Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Polizei – Homosexualität – Staat

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau

Im Lesecafé der Stadtbibliothek Spandau hielt Ralf Kempe am 10. Juli 2023 seinen Vortrag zum „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vom 24. April 1945.[1] Die Rote Armee kämpfte seit dem 16. April mit einem „Zangenangriff“ in den Straßen von Berlin[2], als der vermeintlichen Gerechtigkeit durch den „geheimen Führererlass“ vom 15. November 1941 Genüge getan werden musste. 4 wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftete Polizisten wurden von einem Polizeioberleutnant und weiteren Kollegen zu einer Grube geführt und von einem Polizisten per Genickschuss hingerichtet. Die Befehlsketten der Polizei im weitgehend in Trümmern liegenden Berlin hatten noch einmal funktioniert. Ralf Kempe lässt seit Jahren der Gedanke nicht los, dass er auf dem Polizeiübungsgelände in der Pionierstraße über den sterblichen Überresten dieser schwulen Polizisten nach Dienstanweisung trainiert haben könnte.

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Für Ralf Kempe als Teil der Polizei Berlin geht es um Respekt, Vielfalt, Würde, Totenruhe und eines von wahrscheinlich viel mehr Verbrechen gegen homosexuelle Polizisten etc. in Berlin und dem Deutschen Reich, die seit dem 15. November 1941 vollstreckt und sehr häufig vergessen wurden, weil sie vergessen werden sollten. Wer mitgemacht hatte, schwieg. Die Verurteilung des Polizeimeisters der Schutzpolizei Otto Jordan erfolgte nicht nur nach dem § 175 StGB, dem sogenannten Homosexuellenparagraphen, der ab 1935 zu einer „totalen Kriminalisierung“[3] gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Männern führte und am 11. Juni 1994 abgeschafft wurde, sondern nach einem „geheimen Führererlass“. Die anderen drei Polizisten wurden ohne Urteil erschossen. Ralf Kempe als Erster Polizeihauptkommissar wird von seiner obersten Dienstherrin der Polizeipräsidentin Dr. Barbara Slowik bei der Aufarbeitung des historischen Verbrechens unterstützt.

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Im Oktober 2021 und Frühjahr 2022 unterstützte der Volksbund mit dem Umbetter Joachim Kozlowski und dem Leiter der Polizeihistorischen Sammlung Berlin Jens Dobler Kempes Suche nach den „Gebeine(n)“ der 4 ermordeten Polizisten.[4] Dennoch konnten keine sterblichen Überreste gefunden werden. Luftbilder aus dem betreffenden Zeitraum sind schwer zugänglich. Ralf Kempe hat die Vorarbeiten der SPDqueer Spandau und der AG Rosa Winkel zu Otto Jordan[5] vertieft und durch systematische Archivsuche sowie internationale Korrespondenz erweitert. Es ist ihm, als Ansprechperson LSBTI der Direktion 2, eine ebenso persönliche wie polizeihistorische Angelegenheit, dass das Verbrechen an Otto Jordan, Reinhold Hofer, Willi Jenoch und Erich Bautz nicht vergessen wird. Für Reinhold Hofer konnte Kempe erst im Oktober 2021 dessen Schicksal und den richtigen Namen klären, denn dessen Ehefrau hatte ihn im April 1945 als vermisst gemeldet. Seit 1945 wurde er als vermisst vom Suchdienst des DRK geführt und konnte nun nach mehr als 75 Jahren durch Kempes Nachforschungen gelöscht werden. Er hat sich dafür eingesetzt, dass nunmehr folgender Wortlaut auf der Tafel am Polizeidienstgebäude in der Moritzstraße 10 steht:

Zum Gedenken
und zur Mahnung
Die Polizeibeamten
Otto Jordan
Reinhold Hofer
Willi Jenoch
Erich Bautz
wurden in den letzten Kriegstagen
in der Polizeiarrestanstalt Moritzstraße inhaftiert,
weil ihnen Homosexualität angelastet wurde.
Am Abend des 24. April 1945 wurden sie zur
Polizeiübungsanlage Pionierstraße
verbracht, erschossen
und dort namenlos vergraben.
Sie sind unvergessen.[6]

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Es ist vermutlich allein der Witwe Erna Jordan zu verdanken, dass es 1947 und 1948 überhaupt zu einem Prozess vor dem Schwurgericht Berlin gegen die Täter, den Revieroberleutnant Alfred Wandelt und den Landgerichtsrat Simon (Gerichtsherr beim Reichsführer SS) im April 1948 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kam. Damit wurde das Verbrechen aktenkundig. Zeitungsartikel erschienen im Tagesspiegel und dem Spandauer Volksblatt. Denn die Witwe Jordan brauchte nicht nur einen Totenschein, sondern hoffte auch auf Entschädigung und Pension. Der Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, auf den allein Alfred Wandelt als schuldig erkannt und zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er keinesfalls absitzen musste, ist schwierig zu verifizieren. Welche Gesetzesnorm galt? Das Grundgesetz trat erst 1949 in Kraft. Vom 20. September 1945 bis 1949 galt das alte Reichstrafgesetzbuch, das natürlich kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorsah. Insofern herrschten die alten Gesetze. Spandau gehörte zum Britischen Sektor der in 4 Sektoren geteilten Stadt: Sowjetischer, Britischer, Amerikanischer, Französischer Sektor.

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Homosexualität als Grund für die Verhaftung der 4 Polizeibeamten erscheint in den Zeitungsberichten nicht. Anscheinend geht es bei der Verhandlung des „Verbrechen(s) gegen die Menschlichkeit“ allein um die Frage nach der Verantwortlichkeit in der Befehlskette. Denn in „der Verhandlung drehte es sich nun um die Frage, wie weit Simon an der Erschießung beteiligt war“. „Simon hatte keine Entscheidungen zu treffen, und ein Telefonat mit Wandelt, das zu der Hinrichtung führte, konnte ihm nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Simon wurde daher freigesprochen.“[7] Der Vizepräsident des Landgerichts Berlin Dr. Blasse spricht im Jahr 1948 als „Polizistenmord in Spandau“ kursierenden Fall ausgerechnet den „Gerichtsherr(n) beim Reichsführer SS“ Simon frei, weil das entscheidende „Telefonat … nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden“ konnte? Der „Polizistenmord“-Prozess wie die entsprechende Berichterstattung – „Die SS-Verbände haben nicht nur gegen die herannahenden Truppen zu kämpfen, sie müssen sich auch des „inneren Feindes“ erwehren.“ (P.J.B. Tagesspiegel) – bringen durchaus an das Verständnis der Leser*innen appellierend die SS ins Spiel.

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Die (Berliner) SS als Machtelite geistert durch den „Polizistenmord“-Prozess und mit dem als Zitat markierten „inneren Feind()“ wird an ein weithin bekanntes Wissen in der Bevölkerung appelliert. Innerhalb der SS muss es somit einen „Feind“ gegeben haben. Welche Rolle spielt dieser Feind? Und wird dieser „innere() Feind()“ noch heute nicht geradezu permanent ins Spiel gebracht, wenn es um eine bedrohliche Lage der Machtelite und damit die Macht selbst geht? Ralf Kempe umgeht eine genauere Analyse des „geheimen Führererlass(es)“, weil er dem nationalsozialistischen Gedankengut keinen Raum geben will. Ihm geht es um die Kollegen. Doch die Homophobie, die mit dem „geheimen Führererlass“ formuliert wird und der die 4 Polizisten in Spandau zum Opfer fallen, verdient eine genauere Analyse. August Heißmeier war von 1933-1945 als Chef des SS Hauptamtes und General der Waffen SS zuständig für den Polizeibereich Berlin-Brandenburg.

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Ralf Kempe stellte in einem Organigramm zugleich Wolf-Heinrich Graf von Helldorf als Polizeipräsident in Berlin von 1935 bis 1944 vor. Helldorfs Beteiligung an der Organisation des Attentats vom 20. Juli 1944 gilt als äußerst ambivalent. Er wurde dennoch in Plötzensee am 15. August 1944 hingerichtet. Er wird häufig als Abenteurer und Spieler charakterisiert, der mehrfach durch Adolf Hitler und Josef Goebbels mit hohen Geldsummen entschuldet wurde. Auf einem Foto von 1933 posiert er in Polizeiuniform neben Goebbels, Karl Ernst, Hans Meinshausen und Albert Speer.[8][9] Die Verstrickung des Berliner Polizeipräsidenten Graf von Helldorf nicht nur im Widerstand gegen Adolf Hitler, sondern in Machtkämpfe auf allerhöchster Ebene 1944 musste eine Schwächung der Staatsorganisationen und somit des Staates selbst in Berlin zur Folge haben. Die verschärfte Verfolgung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten im Prozess des Machtverlustes gibt einen Wink auf ein Konstrukt von Geschlecht und Macht.

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Woher kommt der unbändige Hass auf die 4 Polizeibeamten in unterschiedlichen Funktionen, der zu ihrer Erschießung führt, während 10 weitere inhaftierte Polizisten freigelassen wurden, um sich im Kampf zu bewähren? Im Bewusstsein eigene Kollegen zu töten, wird Simons Befehl ausgeführt. Die „Homosexualität (, die ihnen) angelastet wurde“, macht im Moment der Auflösung von Machtstrukturen derartige Angst, dass nur eine Auslöschung als Linderung angesehen wird. Der als „Streng vertraulich!“ ausgegebene „Erlass des Führers zur Reinhaltung der SS und Polizei vom 15. November 1941“ ist ein ebenso rhetorisches wie verräterisches Schriftstück.
„Um die SS und Polizei von gleichgeschlechtlich veranlagten Schädlingen reinzuhalten, bestimme ich:
I.
Für die Angehörigen der SS und Polizei tritt an Stelle der § 175 und 175a des Strafgesetzbuches folgende Strafbestimmung:
Ein Angehöriger der SS und Polizei, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit dem Tode bestraft.
…“

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Der als „Streng vertraulich!“ eingestufte Führererlass wird anscheinend in der Forschung zur Homosexuellen-Sonder-Gesetzgebung wenig beachtet. Schwule Polizisten und SS-Angehörige haben es weiterhin schwer als Opfer wahrgenommen zu werden. Doch die Formulierung der „Erlass zur Reinhaltung“ lässt sich nicht nur mit einer persönlichen Marotte Adolf Hitlers oder Heinrich Himmlers, der 1936 zum Leiter der gesamten deutschen Polizei ernannt worden war, erklären. Mit der „Reinhaltung“ wird vielmehr eine Reinheit vorausgesetzt, die gerade nicht existiert. Hitler formulierte nicht zuletzt in Absprache mit Himmler ein staatstheoretisch bedenkenswertes Verhältnis von Geschlecht und Staat. Denn Himmler sprach bezüglich des sogenannten Dritten Reiches schon 1937 von einem „Männerstaat“, der dadurch gefährdet würde, dass gleichgeschlechtliche Kontakte nicht etwa die Ausnahme seien, sondern „in der SS“ einmal „pro Monat“ aufgedeckt würden.[10] Die SS als Elite des „Männerstaat(es)“, zu der ebenso die Polizei gehört, generiert gewissermaßen die eigene Gefährdung, weil sie einen Männerkult betreibt. Körperliche Merkmale werden als erstrebenswert und begehrenswert in Machtverhältnissen gesetzt.

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Slavoj Žižek sagte einmal über das Begehren, dass uns gezeigt werden müsse, was wir begehren sollen. In dieser Begehrensökonomie erweist sich der „Männerstaat“ als ein Paradox. Dieses Paradox durchzieht den „Männerstaat“ rechter Ideologien und Organisationen bis auf den heutigen Tag. Das Begehren wird insbesondere mit den Uniformen der SS und Polizei geweckt und gleichzeitig aufs Schärfste mit dem Tode bestraft, wenn dem Begehren (zu sehr) nachgegeben wird. Hinter einem vermeintlichen Leistungsprinzip – „rein nach Leistung“ – verbirgt sich bei Heinrich Himmler eine Begehrensökonomie, die seit seiner Jugend eingeübt worden ist. Begehrt werden soll nicht zuletzt die Macht, die zum Mitmachen anstachelt. Die Teilhabe an der Macht erfordert insbesondere ein Kartell des Schweigens. Himmler formulierte das frühzeitig mit anderen Worten.
„In dem Augenblick aber, wo dieses Prinzip, nicht rein nach Leistung auszusuchen, sondern (…) ein geschlechtliches Prinzip im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstörung des Staates. (…)“[11]

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Heinrich Himmler hielt seine Rede zur Homosexualität, in der er „ein paar Gedanken entwickel(te)“,[12] am 18. Februar 1937 vor den „Gruppenführern“ der SS.[13] Der „Männerstaat“ wird einerseits historisch mit den „germanischen Völker(n)“ gegen den „Frauenstaat“ der „Amazonenreiche“ und der Königin in „Holland“ in Verbindung gebracht, andererseits werden ökonomische, bevölkerungspolitische und SS- bzw. SA-spezifische Argumente bei Karrieren angeführt. Das Trauma des Röhm-Putsches vom Juni/Juli 1934 wirkt in der Rede explizit nach. Denn schließlich hatten altgediente Kameraden auf ihresgleichen schießen müssen, um das Begehren zu kontrollieren. Himmler erwähnt ausdrücklich „den homosexuellen SA-Gruppenführer Heines und de(n) homosexuellen Gauleiter und Oberpräsidenten Brückner“. Um das eigene Begehren zu kontrollieren, wird das ungezügelte Begehren auf die SA als einen äußeren Konkurrenten um die Macht und „inneren Feind“ projiziert. Denn selbst 1937 gibt es weiterhin sogenannte Fälle „von Homosexualität“.  
„Wir haben in der SS heute immer noch pro Monat einen Fall von Homosexualität (…) Diese Leute werden selbstverständlich in jedem Fall degradiert und ausgestoßen und werden dem Gericht übergeben. Nach Abbüßung der vom Gericht festgesetzten Strafe werden sie in ein Konzentrationslager gebracht und werden auf meine Anordnung auf der Flucht erschossen. Das wird (…) von mir durch Befehl bekanntgegeben.“[14]

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Der von Heinrich Himmler propagierte „Männerstaat“ gibt nicht zuletzt einen Wink auf seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft Apollo von 1865, der in die Franco-Bavaria München aufging.[15] Die Burschenschaft trägt die Farben Schwarz Rot Gold und wirbt heute mit „800 Akademiker im Kartell“. Burschenschaften wurden nicht nur gegründet, um günstige Studentenzimmer für Mitglieder zur Verfügung zu stellen, vielmehr bilden Burschenschaften „Kartelle“ aus Alten Herren, die das „Bündnishaus“ und berühmtberüchtigte Trinkgelage durch ihre Beiträge finanzieren und zugleich mit einem sogenannten Leporello Karrierewege im „Männerstaat“ öffnen. Die rein männlichen Trinkgelage führen geradezu prototypisch zu mehr oder weniger sanktionierten sexuellen Übergriffen, die unter dem Begriff der Enthemmung verbucht werden. Anders gesagt: die Burschenschaft Apollo bereitete Himmler ab dem 14. Juni 1920 nicht nur auf das „arische Prinzip“[16] vor, vielmehr erlernte er gewissermaßen Karriere- und Verschwiegenheitspraktiken, die niemals unter „Homosexualität“ verbucht werden mussten. Dass sich jüngst der Alte Herr der Burschenschaft Franco-Bavaria München, der CSU-Politiker Peter Raumsauer, mit „Ungeziefer“ für Geflüchtete einen Lapsus erlaubte, erscheint in der Konstellation der Burschenschaftspraktiken eben nicht zufällig. Heinrich Himmler studierte vom Herbst 1919 bis Sommersemester 1922 an der Technischen Hochschule München.[17]

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Während aus deutschen Burschenschaften gleichgeschlechtliche Übergriffe oder auch Freundschaften selten an die Öffentlichkeit dringen[18], veröffentlichte Der Standard im Zuge der MeToo-Debatte 2020 das Protokoll Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“[19] Die männerstaatlichen Strukturen funktionieren über Begehrens- und Machtstrukturen, die den Missbrauch mit einschließen. Exemplarisch wird vom männerstaatlich erzogenen Vater im Protokoll die Frage gestellt, ob der Sohn „jetzt schwul“ sei. Obwohl oder gerade weil der Vater die Praktiken der Burschenschaft kennt, droht er dem Sohn. In Schlagenden Verbindungen gehört zugleich die Körperverletzung als Körpererfahrung von Nähe und Distanz zum guten Ton – „Ich habe drei Mensuren gefochten, zwei Mal wurde ich abgeführt mit einem „Lappen“ und riesengroßen Schmissen und einmal mit einem „Scherzerl“.“[20] Der „Scherzerl“ ist eben kein Scherz, sondern ein abgetrennter „Hauptlappen“.
„Warum ich meinem Vater nichts sagen konnte? Schon, als im Internat etwas Ähnliches passiert war, kam die Frage, ob ich jetzt schwul sei. Das war nicht der einzige Vorfall, wo ich seine Homophobie gespürt habe. Deshalb hatte ich Angst, wegen des Übergriffs so gesehen zu werden. Jetzt bin ich mit einer Frau verheiratet und selbst Vater. Noch dazu konnte ich nie etwas gegen seine „heilige“ Burschenschaft sagen.“[21]

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Die Überlänge der Rede Heinrich Himmlers[22], der lediglich als Diplom-Landwirt sein Studium abschloss, weil er gleichzeitig bereits in paramilitärischen Diensten und Organisationen aktiv war, bevor er im August 1923 Mitglied der NSDAP wurde, verrät eine zumindest ausgiebige Beschäftigung mit der „Homosexualität“ und ihren Abgrenzungen. Als Diplom-Landwirt gehörte Himmler bestimmt nicht zu den führenden Alten Herren – und wurde dennoch einer. Obwohl die Burschenschaft Apollo 1936 sich selbstauflöste, existierten die Verbindungen weiter. Das allerhöchste Gebot der Verschwiegenheit, wie es noch im Protokoll von 2020 wiederklingt, wird von Himmler mit der Sünde der „Lüge“[23] und dem Verbrechen eines „unstillbare(n) Mitteilungsbedürfniss(es) auf allen Gebieten“[24] konterkariert. Das Verschwiegenheitsgebot der Burschenschaften als Karrierepraxis ist Heinrich Himmler zutiefst vertraut, trotzdem spricht er zu viel von der Homosexualität. Die Elastizität seiner Rede speist sich aus einem Erfahrungs- und Eigenwissen zwischen Bildung und Halbwissen wie insbesondere des Wissens um das eigene Begehren. Darin liegt vor allem ihre rhetorische Kunst: unablässig über Homosexualität zu sprechen, um das eigene Begehren zu zügeln. Die Rede zur Homosexualität in der SS wird selbst zum Indiz für ein „unstillbares Mitteilungsbedürfnis“ und wird vier Monate später in weiten Teilen wiederholt.[25]

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Ralf Kempe hat mit seiner in Uniform und damit als Vertreter der Polizei wie des Staates das Verbrechen gegen schwule Polizisten vom 24. April 1945 in die Aufmerksamkeit der Queer Studies gerückt. Er zitierte abschließend eine Formulierung von Theodor W. Adorno: „Die Wertschätzung von Vielfalt bedeutet, ohne Angst anders sein zu können.“ Bis zum allerletzten Moment – und noch einige Jahre darüber hinaus – musste ein homogener „Männerstaat“ verteidigt werden, der insbesondere rechten Parteien mit einer patriarchalen Führungsfigur strukturell und keinesfalls zufällig als Vorbild dient. Dass sich nun gerade eine weibliche Führungsfigur als rechte Parteichefin in Deutschland, aber auch in Frankreich und Ialien hervortut, ist keinesfalls ein Widerspruch. Vielmehr lässt sich Begehren zwischen den Geschlechtern übertragen. Das Paradox des „Männerstaates“ und ob die Parteien dann eines Tages nicht „reingehalten“ werden müssen, wird sich nicht auflösen lassen. Ralf Kempe geht davon aus, dass die 4 schwulen Polizisten von Berlin und ihre Ermordung kein Einzelfall waren. Die Rede Himmlers von 1937 und der Führererlass von 1941 geben Grund genug für die Annahme, dass sehr viel mehr SS-Angehörige und Polizisten nach den gleichen Regeln zur „Homosexualität“ ermordet worden sind.

Torsten Flüh  


[1] Der Rechtsbegriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wird heute im Völkerstrafrecht anders gebraucht, als es der Tagesspiegel vom 21.04.1948 gebrauchte: „Wandelt und Simon werden sich in wenigen Tagen wegen dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu verantworten haben.“

[2] Siehe: Deutsches Historisches Museum (DHM): Arnulf Scriba: Die Schlacht um Berlin 1945. Berlin, 14. Mai 2020.

[3] LSVD: Paragraph 175 StGB: Verbot von Homosexualität in Deutschland. (Online)

[4] Diane Tempel-Bornett: Geschichte ist eine Bürde und Pflicht. Volksbund hilft bei der Suche nach ermordeten Polizisten aus Spandau. 01/07/2022.

[5] Carola Gerlach/Bernd Grünheide: Otto Jordan (Polizeibeamter), ohne Anklage und Urteil ermordet am 24.4.1945. (AG Rosa Winkel).

[6] Transkription nach im Vortrag gezeigtem Foto.

[7] Ohne Namen: Der Polizistenmord in Spandau. Zehn Jahre Zuchthaus für Wandelt. In: Spandauer Volksblatt v. 30.04.1948.

[8] Wikipedia: Wolf-Heinrich Graf von Helldorf: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ernsthelldorfhanke.jpg

[9] Zur Frage der Machteliten siehe auch: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[10] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich Himmler: Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen. Frankfurt am Main: Propyläen, 1974, S. 95.

[11]Ebenda.

[12] Ebenda S. 94.

[13] Ebenda S. 291, Fußnote 133.

[14]  Ebenda S. 97-98.

[15] Siehe das Foto nach S. 64 ebenda. Und: Wikipedia: Münchner Burschenschaft Franco-Bavaria. (Wiki) und (Internet-Auftritt)

[16] Ebenda.

[17] Siehe Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 10] S. 264.

[18] Aus den Erzählungen eines Freundes des Berichterstatters, der zumindest für eine kürzere Zeit ein Zimmer in einem Kieler Bündnishaus bezog, wurden gleichgeschlechtliche Praktiken mit Burschenschaft-Bewohnern als üblich mitgeteilt.

[19] Fabian Schmid: Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“. In: Der Standard vom 2. März 2020.

[20] Ebenda.

[21] Ebenda.

[22] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

[23] Ebenda S. 96.

[24] Ebenda S. 97.

[25] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

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