- oder sonstwo geteilte Video ist, wie man sagt, viral geworden. Es ist in die Körper eingedrungen und mutiert. Auf den weißen Sweatshirts steht über der Brust Hide to Show. Die paradoxe Titelformulierung. Wird nicht nur durch Jalousien verborgen, damit auf ihnen Videos projiziert werden, als ob die Musiker*innen spielten? Was gezeigt wird, verbirgt vielmehr das Alleinsein. Wie allein muss eine Person sein, um TicToc-Star zu werden? Musikalisch verarbeitet Michael Beil z.B. In My Room von den Beach Boys. Parodieren ist eine recht fröhliche Praxis des Humors. – Und dann treffen sich zwei Menschen im Lockdown mit der Frage: Bist Du einsam? – Ich bin einsam. – Zwei Einsame machen zusammen oft noch kein Zusammensein oder gar eine Gemeinschaft. Auch das muss einmal angemerkt werden. Aber mit einem Festivalbesuch könnte das anders werden.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2023
Programm
bis 26. März 2023   


[1] Siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Geströmtes Festival am Bildschirm. Zur Eröffnungsveranstaltung von MaerzMusik 2021 – Festival für Zeitfragen im Livestream. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. März 2021.

[3] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. IN NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[4] Siehe dazu: Torsten Flüh: Das Maximale an der Minimalmusik. MaerzMusik 2017 eröffnet mit Julius Eastman, Catherine Christer Hennix und Uriel Barthélémi. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 19, 2017 16:10.

[5] Franz Kafka: Brief an den Vater (Projekt Gutenberg)

[6] Siehe Avital Ronells Lektüre des Briefes in: Torsten Flüh: „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.“ Avital Ronells Vortrag „What Was Authority?” im Trajekte-Tagungsraum des Mosse-Hauses. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 1, 2010 21:07.

[7] Zitiert nach Rebecca Diependaele: Hidden in Plain Sight. In: Programmheft: MaerzMusik: Hide to Show 17.3.2023. Berlin, 2023, S. 11.