Gewalt revolutionärer Emanzipation

Emanzipation – Sexualität – Gewalt

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Zur verspäteten Ausstellung Aufarbeitung: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen der Emanzipation im Schwulen Museum

Die Kuratorin der Ausstellung und Mitglied im Vorstand des Schwulen Museums, Dr. Birgit Bosold, formulierte bereits bei der Eröffnung des Schwulen Museums im Juni 2013 an seinem professionalisierten Standort in der Lützowstraße gegenüber dem Berichterstatter ihr Unbehagen mit den visuellen und literarischen Sammlungsbeständen.[1] Das Schwule Museum in der Trägerschaft eines Vereins aus Engagierten mittlerweile aller Vertreter*innen der LGBTIQ* Community hatte es geschafft, seine Emanzipation so weit zu institutionalisieren, dass es aus dem Hinterhof auf dem Mehringdamm[2] in großzügige, helle Räume auf mehreren Etagen in die Lützowstraße ziehen konnte. Mit mehr als zehnjähriger Verspätung kam nun durch die dankenswerte Hartnäckigkeit von Bosold die Eröffnung der Ausstellung zustande.

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Die Institutionalisierung als ins Vereinsregister eingetragener Verein, durch öffentliche Projektmittel des Hauptstadt Kulturfonds und der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs finanzierte Ausstellung und Form der Anerkennung wie Bestätigung der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung seit den 1970er Jahren, als die ARD am 15. Januar 1973 Rosa von Praunheims und Martin Danneckers Agitprop-Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt bis auf Bayern bundesweit im Fernsehen ausstrahlte, hatte vermeintlich das Versprechen der Emanzipation zur Gleichheit durch ihr eigenes Museum eingelöst. Doch die Umbrüche und Unordnung revolutionär-libertärer Befreiungsbewegungen produzieren zugleich Praktiken der Überschreitung, die im weiteren Prozess einer postrevolutionären Ordnungsfindung[3], inkriminiert werden können. Dann gilt es, die von der Bewegung zusammengetragenen und geschenkten Archive und Bestände aufzuarbeiten.

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Die schwule Emanzipationsbewegung ist in Narrative und visuelle Muster verstrickt, die seit dem 19. Jahrhundert wenigstens als prekär angesehen werden müssen. Eines der Narrative umschreibt die Bilder der Männlichkeit und ihre hierarchische Anordnung, wie sie von Johann Joachim Winckelmann 1756 mit Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst angeschrieben wird.[4] Das Alter der „jungen Spartaner“ in Winckelmanns einleitenden Gedanken zur Kunst bleibt elastisch. Doch der Archäologe und Kunsttheoretiker formuliert ein klares, hierarchisches Verhältnis, das zum Körperbild junger Männer geworden ist.[5] Ob es sich dabei bereits um sexualisierte Gewalt handelt, muss einmal dahingestellt bleiben, sollte allerdings in seiner Tragweite angesichts der Aufarbeiten-Ausstellung im Schwulen Museum bedacht werden:
„Die jungen Spartaner mussten sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfiengen fett zu werden, eine strenge Diät auflegten.“[6]

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Eine wiederkehrende Formulierung in den Interviews und Berichten der Forscher*innen und der Opfer in der Ausstellung des Schwulen Museums in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung ist jene, „dafür“ keine Sprache gehabt zu haben. Die sexualisierte Gewalt als Missbrauch in hierarchischen Verhältnissen von älteren Männern und Frauen zu viel jüngeren, minderjährigen oder adoleszenten macht nicht nur sprachlos, vielmehr hatte sie keine Sprache bzw. wurde in einer Vielzahl von Narrativen, Rollenmodellen und Bildtopoi kanalisiert, umgelenkt und sanktioniert sowie instrumentalisiert. Dies ist nicht auf schwule oder lesbische Sexualitäten begrenzt, sondern kann auf ähnliche Weise in heterosexuellen Beziehungen stattfinden. Anders gesagt: die Leerstelle Sexualität verlangt nach einer verbalen und visuellen Systematisierung, wenn Konrad Hoffmann davon spricht, dass mit (Bild)Topos „ein formallogisches Systemtraining in dialektischem Schlußfolgern gemeint ist“.[7]

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Das Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche brach mit medialem Aplomb 2010 anlässlich der Missbrauchsdebatte um das Berliner Canisius-Kolleg und die reformpädagogische Odenwaldschule (OSO) auf. Plötzlich wurde der Topos des „pädagogischen Eros“ hinterfragt, der den systematischen Missbrauch an Jungen und Mädchen verbrämte. Experten der Pädagogik und Reformpädagogik wie Hartmut von Hentig und der ehemalige Schulleiter der OSO, Gerold Becker, standen plötzlich als Missbrauchstäter in der Öffentlichkeit. Die sprachlosen Opfer wurden zunächst entweder medial denunziert oder aus der Reformpädagogik heraus angezweifelt. Gerade weil es sich bei der Odenwaldschule um eine bei Vermögenden beliebte Eliteschule für ihre Kinder handelte, deutsche Karrieren daraus hervorgegangen waren, sollte der „pädagogische Eros“ nicht kritisch debattiert werden. Hans-Jürgen Heinrichs stellte am 18. März 2010 in der Sendereihe Forschung und Gesellschaft im Deutschlandradio Kultur die Frage: „Der pädagogische Eros Reformpädagogik auf dem Irrweg?“[8] 

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Die Reformbewegung der Jahrhundertwende, die OSO war 1910 gegründet worden, wie die Jugendbewegung und Reformpädagogik generierten ein Narrativ, das noch im Kaiserreich die Sexualität junger Menschen einerseits befreien und zugleich im Dienste der Gesellschaft als deren Verjüngung kanalisieren sollte. Die Reform als liberale Variante der Revolution vermied den Umbruch, weil sie zugleich eine andere gesellschaftliche Form, wie sie in allen Bereichen des Zusammenlebens unter dem Schlüsselbegriff „ganzheitlich“ in der Odenwaldschule praktiziert wurde, anbot. Die Reformbewegung reicht weit in die Publikationen der Verbalisierung und Visualisierung schwuler und lesbischer Rollenmodelle in den 20er Jahren hinein, wie die Ausstellung in den Räumen des Schwulen Museums im Bereich „Leitmedien“ mit der Zeitschrift Der Eigene von Adolf Brandt, Die Insel – Das Magazin der Ehelosen und Einsamen von Friedrich Radszuweit oder Die Freundin – Das ideale Freundschaftsblatt ebenfalls von Radszuweit reich bebildert zeigt. Das Genießen der jugendlichen Körper wird zu einer weit verbreiteten (Sub)Kultur.

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Die Rolle der Sprachlosigkeit vor allem der Opfer kann bei der Aufarbeitung kaum überschätzt werden. Der Aktivist Matthias Katsch, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, erhielt denn auch einen Platz in der Abfolge der Eröffnungsreden. Wo soll man ansetzen? Wo beginnt die falsche Sprache oder wie Bodo Kirchhoff schrieb „Scheinsprache“? Wie geht die richtige Sprache? Was hilft das Erzählen? Wie wichtig ist das Gehörtwerden? Was macht Öffentlichkeit? Im Umfeld der verzögerten und verspäteten Debatte um die Odenwaldschule machte Bodo Kirchhoff im Spiegel publik, dass er als 12-jähriger Schüler vom Kantor seiner Evangelischen Internatsschule am Bodensee sexuell missbraucht worden war.
„Die falschen Pädagogen sind, wie sie sind, sexuelle Freaks im Kleinen, und genau das reichen sie weiter. Keinem der Betroffenen sieht man an, wie viel in ihm kaputt ist, welchen Umfang das Sprachloch hat; jeder hat seine Scheinsprache entwickelt, um mit sich und der Welt klarzukommen. Macht kaputt, was euch kaputtmacht, hieß es, als ich Student in meinem Gehäuse war; aber es reicht, davon Wort für Wort, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu erzählen.“[9]

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Das Erzählen als Strategie der Aufarbeitung nimmt einen breiten Raum in der Ausstellung auf Bildschirmen mit Kopfhörern ein. Händeringend, stockend, nach Worten suchend wird in den Videos erzählt, während in Heften und Flugblättern ebenso wie Zeitungsartikeln um 1968 in der sogenannten Sudentenrevolution oder Studentenbewegung Forderungen der Emanzipation nach Legalisierung von Sex mit Kindern und Jugendlichen formuliert werden. Aus den unterschiedlichen Exponaten bricht ein Widerspruch und eine explosive Spannung hervor. Wie lassen sich diese unvereinbaren Erzählungen aushalten? Das Schwule Museum und das Archiv der deutschen Jugendbewegung stellen sich nun ihrer, durchaus schmerzhaften Aufarbeitung, wie es zu „Zwiespältige Erbschaften“ heißt:
„Lange Zeit haben unsere Einrichtungen Nachweise für sexuellen Kindes-Missbrauch aufbewahrt, ausgestellt und veröffentlicht. Nachweise sind zum Beispiel Bilder und Texte.
Das Problem: Unsere Einrichtungen sind nicht kritisch mit den Nachweisen umgegangen. Sie haben die Nachweise sogar bewundert.“[10]

„Und das motiviert mich, daran jetzt intensiv zu arbeiten.“

Wo sollen die postrevolutionären Grenzen nach ’68 gezogen werden? Der Liberalisierung homosexueller Praktiken ging 1918 die Novemberrevolution voraus. Am 12. November 1918 hatte der „Rat der Volksbeauftragten“ verkündet: „Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.“ In der revolutionären Scheidezeit von 1918/19 gelingt es Richard Oswald unter Beratung durch Magnus Hirschfeld den Film, heute würde man es Doku-Drama nennen, Anders als die Anderen zu drehen und in die Berliner Kinos zu bringen. Schnell wird der Film zur Abschaffung des § 175 StGB zensiert und verschwindet wieder, um teilweise verschnitten in Zirkeln weiter als zensiertes, aber emanzipatorisches Wissen zu kursieren. Wer liest und bewundert Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig? War Tadzio nicht immer schön und viel zu jung für die Blicke Aschenbachs? Und was passierte mit Luchino Viscontis „Most beautiful Boy in the World” (2021), Björn Andrésen? Er war 15 Jahre, als Visconti ihn 1971(!) in Morte a Venezia zu Tadzio machte. Die Ausstellungswand erwähnt Manns Der Tod in Venedig, der längst in den queer studies reüssiert hat.

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Als prekärer Bildtopos wird ebenso das Plastikmotiv des Dornausziehers erwähnt, der in der Literatur von Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater bis zu vielfachen Plastiken von Knaben reproduziert wird. Heinrich von Kleist macht den Dornauszieher aus den Antikensammlungen in deutschen Städten zu einer entscheidenden Frage des Wissens von sich selbst und der Kunst. Mit anderen Worten: Der Dornauszieher hat zuerst keine Sprache, für das, was er tut! Beim Versuch der Wiederholung, nachdem er gesprochen hat, misslingt ihm die „Grazie“ auf lächerliche Weise, wie es heißt:
„Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte.“[11]    

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Keine Antikenreplik, sondern eine eher ungeschickte, vermutlich massenhaft gefertigte Nachbildung wie jene millionenfache des David von Michelangelo wird hinter einer roten Plastikfolie ausgestellt und verborgen. Dornauszieher und David bildeten für Generationen Schwuler ein Paar der Bezugnahme und einer Art emanzipatorischen Stolzes. Die Antikenreplik folgt dem Modus der Wiederholung zur Bestätigung einer Wahrheit, so simpel sie auch sein mag. Durch die Frage nach der ihr immanenten sexualisierten Gewalt wurde nicht zuletzt die Vereinssatzung des Schwulen Museums fragwürdig, wie es auf der Präsentationswand heißt:
„In der Gründungs-Satzung unseres Träger-Vereins stand zum Beispiel bis zum Jahr 2011: Das Schwule Museum soll die Geschichte der „Knaben-Liebhaber“ bewahren.
In der Satzung des AdJb stand bis zum Jahr 2002: Das Archiv muss sich um den Nachlass von Gustav Wyneken kümmern.
Gustav Wyneken wurde im Jahr 1921 wegen sexuellem Kindes-Missbrauch verurteilt.“[12]

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Welche künstlerischen Interventionen werden in der Ausstellung praktiziert, um die missbräuchlichen verbalen und visuellen Narrative wie Bildtopoi nicht zu reproduzieren? Und was passiert nach dem Aufarbeiten mit den Archivbeständen? Einerseits besteht die Aufarbeitung aus dem Benennen und Erinnern von Straftatbeständen, die ihre Gültigkeit in Zeiten massenhafter, tatsächlicher und medialer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht verloren haben. Vielmehr ist ein Kampf gegen Kindesmissbrauch in Zeiten des Internets und seiner massenhaften Verbreitung dringlicher geworden denn je. Das Darknet ist dafür nur ein Beispiel. Cybergrooming ist ein anderer Begriff für eine bild- und textbasierte Missbrauchspraxis an Minderjährigen im Internet. Eine visuelle Praktik der Intervention sind die roten Folienstücke, die über Fotos und Archivgegenstände gelegt sind. Auch die roten Schnüre, an denen Präsentationsflächen aufgehängt sind, signalisieren prekäre Sammlungsstücke.

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Aus der Retrospektive der visuellen Archivmaterialien und Texte, die gezeigt werden müssen, ohne zugleich die sexuelle Gewalt zu reproduzieren, ergeben sich Konflikte der vom Format Ausstellung geforderten Anschaulichkeit, die zu einer Schuldfrage zugespitzt werden. Auf diese Weise werden Forderungen nach Legalisierung von sexuellen Handlungen mit Kindern, wie sie seit 1968 bis zu Beginn der 80er Jahre gefordert wurden, als Schuld, wie in der Ausstellung mit „Beschämende Solidarität“ formuliert, anerkannt werden müssen.
„Dass „nicht gewalttätige“ sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen für Kinder unschädlich seinen, war noch 1968 sexualpolitischer Konsens in emanzipatorischen Milieus. Forderungen nach Abschaffung der Schutzaltersgrenzen und Entkriminalisierung „einvernehmlicher“ sexueller Beziehungen mit Kindern waren auf der Höhe der Zeit. „Pädoaktivistische“ Positionen begründeten sich nicht mehr mit dem hierarchischen Modell des „pädagogischen Eros“, sondern mit Rhetoriken von „sexuelle Befreiung“ und Antipädagogik“. Auch wegen gemeinsamer Erfahrungen von Verfolgung und Ächtung fanden sie breite Unterstützung in der Schwulenbewegung. Gegenstimmen wurden dagegen kaum wahrgenommen.“[13]

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Die Medienforscherin und -künstlerin Claudia Reiche steuert eine Bildeschreibung anstelle eines Ölgemäldes bei. Über der Rückseite des Gemäldes hängt eine Plexiglasscheibe mit einem Text. Ein Bild und eine Erzählung lassen sich genießen. Wie lässt sich diesem verdrehten Genießen entgegenarbeiten? Wie kann die verführerische Schicht von Farben, Spiegelungen und sich abzeichnenden Formen durchkreuzt werden? Kann ein Zur-Sprache-bringen der Konstruktion des Bildes das Genießen abwenden? Es dreht sich immer alles um die Schnittstelle von Sprache und Bild.
„„Fischerknaben“ seien es, beim Bad im Meer, wie der Titel des Gemäldes eines deutschen Malers des 19. Jahrhunderts mitteilt, und Capris ‚blaue Grotte‘ sei der Ort. Seine Zeit setzt das Gemälde in einer Antike, deren Ewigkeit als wiederholbar konstruiert ist. Wiederholbar wie gebräunte, muskulöse Körper der am felsigen Meeresufer spielenden Jugendlichen und die der jungen Männer.“[14]

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Das Szenario bezieht sich auf einen frühen, wieder erkennbaren, gar touristischen Ausflugsort, der Blauen Grotte auf der frühen Urlaubsinsel Capri, der sich schnell als eine Schnittstelle von Kunst, Begehren und Tourismus im 19. Jahrhundert etablierte. Der aufsehenerregende Naturort, den im August 2019 die Medienpersönlichkeiten Heidi Klum und Tom Kaulitz als Szenario für die Darstellung ihrer intimen Beziehung nutzten, einer widerrechtlichen Eindringung in die Grotte, indem sie ein örtliches Schwimmverbot brachen, wird seit dem 19. Jahrhundert als Körperinnenraum imaginiert. Mit den Worten Reiches:
„Eine Wasserspiegelung in einem Bassin am Übergang der Felsengrotte zur dahinter leuchtenden Meeresweite gibt die Hauptgruppe dieser Fischer in perspektivischen Verzerrungen und Ausschnitten als Arrangement aus Beinen, Gesäßen und Oberkörpern zu sehen. Dieser Wasserspiegel, vom Umriss einer Auster, zeigt uns im Vordergrund ein heimliches Bild verschlungener Körperteile, umkränzt von Schaum.“

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Die Blaue Grotte von Capri mit ihren Spiegelungen und der Öffnung oder einem Loch im Fels zum Meer bzw. vom Boot den Einblick in einen verlockend blau leuchtenden Innenraum wird, wie nicht zuletzt von Klum und Kaulitz vorgeführt, als Penetrationsphantasie inszeniert. Das widerrechtliche Eindringen in die Grotte ruft gleichsam, zum Rechts- oder bei Klum und Kaulitz zum Diskursbruch auf. Das aufwendige, vermeintlich naturalistische und natürliche Szenario der vielen Knaben in der Grotte bietet eine Spiegelung an, die einer Imagination entspringt. Es geht um ein komplexes Szenario von Spiegelungen.
„Die so gespiegelte Fünfergruppe besteht aus zwei einander zugewandten Männerpaaren und einem jüngeren bäuchlings Liegenden, dessen Blick zum Unterleib des einzigen gänzlich Nackten dieser Gruppe geht. Die aus der Gruppe aufragende Figur mit roter phrygischer Mütze setzt die Pose des ihm zu Füßen liegenden Jungen halbkreisförmig nach oben fort.“

„Es gab im Vorfeld die Gründung des Arbeitskreises Tabubruch,“

In gewisser Weise haben erst Klum und Kaulitz das Geheimnis der Blauen Grotte in ihrem ständigen Wechsel von Zeigen und Verbergen zur vollen Geltung gebracht und einer vernetzten Weltöffentlichkeit präsentiert. Auf den ebenso heimlichen wie offensichtlich bestellten Fotos der beiden Modells ist alles und nichts zu sehen. Im Gegenlicht des blauen Scheins zeichnen sich die schwimmenden Körper dunkel ab und können ebenso bekleidet wie nackt sein. Das schien eben der hier namenlose Maler im 19. Jahrhundert bereits verstanden zu haben. Aus den Farbschichten und Formen wird das ganze Ensemble aus Erektion, Eindringen und Ejakulation (Schaum) an jungen, minderjährigen Männern gezeigt und verborgen.
„Diese Zentralfigur wendet den Blick der rechts zu ihr stehenden und zu ihr aufblickenden Figur zu, während ihr lang ausgestreckter Arm mit einer starken Gebärde unbestimmten Hindeutens nach links auf fünf spielende Jungen im Wasser weist. Die tiefe Nachmittagssonne wirft den langen Schatten des Armes zurück auf die Brust des so Deutenden und weist zum angeblickten Gegenüber, genauer zu dessen in lockere weiße Wäsche bekleideten Unterleib, wo eine Erektion im Faltenwurf des Stoffs angedeutet ist.“

„dass Betroffene von sexualisierter Gewalt,“

Bilder entstehen nicht zuletzt zum Gebrauch. Der Aspekt des Gebrauchs wird in der Ausstellung weniger deutlich thematisiert, obwohl er mit dem Begriff Missbrauch ständig angeschrieben wird. Das ist ein Manko. Bilder existieren nicht ohne Gebrauch, um es einmal zugespitzt zu formulieren. Sie werden zur Spiegelung, zum Genuss, zur Selbstdarstellung, zur Bewunderung, zur Befriedigung, zur Emanzipation, zur Einübung, zur Disziplinierung, zur Strafe, zur Erniedrigung, zum Gelderwerb etc. gebraucht. Manchmal einzeln, auch widersprüchlich und manchmal alles zugleich. Für das Subjekt seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert dreht sich indessen alles um la jouissance, den Genuss. Niemand anderes als Friedrich II. hat in Anknüpfung an Voltaire dazu um 1840 der jouissance die Weltherrschaft erteilt. Mit dem Gedicht La Jouissance formulierte er sein Befreiungsprogramm(!).[15] Insofern entweichen dem Vesuv im Ölgemälde nicht nur „Dampf und Gase in einer schlanken Wolke“.
„Rechts vom dieser zentralen Gruppe, in einer etwas erhöhten und kleineren Öffnung der Grotte zum Meer hin, haben sich ein junger Mann und ein nackter Junge abgesondert. In der fernen Tiefe des Bildes, hinter ihnen, entweichen Dampf und Gase in einer schlanken Wolke dem Vesuv. Der ebenfalls rot bemützte und mit Hemd und kurzer Hose bekleidete Mann blickt zu den Badenden nach links, dabei mit dem Körper lässig uns zugewandt und beiden Händen in den Taschen. Der graziös vor ihm sitzende Junge blickt uns ruhig und ernst an.“

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Wie sieht sexuelle Gewalt aus? Gezeigt werden auch Filmsequenzen aus Veit Harlans  Anders als du und ich (§ 175) von 1957, dessen Originalfassung in Anknüpfung an Magnus Hirschfeld den Titel Das dritte Geschlecht tragen sollte. Zumindest als der Berichterstatter durch die Ausstellung wanderte, sah er den ihm bekannten Ausschnitt beim Antiquitätenhändler Dr. Boris Winkler (Friedrich Joloff). Die Filmsequenz wird in der Ausstellung nicht näher kommentiert. Hat sie Identifikationspotential oder stößt sie den schwulen Blick ab? Der Film wird wenig eingeordnet. Die Verführungsszene im Hause Winklers mit elektronischer Musik, antiken Statuen(!) und nackten Jünglingen ist ebenso aufwendig wie prekär inszeniert. Einerseits versucht der Naziregisseur Veit Harlan unter Beteiligung seines Sohnes Thomas mit sexualwissenschaftlicher Geste für eine Akzeptanz, gar Emanzipation und Abschaffung des § 175 StGB zu argumentieren. Andererseits geht es mit der Hauptfigur der Mutter in der Starbesetzung von Paula Wessely um die seinerzeit existierenden, sexualstrafrechtlichen Kuppelparagraphen 180 und 182 StGB. Die betreffende Szene schwankt zwischen Avantgardekunst (elektronische Musik), sexueller Freiheitspraxis und der diabolisch ins Licht gesetzten Verführer-Figur Dr. Boris Winkler, der mit dem Titel nicht zuletzt als Akademiker markiert wird. 

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Der Film verhandelt mit den Strafprozess-Sequenzen vor allem eine Schuldfrage. Ist die Mutter der Kuppelei schuldig oder nicht? Wollte sie den Sohn nur vor einem Verführer retten? Für die Verhandlung der Schuldfrage wird gleichsam als entlastendes Material die Verführung zu gleichgeschlechtlichen Handlungen im Sinne des § 175 StGB ins Spiel gebracht. Verhandelt wird insofern vor allem die mütterliche Aufsichtspflicht mit der Botschaft: Mütter passt auf eure Söhne auf! Die Schuld der Mutter an einer fehlgeleiteten sexuellen Orientierung setzte sich als Narrativ der 60er und 70er Jahre tief im Diskurs mütterlicher Verantwortung für die Sexualität des Sohnes fest. Insofern musste die Verführungssequenz im Hause Winklers diabolisch inszeniert werden. Dabei überschneiden sich das Verantwortungs- und das Verführungsnarrativ. Die in Szene gesetzte sexualisierte Gewalt wird zumindest hier zu einer offensichtlich warnenden Konstruktion: Warnung vor dem Intellektuellen und Verführer. Die Verführungsszene ist nicht emanzipatorisch, sondern denunzierend angelegt. Der Identifikation mit dem vermeintlich charismatischen und wortmächtigen Verführer Dr. Winkler wird insofern dramaturgisch entgegen gearbeitet. Faszinieren konnte sie vermutlich trotzdem.

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Die Ausstellung Aufarbeiten im Schwulen Museum, die bis zum 26. Februar 2024 zu sehen ist, appelliert an die Empathie der Community. Denn sie „stellt zur Diskussion wie es möglich war, dass Bewegungen, deren Kernanliegen die Selbstbestimmung von Menschen ist, so anfällig waren für die Rhetoriken der Täter*innen, so unsolidarisch mit den Betroffenen und beklemmend desinteressiert an deren Schicksal“.[16] Die tradierten Narrative und Visualisierungen nicht zuletzt einer griechisch-römischen Antike des 19. Jahrhunderts als Inbegriff humanistischer Bildung – Wilhelm von Humboldt – haben Machtverhältnisse im Dienste sexualisierter Gewalt sanktioniert und institutionalisiert, möchte ich einmal formulieren. Doch die revolutionären Dynamiken erschöpfen sich damit nicht, vielmehr werden sie – wie mit der Blauen Grotte – weiter popularisiert, medialisiert und kapitalisiert.

Torsten Flüh

Aufarbeiten:
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
im Zeichen der Emanzipation

Schwules Museum
Montag, Mittwoch, Freitag: 12–18 Uhr
Donnerstag: 12–20 Uhr
Samstag: 14–19 Uhr
Sonntag:14–18 Uhr
Dienstag: Ruhetag
Lützowstraße 73
10785 Berlin


[1] Die Besprechung vom 3. Juni 2013 entfaltet sich um die Frage der Institutionalisierung und Emanzipationsbewegung: Torsten Flüh: Bilder erzählen. Zur Neu-Eröffnung des Schwulen Museums in der Lützowstraße. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Juni 2013. (als PDF unter Publikationen)

[2] Beispielhaft: Torsten Flüh: Sonntag mit Jean. GENET – Hommage zum 100. Geburtstag im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Dezember 2010. (als PDF unter Publikationen)

[3] Hier mit knüpfe ich mehr oder weniger an Christopher Clarks Revolutionsbeschreibung an. Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[4] Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden und Leipzig 1756.

[5] Ausführlicher siehe: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte. In: Initiative Queer Nations (Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf) (Hrsg.): Jahrbuch Sexualitäten 2019. Göttingen: Wallstein, 2019. S. 43-70.

[6] Joann Joachim Winckelmann: Gedanken … [wie Anm. 4] S. 5.

[7] Konrad Hoffmann: „Was heißt ›Bildtopos‹?“. Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, edited by Thomas Schirren and Gert Ueding, Berlin, Boston: Max Niemeyer Verlag, 2000, p. 237.

[8] Hans-Jürgen Heinrichs: Der pädagogische Eros. Reformpädagogik auf dem Irrweg? In: Forschung und Gesellschaft. 18. März 2010 Deutschlandradio Kultur (PDF).

[9] Bodo Kirchhoff zitiert nach ebenda.

[10] Zitiert nach Ausstellungstext.

[11] Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Zuerst in: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter (als Fortsetzung) 12.-15. Dezember 1810.

[12] Zitiert nach Ausstellungstext.

[13] Ebenda.

[14] Zitiert nach Ausstellunginstallation.

[15] Siehe Torsten Flüh: Geburtstagsparty mit l’esprit. 300. Geburtstag Friedrichs des Großen als Originalklang-Konzert mit Armin Müller-Stahl und Burghart Klaußner. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Januar 2012. (PDF unter Publikationen)

[16] Zitiert nach Ankündigungstext.

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