Auf dünnem Eis

Generation – Reden – Übertragung

Auf dünnem Eis

Zur gefeierten Deutschen Erstaufführung von Falk Richters The Silence an der Schaubühne

Am 19. November feierte The Silence seine Deutsche Erstaufführung an der Schaubühne am Lehniner Platz mit Dimitrij Schaad als Falk Richter in der Regie von Falk Richter. Der Erfolg ist nicht zuletzt Doris Waltraud Richter als sie selbst zu verdanken, weil der Berichterstatter in den Videoeinspielungen zunächst dachte, dass es eine tolle Schauspielerin sei, die Falk Richter im Wohnzimmer in Buchholz in der Nordheide als seine Mutter interviewe. Frau Richter wird ebenso hintergrundfüllend beim täglichen Kraulen im Freibad eingespielt. Was die Frau, die wenig spricht, die oft geschwiegen hat, für eine Energie im hohen Alter von schätzungsweise über dem 80. Lebensjahr hat! Ziemlich gegen Schluss sagt diese Frau, die kaum eine Schulbildung wegen des 2. Weltkrieges genossen hat, sie hätte vielleicht Ärztin werden wollen.

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Falk Richter verhandelt in seinem Stück über das Schweigen in seiner Familie generationelle Übertragungen, die sich im eigenen Verhalten fortsetzen und das Ich  bilden. Denn: „Die Zeit ist nicht linear.“ Die Frage der Akzeptanz als queerer Sohn durch die Eltern ist dabei ebenso wichtig, wie das politische Verhalten der Schweigenden, wenn es oft in der Formulierung einer schweigenden Mehrheit benannt wird. Falk Richter hadert mit seiner Familie, dem Vater, der Mutter und der älteren Schwester auf ebenso witzige wie tiefgründige Weise. Dramaturgisch ist die Frage nach der „Literatur, Autofiktion, Fiktion und keine Realität“ berührend und bravourös durchgearbeitet. Immer wieder gibt es noch einen Turn. Wenn z. B. der Schauspieler Schaad als Ich-Autor bemerkt, dass es mit dem Schweigen bei ihm als 1985 in der Sowjetunion Geborenen und Deutschen doch noch viel schlimmer sei.

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Die blitzschnellen Wendungen im Theatertext und seiner Performance sind gewiss eine eigene Kunst Falk Richters in seinen Stücken und Inszenierungen. Timing. Die Figur des Vaters wird von ihm wie schon im Januar 2020 mit In My Room im Gorki Theater in unterschiedlichen Konstellationen durchgespielt. 2016 trat er mit Fear an der Schaubühne[1] eine politische Debatte und einen Gerichtsprozess über die Freiheit der Kunst auf dem Theater los. Eine gewisse Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, prozessierte gegen den Theatertext. 2017 inszenierte er Elfriede Jelineks Theatertext zu Donald Trump, Am Königsweg[2], als schmerzhaft aktuelle Ödipus-Show am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Twists durchziehen Falk Richters Texte und Inszenierungen. Zugleich legen sie das Stethoskop an die aktuellen Debatten der deutschen und europäischen Gesellschaft. Zuletzt hat er in Straßburg und Kopenhagen gearbeitet und inszeniert. Mit Dimitri Schaad, der im Januar 2023 den Hamburger Ulrich-Wildgruber-Preis für seine außergewöhnliche darstellerische Arbeit erhielt, hat er mehrfach zusammengearbeitet.

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Auf der Bühne (Katrin Hoffmann) breitet sich eine Landschaft mit weißen Gartensteinen, getünchten Backsteinmauern und einer vom Wind schief gewachsenen Birke, wie man sie aus Norddeutschland kennt, aus. Eine Art Indianerzelt, vorne rechts ein Schreibpult, an dem der Schauspieler als Autor schreibt. Die Landschaft mit der Projektionsfläche für die Videos (Lion Bischof) aus Buchholz in der Nordheide mit gehobenem Eigenheim und Carport, Wohnzimmer, Schwimmbad und Wiesenlandschaft mit Baum, an dem Falk Richter lehnt, um die Mutter zu fragen, was sie in ihrem Leben gern hätte werden wollen, visualisiert zugleich ein Innenleben. Es ist ein beredtes Schweigen, das aus dem Eigenheim mit Hecken spricht. Sehr deutsch und durchaus von gewisser Repräsentanz. Deutscher Mittelstand. Unverwechselbar. Buchholz in der Nordheide liegt nicht nur in der Nähe von Hamburg, vielmehr lässt es sich zwischen Flensburg und dem Tegernsee mit einer gewissen Stilsicherheit überall finden.

© Gianmarco Bresadola

Das Individuelle und das Generationelle korrespondieren wenigstens miteinander. Das Generationelle erschöpft sich nicht in der Generation als Altersgruppe wie die der Mutter, vielmehr hat es eine oft schwer abzugrenzende Geschichtlichkeit. Ganz genau lässt sich die Zugehörigkeit zu einer Generation, wie sie aktuell von der Generation Z oder Letzten Generation gesellschaftlich bestimmt wird, nicht eingrenzen. Generation Golf, Generation Z, Boomer etc. sind generationelle Schlagworte und Kampfbegriffe. Man könnte in Deutschland auch von einer Generation Tschernobyl und Generation AIDS sprechen. COVID, Sars-Cov-2 hat es bedenkenswerterweise noch nicht zur Generationalität gebracht. Eine Generation lässt sich schwer verallgemeinern.[3] Die Traumatisierung durch fast 3 Jahre COVID-Pandemie, also leben in Angst und Schrecken, war nun wirklich nicht ohne. Kommt auch bei Falk Richter nicht vor. Irgendwie weggerutscht. Oder zu frisch? Nie geht das Individuelle ganz im Generationellen auf und viceversa.
„In meiner Familie wurde unentwegt geredet, und doch war all das Reden wie ein GROSSES SCHWEIGEN und dieses Schweigen konnte unerträglich laut werden. Ich saß oftmals da, müde, kraftlos und sagte nichts mehr, da alles, was ich erzählte, alles, was ich war, an diesem Ort falsch erschien, und ich verschwand, war körperlos nicht mehr lebendig, wie ausgeschaltet.“[4]   

© Gianmarco Bresadola

Falk Richter unternimmt eine Art Forschungsreise in das „GROSSE SCHWEIGEN“, weil es ihn mit dem Gefühl des „falsch“-seins verletzt hat. Es bleibt unklar, ob seine Mutter wirklich weiß, was ihr Sohn macht und in welcher Liga – „Schaubühne, Bayern München der deutschen Theater“ – er spielt. Sie erklärt sich das „GROSSE SCHWEIGEN“ am ehesten noch als ihre Normalität, in der sie lebte und lebt. Falk Richter zeigt dafür im Video ein deutliches Unverständnis. Im Lebensabend oder wie man das Alter über 80 nennen will, wenn es einem denn vergönnt ist, so alt zu werden, mag es erscheinen, dass man nicht anders hätte leben können und wollen. Zumindest Falk Richters Mutter, aber ganz bestimmt nicht nur bei ihr, wird eine Ratlosigkeit darüber formuliert, wie es denn hätte anders sein können. Ein Protest war bei den 1933 und später Geborenen nicht vorgesehen. Vereinzelt gab es ihn. Aber dann störte er in der Normalität.
„Ein Beispiel: das Auftauchen der Kriegskinder. Ihr Schicksal wurde 60 Jahre nach Kriegsende erstmals von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Vorher hatten sie im gesellschaftlichen Bewusstsein keinen Platz. (…) Eine Redakteurin fragte mich, als wir über den Kongress sprachen, ob es sich hier nicht um ein Modethema handeln könne, und mir entfuhr der Satz: »Wer beschäftigt sich schon freiwillig mit so einer Scheißzeit!«“[5]  

© Gianmarco Bresadola

Das Private wird von Falk Richter als politisches formuliert und analysiert. Genau in dieser Form des Eigenheims im bundesdeutschen Mittelstand. Dieses Private reicht bis in das Sexuelle und die sexuellen Praktiken. Der Auftrag der familialen Reproduktion wurde gleichsam als Befehl akzeptiert und ausgeführt. Wie weit reichte er? Sagen wir ein junger Soldat G. wird in Festungshaft gesetzt wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen und darf sich „im Feld“ unter signifikanten Kriegsverletzungen bewähren.[6] Doch G. wählt nach dem Krieg keine andere Lebensform als die heterosexuelle, macht als Literaturmensch eine Verlagskarriere mit der Schiller-Gesellschaft, zeugt Töchter und unterstützt das Calligrammes von Fritz Picard in Paris.[7] Er wird politisch aktiv in der CDU und tanzt mit seiner Gattin auf dem Bundespresseball in Bonn am Rhein stolz an der Seite von Helmut Kohl. Er sucht Kontakt zu jüngeren Männern. Als Landrat in den neuen Bundesländern beendet er seine politische Karriere.
„Die »schweigende Mehrheit«, das ist ein bequemes Konstrukt, in dem viele der Demokratie abträgliche Phänomene versteckt sind, wie: die Erfahrung der Undurchschaubarkeit politischer Prozesse, die soziale Kontrolle, die politisches Engagement schon in seinen Anfängen negativ bewertet, die erlernte Hilflosigkeit, mit der sich abzufinden viele Menschen früh gelernt […].“[8]

© Gianmarco Bresadola

Wahrscheinlich wurde nie lauter geschwiegen als in der Ära Kohl 1982-1998. Insofern ist die generationelle Erzählung G.s nicht nur als Selbsterzählung exemplarisch. Die Normalität besteht eben in der Erfüllung einer Norm, so obsolet sie auch geworden sein mag. Kohl, möchte ich formulieren, speiste seine dreimalige Wiederwahl aus einem Schweigegebot, dessen breiten Konsens er sich vergewissern konnte. Alte und älteste Netzwerke wie Burschenschaften konnten sich nach `68 konsolidieren, ohne auch nur in Frage gestellt zu werden. Es ist nicht zuletzt jene Zeit der Eigenheime, die Falk Richter anspricht, wenn er in einer Videosequenz von seiner ersten Liebe für einer Jungen erzählt, die bei den Eltern nur auf Unverständnis, Ablehnung, ja, Abwehr stößt. Warum? Nach `68 und der Sozialliberalen Koalition gab Kohl die Devise aus: Ihr müsst Euch nicht ändern! Schweigt weiter! Pennt weiter. – Dafür erhielt er seine Mehrheiten. Plötzlich wurde `89 sogar noch G. gebraucht. Die Mehrdeutigkeit des gebotenen Schweigens formuliert ebenso Falk Richter:
„»>To silence someone< beschreibt im Englischen den Prozess, jemanden zum Schweigen zu bringen, es ist ein aktiver Vorgang: Nicht-Sprechen, das Schweigen muss aktiv hergestellt werden. >To silence someone< ist ein gewaltsames Unterdrücken einer unliebsamen Stimme. Jemandes Geschichte soll nicht erzählt werden, jemandes Zeugenschaft soll nicht gehört werden, jemandes Erinnerung soll ausgelöscht werden.«“[9]  

© Gianmarco Bresadola

Falk Richter beherrscht es, als Autor und Regisseur Kernfragen der politischen und wissenschaftlichen Debatten en passant so zu formulieren und servieren, dass die geschulten Zuhörer*innen allenfalls getriggert werden und alle anderen einfach nicht hinhören müssen. Die Frage nach der Unterscheidung von „Literatur, Autofiktion, Fiktion“ und „Realität“ bleibt vage. Ganz ohne „Fakten“ erodiert wie in den Narrativen von Donald Trump jegliche Belastbarkeit von Wissensformationen. Die Rettung vor den unablässigen Lügen des Präsidenten Trump bestand nicht allein in den „Fakten“ beispielsweise zum Ursprung des Sars-CoV-2 bei Menschen durch Zoonose, was tatsächlich bis auf den heutigen Tag nicht einwandfrei bewiesen werden konnte, sondern in der klaren Formulierung eines harten Nichtwissenkönnens. Denn Trump wollte „unbedingt eine Frage beantworten, weil er es als Demonstration seines Wissens und seiner Macht praktiziert, (einfache) Antworten auf komplexe Fragen zu geben“.[10]
„Egal, wie sehr ich mich darum bemühe, an den Fakten entlangzuschreiben, ehrlich und wahrhaftig zu sein? Ist all das hier eben doch nur … Literatur, Autofiktion, Fiktion und keine Realität?“

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Die Realität ist ein unzulängliches Argument. Denn die Realität der Eltern Richter war die Reproduktion. Gerade die COVID-Pandemie hat vorgeführt, dass eine nicht geringe Zahl von Menschen einer gegensätzlichen Realität folgen können, die als Verschwörungstheorien prominent wurden. Sagen wir ruhig, dass sich Millionen nicht impfen ließen, weil sie eine andere Realität wahrnahmen, in einer anderen Realität leben. Fakten und Argumente selbst nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation mit Beatmung änderten überhaupt nichts an der Realität dieser Menschen. Sie wollen sich weiterhin nicht impfen lassen, weil … Deep State etc. Trump hat nie zugegeben, dass er eine Infektion als Präsident hatte. Es wird weiterhin gern mit Fakten und Realität im Unterschied zu Literatur, Autofiktion und Fiktion argumentiert, gesprochen. Doch das dünne Eis der Fakten und Realität für eine deutsche und europäische Gesellschaft hat Risse bekommen, das ist während der Pandemie offenbar geworden. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Ebenso werden Putins Angriffsdrohung auf die westliche Zivilisation, der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine, die UN-Charta wurde gebrochen, der Hamas Terror an israelischen Zivilisten und die Politik der Auslöschung des Staates Israel als Repräsentanten westlicher Werte geleugnet. Realität? Welche?

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Falk Richters The Silence mit Dimitrij Schaad ist queer theater, owohl es über weite Strecken gar nicht so scheint. Eine Dramaturgie des Queeren ist einerseits immer noch nicht selbstverständlich. Andererseits hätte Falk Richter vielleicht gar nicht an die Debatte der Kriegskinder und der Geschädigten anknüpfen können, wenn er nicht selbst eine queere Haltung eingenommen hätte. Schwule Orientierung ist immer noch einer Rechtfertigung gegenüber der Norm unterworfen. Warum anders – und nicht nach der Norm? Nach der Norm lebt es sich doch bisweilen bequemer und sicher. Man wird auf der Straße nicht angepöbelt oder gleich auf der Sonnenallee zusammengeschlagen, weil ein Palästinenser einen Iraker für schwul hält. In den Debatten der Community wird es bestimmt Stimmen geben, die den Autor und Regisseur viel zu sehr einen Cis-Mann finden. Also einem biologischen Mann, der sich als Mann artikuliert. Das hieße dann in etwa, dass er nicht queer genug agiert. Doch Richter und Schaad ebenso wie Schaad als Richter mit Plattensammlung, also Vinyl – eURYTHMICs – Sweet dreams … – legen es auch darauf an, dass sich nicht nur queere Aktivist*innen mit dem Thema beschäftigen können. – Ein großartiger, abwechslungsreicher und berührender Theaterabend sozusagen beim Bayern München.

Torsten Flüh

schaubühne
The Silence
von Falk Richter
Regie: Falk Richter
weitere Aufführungen   
17. Januar 2024 (Ausverkauft)
18. Jaunar 2024 (Ausverkauft)


[1] Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016.  

[2] Ders.: Oedipus‘ Tragedyshow. Falk Richter inszeniert Elfriede Jelineks Am Königsweg in der Uraufführung als Tragedyshow. NIGHT OUT @ BERLIN 1. November2017.

[3] Siehe zur Frage der Generation auch: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[4] Falk Richter: The Silence. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The Silence. (Programmheft) Berlin, November 2023, S. (ohne Seitenzahl) S. 14.

[5] Sabine Bode: Kriegsspuren: Die deutsche Krankheit German Angst. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … S. 9.

[6] Die hier kolportierte Erzählung, oral history, aus den 80er Jahre gibt einen Wink auf die Praktiken der Verfolgung in der Wehrmacht in Korrespondenz mit der Polizei: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[7] Siehe: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In. NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2023.

[8] René Reichel: Die dunkle Seite des Schweigens. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … [wie Anm. 4] S. 4-5.

[9] Falk Richter: The Silence. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … [wie Anm. 4] (ohne Seitenzahl) S. 26.

[10] Siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werde. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

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