Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Universum – Nebel – Sichtbarkeit

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin

Auf spektakuläre Weise finden die Mosse-Lectures im Sommersemester 2023 im Tieranatomischen Theater von Carl Gotthart Langhans statt. Aus der architektonischen Kombination von Rundtempel und Amphitheater konstruierte der Erbauer des Brandenburger Tores, Langhans, einen Raum des Wissens vom Pferd. Pferdeschädel mit Girlanden versehen schmücken seit 1790 die Fassade über den Fenstern. Am Ort des Todes der in Folgezeiten Hunderten, wenn nicht Tausenden von Pferden und anderem Getier wurde ein enzyklopädisches Wissen der Zootomie generiert. Um 1800 waren Pferde, wie man sagt, mit „walzenförmige(m) Körper und langem Hals“[1] für den Transport, die Ökonomie und das Militär zentral. Sie waren Fortbewegungsmittel und Kriegsgerät. Zur Generierung des Wissens von diesem staatspolitisch entscheidenden Tier ließ Friedrich Wilhelm II. einen Rundtempel mit zentraler Aufsicht bei der Sektion erbauen.

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Lothar Müller erinnerte am 20. April in seiner Vorstellung des Semesterthemas wie des Veranstaltungsortes an dessen Funktion für die Wissensgeschichte. Das Wissen vom Pferd durch die aktuelle Verknüpfung der Ansicht seines Inneren mit der Sprache durch Benennung erzeugte beispielhaft eine umfangreiche Hippologie. Das Tieranatomische Theater wurde zum Schauen und Hören als Übertragungsraum des Wissens konzipiert. Mit einem medial großen Bogen, doch in gewisser Weise bereits vom Titel naheliegend, führte Lothar Müller in den Vortrag Der Himmel auf Erden. Zur Geschichte der Sichtbarmachung und Medialisierung des Universums von Charlotte Bigg ein. Schon am 27. April kündigte am gleichen Ort, wo einst die Pferdekörper auf einem aus dem Untergeschoss hydraulisch hinauf geschobenen Seziertisch dem Blick freigegeben wurden, Stefan Willer den poetologisch anders gelagerten Vortrag Im Staub der Sterne des Science-Fiction-Autors Dietmar Dath an.  

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Im 19. und 20. Jahrhundert machte das Tieranatomische Theater nicht zuletzt wegen neuartiger Apparaturen des Sehens wie dem Mikroskop, der musealen Präparate-Sammlung und der Fotografie erhebliche Transformationen durch. Es bildet sich die Tierärztliche Hochschule heraus, die nach 1933 als Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät der Berliner Universität, der Vorgängerin der Humboldt-Universität, angeschlossen wird. Die dynamischen Bau- und Nutzungsgeschichten von Institutionen der Wissensgenerierung und -vermittlung sind immer zugleich mit medialen Wechseln und sprachlichen Verschiebungen verknüpft. So wird das illustre Tieranatomische Theater in den 1920er Jahren umgangssprachlich zum eher obskuren Trichinentempel.[2] Die Tierbeschau diente nunmehr den Hygienemaßnahmen des Staates im mikroskopischen Bereich der ca. 1 Millimeter kleinen Fadenwürmer (Trichinen), die als parasitäre Erkrankung durch Verzehr von rohem Fleisch auf den Menschen übertragen werden können.   

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Nach langjährigen restauratorischen Baumaßnahmen ist das Tieranatomische Theater der Humboldt-Universität auf dem Gelände der Philippstraße 13 von einem Ort der Wissensgenerierung zu einem der Wissensbefragung geworden. „Wissenschaften und gestalterische Disziplinen“ werden in einen Austausch gebracht, um „die Vielfalt der Wissensformen (in Ausstellungen) sichtbar zu machen und dabei zugleich neue Formate und Perspektiven für das Ausstellungsmachen und für Museen zu entwickeln“.[3] Als TA T situiert es sich ähnlich wie die Mosse Lectures an der Schnittstelle von Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaften bzw. Literaturwissenschaft. Gleichwohl führt das Tieranatomische Theater auf dem Campus Nord der Universität angrenzend zum Charité Campus Mitte und dem Institute for Theoretical Biology ein verborgenes Dasein. Die Zugänge zum Campus von der Luisen-, Friedrich- und Philippstraße sind, obschon mittig gelegen, nur Anwohnern und Eingeweihten vertraut.[4]

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Von Innen spiegelt sich in den Fenstern der Kuppel des Tieranatomischen Theaters bei Dunkelheit dieses selbst. Doch die Dunkelheit des Nachthimmels, wenn die Sterne als Reflektoren oder ferne Sonnen sichtbar werden, bricht im Sommersemester in nördlichen Breiten erst spät an. Bei Tag blendet die Sonne, sodass ihr Untergang erst den Blick auf den Sternenhimmel und das Universum, in dem wir uns befinden, freigibt. Von den Planeten unseres Sonnensystems wird das Sonnenlicht hinter unserem Rücken reflektiert. Mit dem bloßen Auge des Menschen lassen sich Strahlungen und Reflektionen kaum unterscheiden. Der als „holder Abendstern“ – „Da scheinest du, o lieblichster der Sterne,/dein sanftes Licht entsendest du der Ferne;/die nächt’ge Dämmrung teilt dein lieber Strahl,/und freundlich zeigst du den Weg aus dem Tal.“ – besungene Planet Venus macht die sprachlich-poetologischen Wirren und Verfehlungen im 19. Jahrhundert exemplarisch deutlich. Aktuelle Astronomen und Astrophysiker bedienen sich neuartiger Medien und Rechenverfahren, um das Universum zu erforschen und sichtbar werden zu lassen, worauf Charlotte Bigg in ihrem Vortrag einging.  

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Das Universum wird unabhängig von seiner auf viele Millionen Lichtjahre berechneten Existenz etymologisch im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache hinein geboren.[5] Mit dem Begriff Universum als Ganzheit und Einheit, so groß sie zeitlich und räumlich auch sein mag, entsteht ein neuartiger Zugriff auf Welt und All. Noch die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts debattieren über das Universum als ein philosophisches Problem von Unendlichkeit und Räumlichkeit. Alles, was aus unendlich vielen Teilen besteht, könne unendlich sein, wird aus Chambers’s Encyclopaedia mit dem Motto „Universal Knowledge For The People“ anscheinend übernommen.[6] Universales Wissen und Universum korrespondieren seither als Wissensformen miteinander. Die Einheit und Ganzheit des Universum in seiner Unendlichkeit, wird im Chambers’s weniger als ein astrologisches Problem formuliert.
„Plusieurs philosophes ont prétendu que l’univers étoit infini. La raison qu’ils en donnoient, c’est qu’il implique contradiction de supposer l’univers fini ou limité, puisqu’il est impossible de ne pas concevoir un espace au-dela de quelques limites qu’on puisse lui assigner./
Mehrere Philosophen haben behauptet, dass das Universum unendlich sei. Sie begründen dies damit, dass es einen Widerspruch impliziert, das Universum als endlich oder begrenzt anzunehmen, da es unmöglich ist, sich einen Raum jenseits einiger Grenzen vorzustellen, die man ihm zuordnen kann.“[7]  

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Lothar Müller stellte das Programm der Mosse Lectures mit Fragen nach der Vermittlung des Wissens vom Weltall bzw. Universum vor. Die „Vermitteltheit und Popularisierung kosmologischen Wissens“ wollten die Mosse Lectures „in den Blick nehmen und nach den Medien und Technologien fragen, mit denen das Universum über die Astrophysik hinaus ästhetisch, kognitiv und affektiv »besiedelt« wird.“ Dafür haben die Organisator*innen der Veranstaltungsreise mehrere Fragen formuliert. „Inwiefern werden die der Lebenswelt entrückten, oft unvorstellbaren Dimensionen des Weltalls zu Einsatzpunkten fiktionaler Zugänge? Auf welchen medialen, sprachlichen und ästhetischen Vermittlungsstrategien basiert die astrophysikalische Forschung selbst (historisch und gegenwärtig)?“[8] Damit war nicht zuletzt eine Überleitung zu Charlotte Biggs Vortrag gegeben. Denn sie eröffnete ihn mit aktuellen Bildern vom Universum durch das James Webb Space Telescope vom 12. Juli 2022 wie dem „Carina Nebula“[9] ebenso wie einen historischen, mechanischen Automaten des Sonnensystems: „The Solar System, shewing the Revolution of all Planets whith their Satellites round the Sun.“  

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Charlotte Bigg wies nicht nur auf das Bild, vielmehr auf dessen bedenkenswerten Titel Carina Nebula und seine Beschreibung hin. Die beziehungsreiche Benennung und das Genre de Bildbeschreibung sind ein derart elementares, dass es eine frühe Rolle spielt im Sprachenlernen. Was zeigt also eines der ersten Bilder des technologisch neuen James Webb Space Telescopes? Die von der NASA, ESA (European Space Agency) und CSA (Canadian Space Agency) gemeinsam betriebene Mission in die Tiefen des Universums sendete während einer Fernsehübertragung um 10:30 a.m. Ostküstenzeit die ersten Bilder. Der mediale Aufwand für die ersten full-color images and spectroscopic data“ des Teleskopes war insofern erheblich. Beschrieben wird es, worauf Charlotte Bigg aufmerksam machte, wie folgt.
„This landscape of “mountains” and “valleys” speckled with glittering stars is actually the edge of a nearby, young, star-forming region called NGC 3324 in the Carina Nebula. Captured in infrared light by NASA’s new James Webb Space Telescope, this image reveals for the first time previously invisible areas of star birth.
Called the Cosmic Cliffs, Webb’s seemingly three-dimensional picture looks like craggy mountains on a moonlit evening. In reality, it is the edge of the giant, gaseous cavity within NGC 3324, and the tallest “peaks” in this image are about 7 light-years high. The cavernous area has been carved from the nebula by the intense ultraviolet radiation and stellar winds from extremely massive, hot, young stars located in the center of the bubble, above the area shown in this image.”[10]

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Sichtbar wird durch die Beschreibung eine Landschaft (landscape) aus Bergen (mountains) und Tälern (valleys) im Carina Nebel (Carina Nebula). Die höchsten Gipfel im Bild sind ungefähr 7 Lichtjahre hoch. Im Vergleich mit den höchsten Gipfeln der Erde, müssen die Gipfel (peaks) des Carina Nebels sehr viel höher sein, obwohl eine fast irdische, wenn nicht gar idyllische Landschaft beschrieben wird. Auf die Nebel und Landschaften im Universum wird zurück zu kommen sein. Das Format der Bildbeschreibung lässt allererst eine Landschaft entstehen, die nicht nur durch eine zuvor ungekannte Bildgenerierungstechnologie „previously invisible areas of star birth“ gewesen war. Das Faszinosum der Bilder von neuen Nebeln und dem Stephan’s Quintet wird auf der NASA-Seite als groß beschrieben und mit populären Medien und Narrativen verknüpft. Die Namen und Formulierungen sind elastisch und docken an populäre Wissensformen und Formate wie dem „holiday classic film, „It’s a Wonderfull Life““ an. Die besondere Fähigkeit der NASA und ihr verwandter Forschungsorganisation zur visuellen wie sprachlichen Verknüpfung unter beiläufigen Gebrauch des Konjunktivs („may have driven“) im Dienste der Astrophysik ist bedenkenswert.
„This enormous mosaic is Webb’s largest image to date, covering about one-fifth of the Moon’s diameter. It contains over 150 million pixels and is constructed from almost 1,000 separate image files. The information from Webb provides new insights into how galactic interactions may have driven galaxy evolution in the early universe.”[11] 

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Charlotte Bigg zitierte für das Verhältnis des Menschen zum Universum Blaise Pascals (1623-1662) Disproportion de l’homme aus seinen Pensées von (1669-1670). Im Unterschied zur Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot entfaltet Pascal ca. 100 Jahre zuvor mit dem Universum den Menschen auch kränkende Gedanken. Der Mensch wird von ihm durchaus aufklärerisch als ein winziger Teil des Universums formuliert.
„Er (Der Mensch) betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät; er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; und er möge darüber erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmament dahinrollen, umfassen. …
Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann es begreifen? Aber um ihm ein anderes ebenso erstaunliches Wunder zu zeigen, forsche er in den kleinsten Dingen, die er kennt. Ein Milbe z.B. biete ihm in der Winzigkeit ihres Körpers Theile unvergleichlich viel winziger, Beine mit Bändern, Adern in diesen Beinen, Blut in dien Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen dieser Feuchtigkeit, Dämpfe in diesen Tropfen…
Wer sich so betrachtet, wird ohne Zweifel erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben, gleichsam schweben zu sehen zwischen beiden Abgründen der Unendlichkeit und des Nichts, von welchen beiden er gleichweit entfernt ist. …
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts gegenüber der Unendlichkeit, ein All gegenüber dem Nichts, ein Mittelding zwischen Nichts und Allem.“[12]

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Abgesehen von den Zitaten durch Charlotte Bigg benutzt Blaise Pascal in seinem Fragment mit dem Titel Disproportion de l’homme den Begriff univers fünfmal, so dass die jüngsten Herausgeber zu dem Schluss kommen, dass das „Ziel des Transition 4-Fragments … darin bestehe, zu zeigen, dass der Mensch von dem Wunsch brennt, „eine feste Basis und eine letzte konstante Basis zu finden“, dass aber „unser Fundament Risse bekommt“: die Suche nach einem festen Punkt, obwohl sie in den Menschen eingeschrieben ist. Als tiefster Wunsch ist die Suche nach „einem unteilbaren Punkt, der der wahre Ort ist“, von dem aus der Mensch das ihn umgebende Universum verstehen könnte, aufgrund der Disproportion de l‘homme in Bezug auf dieses Universum zum Scheitern verurteilt“ sei.[13] Das ebenso natürliche wie kränkende Missverhältnis, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Pascal formuliert wird, stößt nicht zuletzt die Konstruktion und Produktion von Apparaten nach dem Vorbild der Uhr an, die das Universum in eine berechenbare Ordnung bringen.

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Die Versprechen des Universums, wie sie mit dem James Webb Space Telescope von der NASA u.a. als Blick in eine einst graue, heute vielfarbige und „seemingly three-dimensional“ Geburtsbildes wie Geburtsgeschichte eines Sterns beschrieben werden, beginnen bei Pascal mit einem Schrecken und einer narzisstischen Kränkung über die Disproportion des Menschen im Universum. Der Adelige, Physiker und Mathematiker ebenso wie Religionskritiker Blaise Pascal markiert eine Schnittstelle des Wechsels vom christlichen Gottesdiskurs, in dem der Mensch als Krone der Schöpfung figuriert, zu einem Naturdiskurs vom Universum, in dem der Mensch zu einem „Mittelding zwischen Nichts und Allem“ qua mathematischer Größenparameter wird. Pascal verstarb bereits mit 39 Jahren im Umfeld einer Religionsdebatte zwischen Jansenisten und Jesuiten, so dass seine jansenistischen Freunde die Fragmente als Pensées erst nach seinem Tode zusammenstellten und herausgaben. Die Funktion des Universums als Argument gegen die göttliche Herkunft des Menschen dürfte lange überlesen worden sein. Das univers erscheint in der Vormoderne im Moment einer Diskussion um die mathematisch-philosophische Unendlichkeit, in der der Mensch machtlos zu verschwinden droht.   

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Charlotte Bigg führte im weiteren Fortgang ihres Vortrages nicht nur das Universum als Apparat an, vielmehr stellte sie ebenso die Technologie des Zooms mit der Kritik von Bruno Latour in seinem Text L’Anti-Zoom (2014), die Big Science der Raumfahrtindustrie und die Berliner Sternwarte von 1874 in Moabit vor. Konnte beim Anblick des Nachthimmels Pascal das Universum in seiner Unendlichkeit erschrecken, zeichnet sich mit der Berliner Sternwarte bereits eine Verlagerung in städtische Außenbereiche wegen der zunehmenden Sichtbehinderung durch Licht- und Rauch-Emissionen der Stadt ab. Die zunehmende Lichtverschmutzung auf allen Kontinenten behindert heute den Blick in die Unendlichkeit des Nachthimmels. Je heller die Nächte werden, desto weniger Sterne lassen sich in den unendlichen Weiten sehen. In einem abschließenden Gespräch würdigte Hans-Christian von Herrmann als Experte für die Konstruktion des Planetariums die Ausführungen von Charlotte Bigg.

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An dieser Stelle soll die ebenso literarische wie wissenschaftliche Formierung der Universums im 19. Jahrhundert in der sogenannten Science Fiction-Literatur von Jules Verne angeschnitten werden. Das Universum stellt bei ihm die Frage nach einem anfänglichen Chaos, das geordnet, eingeteilt und vermessen werden muss. Die von Jules Verne 1865 formulierte „l’époque chaotique de l’univers“, das Zeitalter des Chaos des Universums, wird mit einigen begrifflichen Wiederholungen beschrieben. Das anfängliche Chaos erscheint heute technologisch und visuell bis in eine Dreidimensionalität z.B. als Carina Nebel in einer Landschaftsbeschreibung geordnet und geradezu idyllisch. 1868 veröffentlichte Jules Verne, der die wissenschaftliche Praxis der Fußnote für seinen Roman nutzte, seine Reise zum MondDe la Terre à la Lune. Im Kapitel V mit dem Titel Le Roman de la Lune kommt es zu einer Reihe lexikalischer Überschneidungen. Die Erzählung vom Mond wird nicht etwa als l’histoire angekündigt, sondern als Roman im Schwanken zwischen Imagination, Fiktion und Wissenschaft. Der biblische Schöpfungsdiskurs vom Chaos wird elastisch in die Wissenschaft übertragen.
„Un observateur doué d’une vue infiniment pénétrante, et placé à ce centre inconnu autour duquel gravite le monde, aurait vu des myriades d’atomes remplir l’espace à l’époque chaotique de l’univers. Mais peu à peu, avec les siècles, un changement se produisit ; une loi d’attraction se manifesta, à laquelle obéirent les atomes errants jusqu’alors ; ces atomes se combinèrent chimiquement suivant leurs affinités, se firent molécules et formèrent ces amas nébuleux dont sont parsemées les profondeurs du ciel.[14] / „Ein Beobachter, der mit einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet ist und sich in diesem unbekannten Zentrum befindet, um das sich die Welt dreht, hätte in der chaotischen Epoche des Universums Myriaden von Atomen gesehen, die den Raum füllen. Aber nach und nach, im Laufe der Jahrhunderte, fand eine Veränderung statt; es zeigte sich ein Gesetz der Anziehung, dem die wandernden Atome bis dahin gehorchten; diese Atome verbanden sich chemisch gemäß ihrer Verwandtschaft, wurden zu Molekülen und bildeten jene Nebelhaufen, mit denen die Tiefen des Himmels übersät sind.“

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Die Verneschen „amas nébuleux“ oder „Nebelhaufen“ werden zu einem Vorläufer der aktuell beschriebenen Nebel. Sie haben eine lange Tradition im Sprechen vom Universum. Denn Nebel sind seit alters her die Scheidestelle zwischen einem Unsichtbaren im Nebel verhüllten und der Sichtbarkeit des Nebels selbst, der aus einem Tal oder einer Tiefe aufsteigt. Insofern ist der als Wissen formulierte Nebel bzw. Nebelhaufen oder auch Nebelschleier jener Bereich, in dem das Begehren zu sehen geweckt wird. Der Beobachter muss mit „d’une vue infiniment pénétrante“, einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet sein, um die Herausbildung der Nebelhaufen aus Atomen durch „ein Gesetz der Anziehung“ zu sehen bzw. zu imaginieren. Das Voyeuristische des Beobachters spielt sich bereits bei Jules Verne im libidinös aufgeladenen Bereich der Penetration ab. Zugleich hat der Diskurs vom Universum gegenüber Pascal gelernt, dass es nur eines „unendlich durchdringenden“ Blicks des Menschen bedarf, um die Unendlichkeit zu erfassen.

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Jules Verne formuliert mit Fußnoten und einer Technik des Zoom all jene Versprechen, die sich die Astrophysik und der NASA für Popularisierung zu eigen gemacht hat. Der Zoom wird eben jenes Verfahren des Sichtbarmachens, das das Universum zu einem Ganzen zusammenbringt. Unter den Millionen Sternen wird die Sonne nur zu einem „Stern vierter Ordnung“. Auf diese Weise wird mit dem nicht zuletzt sprachlichen Zoom eine Ordnung bzw. ein ordnendes Wissen vom Universum hergestellt. Das geordnete, überschaubare Universum lädt zu reisen ein. Selbst dann, wenn es nur bis zum Mond gehen soll. Doch darin wird Jules Vernes literarisches Kombinations- wie Wissensverfahren lesbar.
„Si l’observateur eût alors spécialement examiné entre ces dix-huit millions d’astres l’un des plus modestes et des moins brillants[2], une étoile de quatrième ordre, celle qui s’appelle orgueilleusement le Soleil, tous les phénomènes auxquels est due la formation de l’univers se seraient successivement accomplis à ses yeux.
[2] Le diamètre de Sirius, suivant Wollaston, doit égaler douze fois celui du Soleil, soit 4,300,000 lieues./
Wenn der Beobachter dann unter diesen achtzehn Millionen Sternen einen der bescheidensten und am wenigsten glänzenden [2], einen Stern vierter Ordnung, den man stolz Sonne nennt, besonders untersucht hätte, alle Erscheinungen, denen die Entstehung der Sonne zu verdanken ist, wäre in seinen Augen das Universum sukzessive vollendet worden.
[2] Der Durchmesser des Sirius muss laut Wollaston dem Zwölffachen des Durchmessers der Sonne oder 4.300.000 Meilen entsprechen.“[15]

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Die Vermessung des Universum wird als eine weit fortgeschrittene mit den „achtzehn Millionen Sternen“ und dem „Durchmesser des Sirius“ formuliert. Dem herausragenden deutschen Science Fiction-Autor Dietmar Dath geht es weniger um eine Vermessung des Universums als vielmehr um vielschichtige Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen, wie Stefan Willer bereits 2013 analysierte und in seiner Einführung zum fast frei gehaltenen Vortrag Im Staub der Sterne am 27. April ansatzweise wiederholte.
„Dietmar Daths Romane, … , beschäftigen sich in großem Stil mit der fiktionalen Verwaltung von Wissen. Physikalische und mathematische Theoreme, Elemente und Versatzstücke aus Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, dazu eine Fülle von literarischen, alltäglichen, politischen und popkulturellen Diskursen werden in diesen Romanen personalisiert, ventiliert, diskutiert, kritisiert, angeordnet und umgewälzt. Dath verfügt über die, je nach Sichtweise, beeindruckende oder enervierende Fähigkeit, in kurzer Folge Bücher von teils erheblichem Umfang zu produzieren, in denen alles Mögliche vorzukommen scheint.“[16]

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Mit der Ankündigung seines Vortrages wird schnell deutlich, was Dath in seinem stark assoziativen Vortrag praktizierte, indem er in den rhetorischen und diskursiven Werkzeugkasten der Rede vom Universum griff. Anders als in der bemühten Wissenschaftlichkeit Jules Vernes geht es nun um „Zeug“ und „viel Nichts“. Das Geschichtenerzählen wird hier wie in seinem 2019 erschienenen 942 Seiten starken Buch Niegeschichte – Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine in Zweifel gezogen.
„Das Universum scheint ungefähr so groß zu sein wie alles, was es gibt, zusammengepackt. Wir gehen davon aus, dass dieses Universum in jeder Richtung sich selbst ähnelt und überall aus demselben Zeug besteht: aus viel Nichts mit ein paar Quantenfluktuationen drin, außerdem etwas Staub sowie einigen Rätseln. Darin finden wir Muster. Wie kommen wir aber dazu, über weit entfernte, lang vergangene und möglicherweise zukünftige Muster Behauptungen aufzustellen, Geschichten zu erzählen und Gleichungen zu bauen? Und hat das alles vielleicht sogar damit zu tun, dass eine Gesellschaft, in der über Leute entschieden wird, die dabei nicht mitreden dürfen, leerer als die Leere ist und schmutziger als der staubigste Dreck?“[17]

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In Niegeschichte schreibt Dietmar Dath über das Genre Science Fiction. Er wirft die Frage auf, wie dieses funktioniert. Der einfachste Grund liegt nach Dath auf der Hand: „Science Fiction erzählt Geschichten von Vorkommnissen, die nie geschehen sind und nie geschehen werden.“ Es sei „ungeheuer unwahrscheinlich, dass die Fantasie etwas in weltadäquater Detaildichte errät, das anschließend wirklich wird.“[18] Daths Vortrag wurde im Tieranatomischen Theater mit mehreren Kameras gestreamt und aufgezeichnet. Doch er wurde bislang nicht im Mosse-Lecture-Channel von YouTube veröffentlicht. Während des Vortrags versuchte der Berichterstatter sich Notizen zu machen und scheiterte an der Rede- und Erzählweise von Dath. Er hatte zur Demonstration eine Box Quantum Tarot Version 2.0 von Kay Stopforth und Chris Butler bereitgelegt. Die Nebel auf dem Bild der Box gleichen jenen neuesten Bilder des James Webb Space Telescopes. Tatsächlich knüpft das Spiel zu psychologischen Zwecken und als Wahrsagekartenspiel an den NASA-Diskurs an:
„The Quantum Tarot combines modern theories of physics and quantum mechanics with tarot, through vivid space images from NASA and the Hubble telescope. It’s now out in a reworked second edition from Lo Scarabeo, with two extra cards, some changed images, and new black borders.”[19]

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In jüngster Zeit wird die Rede vom Universum vom Pluriversum konterkariert und tendenziell abgelöst. Obwohl Dietmar Dath den Begriff nicht prominent benutzte macht das Pluriversum aktuell eine erstaunliche Karriere. 2018 nannte Alexander Kluge seine Ausstellung zum 85. Geburtstag als Werkschau Pluriversum.[20] Im Herbst 2022 stellte Jennifer Gabry im Haus der Kulturen der Welt zum Programm Where is the Planetary? „Zeitreisen und Raumfahrt, Cyborgs und Eskapismus“ die Frage: „Wie können wir tödliche Gewohnheiten in etwas verwandeln, das das lebende Pluriversum kultiviert?“[21]Und Dietmar Dath schrieb im gleichen Kontext: „SF ist eine Maschine, die Wissen vergessen hilft, um neues Wissen in Vorstellung und Darstellungen zu ermöglichen.“[22] Und der neue Intendant des Hauses der Kulturen der Welt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung kündigte am 14. März 2023 das Zeitalter des Pluriversums und das Sonic Pluriversum Festival für Juni und Juli an. Der Begriff geht auf William James‘ Buch Politics in the Plurivers von 1907 zurück und zirkuliert aktuell in hohem Maße, weil es ein deutlicher Gegenbegriff zum homogenisierend gebrauchten Universum denkbar macht. Durch den vielfältigen Gebrauch verändert er derzeit auch sein Bedeutungsspektrum, so dass er bald auch für die Science Fiction-Literatur und die Astrophysik gebraucht werden könnte.

Torsten Flüh

Nächste Mosse Lecture im Tieranatomischen Theater
Across the Univers.
Aktuelle Blicke ins All

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
»Mars, Musk und Metaverse.
Der Plattformkapitalismus und das All«
6. Juli 2023 19:15 Uhr
Hörsaal des Tieranatomischen Theaters
Philippstraße 13 (Campus Nord, Haus 3)
10115 Berlin

Begleitet werden die Mosse-Lectures in diesem Semester von einem Filmprogramm im Kino Arsenal, das am 23. Mai 2023 den Film Solaris zeigt.


[1] Wikipedia: Pferde.

[2] Zur Geschichte des Tieranatomischen Theater: TA T: Das Gebäude. Humboldt-Universität zu Berlin 2020.

[3] Ebenda: Über uns.

[4] Torsten Flüh bietet über Berlin-Feuerland Stadtführungen mit Geschichten rund um das Tieranatomische Theater auf Anfrage an. Siehe: https://berlin-feuerland.de/Medizin/

[5] Siehe DWDS: Universum.

[6] Wikipedia: Chambers’s Encyclopaedia.

[7] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : L’Encyclopédie/1re édition/UNIVERS

[8] Mosse Lectures: Programm: Across the Univers. Aktuelle Blicke ins All. Sommersemester 2023.

[9] NASA: First Images from the James Webb Space Telescope. Jul 12, 2022.

[10] Ebenda.

[11] NASA: Stephan’s Quintet. Ebenda.

[12] Zitiert nach Projektion im Vortrag: Blaise Pascal, Disproportion de l’homme. Pensées (1669-1670), übersetzt von Heinrich Hesse. Im Original mit dem Gebrauch des Begriffs „univers“ siehe: Le Pensées de Blaise Pascal: Fragment Transition n° 4 / 8. In : Dominique Descotes et Gilles Proust : Édition électronique des Pensées de Blaise Pascal 2011.

[13] Ebenda.

[14] Jules Verne : De la Terre à la Lune. J. Hetzel et Compagnie, 1868 (p. 24-30). (Wikisource)

[15] Ebenda.

[16] Stefan Willer: Dietmar Daths enzyklopädische Science Fiction“ Arcadia, vol. 48, no. 2, 2013, pp. 391-410. https://doi.org/10.1515/arcadia-2013-0026.

[17] Mosse Lectures: Programm … [wie Anm. 8]

[18] Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine. Berlin: Matthes und Seitz, 2019, S. 14.

[19] Aecletic: Quantum Tarot: Version 2.0 (Werbeseite)

[20] Kulturstiftung des Bundes: Alexander Kluge: Pluriversum. BILD UND RAUM.

[21] Jennifer Gabry: Planetar werden. In: HKW: Where is the Planetary? Berlin 2022, S. 5. (Online)

[22] Dietmar Dath: Was für eine Maschine ist die Science Fiction? In: ebenda. S. 14.

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