In der Hand kaum auszuhalten

Krieg – Fibel – Bild

In der Hand kaum auszuhalten

Zum Konzert Die Kriegsfibel in der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich des Jahrestages von Putins Angriffskrieg auf die Republik Ukraine

In der Friedrich-Ebert-Stiftung fand am 2. März in der Hiroshimastraße 17 in Berlin das musiktheatralische Konzert Die Kriegsfibel mit Marie-Luise Kunst, Felix Meyer, Johannes Feige und Jörg Mischke statt. Die FES als sogenannte parteinahe Stiftung der SPD engagierte sich damit im Programmbereich Kultur & Politik mit ihrer Referentin Franziska Richter für das Gedenken an den Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Republik Ukraine. Anknüpfend an Bertolt Brechts Kriegsfibel mit Zeitungsausschnitten und 69 vierzeiligen Versen zu diesen inszenierten die Musiker*innen eine bild- und textreiche Revision der über 365 vergangenen Tage des Krieges in den Medien.

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Das Ausschneiden von Fotos und Kriegsberichten aus der Zeitung, das Bertolt Brecht im Exil seit 1939 unregelmäßig praktizierte, führte 1955 zur Herausgabe des Buches Kriegsfibel durch Ruth Berlau im Eulenspiegel Verlag.[1] Brechts Dramaturg und Mitarbeiter am Berliner Ensemble Peter Palitzsch hatte das Buch mit den „Fotoepigrammen“ gestaltet. Beim Eintreten in den Konferenzsaal der FES liest und schneidet Felix Meyer an einem alten Küchentisch Kriegsartikel aus Zeitungen unter einer Kamera aus. Im Bühnenraum sind 4 Leuchtgloben mit hellen Flecken, die Krisen- oder Kriegsherde markieren könnten, verteilt. Über der Bühne erscheinen im Wechsel das Ausschneiden und News der letzten Monate wie ein Bild Gerhard Schröders.

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Das Medium Zeitung führt 2022/2023 in der Medienflut zum Krieg von Social Media und Fernsehen, Dokus und News fast schon eine marginale Rolle. Felix Meyer hat den Kopf am Küchentisch über der Zeitung auf den Arm gestützt. Die Geste des Denkers, bevor das Konzert mit seiner Bilderwucht beginnt. Die meisten Menschen und vor allem die jüngeren halten heute allerdings das Smartphone in der rechten Hand und wischen. Gelesen wird im Tempo des Wischens durch die Alerts, latest & breaking News aller Kanäle. Mehr als jemals zuvor hat sich der Angriffskrieg Wladimir Wladimirowitsch Putins auf die Republik Ukraine in einen globalen Alert-Tsunami der Bilder und der Narrative verwandelt.[2]

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Walter Benjamin konnte im März 1934 im Umfeld zu seinem Buch EINBAHNSTRASSE noch in seinem Text Die Zeitung von einer „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ schreiben.[3] Rainald Goetz habe am 22. Februar 2023 im Berliner Wissenschaftskolleg eine flammende Rede auf die „Zeitung“ gehalten, wie es im Untertitel des Abdrucks in der ZEIT heißt. Da hat der Titelredakteur lexikalisch etwas geschummelt. Denn die gedruckte Rede geht mehr über eine „Zeitschrift“ im Format „Heft“. Hefte sind auch handlich. Nämlich die „Zeitschrift für Ideengeschichte“. Auf die „reale() Zeitung“, soweit ist es gekommen, geht Goetz nur anlässlich der „Ankündigung von Springerchef Döpfner, daß es bei Springer bald keine gedruckten Zeitungen mehr gibt,“ ein.[4] Die Zeitung wird exemplarisch nur mit der „Tageszeitung WELT“ im Druck besprochen:
„Die Tageszeitung WELT druckt schon seit einiger Zeit ihre Artikel, die oft viel interessanter sind, als es das snobistische Vorurteil gegen die Welt wissen will, vor allem im Feuilleton so irr über die Doppelseite hin gelayoutet, daß man die Zeitung mehrfach mühsam umfalten muß, um einen Artikel ganz lesen zu können, so als sollte auch noch den letzten Anhängern der realen Zeitung, die die sogenannten Inhalte immer noch auf Papier gedruckt aufnehmen wollen, der Spaß an der Sache endgültig verleidet werden.“[5]

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Das goetzsche Umfalten ist jenseits einer an Literaturen interessierten Szene dem Wischen gewichen. Während das von Goetz gefeierte Format „einer großen Zeitungsseite von etwa 40 auf 57 Zentimeter, die er eine extrem angenehme Standardgröße” nennt, vor allem unhandlich ist z.B. in der 2. Klasse des ICE, wird die Welt auf dem denglischen Handy handlich. Auf den iPhones, Handys, Mobiles oder Smartphones werden die Alerts von oben nach unten, links nach rechts, unten nach oben und rechts nach links mit dem Zeigefinger einfach ins Off gewischt. Wir müssen angesichts des Krieges in der Ukraine mehr über das Wischen sprechen und singen wie in der FES. Das kritisierte Umfaltenmüssen war nicht nur schlecht oder gut. Es erforderte von den Leser*innen eine zeitungsspezifische Handhabung, Praxis, die das Umblättern für das Buch oder die Zeitschrift erweiterte. Literaturen stellen gewisse lebens- wie lesenspraktische Anforderungen. Doch diese kommen im Alert-Tsunami gar nicht erst zum Zuge. Das Konzert Die Kriegsfibel reagierte auf diese praktische Verschiebung.

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Die Fibel spielt weiterhin an auf das Format Buch, obwohl es nach dem „Zeitungskorpus“ des DWDS seit den 1980er Jahren stark aus dem Gebrauch gekommen ist.[6] Sie wird als „bebildertes Lesebuch“ genutzt, wobei sich bei Brechts Kriegsfibel das Verhältnis von Bild und Text mit den Zeitungsausschnitten bereits umdreht. Sie wird zu einem bedichteten Fotobuch. Die Verse werden nachträglich zu den Fotos formuliert. Diese Nachträglichkeit der Verse kommt beispielsweise bei dem anfangs eingeblendeten Zeitungsfoto mit der Bildunterschrift „The face of the German Army in Russia now appears frozen, dazed, ehausted of will or pride. These were once crack troops, the terror of the world of 1940 and 1941 but the farther they got into Russia, the less they liked cold and ample room to die in. However, as the Russians advance westward, the warmer it feels and the more delightful the prospect.”[7] Marie-Luise Kunst hält es auf der Bühne am Mikro als Cover im Arm. Brecht schnitt die Bildunterschrift mit aus. Doch sein Vers schlägt einen anderen, mitfühlenden Ton an, wenn es heißt.
„Seht unsre Söhne, taub und blutbefleckt
Vom eingefrornen Tank hier losgeschnallt:
Ach selbst der Wolf braucht, der die Zähne bleckt
Ein Schlupfloch! Wärmt sie, es ist ihnen kalt.“[8]

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Im Unterschied zur wenigstens polemischen Bildunterschrift in der englischsprachigen Zeitung formuliert Brecht mit der Zeigegeste auf das Foto, „Seht unsre Söhne“, Empathie für die deutschen Soldaten, indem er sie als „Söhne“ benennt. Für die englischsprachige Zeitung waren die acht Gesichter auf dem Foto „The face of the German Army“ und „once crack troops“. Die Empathie gegenüber den gefangengenommenen deutschen Soldaten – Stalingrad wird nicht genannt – mit dem Aufruf, sie zu wärmen, steht im Widerspruch zur Rhetorik des Krieges und Sieges über „the German Army“. Dass unter den Fotografierten ebenso Beteiligte an Kriegsverbrechen sein könnten, die die „Wehrmacht“ und entsandte Polizeieinheiten beim Vormarsch in russischen Dörfern und Städten begangen hatten, bleibt ebenfalls unerwähnt. Brechts Vers ist empathisch und mehrdeutig. Denn „der Wolf“ kann ab 1941 ebenso als Adolf Hitler im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ gelesen werden. Dann hätte Hitler die Söhne geraubt.

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Der Raub und Verrat der Söhne als Soldaten in einem Angriffskrieg schimmert als Narrativ in Brechts „Fotoepigramm“ durch. Narrative sind hartnäckig, resistent und übertragbar. Das gilt insbesondere für vermeintlich und tatsächlich hierarchische Befehlsketten, die die Armee strukturieren. Die Kriegsführung des Kriegsverbrechers Putin hat allerdings in den vergangenen Monaten auch immer wieder gezeigt, dass die Hierarchie eine Fiktion und brüchig ist. In der Praxis werden Kriegsverbrechen wie in Butscha begangen, für die niemand und am allerwenigsten der Präsident im Kreml verantwortlich sein will. Dennoch gehören sie zur strukturellen Praxis des Angriffskrieges. Der ukrainische Präsident Selenskyj und sein Umfeld haben frühzeitig erkannt, dass (russische) „Söhne“ zu Kriegsverbrechern werden können. Das dokumentarische Theaterstück Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ) in der Schaubühne hat dies mit Smartphone-Telefonaten zwischen russischen Soldaten an der Front und ihren Frauen bzw. Freundinnen eindrücklich vorgeführt.[9] Befehlsketten werden mit aktuellen Medien auch umgangen.

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Im Musiktheaterstück Die Kriegsfibel forschen die Musiker*innen den medialen Strukturen des Krieges nach. Bereits Hanns Eisler hatte begonnen, die Kriegsfibel mit den Versen als Lieder zu komponieren. Sie entwickelt als Fotobuch eine eigene Dramaturgie, wenn sie mit einem Foto von Adolf Hitler am Rednerpult gestikulierend – rechter Arm ausgestreckt und Blick nach oben gewendet, als solle aus dem Himmel eine Botschaft kommen –, und einem Foto aus dem Krieg in Spanien 1928 einsetzt. Sie endet mit einer Frau, die mit Säcken und Taschen als Flüchtende in den Trümmern einer deutschen Stadt ausruht und in die Kamera blickt. Ruth Berlau setzte der Kriegsfibel ein kurzes Vorwort vorweg:
„… Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.“[10]

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Berlaus Programm, Bilder lesen zu lehren, wird nicht anders als in der Bild-und-Textpraxis der Kriegsfibel vermittelt. Wie erfolgreich dieses breit angelegte Medienprogramm war oder wurde, wissen wir nicht. In Berlaus Formulierung wird der Begriff Krieg nicht einmal gebraucht. Stattdessen wird eine mediendidaktisches Leseprogramm formuliert, das sich vor allem gegen den „Kapitalismus“ wendet. Die Bildunterschrift zu den frierenden Soldaten und Brechts Vers geben auch einen Wink auf den „Kapitalismus“ als Erzähl- und Lesepraxis. In der Bildunterschrift wird eine erzählende Kausalität zwischen den „crack troops“ und dem „Face of the German Army“ hergestellt. Kapitalistisch wäre hier nicht zuletzt die Siegeslogik der Bildunterschrift. Die Frage, wie „Fotos in den Illustrierten“ zu lesen sind, bleibt weiterhin ungeklärt, wenn nicht Brechts Strategie berücksichtigt würde. Mehr noch die kapitalistische Erzähl- und Lesepraxis hat sich mit den Bildmedien, den Pics des Kriegs in der Ukraine zugespitzt. Mit den Pics wird sowohl Wissen verbreitet als auch zerstreut. Wir tun mit einem Blick auf das Smartphone in der Hand, als wüssten wir, nun alles über den Krieg.

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Die Kriegsfibel wurde schnell als Aufruf zu einer Friedensbewegung gelesen. „Die Kriegsfibel ist Bertolt Brechts letztes lyrisches Werk und Kultbuch der frühen Friedensbewegung“, schrieb Daniel Seiffert in einer Hausarbeit 2000.[11] Wie konnte die Kriegsfibel zum „Kultbuch der frühen Friedensbewegung“ werden? Ein Aufruf zum Frieden oder zu Friedensverhandlungen wird nirgends formuliert. Ruth Berlau schreibt nicht von Frieden, sondern von „Unwissenheit“ in der Medienpraxis. Vielleicht gibt die bibliothekarische Einordnung des Buches einen Wink. In der Zentralbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum befinden sich zwei Exemplare im 5. Stock mit der Signatur „Gesch.“ wie Geschichte neben Büchern zur Geschichte Mexikos etc. Die Originalausgabe von 1955 und die Wiederauflage von 1968 anlässlich des 70. Geburtstages von Bertolt Brecht. Der medienpraktische Ansatz des Buches wurde nicht zuletzt im akademischen Apparat mit Geschichte überschrieben. Krieg sollte der Geschichte angehören, während sich die Aufrüstung nicht stoppen ließ und der Kalte Krieg tobte.

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Die auch verfehlte Rezeption der brechtschen Kriegsfibel durch die Friedensbewegung und die Geisteswissenschaften erinnert nicht zuletzt mit dem dünnformulierten Manifest für den Frieden[12] – „Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt!“ – an „die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge“. Eine Analyse der Redeweisen und Bilderfluten wird im „Manifest“ von lateinisch manifestus wie „handgreiflich“ gar nicht erst angesprochen, weil sie zutiefst das eigene Handlungsbedürfnis bestimmen. Allein Putins Rhetorik der Drohung[13] – „Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg?“ – wird von Wagenknecht und Schwarzer kassandrahaft fragend übernommen, weil sie miserable Rhetoriker*innen sind. Friedensbestrebungen müssen nicht ängstlich bittend formuliert werden. Da macht vielmehr der sozialdemokratische, einst als Scholzomat diskreditierte Bundeskanzler einiges richtig. Das öffentliche Rede- und Geltungsbedürfnis von Olaf Scholz ist begrenzt, was ein Vorteil ist, wenn alle meinen, nach den erstbesten Bildern und Narrativen greifen zu müssen.

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Der Begriff des Narrativs hat in den Talkshows eine enorme Karriere gemacht. Auch das ist ein Effekt des in einer Rede legitimierten Angriffskrieges. Allerdings wird der Begriff besonders häufig so gebraucht, als ob nur Putin in einem falschen, lügenhaften Narrativ rede und denke. Bertolt Brecht hat in seiner Kriegsfibel ein feines Gespür für visuelle und textliche Narrative, wie beispielsweise die „Söhne“ zu bedenken geben. Ein anderes verbreitetes Narrativ kommt schon in der Kriegsfibel mit „SEXY CARROT“ zum Zuge, das Wladimir Putin mit Stewardessen am Tisch gleich zu Anfang des Krieges in Szene gesetzt hat.[14] Ein John Bretherick aus Philadelphia schickte das Foto einer Karotte aus seinem Garten an die Redaktion einer Zeitung. Die Natur habe „a pin-up vegetable“ produziert. Eine zweibeinige Karotte, die an ein reizvolles Revuegirl erinnere. Sex und Krieg gehören als patriarchales Narrativ zusammen. Das hatte selbst Brecht verstanden, der zwar nicht auf Revuegirls, sondern eher auf intelligente Frauen wie Ruth Berlau stand.
„Damit ihr auch bekommt, was euch gefällt
Sei euch dies Rübenbildnis angeboten.
Das halt‘ euch überm Meer im Dschungelzelt!
Ein solches Bild weckt, hör ich, einen Toten!“[15]   

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Der russische Angriffskrieg mit knatternden und bald treibstofflosen Panzern ist zu einem der Digitalität in Abwehrschildern, Drohnen, Fotos, Posts, Likes, Emoticons und Hashtags geworden. 2022/23 passt der Krieg in die „Hosentasche“, wie es im Programm zum Konzert im Konferenzsaal heißt. Die Digitalität materialisiert sich im multifunktionalen Smartphone, das wir einfach meistens links in der Hand halten und rechts den Coffee-to-go im nachhaltigen Mehrwegbecher, „mit nur wenigen Klicks ist man mitten im Geschehen, kann nahezu „live“ und in Farbe dabei sein. News im Sekundentakt, Kommentarschlachten auf Social Media, Doomscrolling, Fake News; aber auch: einende Hashtags globaler Solidarität und neue Dimensionen internationaler Spendenbereitschaft“.[16] – „emilio_morenati Kyiv, Ukraine“ postet auf Instagram das Foto aus einem Krankenhausflur direkt in die Hand auf das Smartphone. Im Gegenlicht zeichnet sich der Körper eines Mannes an Krücken ab, dessen linkes Bein oberhalb des Knies amputiert worden ist. „mental_health_esther und 12.531 weiteren Personen“ gefällt das. – Bitte? Wie kann das gefallen?!

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Die Handlichkeit des Krieges durch die Digitalität ist für Millionen User Wirklichkeit geworden. Mit Posts und Shares, Likes und Hates nehme „ich“ möglichst lässig oder engagiert am Krieg und seinen Medienschlachten teil. Selbst die Schlachten auf den Kriegsfeldern werden digital durchdrungen. Heute erhielt ich von einer Freundin auf WhatsApp einen Twitter-Link: „Visegrád on Twitter „23-year-old Vitaly Sukhotsk has …“. Dazu meine Freundin: „Er sieht aus wie ein Bub“ Emoticon: Traurig. Das Foto: Vitaly vielleicht 18jährig in besticktem ukrainischen Trachtenhemd. Schräger, schwarzer Balken. 879 Kommentare, 1.157 Geteilt, 17.881 Herzen. „23-year-old Vitaly Sukhotsky has been killed in battle against Russian Army near Bakhmut. His task during the war was to make the mathematical calculations needed for his artillery unit. He was from a village in the Lviv region.” Dass die Ukraine und viele Kriegsberichterstatter*innen zwischenzeitlich die digitalen Medien z.B. mit dem hübschen Bubenbild von Vitaly nutzen, ist ihr gutes Recht, weil Vitali sicherlich nicht vor 13 Monaten von der Verteidigung seines Landes im Krieg geträumt hat. Aber die Fotos und Videos sind immer auch verfänglich.

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Natürlich ist ein junger Mann von 23 Jahren viel zu jung, um in einem Angriffskrieg getötet zu werden. Sich der Drohungen aus Moskau zu unterwerfen, wie durch Friedensaktivist*innen angedacht, war natürlich keine Alternative. Aber das emotionale Potential des Fotos vermutlich aus einem heimischen Fotostudio in einem Hemd, das nicht seines gewesen sein muss, hat schon seine eigene Qualität. Das wäre heute wie damals ein Fall für ein Fotoepigramm von Bertold Brecht. In der Musiktheateraufführung wurde vielfältiges Bildmaterial projiziert und besungen. Vierzeiler sind kurz. Man hätte gern die neuen als Text gedruckt oder digital vorliegen. Vierzeiler verdichten. Sie sind aber auch schnell vorbei. Gehört hat man die Kurzlieder zum Wischen und zum Foto von den jungen Leuten, die im Frühjahr 2022 Molotowcocktails, kurz Mollis gegen russische Panzer basteln und damit nicht erfolglos geblieben sind. Was fast wie ein Spiel aussieht, gehört zum Widerstand gegen ein Regime des Terrors. Ironischerweise wurden die einfachen Brandflaschen nach Stalins „Außenminister“ Wjatscheslaw Molotow benannt.

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Es gibt Narrative der Macht wie dem des Patriarchats und solche die weniger mächtig und subversiv sind. Bertolt Brecht und die Künstler*innen der FES können die der Macht in Vierzeilern aufbrechen. Aber es ist auch eine Frage des gedruckten Wortes, das in der Kriegsfibel die subversive Mehrdeutigkeit aufblitzen lässt. Aus der Kriegsfibel lässt sich viel zur Inszenierung von Bildern lernen. Brecht war ein Spezialist darin. Schließlich hatte er 1941 das Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Aturo Ui, das in zeitlicher Nähe zur Kriegsfibel erst postum 1958 uraufgeführt wurde, im Exil geschrieben. Doch schon das „Lustspiel“ Mann ist Mann mit dem narrativen Untertitel „Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kilkoa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig“ von 1926 ließe sich als ein Antikriegsstück lesen. In Militärbaracken wurde bislang jeder „Bub“ in eine Kampfmaschine oder/und Kanonenfutter verwandelt.

Torsten Flüh

Für Veranstaltungen des FES sollten Sie sich anmelden:
Veranstaltungen


[1] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 1955, (letzte Seite, unnummeriert)

[2] Siehe: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168. Und als Vorstufe: Torsten Flüh: Zeitung und Blog als „Literarisierung der Lebensverhältnisse“. Zu Walter Benjamins Buch EINBAHNSTRASSE und dem Nachtrag Die Zeitung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 7, 2015 19:22.

[4] Rainald Goetz: Soziale Energie. Er ist wieder da: RAINALD GOETZ hielt im Wissenschaftskolleg in Berlin eine Rede. Es war eine Feier der Zeitung und des gedruckten Wortes und die lang erwartete Rückkehr des Schriftstellers in der Öffentlichkeit. In: DIE ZEIT N° 10, 2. März 2023, S. 48. (Print)

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Wortverlaufskurve für Fibel im DWDS.

[7] Fett im Original. Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 62. (unnummeriert)

[8] Ebenda.

[9] Siehe Torsten Flüh: Kriegswinter in Europa. Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Dezember 2022.

[10] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. ohne Seitenzahl.

[11] Daniel Seiffert: „Bert Brechts Kriegsfibel“ oder „Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten“. München: GRIN Publishin, 2000. (GRIN)

[12] Sarah Wagenknecht, Alice Schwarzer: Manifest für den Frieden. (ohne Datum, ohne Ort)

[13] Zu Putins Rhetorik der Drohung siehe: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[14] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 42.

[15] Ebenda.

[16] Zitiert nach: Friedrich-Ebert-Stiftung: Vertonte Fotoepigramme zum Krieg – Eine performative Annährung aus Musik, Bildern und Social-Media-Kommentaren. Berlin 2023.

Von Bären und Schlangen

Festival – Kinokultur – Digitalität

Von Bären und Schlangen

Zu Limbo im Wettbewerb und An Atypical Orbit im Forum Extended der 73. Berlinale

Werden die ausschließlich online zu buchenden Tickets für die Berlinale die unabänderliche Zukunft des Festivals sein? – 9:55 Uhr drei Tage vor der Aufführung. Der gebannte Blick auf den Bildschirm. Welche Tickets werden freigegeben werden? Im Wettbewerb geht es heute um Limbo. Die Kreditkarte liegt bereit. Die Zeitanzeige springt auf 10:00 Uhr. Taste. Klick. Und – Für die Vorstellung nicht verfügbar. Änderung. Neuer Versuch. Und – Ticket. Immerhin Zoo Palast 1. Wenn es gar keine Schlangen am Ticketschalter gibt, wie sie natürlich noch am 27. Februar 2020 existierten, als der Berichterstatter im Friedrichstadtpalast an der Tageskasse eine Karte für die 2. Vorstellung von Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz fast mühelos bekam,[1] oder mit Akkreditierung 2012 das Schlangestehen[2] morgens vor dem Aufstehen um 8:55 Uhr in der Eichhornstraße, dann fehlt mir ein Berlinale-Gefühl.

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Noch bis zum 5. März zeigt das 18. Forum Extended der Berlinale täglich die Ausstellung An Atypical Orbit in der Betonhalle des Kulturquartiers silent green. In der Betonhalle gibt es Schlangen. In ihrer Medieninstallation On this shore, here. setzt sich Jasmina Metwaly ein Schlangenhaupt auf den Kopf. Eine Pillenkamera schlängelt sich in Eduardo Williams‘ Speiseröhre in seiner Installation Un gif larguísimo. Internationale Premieren und eine Weltpremiere mit Tamer El Saids Borrowing a Family Album erwarten die Besucher*innen, ohne länger in der Schlange stehen zu müssen. Denn das Verschwinden der Schlangen hat nicht nur mit der radikalen Digitalisierung des Kartenverkaufs zu tun. Es ist ebenso der Schließung der Kinos im Sony Center und der Dezentralisierung des Festivals bis in die Berliner Kieze hinein geschuldet.

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Die Berlinale hatte sich bis zur Covid-19-Pandemie zum weltweit größten, internationalen Publikumsfestival des Kinos entwickelt. Dann kamen Netflix und Amazon als Frontalangriff auf die Kinokultur. Sie war eine breite, tendenziell schichtenübergreifende Publikumskultur. Die Kinokultur verkörperte sich in der Schlange. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kündigte sich mit breiten, teilweise verstellbaren Kinosesseln eine Loungeification des Kinosaals an. Es wurde, mit einem dänischen Wort, alles so hyggelig. Riesenleinwand mit dem Kinosessel als my home is my castle. Das Kino mit einem großen Publikum und Dolby Atoms wurde zugleich zum spießigen Rückzugsort im Sessel mit Softdrink oder Bierflasche. Jetzt wird entweder alles auf das Smartphone-Format geschrumpft und gestreamt oder der Bildschirm wird mit 65“ (165,1 cm) als AV Monitoring für fast Fünfzehneinhalbtausend Euro im Wohnzimmer bestreamt. Das Publikum wird zum gestreamten Ich. The Streaming is my orbit except news!

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Im Zoo Palast 1 bieten am 24. Februar 2023 um kurz vor 12:30 Uhr die gerafften Wellen des Kinovorhangs einen Augenfang. Wettbewerb: „Limbo. Ivan Sen – Simon Baker, Rob Collins, Natasha Wanganeen – Australien – 95‘ – Englisch.“ Der Kinosaal mit dem schon aufgesesselten Ambiente der 50er Jahre ist ausverkauft. Einige junge Leute. Rechts ein junger Mann mit Notebook und Apps. Links eine rothaarige, dünne Frau mit ihren Freundinnen so Ü70. Ach, doch noch ein Hauch Berlinale und Publikum. Der Berichterstatter atmet es ein. Das digital Ticketing hatte die Wahl bestimmt. Und sonst nichts. Limbo assoziierte der Berichterstatter irgendwie mit Tanz, was ganz falsch war. Danach noch einmal nachgelesen wurde aus einem Tanzfilm: „Travis Hurley nimmt den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aboriginal-Frau wieder auf. Die Outback-Kleinstadt schweigt, auch die Familie des Opfers, denn der Cop ist weiß und die Wahrheit komplex. Ein First-Nation-Film als nostalgisch-depressiver Wüsten-Noir.“[3] Filmbeschreibungen sind eine eigene Kunst, ein eigenes Literaturgenre des Kinos.  

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Die Publikumskultur der Berlinale wird leicht übersehen und selten besprochen. Also: Aus dem Graupelgestöber in das Kinofoyer gestürmt, QR-Code auf dem Smartphone scannen gelassen, hinein, gleich rechts die Treppe hoch und links in den großen Kinosaal. Freien Sitzplatz mittig anvisiert, per Handzeichen und Mimik nachgefragt, ob noch frei, möglichst freundlich durch die Reihe gedrängelt. Publikum teilweise stehend in Gesprächen verwickelt. Punkt Zwölfuhrdreißig: Gong! Stille. Licht dimmt herunter. Rüschenvorhang hebt sich. Trailer. Dann: Die australische Wüste in Schwarzweiß. Eine Straße schlängelt(!) sich durch die Wüste mit vielen Erdhügeln. Ein PKW wirbelt auf der Straße Staub auf und fährt auf die Kamera zu. Kino. Große Exposition. Kameraeinstellung: Panorama. Großes Erzählkino. – Niemand verlässt den Kinosaal. Applaus am Schluss. – Geht alles auf Smartphone und selbst auf AV Monitoring im Wohnzimmer nicht.

Im Wettbewerb um den Goldenen Bären wird Limbo untergehen. Australien war, soweit mir bekannt, nie besonders erfolgreich im Wettbewerb. Dabei macht Ivan Sen als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann fast alles richtig. Limbo ist nicht zuletzt ein Ritt durch die Film- bzw. Kinogeschichte und Erzählformate. Limbo kommt von einem ganz anderen Ende der Welt, das sonst in farbig funkelnden Opalen wahrgenommen wird. Queensland in Australien hat den Film mitproduziert. Auch ist die bildende Kunst der Aborigines meist bunt. Doch Ivan Sen verbannt die Farbe aus seinem Film. 2002 hatte Sen mit Beneath Clouds den Premiere First Movie Award auf der Berlinale gewonnen.[4] Die labyrinthischen Erdhöhlen der weißen Opalsucher und die Opalsuche der Aborigines werden von dem indigenen Autor, Regisseur und Kameramann Ivan Sen zu einer Meditation über die First Nation im Bundesstaat Südaustralien. Der ermittelnde Cop Travis Hurley (Simon Baker) spritzt sich in seinem Motelzimmer in einem ehemaligen Opal-Stollen Heroin. Der Trip in die Opal-Hauptstadt Coober Pedy wird zu einem vielschichtigen. Ein Kammerspiel der Extreme, das nahegeht.

Über den First Nation-Spielfilm Limbo ließe sich noch viel schreiben. Er erinnert an die Western der 50er aus den USA. Aber da war eher alles clean. Alkohol und Drogen, Sex und Rassismus spielen in Limbo eine strukturierende Rolle. Weiße Männer und braune Mädchen. Im Hintergrund die Opale, die nicht sichtbar werden, weil es ein Film in Schwarzweiß ist. Die Hitze in Coober Pedy kann im Sommer über 40° C betragen. In der Sprache der Pitjandjari-Aborigine heißt der Ort kupa piti, was so viel heißt wie „Loch des weißen Mannes“. In dem ziemlich heißen Ort gibt es mehrere Höhlenmotels. Doch das Filmmotel Limbo verweist ebenso auf das lateinische limbus als Ort des Vergessens und der Vorhölle. Dazu passt dann auch der Herointrip. Ivan Sem hat diese literarischen Verweise im Blick. Europäische und Pitiandjari-Mythen werden miteinander verwoben. Überhaupt spielen dann nicht zuletzt Mythen und Migration während der Berlinale für An Atypical Orbit in der Betonhalle eine wichtige Rolle.

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Das Kulturquartier Silent Green hat sich mit der Betonhalle in den letzten Jahren als ein Spielort der Berlinale etabliert. Das hat viel mit der unterirdischen Betonarchitektur und der Film Feld Forschung von Jörg Heitmann und Bettina Ellerkamp zu tun. Die gemeinnützige Gesellschaft macht ein anderes Kino. Keine Versesselung. Eher Bänke und Liegekissen. Für 2025 ist der Umzug des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. in Silent Green geplant. Am Rande des Festivals gelegen, lockt das Forum Extended ein besonderes Filmpublikum an. Ala Younis und Ulrich Ziemons (Co-Leitung) sowie Karina Griffith und Shai Heredia haben An Atypical Orbit kuratiert. Bereits 2022 hatten Ziemons und Younis eine faszinierende Ausstellung mit Closer To The Ground im Untergrund gestaltet. Während sich die Ausstellung 2022 auch als eine Intervention zur Covid-19-Pandemie sehen ließ, geht es in diesem Jahr stärker um Mythen und visuelle Vernetzungen. Die Kurator*innen formulieren ein Programm, bei dem es „in wechselnden Distanzen – um politische und persönliche Vermächtnisse, die oftmals in Scherben liegen“, geht.[5] In den Scherben lassen sich auch die des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mitlesen.

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Der tibetisch-amerikanische Filmemacher und bildende Künstler Tenzin Phutsong thematisiert in seinen vier Videoinstallationen das Exil seiner tibetischen Eltern. Dreams (2022) wird als Internationale Premiere gleich auf der Betonfläche zum Eingang in die unterirdische Halle projiziert. Eine ältere Frau liegt träumend auf einer Mattratze unter einer Decke in einem grenzenlosen Raum. Ein gleichaltriger Mann legt sich zu der Frau seinen Arm um sie legend. Es sind die Eltern des Künstlers, die sich auf die Schlafmatte legen. Sie ähnelt jener, „auf der sie zu Beginn ihrer Immigration in den Westen schliefen“.[6] Die sich nach 2 Minuten wiederholende, intime Szene des Sich-zu-einander-legens und des Träumens findet an der Schnittstelle von Immigration und Zukunft des Exils statt. Träume von der vergangenen Zukunft im Exil in den USA und der Zeit in Tibet vermischen sich. In der Installation wird ebenso eine Decke aus Indien gezeigt, die in vielen tibetischen Haushalten der Diaspora zu finden ist.

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Die Decke aus Indien visualisiert einen Teil der persönlichen Erinnerungskultur an den Beginn der Immigration des Filmemachers, wenn Tenzin Phutsong dazu sagt: „Diese Decke war einer der Gegenstände, die meine Mutter mitnahm, als wir aus Tibet in die USA immigrierten. In dieser Arbeit wollte ich zu meinen frühsten und schönsten Erinnerungen zurückkehren. Ich wollte mich an diese Zeit der Unschuld erinnern.“[7] Und möglicherweise sind derartige Decken für Kinder während der Immigration weiterhin ein Gegenstand des Schutzes. Die billigen Synthetik-Decken sind weich und erlauben, darunter zu träumen. Vielleicht muss man sich ähnliches für Kinder in den Kellern und Bunkern der Ukraine vorstellen.

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Doch die Exilerfahrung ist dank der audio-visuellen Apps auf dem Smartphone heute vielschichtiger geworden. Mit den drei kleinformatigen Videoinstallationen Achala, Dancing Boy und Summer Grass in mit Jade und Kupfer besetzten Kästchen feiert Tenzin Phutsong die Möglichkeiten der Apps wie WhatsApp und WeChat. Die kleinen Kästchen mit den Bildschirmen sind Schatztruhen des Alltags für die seit 40 Jahren getrennte Familie des Künstlers. In Echtzeit kommunizierte und kommuniziert die Familie in den USA wieder über die chinesische Social-Media-App WeChat mit den Verwandten im tibetischen Hochland. „Die in Tibet gedrehten Szenen wurden auf der Social-Media-App WeChat zwischen Verwandten des Künstlers in Tibet und den USA geteilt und ermöglichen so medialen Zugang zu der autonomen Region.“[8] Doch was sind audio-visuelle Apps, die keine Kosten verursachen?

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Die audio-visuelle Smartphonekultur der Apps schrumpft nicht nur das Kino, sie ist zugleich hoch politisch, worauf Tenzin Phutsong aufmerksam macht: „Anlass für die Serie war das Verbot von WeChat, das 2020 in den USA in Kraft trat und die Kommunikation des Künstlers und seiner Familie mit ihren Verwandten praktisch unterband; ein Zustand, der bis zur Wiederfreigabe der App im August 2021 andauerte.“[9] Millionen, wenn nicht schon Milliarden Menschen nutzen derartige Apps nicht nur zur nationalen, so doch zur internationalen Vernetzung aus dem Exil in abgelegenste Winkel der Welt wie dem tibetischen Hochland. Der staatspolitische Versuch, derartige Apps wie durch die USA zu regulieren und zu verbieten, wird zum Politikum. Summer Grass aus dem Alltag eines Yakhirten in Tibet dokumentiert nicht nur den bäuerlichen Alltag. Vielmehr ermöglicht die App trotz der Gefahr, dass der chinesische Geheimdienst, umgangssprachlich KeGeBo, mithört und sieht, eine durchaus kulturbeeinflussende Kommunikation.

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In Dancing Boy von Tenzin Phutsong tanzt ein vielleicht sechsjähriger Junge in einem traditionell eingerichteten Raum mit Herd wild vor der Kamera nach einem zeitgenössischen, tibetischen Lied. Es könnte gut eine Smartphone-Kamera sein. Tanzt der Junge in seiner traditionell tibetischen Kleidung für die Kamera? Die Kamera ist mehr auf eine Totale als auf eine Naheinstellung ausgerichtet. Tanzt er für die Verwandten in den USA, mit denen er kurz zuvor tibetisch gesprochen hat? – Wir wissen es nicht. Doch fast überall auf der Welt wachsen heute Kinder mit einem Smartphone auf. Dort am Display lernen sie schon im frühesten Kindesalter Verwandte z.B. in den USA kennen. Oder sie sehen ihren Onkel aus Babylon, bevor sie sprechen können. Durch die Apps sind die Smartphone-Displays und -Kameras erst wirklich mächtig geworden.

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In Achala spricht die Mutter von Tenzin mit ihrer Schwester in Tibet, die traditionell gekleidet ist. Aktuell sind Tibet und die Diskussion um Chinas Einfluss im Hochland aus den aktuellen Medien gerutscht. Doch Tibet und chinesische Smartphones ebenso wie WeChat bleiben ein Politikum. Insbesondere dann, wenn die Regierungen in Peking oder/und Washington Kommunikation und Informationsströme kontrollieren wollen. Achala und Tenzins Mutter wollen vor allem ihre familiäre Kommunikation aufrecht erhalten. „Sie diskutieren darüber, wie man mithilfe von Bildern in Kontakt bleibt – die sicherste Art des Austauschs, wenn die Kommunikation staatlich überwacht wird.“[10] Sie wollen sich weiterhin Bilder und Videos schicken.

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Die Gefahren der Digitalität wie staatliche Überwachung generieren zugleich neuartige kulturelle Praktiken. Ob sie sicherer sind, bleibt offen. Das Verschicken von Bildern funktioniert anders als die Sprache, die nach kriminalisierten Worten und Begriffen von Überwachungssoftware gefiltert wird. Tenzin Phutsongs Videoinstallationen erinnern zumindest daran, dass staatliche Willkür und autokratische Regulierungen durch die Digitalität umgangen werden können. Es können immer wieder neue Praktiken entstehen, die Freiräume schaffen und Austausch ermöglichen. Und dann flimmern Animationen von Buddha mit einem Lotusblütenregen über den Bildschirm. Auf einmal wird der durchaus düstere tibetische Buddhismus bunt und fröhlich.

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Die monumentalen Wasserfälle von Walid Raad in Schwarz-Weiß sind digital und Geschichte. Sie füllen die ganze Höhe der Betonhalle aus und donnern zu Boden. Doch die Videoinstallation ist „stumm“. Wenn man vor diesen brausenden hohen Wasserfällen steht, übt das visuelle Erlebnis eine derart suggestive Kraft aus, dass sich ein Brausen und Donnern einstellt. Es lässt sich selbst auf den Fotos hören und es wird auf dem spiegelnden Boden der Halle fortgesetzt. Geradezu winzig lassen sich dann auf den zweiten, dritten oder erst vierten Blick prominente Staatspersonen bzw. Fotopuppen am Fuße der Wasserfälle erkennen: Breschnew, Gorbatschow, Reagan, Thatcher, Mitterand.

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Im Hintergrund der Wasserfälle unter dem Titel Comerade leader, comerade leader, how nice to see you (2022) des New Yorker Künstlers und Kunstprofessors Walid Raad liegt das Rauschen der Sprache, der Namen und Geschichte des Libanons. Raad erklärt zu seiner Videoinstallation: „In den libanesischen Kriegen formierten sich viele Milizen – fast wie aus dem Nichts. Sie wurden von unterschiedlichen Gönner*innen unterstützt, sei es finanziell oder mit Waffen. Um ihre Förderer*innen zu ehren, entschlossen sich viele Milizen, die wunderschönen Wasserfälle des Libanons nach den Regierungsoberhäuptern der Länder zu benennen, die sie unterstützten. Und wenn sich diese Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle ganz einfach umbenannt, wieder und wieder und wieder.“[11] Damit erinnert Walid Raad im Kriegsjahr 2022 nicht zuletzt an wechselnde Mythen oder Narrative, wie sie nicht nur in „den libanesischen Kriegen“ eingesetzt wurden.

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Das Visuelle ist politisch, wird machtpolitisch genutzt und wird durch Benennung territorial in Kriegen eingesetzt. Mao, Neru, Marcos etc. waren auch dabei. An dem lokalen, libanesischen Beispiel der mehrdeutig sogenannten „Flatterhaften Fälle“ wird eine territoriale Strategie sichtbar. Die Wasserfälle und ihre Benennung ist nicht flatterhafter als die Namens- und Sprachpolitik im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Paradoxerweise wird in der Verteidigungs- ebenso wie einer vermeintlichen Friedenspolitik leidenschaftlich mit historischen und emotionalen Argumenten darüber gestritten, welche Gebiete und welche Orte einen russischen oder einen ukrainischen Namen haben sollen. Es geht immer um die Benennung als eine territoriale Besetzung. Was als eine marginale Installation zu den libanesischen Kriegen eingeführt wird, trifft eine entscheidende Praxis im Krieg. – Über An Atypical Orbit und die darin versammelten Installationen wäre nicht zuletzt mit schönen Fotos noch viel zu schreiben. Doch letztlich soll die Besprechung vor allem zum Besuch anregen.

Torsten Flüh

Berlinale
Forum Extended
An Atypical Orbit
Silent Green – Betonhalle
27.2.–3.3.: 14–19 Uhr
4.+5.3.: 11–21 Uhr
Tickets an der Tageskasse(!) oder über den Arsenal-Webshop    


[1] Siehe Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[2] Siehe Torsten Flüh: Ankreuzen, anstellen und dann beten. Berlinale 2012 und Directors Lounge. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 11, 2012 00:01.

[3] LIMBO. In: 73. Berlinale Internationale Filmfestspiele Berlin (Hg.): Berlinale Programm. Berlin 2023, S 20. (Redaktionsschluss 01.02.2023)

[4] Siehe: Berlinale: Programm: Limbo.

[5] Silent Green: Programm: An Atypical Orbit – 18. Forum Expanded.

[6] Berlinale: Tenzin Phutsong: Dreams.

[7] Ebenda.

[8] Berlinale: Tenzin Phutsong: Summer Grass.

[9] Ebenda.

[10] Berlinale: Tenzin Phutsong: Achala.

[11] Berlinale: Walid Raad: Comerade leader, comerade leader, how nice to see you.

Vom vermessenen Augenblick

Messen – Moment – Leben

Vom vermessenen Augenblick

Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie

Er ist ständig in Berlin zu sehen und wird oft übersehen: Johann Gottfried Schadow. Schon am 19. Februar wird die in mancher Hinsicht überraschende Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie zu Ende gehen. Das mag vorausgeschickt sein, weil der Berichterstatter Ende Oktober die Eröffnung versäumte und Schadow mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor wie der sogenannten Prinzessinnengruppe ohnehin im Berliner Stadtbild kaum übersehen werden kann. An der Rekonstruktion der Quadriga wird noch in einer Schau-Werkstatt der Gipsformerei im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages direkt an der Spree gearbeitet. Das Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe wird nach seiner Restaurierung und dem Ende der Ausstellung am 22. April wieder in die Friedrichswerdersche Kirche zurückkehren.

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Quadriga und Prinzessinnengruppe sind Skulpturen, die als Bilder von Berlin zirkulieren. Ihre Entstehung wird kaum hinterfragt. Es sind aktuell zwei Gipsmodelle als Arbeitsstufen zur Marmorskulptur bzw. zum Kupferguss als Bild, die die Praktiken des Hofbildhauers des Königs und damit der drei Könige Friedrich Wilhelm II., Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. ins Forschungsinteresse rücken. Dem Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe „nagelte()“ Schadow 1795 nach der Präsentation in der Akademie der Künste und der vom König geäußerten Kritik an einem Blumenkorb in der rechten Hand der späteren Königin kurzentschlossen „ein in Gips getauchtes Tuch“ an[1], das seither mit seinem Faltenwurf entschieden zur Natürlichkeit der Darstellung von Luise und Frederike beiträgt. Auf das Gipsmodell folgte 1797 die lebensgroße Marmorskulptur, an die Schadow nur die letzte Hand anlegte, nachdem seine Ateliergehilfen die Übertragung vollzogen hatten.

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Die Maße der Skulpturen spielen für die Arbeitsweise Johann Gottfried Schadows eine entscheidende Rolle. Maße und Proportionen bringen Schadows Skulpturen hervor. Sein Grabmal des Grafen Alexander von der Mark, das er für Friedrich Wilhelm II. 1788-1790 ausführte, wurde beim Wiederaufbau der Alten Nationalgalerie 1949-1958 zum Museumsobjekt. Es war zuvor in der Dorotheenstädtischen Kirche an der Neustädtischen Kirchstraße aufgestellt worden, wo es bis zu seiner kriegsbedingten Auslagerung stand. Die Kirche wurde 1965 nach Kriegsschäden in der Hauptstadt der DDR abgetragen. Für den im Alter von 8 Jahren möglicherweise vergifteten Sohn des Königs mit seiner Geliebten Gräfin Wilhelmine von Lichtenau schuf Schadow als neuer Hofbildhauer ein antikisierendes Tableau mit einer Höhe von 623 cm aus Carraramarmor, Freiburger, Kauffunger und Prieborner Marmor mit Schicksalsgöttinnen, Tor zum Hades und einer liegenden, eher überlebensgroßen Knabenfigur mit antiken Sandalen, Toga, Schwert und Helm.

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Die patriarchale Macht Friedrich Wilhelms II. nicht zuletzt gegenüber seinem erstgeborenen Sohn und neun Jahre älteren Halbbruder Alexanders, Friedrich Wilhelm, wird durch die Ausmaße des Grabmals für ein Kind bildlich. So war es denn auch der König, der seinen Söhnen, Friedrich Wilhelm und Ludwig, Luise und Frederike von Mecklenburg-Strelitz vorstellte und die Prinzessinnengruppe wie in einem unschuldig, jungfräulichen Augenblick in Auftrag gab. Die Frage der Darstellung einer etwas freizügigen Brautschau, bei der der Vater die, wenn man so will, ebenso klassisch wie leicht bekleideten Körper der erwählten Schwiegertöchter von seinem Hofbildhauer formen und verewigen ließ, wird in der Ausstellung nicht diskutiert. Mit dem Originalgipsmodell und dem erstmals in einem Raum gegenüber gestellten Marmor treten vielmehr Arbeitsprozesse hervor, die selbst hierarchisch organisiert waren.

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Die Macht und ihre Proportionen werden ebenso an der Quadriga mit Siegesgöttin von Schadow visualisiert. Die Pferde wurden noch während der Ausführung in Holz 1790 von 3,15 m (10 Fuß) Höhe auf 3,77 m (12 Fuß) vergrößert. Die antike Siegesgöttin Viktoria kommt auf ca. 5 m Höhe.[2] Die monumentale Skulptur wurde nach der Eroberung Berlins durch Napoleon 1806 in zwölf Kisten zerlegt und über Elbe, Rhein und französische Kanäle als Trophäe nach Paris in den Louvre gebracht. Nach dem Sieg der Preußischen Armee in den Befreiungskriegen 1814 kehrte sie in 15 Kisten auf dem Landweg über Brüssel, Aachen, Düsseldorf, Hannover, Magdeburg und Potsdam zurück. Am 24. Oktober 1806 waren Französische Truppen im Schadow-Haus unweit der Dorotheenstädtischen Kirche mit Selim aus Dafour einquartiert worden. Vergeblich bemühte sich Schadow, den Abtransport der Quadriga nach Paris durch Baron Dominique-Vivant Denon zu verhindern.[3] Indessen erregte der Afrikaner Selim im Gefolge des Brigadegenerals Charles-Étienne-François de Ruty das physiognomische Interesse des Bildhauers, der ihn 1807 in Gips abformte.[4]

Selim da Dafour, 1807 und „Kaffernprinz„, 1823 von Johann Gottfried Schadow

Das Material Gips rückt nicht nur mit dem Originalgipsmodell ins Interesse von Kunst und plastischer Kunstproduktion, vielmehr noch wird es mit der Restaurierung der Prinzessinnengruppe und dem Gipsmodell der Quadriga, vor allem aber mit dem Kopf des Selim um 1800 zu einem Träger neuartigen Wissens und von Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht. Erlaubt das Material Gips einerseits den Austausch eines Blumenkörbchens gegen ein Tuch, das zu einem „Überspieltuch“ wird, so wird das Gipsmodell der Quadriga zu einem Speicher des Wissens vom Original. Und die genau vermessene Physiognomie Selims in Gips generiert im Kontext einer Erzählung von der Nation in den Befreiungskriegen mit Karl Friedrich Schinkel, der das Eiserne Kreuz als Symbol für die Partizipation jedes einfachen Soldaten an der Nation entworfen haben wird, als Gegenpart eine nationale Physiognomie. Am Körper und insbesondere an den Formen und Maßen des Gesichts wird die Nation lesbar gemacht. Gips wird zu einem Wissensspeicher:
„Darüber hinaus konnten weitere Überarbeitungen ausgemacht werden, die unter anderem maßgebliche Formveränderungen beinhalteten: Die anatomische Haltung von Luises rechtem Arm war verändert und verfälscht worden und auch an dem imposanten Faltenspiel des Überspieltuchs, welches Luise mit ihrer rechten Hand grazil aufrecht hält, waren zahlreiche Formveränderungen ablesbar […].“[5]

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Das „Faltenspiel des Überspieltuchs“ korrespondiert als Moment mit Schadows Konzept der Grazie. 1802 publizierte er den Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia, in dem er sein Konzept der Grazie formulierte, wobei er von „Reiz“ statt Grazie und dem Modus des Moments schreibt. Der Zeitschriftentext ist als autobiographischer Brief abgefasst: „Seit geraumer Zeit hatte ich es im Sinne, Ihnen, verehrter Freund, Nachricht zu geben, gewissermassen eine Rechenschaft abzulegen von meinem Künstlerleben.“[6] Der zeitliche Modus des Moments wird für die Grazie zum entscheidenden Modus der ästhetischen Form. Der Moment lässt sich nicht messen. Denn im nächsten Augenblick ist er bereits verloren. Es sind insbesondere die Falten eines Gewandes am lebenden Körper, die das Leben in einem Moment festhalten. Falten erhalten von Schadow im Unterschied zum Barock eine neuartige Funktion. Sie werden mit dem Leben und Lebendigem kurzgeschlossen.

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In der autobiographisch formulierten Schrift spielen die Falten eines Gewandes beim Renaissancemaler Raphael eine wichtige Rolle. Dieser „müsse bei seinen Gewänden nicht die Gliederpuppe, sondern ein lebendes Modell, mit Gewand bekleidet, gebraucht haben, indem das höchst ungezwungene und das von einem vorigen in den gegenwärtigen Moment Uebergegangene in den Falten mit einer Gliederpuppe nicht zu erreichen sei.“[7] Das „lebende() Modell“ verbürgt das Leben in der bildenden Kunst. Später verlangt der Moment, in dem sich die Grazie zeigt, einen „an List grenzenden Beobachtungsgeist“. Die momenthafte Erscheinung der Grazie, die bereits sieben Jahre zuvor für die Prinzessinnen nicht zuletzt mit dem „Überspieltuch“ hergestellt worden war, zu erfassen, erweist sich als schwierig.
„Die besondere Schwierigkeit liege darin, »Ähnlichkeit und Anmuth zu vereinigen, in einem Moment den Reiz zusammen zu fassen, der im Leben durch das beseelte Bewegte, Mannichfaltige unendlich vieler Momente liegt«. Dies erfordere, so der Bildhauer weiter, »ein zartes Kunstgefühl und einen, möchte ich fast sagen, an List grenzenden Beobachtungsgeist«.“[8]

Originalgips

Die Frage nach dem Moment oder „Augenblick“ bei der Darstellung der Grazie beschäftigt um 1800 nicht zuletzt seit Friedrich Schillers 1793 veröffentlichten Schrift Ueber Anmuth und Wuerde nicht nur den Bildhauer Schadow in Berlin, vielmehr wird Heinrich von Kleist mit der Veröffentlichung Über das Marionettentheater am 12., 14. und 15. Dezember 1810 in seinen Berliner Abendblättern sozusagen an einem lebenden Bild als zeitgenössischem Darstellungsgenre nach der antiken Plastik Der Dornauszieher die Grazie als einen Moment des Nicht-Wissens formulieren. Kleist greift in der Kunstdebatte um die Grazie mit einer an Schadows „Gliederpuppe“ erinnernden Konstellation von Marionette, Augenblick und Wissen ein:
„Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –“[9]

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Schadow formuliert als Bildhauer ein momentartiges Wissen von der Grazie, das sich dem Messen entzieht. Während bei ihm durch „ein zartes Kunstgefühl und einen (…) an List grenzenden Beobachtungsgeist“ die Grazie erfasst und dargestellt werden kann, parodiert Kleist den wissensförmigen Beobachtungsgeist mit dem die Grazie (zer)störenden Ausruf „er sähe wohl Geister!“. Kleist kannte die Prinzessinnengruppe von Schadow vermutlich nicht, obwohl sie als Zeichnung z.B. im Journal für Kunst und Kunstsachen, Künsteleien und Mode von 1810 kursierte.[10] Andererseits war sie der öffentlichen Ansicht und Wahrnehmung durch Luises Ehemann und König Friedrich Wilhelm III. entzogen worden. Doch Achim von Arnim hatte einen Monat zuvor am 12. November 1810 im „37te(n) Blatt“ der Berliner Abendblätter eine Übersicht der Kunstausstellung veröffentlicht, in der ein auf merkwürdige Weise entstandenes Bild der Königin eröffnend erwähnt wird:
„Allgemein war der Wunsch, das Bild der verehrten Königinn von geschickter Hand ähnlich bewahrt zu finden, unter verschiedenen, welche dieser Wunsch hervorgebracht, wurde das Bild von S c h a d o w vorgezogen, ungeachtet es blos nach anderen Bildern und nach dem Rathe verehrter Angehörigen der Verstorbenen gemahlt worden. Es übertrifft unleugbar alle Bilder, die wir von ihr zu sehen Gelegenheit hatten, die Anmuth ihrer Bewegungen, ihrer Freundlichkeit veranlassen die Maler sehr leicht, ganz fremdartige Ideale in ihr darzustellen; doch ist es unerklärlich, daß eine so allgemein bewunderte Königinn bei ihrem Leben nie von einem der besten Porträtmaler unserer Zeit gemalt worden.“[11]

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Könnte es von Luise ein Bild nach Hörensagen von Johann Gottfried Schadow gegeben haben? Obwohl der Name Schadow ohne Vorname und als allgemein bekannt von Achim von Arnim in der Zeitung gebraucht wird, müsste es sich um dessen Sohn, den Maler Wilhelm von Schadow (1788-1862), handeln. Denn es wird „Schadows Johannes“ als ein zweites Gemälde von ihm erwähnt. Der Name Schadow wird anscheinend schon 1810 in Berlin nicht mehr automatisch für den Bildhauer gebraucht, obwohl er mit der Prinzessinnengruppe, wie in der aktuellen Schadow-Ausstellung zu sehen, eine eigene Vervielfältigung der Darstellung in Biskuitporzellan, Terrakotta, Marmor und Karton in Gang setzte. Das Bild mit der Kinnbinde entwickelte als Büste und in Gemälden sozusagen ein Eigenleben. Das gibt auch einen Wink auf das Bild Luises, das heute wie selbstverständlich mit dem Namen Schadow verknüpft wird. In Achim von Arnims „Übersicht“ kommt die „Anmuth“ vor, die indessen mit „ganz fremdartige(n) Ideale(n)“ für ein Bild kombiniert wird.

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Im veröffentlichten Brief als Beschreibung der Kunstpraxis, der auf den 7. September 1802 mit der Unterschrift G. Schadow datiert wird, kündigt der Bildhauer bereits eine „Nationalphysiognomie“ als Projekt an. Insbesondere mit dem von Immanuel Kant seit 1775 kursierenden Begriff der „Menschenrace“ in Von den verschiedenen Racen der Menschen[12] knüpft Schadow in seinem Brief an den neuartigen Modus der Vermessung des Menschen an. Die Kombination der Nation mit dem seit Johann Caspar Lavater 1777 popularisierten Wissen vom Gesicht, der Physiognomie als ein Zeichenfeld, erhält mit dem Messen eine andere Qualität. Noch bevor Schadow 1806 auf Selim da Dafour trifft, entwickelt Schadow als Bildhauer, Vermesser und Zeichner bereits eine Matrix für die „Menschenrace(n)“. Grazie und physiognomische Vermessung des Menschen als „Nebenbeschäftigung“ der „mathematische(n) Beobachtungen“ korrespondieren bereits in der frühen Kunstpraxis miteinander.[13]  
„Und drittens die Nationalphysiognomie, nehmlich nur der einen Menschenrace, die wir unter den Namen der Caucasischen begreifen. Ich habe zu diesem Behufe Spanier, Russen, Türken, Juden u. m. a. gemessen, und nach Maassen gezeichnet, aber von allen diesen noch nicht genug beobachtet, um entscheidende Resultate aufstellen zu können.“[14]

Brustbild des Chinesen Ahok (gen. Haho), 1823

Das Fortleben der Skulptur wird am 5. Mai 1843 in der Akademie der Künste im Genre der sich in lebende Bilder verwandelnden Modelle von Johann Gottfried Schadow selbst befördert und berichtet. Die Gesellschaftskunst der lebenden Bilder war von Johann Wolfgang Goethe bereits 1809 in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften prominent verarbeitet worden als „Luciane“ im fünften Kapitel des zweiten Teils „in ihrem höchsten Glanze erschein(t). Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte.“[15] In seinem Bericht über Vorstellung lebender Bilder, welche im Saale der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin am 5ten Mai 1843 stattfand aus dem Nachlass, zeichnet Schadow neben einer Renaissancedarstellung die Prinzessinnengruppe. Als lebendes ebenso wie eingebildetes und nachgestelltes Bild wird die Skulptur wiederholt. In der Ausstellung wird Schadows Bericht in einer Tischvitrine gezeigt. Das Verstecken und Kursieren der Skulptur bis zur Vorstellung als lebendes Bildes wird selbst zum Modus der Prinzessinnengruppe.

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Die Bildlichkeit der Prinzessinnengruppe fasziniert in der Ausstellung. Sie hat nicht zuletzt mit dem Mythos der Königin Luise und dem schon von Achim von Arnim erwähnten Fehlen eines Portraits zu tun. Das fast zu übersehende „Überspieltuch“ mit seinem „Faltenspiel“, das nur durch das Originalgipsmodell augenscheinlich wird, gehört (nicht) zu Luise und wird zur Projektionsfläche für das Leben. Der postulierte Klassizismus und die Feier Johann Gottfried Schadows als Vater des Berliner Klassizismus bricht sich an dem in Gips getauchten Tuch, das keine andere natürliche Funktion hat, als eine Fehlstelle auszubessern. Dass diese Fehlstelle störte, wurde während der Restaurierung offenbar, weil die „anatomisch unstimmige() Armhaltung Luises und d(ie) Veränderungen des Überspieltuchs, die in der Vergangenheit am Originalgips vorgenommen“ worden waren, nun hervortraten.[16] Das „großangelegte Forschungs- und Restaurierungsprojekt zur Prinzessinnengruppe“[17], aus dem die Ausstellung hervorgegangen ist, legt insofern die Arbeitspraxis Johann Gottfried Schadows mit der Fehlstelle an einem zentralen Sammlungsstück der Alten Nationalgalerie offen.

Torsten Flüh

Alte Nationalgalerie
Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
bis 19. Februar 2023

Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
Hg. Yvette Deseyve  für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin unter Mitarbeit von Sintje Guericke
Beiträge von T. Bräunig, A. Czarnecki, D. de Chair, Y. Deseyve, F. Göttlich, S. Guericke, R. Hofereiter, S. Kiesant, F. Labahn, A. Seidel, V. Tocha, P. Winter
304 Seiten, 318 Abbildungen in Farbe
24 x 29 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4086-6
49,90 €

Und da war sie aus Gips
Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor
Mauer-Mahnmal im Deutschen Bundestag
Schiffbauerdamm, Eingang an der Spree
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
10117 Berlin
Dienstags bis Sonntags, 11 bis 17 Uhr


[1] Ausstellungsteil: Doppelt! Die Prinzessinnengruppe in Gips und in Marmor. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 176.

[2] Die Größenverhältnisse werden aktuell während der Restaurierung des Gipsmodells von 1942 im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages erfahrbar. Siehe: Und da war sie aus Gips – Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor. Bundestag

[3] Biografie und Werk. Johann Gottfried Schadow 1764-1850. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann … [wie Anm. 1] S. 271.

[4] Forschung für die Kunst. Schadows Polyclet und National-Physiognomien. In: Ebenda S. 212.

[5] Alexandra Czarnecki, Theresa Bräunig, Friederike Labahn: Neue Wege in der Gipsrestaurierung. Zur Konservierung und Restaurierung der Prinzessinnengruppe. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 112.

[6] Gottfried Schadow: Aufsätze und Briefe. Hrsg. v. Julius Friedländer. Stuttgart 1890, S. 56. (Digitalisat: Uni Mainz)

[7] Ebenda S. 62.

[8] Yvette Deseyve: Die »Göttinnen des Publicums«. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 42.

[9] H. v. K.: Über das Marionettentheater. (Fortsetzung). In: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter I. Brandenburger Ausgabe. Basel: Stroemfeld, 1997, S. 326.

[10] Siehe: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 52.

[11] aa.: Übersicht der Kunstausstellung. In: Ebenda S. 187-188.

[12] Siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[13] Gottfried Schadow: Aufsätze … [wie Anm. 6] S. 65.

[14] Zu Schadows Büsten für die Walhalla gehört als „Nationalphysiognomie“ ausgeführt zwischen 1807 und 1812 „Immanuel Kant“. Ebenda.

[15] Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. 1809. (Fünftes Kapitel, Zweiter Teil: Projekt Gutenberg.)

[16] Veronika Tocha: Originalgipse. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 63.

[17] Ralph Gleis: Vorwort. In: Ebenda S. 14.

Zwischen Menschen und Maschinen

Mensch – Stimme – Maschine

Zwischen Menschen und Maschinen

Zum Semesterthema Nach der Stimme der Mosse-Lectures und Helmuth Plessner

Die vierte und letzte Mosse-Lecture zum Thema Nach der Stimme von Sigrid Weigel rückte die Dimension der Kulturforschung in die Aufmerksamkeit. Bleibt das Menschliche auf der Strecke, wenn wir Rechenmaschinen mit uns reden machen und ihnen fasziniert zuhören? Die Frage nach der conditio humana eröffnete Sigrid Weigel mit Erinnerungen an den Philosophen und Sprachforscher Helmuth Plessner und der von ihm formulierten philosophischen Anthropologie. Während aktuell häufig vom Posthumanen gesprochen und geschrieben wird, gibt die Anknüpfung an die philosophische Anthropologie einen Wink auf das Humanum, das mit der Korrelation von Stimme und Ohr gedacht wird. Sprechen wir in Verkennung der Stimme mit Cortana und Alexa? Geben sie Antwort? Oder vertonen die Stimmen lediglich Datensammlungen und Datenströme, als ob sie wüssten, wovon sie sprechen?

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Exakt am Morgen des 2. Februars 2023 lieferte Die Zeit Ulrich Schnabels Leitartikel in Papierform mit dem Titel Selbst macht klug zum neuesten Einsatz von „KI“ durch „das Sprachprogramm ChatGPT“ aus. ChatGPT „übersteige() alles bisher Bekannte“.[1] Schnabel drängt Deutschland und Europa zu eigenen Anstrengungen bei der Entwicklung von KI als Zukunftstechnologie von epochaler wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung. Formuliert wird von Schnabel ein Wettlauf um, sagen wir, „selbst“ programmierte KIs und Sprachprogramme, damit Europa nicht weiter abhängig von den USA, deren KI-Schmieden wie Microsoft und zu einem geringeren Prozentsatz von der Volksrepublik China wird. Ob Schnabel jemals auf globalen Codierungskonferenzen wie Microsoft-Build im Mai 2022 im Westhafenspeicher war, wissen wir nicht. Zur Formulierung von Titeln für Leitartikel kann und muss an dieser Stelle einmal transparent gemacht werden, dass sie in der Regel nicht vom Autor, sondern von autorisierten Redakteuren gesetzt werden.

Esc-Enter von Rolf Wicker – Teil der Computertastatur auf dem Vorplatz zum Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin

Zeitungen auf Papier oder dem Bildschirm oder Touchpad, insbesondere Wochenzeitungen wie Der Spiegel oder Die Zeit sind hocharbeitsteilige Maschinen. – Titeln ist ein formalisierter redaktioneller Bereich. Menschliche Korrekturleser*innen in Zeitungshäusern wurden bereits in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts entlassen bzw. abgeschafft. Über den Titel Selbst macht klug ließe sich insofern einiges nachdenken. Dass der globale Journalismus zwischenzeitlich weitgehend automatisiert worden ist, wäre ebenfalls bedenkenswert. Entlassungswellen in Verlagshäusern werden zwar bedauert, aber als wirtschaftlich notwendig und plausibel akzeptiert. Mit der Sprache, der Stimme und dem Ohr geht es insofern nach Pleßner um eine „Grundschicht des Menschlichen“[2], der conditio humana und nicht zuletzt dessen, was Kulturforschung lehren kann. Bereits Thomas Macho hatte bei der Eröffnung der Vortragsreihe an die Stimmen erinnert, die wir beim Lesen und Schreiben hören. Das Selbsthören und das Hören von anderen Stimmen sind semantisch hoch aufgeladen und umstritten.

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Der Philosoph Helmuth Plessner wird derzeit von der Sprach- und Kulturforschung recht eigentlich als zwischen 1933 und 1945 verfolgter und ausgewanderter, deutschsprachiger Sprachforscher entdeckt und rezipiert. Utz Maas schreibt im Projekt Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) über Helmuth Pleßner (die Schreibweise des Namens variiert), dass er argumentativ explizit an Husserl anschloss.[3] „Im Sinne der von ihm (…) herausgestellten leiblichen Fundierung aller höheren Fähigkeiten kommt der Lautsprache (der Stimme) zwar eine fundierende Rolle zu, aber er betonte, daß sie als mediale Besonderheit nicht mit Sprache gleichzusetzen ist (…). Pointiert entwickelte er hier das für die conditio humana grundlegende Konzept des Ausbaus der „natürlichen“ Fähigkeiten.“[4] 2019 erschien der Konferenzband Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung – Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners[5], der den 1985 verstorbenen Philosophen, Soziologen und Sprachforscher explizit in das Feld der Digitalisierung rückt.
„Mit der analytischen Perspektive der an Plessner anschließenden Philosophischen Anthropologie kann es derart gelingen, die Vielfalt dessen, was mit Digitalisierung verbunden wird, auf die Frage hin zu systematisieren, wie sich der Mensch, verstanden als gerade nicht nur kognitive und nicht nur materiale, sondern beides verbindende exzentrische Positionalität, eine Welt neu schafft, die ihn selbst potenziell überformt.“[6]

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Sigrid Weigel stellte vor allem das konstituierende Verhältnis von Stimme und Ohr für den Menschen nach der Vorstellung durch Stefan Willer ins Interesse ihres Vortrages mit der Formulierung: „Wenn wir sprechen, gehen wir davon aus, dass jemand uns zuhört.“[7] Bedenkenswerter Weise wird dieses Verhältnis im Konferenzband überlesen, übersehen oder überhört. Richard Paluch berichtet zwar in Anknüpfung an Plessner von einem Labortest zu „(l)eiblichen Erfahrungsweisen animierter Umgebung“ bei zwei „Erstnutzer*innen von Hörgeräten“[8], dass Mechthild „sich nach vorne beugt und ihr Ohr den Sprechenden zuwende()“. Sie „möchte die anderen besser verstehen und auch auf den Sachverhalt aufmerksam machen, diese nicht hören zu können“[9]. Aber die prekäre Geste, das „Ohr den Sprechenden“ zuzuwenden, wird weder in Beziehung zur Stimme noch zur Frage des Menschlichen gesetzt. – Achtung! Wenn Sie schlecht hören, fragen Sie nie nach oder bitten gar die Sprecher*in, deutlicher zu sprechen. Die Bitte löst Aggressionen aus. Ihnen wird die Intelligenz als ein Verstehen können und damit ein Menschliches umgehend abgesprochen oder wenigstens angezweifelt. – Ich werde darauf zurückkommen.

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Die Korrelation von Stimme und Ohr, wie sie mit Nach der Stimme in den Mosse-Lectures von Thomas Macho, Lawrence Abu Hamdan bezüglich forensischer Auswertung von Stimmen, Brigitte Lange hinsichtlich den Berliner Stimmenarchivs und Marcel Beyer angesprochen und performt wurde, blendete immer auch das Ohr ein wenig aus. Das war meistens einer methodischen Konzentration auf die Stimme geschuldet. Doch mit Sigrid Weigel wurden nun Figurationen von Stimme und Ohr: der Beichtstuhl – die Couch – das Programm in Anknüpfung an Helmuth Pleßner zum Dreh- und Angelpunkt von Tonszenarien wie „Echo in der eigenen Brust“, „Resonanz“ und einem geschärften „Ohr“ in der „Kulturwissenschaft()“ bzw. Kulturforschung. Dafür soll eine längere Passage aus seiner Einleitung in die philosophische Anthropologie von 1965 zitiert werden:
„Immerhin: es ist nur eine leere Behauptung, daß der Mensch in unendlichen Varianten lebe. Hier scheint es eine Verbindung von Endlichkeit und Unbegrenztheit, Begrenztheit und Unendlichkeit zu geben, eine überschaubare Fülle möglicher Individualitäten in unerschöpflichen Individuen -, die von unmittelbarer Bedeutung für die wissenschaftliche Erkennbarkeit der geistigen Welt ist. Die schmale Basis eines Individuums reichte zur Erfassung fremder Geistesweiten nicht aus. Wollte wirklich der Historiker sich nur auf das Echo in der eigenen Brust verlassen, so müßte er auf riesige Sphären untergegangenen Seins von vornherein verzichten. Aufs strengste hat der Geisteswissenschaftler daher zu unterscheiden zwischen einer Resonanz in seiner lebendigen Individualität und einer „Resonanz“ in den Schichten, die das Fundament für ein Verstehen fremden Geistes bilden, weil sie das „Verstehen“ selbst ermöglichen. Der Kulturwissenschaftler gewöhnt sich daran, skeptisch gegen sich, seine Zeit und Kreis der Selbstverständlichkeiten zu werden und schärft sein Ohr zur Wahrnehmung der Tiefenunterschiede der Resonanz. Denn eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten bleibt in der von keiner zeitlichen und persönlichen, rassenmäßigen und volkhaften Gestaltung je erschöpften Grundschicht des Menschlichen dem Historiker zur Verfügung.“[10]

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Helmuth Plessner kam 1970 in seiner Anthropologie der Sinne verstärkt auf das Ohr des Menschen mit seiner Ästhesiologie des Hörens zurück. Das Ohr und die mehrdeutigen Tonszenarien wurden nun konkretisiert. Der „Modus des Hörens“ wird ihm wichtig, weil die „Philosophie des Pragmatismus“ dieser nie interessiert habe.[11] Plessner konkretisiert jetzt das Verhältnis von Ohr und Stimme insbesondere über das „Sich-selber-Hören“ als „eine Basis der Sprachbildung“, die bei „Taubstummen“ ausfalle.[12] Er bezieht sich dabei auf Herder und macht deutlich, dass das „Sprachsystem der Sprache als ein() Gefüge() aus Wortbedeutungen von der üblichen akustomotorischen Artikulationsbasis“ relativ unabhängig sei. Anders gesagt: Man muss nicht hören und sprechen können, um sich eine Sprache anzueignen. Wird Ludwig Wittgenstein in den aktuellen philosophischen Debatten um die Digitalisierung bis zur Künstlichen Intelligenz und Sprachprogrammen gern in Anspruch genommen[13], so ist es Plessner, der 1970 mit der Ästhesiologie des Hörens die Mehrdeutigkeit des Sprechens performend darauf aufmerksam macht, dass „das vitale System des Menschen“ eine entscheidende Rolle spiele.
„Die These von der Entsprechung etwa des indogermanischen Sprachbaues und der abendländischen Philosophie ist bekannt. Es bedarf nur einer kleinen Drehung, und die Sprache wird zu dem, der spricht und sagt. Selbstredend lassen sich solche Verabsolutierungen, ob im Sinne Wittgensteins oder Heideggers, nicht mit anthropologischen Überlegungen stützen oder bekämpfen. Aber sie sind symptomatisch für eine nur auf Sprache eingeschworene und verengte Blickrichtung, die sich einen Dreck um die Einbettung der Sprache in das vitale System des Menschen kümmert.“[14]

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Sigrid Weigel bezieht sich in ihrer Plessner-Lektüre vor allem auf dessen Nachdenken von Stimme und Ohr in der Philosophie. Unterschlagen werden soll hier allerdings nicht, dass Plessner seine anthropologische Ausarbeitung mit seiner Kritik an „Technisierung“, „Möglichkeiten elektronischer Tonerzeugung“ und einer „vor nichts zurückschreckende(n) Interpretationslobby“ argumentativ verkoppelt.[15] Gerade an der Schnittstelle des „Sich-selber-Hörens“ kommen seit ungefähr seit Beginn de neuen Jahrtausends mit digitalen Ton- oder Soundprozessoren als sogenannte Cochlea Implantate zum Zuge. „Taubstumme“, um diesen Begriff einmal anzuwenden, können unter bestimmten Grundbedingungen wie einem intakten Hörnerv über CIs hören. Zum ersten Mal hörte ich um 2000 von einem seit seiner Kindheit Gehörlosen, der mittels der damals noch großen Hinterohrprozessoren hören lernte. Prof. Dr. med. Heidi Olze hat als Direktorin der HNO-Klinik an der Charité um 2010 die CI-Versorgung aufgebaut und vor allem frühzeitig bei Kindern eingeleitet und erforscht. Sie plädiert für eine synchrone Versorgung.[16] Die Operation besteht darin, dass Sonden in das Innenohr, die Ohrschnecke bzw. Cochlea verlegt werden, um die Hörnerven anders als bei einem nur verstärkenden akustischen Hörgerät, sagen wir, direkt anzusprechen.

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Die Digitalisierung des Hörens durch ein CI dürfte aktuell in Industrieländern bereits für hunderttausende Kinder Realität sein. Dadurch wird diesen Kindern allererst ein Spracherwerb und das „Sich-selber-Hören“ ermöglicht. Der Soundprozessor hinter dem Ohr lässt sich beispielsweise mit einer App auf dem Smartphone durch mindestens 4 akustische Programme wie „Musik“, „Café“, „Gruppe“ und „Scan“ steuern. Die Programme blenden z.B. im Café oder Restaurant störende Geräusche wie Tellerklappern etc., die normalhörende Menschen ausblenden können, digital aus. Das Musikprogramm erlaubt es, jedes Knirschen des Streugutes unter den Schuhen im Winter, jede Vogelstimme und jedes Instrument in einem Symphonieorchester zu hören. Es erlaubt ebenso eine Unterscheidung zwischen „elektronischer Tonerzeugung“ und dem Ton einer erweiterten Spielweise eines traditionellen Instrumentes wie einer Bratsche. Dabei könnten unterdessen erweiterte Wissensformen eine Rolle spielen und notwendig sein. Bei Erwachsenen können die Hörnerven in der Cochlea durch Operationen, Unfälle oder Kriegshandlungen beschädigt werden, so dass kein akustisches Hörgerät mehr ausreicht. Verblüffend ist es, dass sich z.B. in einem Symphoniekonzert der akustische Höreindruck mit dem digital verarbeiteten Klang im Kopf, vielleicht besser Gehirn, zu einem sehr genauen und oft beglückenden Klangerlebnis vermischt.

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Was heißt es, wenn ich mich durch ein digitales Programm höre und bereits zahllose Kinder sich auf diese Weise hören? Die schreibendsprechenden Programme wie ChatGPT lösen die Frage nach der Intelligenz und der vielschichtigen Macht der KI, englisch AI aus. Ohne CI-Programm könnten viele Kinder sich heute nicht selber hören und ihre Intelligenz entwickeln. Kriegsverletzte Kinder, Frauen und Soldaten erhalten durch ein CI überhaupt wieder die Möglichkeit, hörend am Leben teilzunehmen. In Deutschland ist durch Angehörige der Bundeswehr um 2010 das Recht auf eine CI-Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung erstritten worden.[17] Könnte es sein, dass ChatGPT Bedenken und Ängste freisetzt, weil es schreibt und spricht, während gleichzeitig die Weiterentwicklung von CI-Prozessoren und ihren Programmen die akustische Teilhabe am Leben überhaupt ermöglicht? Das Hören wird nur durch eine Maschine möglich. Das „Humanum“ wird mit dem Programm einer Maschine verkoppelt und möglich.

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An dieser Stelle kann auf eine CI-Debatte unter Gehörlosen aufmerksam gemacht werden, die den Bereich der Digitalisierung ausspart. 2006 veröffentlichte der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. eine Stellungnahme zu Cochlea Implantaten, in der die „These „besseres Hören = bessere Lebensqualität““ als „nicht automatisch zutreffend“ kritisiert wird. Besondere Beachtung erhalten vor allem sprachliche und kulturelle Aspekte der „Gehörlosengemeinschaft“, die insbesondere für „gehörlose Kinder“ in Anschlag gebracht werden. „Gebärdensprache, Gehörlosenkultur und die gesetzlich geregelten Möglichkeiten zum Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern können gehörlosen Kindern Perspektiven eröffnen, die unabhängig von ihrer Hör- und Sprechfähigkeit sind.“[18] Das CI macht Angst und wird insbesondere als Gefährdung der Gebärdensprache und der Gehörlosenkultur eingeschätzt, was einen Wink gibt auf das Feld der Sprach- und Kulturforschung. Anders gesagt: Das CI lässt sich ebenfalls als eine von Sigrid Weigel formulierte „Figuration() von Stimme und Ohr“ bedenken.

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Inwiefern sich die Gehörlosenkultur einer „Gehörlosengemeinschaft“ seit 2006 unter der zunehmenden CI-Versorgung von Kindern und Erwachsenen verändert hat, kann nicht eingeschätzt werden. 2020 erschien allerdings ein umfangreicher Artikel zur CI-Debatte mit dem Titel Ein Implantat für gehörlose Kinder, das nicht alle Eltern wollen mit dem Untertitel „Die Gehörlosen-Community fühlt sich im ihrem Kampf um Anerkennung dadurch bedroht“.[19] Die Digitalisierung durch das CI wird weiterhin als Angriff auf die „Identität und Kultur“ gehörloser Menschen betrachtet: „Für viele, wenn nicht sogar für die meisten taub geborenen Menschen ist Gehörlosigkeit keine Behinderung, sondern Teil ihrer Identität und Kultur, die von der hörenden Mehrheitsgesellschaft missachtet, diskriminiert und bedroht wird“, schreibt Marija Barišić. So wird die CI-Debatte, obwohl als marginal eingeschätzt, zu einem Feld für die Kulturforschung. Obwohl der „Soundprozessor“ im Artikel mehrfach erwähnt wird, stellt Marija Barišić ihn nicht in den größeren Kontext der Programme und der Digitalisierung. Die Stimme und das Hören von Stimmen wird allerdings mehrfach erwähnt.

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Mit ihrem kulturwissenschaftlichen Vortrag zu Beichtstuhl, Couch und Programm macht Sigrid Weigel auf Kulturen des Sprechens und Hörens in einem historischen Abriss von den Ohrenstelen der Ägypter bis zum Programm aufmerksam. Die Kultur der Ohrenstelen wird seit langer Zeit nicht mehr praktiziert. Die Kultur der Ohrenbeichte vor allem in der Katholischen Kirche wurde seit jeher nicht nur von kleinen Mädchen als seltsam empfunden – „Ich wusste doch gar nichts zu beichten“, wiederholt meine Mutter(89) oft. Sie ist durch Kirchenaustritte allemal am Schwinden. Ob die psychoanalytische Kultur der Couch bereits ihren Zenit überschritten hat, lässt sich schwer sagen. Welche Figurationen von Stimme und Ohr die Digitalisierung noch hervorbringen wird, wissen wir nicht. Marcel Beyer machte in seiner wunderbaren Lecture-Performance eine ganze Reihe von außergewöhnlichen Vinyl-Schallplatten zum Thema, die er durch einen selten gewordenen Plattenspieler zum klingenden Rauschen brachte. Die Vinyl-Kultur, die heute eine besondere Kennerschaft erfordert und die 2016 noch mit einer Sonderedition des Brahms-Zyklus mit Simon Rattle von den Berliner Philharmonikern als Direktmitschnitt gefeiert wurde[20], ist quantitativ am Abklingen. Zweifellos ging es dabei um eine Figuration von Stimme und Ohr.

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Beim Direktmitschnitt und Plattenspieler sind in der Vinyl-Kultur bereits Maschinen zwischen Stimme und Ohr im Spiel. Während Marcel Beyer das Rauschen und das Nicht-Verstehen der Stimmen besonders mit der Maschine des Plattenspielers vorführte, ging es den Berliner Philharmonikern um einen reinen Klang durch die Direktheit des Mitschnitts. Zur Produktion der Vinyl-Platten wurde im Emil Berliner Tonstudio mit dem Meistersaal in der Köthener Straße eine technisch hoch ausdifferenzierte Maschine eingesetzt. Die menschliche Stimme der Orchestermitglieder und ihres gefeierten Chefdirigenten wurde in der Philharmonie durch eine eigene Installation direkt aufgezeichnet, um über Plattenspieler und exquisite Lautsprecher an das Ohr genießender Kenner in aller Welt gebracht zu werden. Maschinen generieren Kulturen und gefährden andere. Immer noch haben Menschen Praktiken entwickelt, mit Kulturveränderungen umzugehen. Vielleicht ist das das Erstaunliche an der conditio humana. Die conditio humana lässt sich selbst nicht fassen, vielmehr muss sie unablässig in den Kulturen bedacht werden.

Torsten Flüh[21]

Mosse-Lectures
Nach der Stimme
Videos der Lectures auf YouTube


[1] Ulrich Schnabel: Selbst macht klug. In: Die Zeit N° 6 Print vom 2. Februar 2023 (ohne Seitenzahl).

[2] Helmuth Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin: De Gruyter, 1965, S. 16.

[3] Utz Maas: Pleßner, Helmuth. In: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945. Zuletzt aktualisiert: 03. Mai 2018.

[4] Ebenda.

[5] Johannes F. Burow,  Lou-Janna Daniels, Anna-Lena Kaiser, Clemens Klinkhamer, Josefine Kulbatzki, Yannick Schütte, Anna Henkel [Hrsg.]: Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners. Baden-Baden: Nomos, 2019.

[6] Ebenda S. 11.

[7] Zitiert nach gehörter Mitschrift während des Vortrags.

[8] Richard Paluch: Die technisch vermittelte Umweltbeziehung des leiblichen Selbstes in virtuellen Welten. In: Johannes F. Burow, …: Mensch … [wie Anm. 5] S. 153

[9] Ebenda S. 156.

[10] Helmuth Pleßner: Die Stufen … [wie Anm. 2] S. 16.

[11] Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne. In: ders.: Gesammelte Schriften III. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 343.

[12] Ebenda S. 345.

[13] Siehe zu Ludwig Wittgenstein auch: Torsten Flüh: Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur. Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2022.

[14] Helmuth Plessner: Anthropologie … [wie Anm. 11] S. 346.

[15] Ebenda S. 348.

[16] Cochlear: Prof. Dr. med. Heidi Olze: Erfolgt die Cochlea-Implantation automatisch an beiden Ohren? YouTube 25.03.2013.

[17] Vom Hörensagen durch den CI-Techniker in der HNO-Klinik der Charité mitgeteilt.

[18] Deutscher Gehörlosen-Bund e.V.: Stellungnahme zum Cochlea-Implantat (CI). (Ohne Datum ohne Ort), S.4. (PDF 2006)

[19] Marija Barišić: Ein Implantat für gehörlose Kinder, das nicht alle Eltern wollen

Mit dem Cochlea-Implantat können Menschen wieder hören. Die Gehörlosen-Community fühlt sich in ihrem Kampf um Anerkennung dadurch bedroht. In: Der Standard 8. März 2020, 12:00.

[20] Siehe: Torsten Flüh: Einzigartig direkt. Zur neuesten Veröffentlichung der Brahms-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 26, 2016 19:09.

[21] Siehe auch: Torsten Flüh: Macht ein CI schneller? Marathon-Bestzeit mit Cochlea-Implantat. In: Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft e.V. (Hrg): Die Schnecke Ausgabe 70, 2010, S. 18-19.

Zerspringende Identitäten

Moderne – Identität – Übertragung

Zerspringende Identitäten

Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele

Die Deutschlandpremiere von Ming Wongs „Lecture-Performance with Two Pianos“ Rhapsody in Yellow am Freitagabend im Haus der Berliner Festspiele mit den Pianisten Ben Kim und Mark Taratushkin riss das Publikum zu einem Begeisterungssturm hin. Das hatte natürlich mit der Musik und der artifiziellen Bildtechnik zu tun. Seit seiner Uraufführung am 12. Februar 1924 in der Aeolian Hall in New York City reißt die Rhapsody in Blue von George Gershwin Konzertbesucher auf der ganzen Welt mit. Die Hörer*innen des Zentralen Symphony Orchesters der Volksrepublik China waren ebenfalls enthusiasmiert, als Yin Chengzong 1970 nach Ausbruch der Kulturrevolution die Uraufführung des Yellow River Piano Concerto für das Revolutionsfernsehen einspielte. Nun entfacht Ming Wong mit seiner Rhapsody in Yellow ein visuelles und akustisches Feuerwerk.

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Die entscheidende Frage nach der Identität der Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China wird von Ming Wong, der in Berlin lebt und arbeitet, mit seiner audiovisuellen Komposition Rhapsody in Yellow bearbeitet. Die Tischtennisplatte im Foyer an der Schaperstraße gibt dafür den Ort einer „Ping-Pong-Diplomatie“ ab und die Schnelligkeit des Sports wird zum Modus der Komposition. Die Frage nach der Identität kristallisiert sich um die europäische Musiktradition und Kompositionstechnik, die George Gershwin in der Rhapsody in Blue mit dem Klavierkonzert bestätigt und auf neuartige Weise mit Jazz überschreitet. 1939 hat Xian Xinghai nach dem europäischen Kompositionsprinzip – er hatte in Paris bei Paul Dukas studiert – die Kantate vom Gelben Fluss komponiert. Amerika und China finden mit einem Abstand von fünfzehn Jahren somit ihre nicht nur akustische Identität in der europäischen Musiktradition und einen europäischen Erzählmodus in der Musik.

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Die Rhapsody in Yellow hatte ihre Welturaufführung nicht in New York, Peking, Paris oder Singapore, sondern in der Hauptstadt der Steiermark, Graz, am 22. September 2022 auf dem Festival steirischer herbst. Weil es Ming Wong um Kino und Populärkultur geht, darf an dieser Stelle angemerkt werden, dass die im wahrsten Sinne Inkarnation, Fleischwerdung des amerikanischen Traums zumindest der 80er Jahre Arnold Schwarzenegger ebenfalls in der Steiermark und gewiss mit einem Laut das Licht der Welt erblickte. Die Kombination eines Vortrages mit einem Klavierkonzert für zwei Klaviere und historischen Filmausschnitten unter Abmischung historischer Orchesteraufnahmen dürfte in dieser Form technisch absolut neu sein. Das Livekonzert verschmilzt mit fortgeschrittenster Digitalität, bis sich die Kadenzen der Rhapsody in Blue und des Yellow River Piano Concerto zur Ununterscheidbarkeit in einem Crescendo überschneiden.

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Im September 2022 hatte Yannick Nézet-Séguin beim Musikfest die Symphonie Nr. 1 in e-Moll von Florence Price aus dem Jahr 1932 als Anknüpfung an die Symphonik Antonín Dvořáks vorgestellt.[1] Price komponierte 8 Jahre nach der Rhapsody in Blue ihre Symphonie für die Vereinigten Staaten von Amerika in einer europäischen Musiktradition. Anders als die Rhapsody in Blue verzichtete sie auf eine Kombination mit dem Jazz als Populärmusik in einer neuartigen Form. Bei der Frage um Musik als nationale Identität nimmt Antonín Dvořák z.B. mit den Slawischen Tänzen, die er zwischen 1878 und 1886 komponierte, für Tschechien in Europa eine entscheidende Funktion ein.[2] Nicht weniger wichtig wird zu jener Zeit Bedřich Smetanas sinfonische Dichtung Má vlast (Mein Vaterland) mit der ca. 12 minütigen Vltava (Die Moldau). Damit war ein musikalisches Format konstruiert, das sowohl in der Symphonie Nr. 1 von Price wie von Gershwin in der Rhapsody in Blue als auch von Xian Xinghai mit der Kantate vom Gelben Fluss wiederholt, übertragen und abgewandelt wurde.

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Florence Price geriet mit ihrer Symphonie Nr. 1 als Frau und Farbige in Vergessenheit, während Leonard Bernstein seit den 50er Jahren die Rhapsodie in Blue für den Kanon der amerikanischen Symphonie-Konzertprogramme formalisierte. Das war insofern neuartig und überraschend, als George Gershwins epochale Komposition in die populäre Musik abgedrängt worden war. Dazu trug vor allem Paul Whitemans Revue-Film The King of Jazz (1930) bei, in dem die Rhapsody in Blue zur spektakulären Revue-Nummer mit einem ganzen Jazz-Orchester in einem riesigen türkisfarbenen Konzertflügel transformiert wird. 5 junge Männer im Frack sitzen an den riesigen Taten, als wären sie Fabrikarbeiter an einer großen Maschine und illustrieren den Klavierpart. Neuartige Überblendungen in Technicolor lassen den Pianisten im Showspektakel verschwinden. Jede Note muss betanzt und bebildert werden. Glitzernde Kristalllüster verbreiten Luxus und Wert der Komposition.

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Die allerneuesten technischen Mittel des Farb- und Tonfilms werden von Paul Whiteman, der George Gershwin zur Komposition der Rhapsody in Blue für den Broadway angeregt hatte, mit der Musik kombiniert, um eine Visualisierung der Musik beispielsweise durch schnelle, rhythmische Schnitte zu erreichen. Die Rhapsody in Blue als Filmrevue wird auf einen afrikanischen Trommeltanz mit einem schwarzen, scheinbar nackten Tänzer geschnitten, dessen Choreographie in die weißen Körper im Frack und Zylinder der Revuegirls auf der Showtreppe übertragen wird. Anders gesagt: Paul Whiteman als Jazz-Bandleader nimmt visuell explizit ein Whitewashing des Jazz über das Format der Revue in The King of Jazz vor. Ming Wong schneidet mit exquisit aufgearbeitetem historischen Filmmaterial die visuellen Interferenzen von Rhapsody in Blue und Yellow River gegeneinander. Regionale, ethnische Volksmusik wird von Xian Xinghai und Yin Chengzong durch das europäische Kompositionsprinzip sinologisiert und nationalisiert.

        

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Popularisierung und Kanonisierung werden von Ming Wong in seiner Lecture-Performance auf höchst unterhaltsame Weise erforscht. Für den Berichterstatter kommt es immer wieder zu Interferenzen: Klingt der Ruf des Fischers in dem chinesischen Film zum mythologischen Gelben Fluss nicht nach Karibik? Spielen da gerade zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele von Los Angeles 1932 dutzende, wenn nicht hunderte Pianisten im Stadion die Rhapsody in Blue? Militärisch-industrieller Massenaufmarsch der Pianisten? Revuefilm trifft Nation? Ming Wong hat einzigartiges Filmmaterial gefunden, aufgearbeitet und arrangiert. Zwar beginnt die Lecture-Performance mit der „Ping-Pong-Diplomatie“ der frühen 70er Jahre, aber in der Musik stellen sich die Interferenzen schon viel früher ein. Die Popularisierung der Musik im Dienste einer nationalen Identität oder besser noch umgekehrt: die Musik als Popularisierung des Konzepts nationaler Identität: Tschechien: USA: China: Volksrepublik China.

Screenshot: Ming Wong Berlin: Rhapsody in Yellow.

Henry Kissinger und Richard Nixon initiierten die Ping-Pong-Diplomatie 1971 zuerst über die gegenseitige Einladung der Nationalteams im Ping-Pong, whiff-whaff oder einfach Tischtennis. Wie Guo Liu und Alex Booth mit der Ausstellung ihrer Sammlung zur neuartigen Form der Diplomatie im Foyer zeigen, gehörten auf amerikanischer wie chinesischer Seite Bilder, Schallplatten, Porzellanpuppen wie Mao mit einem Tischtennisschläger in der Hand und Mini-Klaviere aus Eisen zur Visualisierung und Popularisierung von nationaler Politik. So gibt es denn auch Tischtennisschläger mit Karikaturen von Nixon und Mao. 1987 hatte bereits der Komponist John Adams die Oper Nixon in China mit einem kritischen Blick auf Richard Nixon komponiert, was anlässlich einer konzertanten Aufführung mit dem BBC Symphony Orchestra beim Musikfest 2012 besprochen wurde.[3] Wiederholt werden in die Lecture-Performance Ausschnitte aus Aufführungen der Oper eingearbeitet.

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Das Arrangement der Medien auf der Tischtennisplatte visualisiert zugleich einen Wettkampf der Moderne. Die nicht zuletzt nationale Identitätsbildung der Vereinigten (und höchst unterschiedlichen) Staaten von Amerika und Chinas als Nation, während die Berechtigung einer Nationenbildung im Chinesisch-Japanischen Krieg (1937 bis 1945) von Japan bestritten wurde, fand zentral über die Musik als nationales Argument statt. Für Nixon war der erste Besuch eines westlichen Staatsmannes nach Gründung der Volksrepublik China ein globaler Mediencoup. Doch zugleich nutzte 1972 die Kommunistische Partei Chinas mit Zhou Enlai als Premierminister den Besuch zur Darstellung eines von der Sowjetunion losgelösten national-kulturellen Machtanspruches. Die Kulturrevolution, während der ab 1966 zunächst westliche Musikinstrumente wie das als bürgerlich geltende Piano massenhaft zerstört worden waren, transformierte mit Yin Chenzongs Yellow River Piano Concerto klassische westliche Musik zu einem Propagandainstrument um.

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Die von Mao Zhedong und seiner vierten Frau Jiang Qing initiierte Große Proletarische Kulturrevolution kann einerseits als persönliche Machtstrategie  betrachtet werden, andererseits ist sie allererst eine Emanzipation von der russisch dominierten Sowjetkultur und ein Konstruktionsversuch der Identität Chinas.[4] Die Zerstörung westlicher Musikinstrumente wie dem Klavier und deren Wiederkehr unter kulturrevolutionären Vorzeichen mit Yin Chenzong unter der Fürsprache von Mao und Jiang, legt das Dilemma des multi-ethnischen chinesischen Reiches in der Moderne offen. Mao und Jiang mussten den Modus der musikalischen Identitätsbildung durch den Mythos vom Gelben Fluss als europäisches Modell – Vltava (Die Moldau) – übernehmen, um den eigenen Machtanspruch zu legitimieren. Insofern war die Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt 2017, zu einer Zeit als die V.R. China als Wiege der Globalisierung galt, unter dem Protektion von Xi Jinping in Berlin keinesfalls neu.[5] Gegen Ende der Rhapsody in Yellow spielt der Weltstar Lang Lang auf einem Konzertflügel mit dem China Philharmonic Orchestra vor dem Tor des Himmlischen Friedens zur Verbotenen Stadt das Yellow River Piano Concerto.

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Im Zuge der Rhapsody in Yellow als Komposition von Henry Hao-An Cheng werden die beiden Klavierkonzerte zwischen Klassik und Pop in einer Art Überbietung immer ähnlicher. Damit verwischen sich einerseits Grenzen der Genres wie sie von Anfang an in den Kompositionen angelegt waren. Andererseits bleibt die Apotheose durch die kulturrevolutionäre Mao-Huldigung – 东方红 /Dōngfāng Hóng/Der Osten ist rot – ausgespart. Wenn Lang Lang mit modischem Haarschnitt und fast schon an Liberace[6] erinnerndem Outfit mit Feuerwerk über der Verbotenen Stadt das Yellow River Concerto mit großem philharmonischen Orchester vor einem Massenpublikum spielt, dann hat sich der Kampf der Identitäten in eine Interferenz von George Gershwin und Yin Chenzong verflüchtigt. Die Verbotene Stadt als zentrale Mitte von 中国/Zhongguo/Mitte Land/Reich der Mitte hat sich in eine Art Revuepanorama verwandelt. – Die Identität zerspringt im Moment der postulierten Einheit.

Torsten Flüh

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Ming Wong


[1] Siehe: Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[2] Zu Antonín Dvořáks und Bedřich Smetanas Nationalmusik siehe: Torsten Flüh: Tschechische Klassik neu formatiert. Yannick Nézet-Séguins und Lisa Batiashvilis höchst bemerkenswertes Waldbühnenkonzert mit den Berliner Philharmonikern. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2016 20:48.

[3] Siehe: Torsten Flüh: History – berauscht von Geschichte. Edgar Varèses Amèriques und John Adams Nixon in China beim Musikfest 2012. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 12, 2012 17:28.

[4] Zur Sowjetkultur siehe: Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 16, 2017 21:47.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27.

[6] Zu Liberace siehe: Torsten Flüh: Der Horror der Kandelaber. Zu Liberace – Behind the Candelabra mit Michael Douglas und Matt Damon. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 14, 2013 21:59.

Marianastic!

Männlichkeit – Runway – Fashion

Marianastic!

Zu Lucas Meyer-Leclères Fashion Show Cum Dederit in St. Marien und Lucky Love während der Fashion Week Berlin

Die Fashion Week Berlin 2023 startet nach zwei Jahren der Lockdowns im Winter fulminant durch. LML zelebriert in St. Marien eine glamouröse Fashion Show mit Orgelsound und einem berückenden Final-Solo von Lucky Love mit Masculinity. Geschlecht, Couture, Körper werden vom Designer Lucas Meyer-Leclère nach dem Format der Fashion Show neu in Szene gesetzt. Körper-Diktate, wie sie bei Klum & Co. formuliert und durchgezogen werden, verwandelt LML in Kreationen des Selbst. Das kommt bei dem überwiegend U30-Publikum in Berlins einziger wirklichen Kathedrale und ältesten erhaltenen Kirche mit Mobile-Flashs und frenetischem Beifall der geschätzten siebenhundert Individuals an.

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Eine Fashion Show beginnt mit dem Warten vor dem Einlass. Vor der Marienkirche sind extra Feuerbecken aufgestellt, die nicht nur gut aussehen, sondern an denen sich die Besucher*innen bei ca. 0° C auch wärmen können. Bei den Fashion Shows wirkt das Publikum immer zugleich mit. Klamotten, Haarschnitte und -farben, Piercings und Tattoos, Vintage und Originals werden vorgeführt. Ein junger Mann fotografiert seine Freundin. Irgendwann nach 18:00 Uhr geht, der linke Flügel der Kirchentür auf. Helles Licht aus dem Vorraum. Wird die Registrierung auf dem Mobile – „You’re all set! Hello! Thank you for registering. We look forward to welcoming you to the show.” – kontrolliert? Die erleuchtete Tür funktioniert wie der Vorhang des Zeuxis. Wann werden wir endlich hinein und sehen dürfen, was LML-Studio uns zeigt? Die Ungeduld, die durch den gemalten Vorhang von Parrhasius in Zeuxis geweckt wird, ließ ihn siegen.[1]   

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Die Ungeduld des Sehen-wollens muss in feinen Steigerungen geweckt werden. Die Ungeduld des Sehen- und Wissenwollens hat Jacques Lacan am 4. März 1964 an der École Normale Supèrieur in Paris mit einem Wink auf die Legende von Zeuxis angesprochen. Um die Ungeduld zu wecken, wird in St. Marien viel Personal aufgewendet, das vermeintlich kontrolliert, wer hinein und einen Platz einnehmen darf. Da gibt es so etwas wie die Crowd und die Fews. Kontrolle und Hostship überschneiden sich in den meist jungen Frauen, die die Plätze anweisen. Eine etwas reifere Frau weist in dieser Show vor dem Altarraum die exponierten Seitenplätze an. Auf den Stufen des Altarraums sitzen die Fotograf*innen mit leistungsstarken Objektiven und Blitzgeräten. Die Sensoren der Infrarot-Autofokusse werden später die Modelkörper abtasten. Nur für einen Sekundenbruchteil werden die Models am Turningpoint ihren Körper anspannen. Direkt am Catwalk und Turningpoint – LML-Studio-Logo – sitzen sich Frauen und Männer gegenüber, die ihr Styling zeigen. Probably celebrities! Eher Maßkörper und Maßkleidung.

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Heute gehört das Smartphone zum unverzichtbaren Gadget einer Fashion Show. Flash. Das Smartphone mit Livevideomodus wird aktuell zum wichtigsten Accessoire einer Fashion Show. Flash. Und mit dem Facebook Livemodus werden im besten Fall hunderte Videos gleichzeitig von der Fashion Show gestreamt. Smartphones generieren Aufmerksamkeit wie einst die Modemagazine mit gefürchteten Modekritikerinnen wie Anna Wintour. Vermutlich sind einige Fashion-Blogger*innen anwesend. Häufiger wird das Smartphone neben der Kreditkarte auch bei Männern aus einer kleinen Umhängetasche gezogen. Die darf ein bisschen kinky wirken. Die Umhängetasche sieht nicht nach Smartphone aus, bietet allerdings genau dafür einen Stauraum. Und sie wird natürlich längst gebranded, sollte also als Marke auf den ersten Blick erkennbar sein. Marken lassen Wissen zirkulieren.

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Die Dramaturgie der Fashion Show beginnt somit lange bevor, die Kleidungsstücke und Looks auf dem Runway oder Catwalk präsentiert werden. Wer später zur Show erscheint, zelebriert quasi seinen eigenen Auftritt. In der Marienkirche galt das umso mehr, als der Mittelgang des Kirchenschiffes mit seinen einst hochmodernen Eisenplatten aus dem 19. Jahrhundert zwischen den Kacheln als Runway genutzt wurde. Da der Berichterstatter recht zeitig über das linke Seitenschiff einen Platz auf einer Kirchenbank vorne am Turningpoint eingenommen hatte, wurde ihm die ganze Show der Late Fews geboten, während sich die Reihen füllten. Kommen Sie spät, fast zu spät! Dann bekommen Sie zwar nicht die 15 minutes of fame wie bei Andy Warhol, aber 15 Sekunden Wow! – Aufmerksamkeit. Profis aus New York, Paris oder Milano wissen das natürlich auch in Berlin zu nutzen. Die eigentliche Show dauert 10 bis 15 Minuten.     

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Die Schnelllebigkeit der Mode, die die Fashion Shows entfachen und der sie zugleich unterworfen sind, verlangt heute paradoxer Weise Nachhaltigkeit. Junge, klimakrisengeschüttelte Menschen wollen nachhaltig konsumieren. LML produziert nachhaltig und in Handarbeit in Berlin! Möglichst hochwertiges Vintage wie das Smokinghemd zerschnitten und von Hand neu kombiniert vernäht. Das unterscheidet das Lable von der Modeindustrie des 1-EURO-T-Shirts aus den Nähmaschinenghettos der Fast Fashion von Bangladesch. Georgia Bynum schrieb 2021 in THE IMPACT OF FAST FASHION IN BANGLADESH, dass die Löhne, die in der Garment industry in der Hauptstadt Dhaka als globaler Hauptstandtort bezahlt würden, nicht einmal zum Leben reichten. Nach Merriam Webster definiert sie Fast Fashion als einen Ansatz „to the design, creation and marketing of clothing fashions that emphasizes making fashion trends quickly and cheaply available to consumers”.[2] Die Lust auf die Verfügbarkeit muss allerdings durch Werbung und Vorhänge geweckt werden. Mehrfach verbrannten oder erstickten Näherinnen in Bangladesch an ihren Arbeitsplätzen.

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Das Paradox des Konsums sorgt für das Hintergrundrauschen jeder Fashion Show. Gerade junge Menschen, die sich in der Schule mit Klimakrise, Fast Fashion und den Bränden in den Modefabriken z.B. im Dezember 2013 – Bangladesh factory fires: fashion industry’s latest crisis[3] – beschäftigt haben, wissen, dass die Fast Fashion Industry mörderisch ist. Seit der Zeit um 2013 ist die Letalität des Konsums vom T-Shirt bis zum iphone jedem und insbesondere jungen Menschen bekannt. Während der Covid-19-Pandemie wurden die Kleidungsfabriken in Dhaka ebenso wie die Foxconn-Fabriken fürs iphone in der V.R. China zu Brennpunkten von sozialen und ethischen Fragen in der Modewelt. Georgia Bynum setzt auf wenig erfolgversprechende Reformen:
„The garment industry is deeply ingrained in Bangladesh. If the effects of the COVID-19 pandemic taught any lesson, it is that the solution is not as simple as boycotting. Removing fast fashion would be removing almost the entirety of the Bangladeshi economy. Instead, the solution is reform.“[4]

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Die Fashion Show als Format der Präsentation von Mode ist erstaunlicherweise kaum zum literarischen Thema geworden. Sie ist ein Format, das schlechthin nicht erzählt und kaum erforscht wird. Lauren Weisbergers Roman The Devil wears Prada (2003) erzählt weniger vom Runway, denn von Machtkonstellationen in der Modewelt. Obwohl der Runway einen Raum der Macht in der Modewelt abgibt, wird die Erzählung ins Zwischenmenschliche verschoben. Gleichwohl hat Erliska Erliska 2017 mit einem marxistischen Feminismus Power and Gender Oppression[5] in dem Roman untersucht. Macht und Geschlechterunterdrückung in der Chefinnenetage der Modewelt, für die die Modejournalistin Anna Wintour sozusagen Model stand, spielen sich paradoxerweise in einem Magazin mit dem Namen Runway ab, bearbeiten diesen als Format indessen so gut wie gar nicht. Der Runway und die Fashion Show werden nahezu ausgeblendet.
„Dependence is the next indicator that shows the exercise of power over others. Here it can be seen that the proletariat’s fate is on the bourgeoisie’s hand. The condition is illustrated when Emily, Miranda’s first Assistance, repeatedly reminds Andrea that their leader, Miranda is their priority. A little mistake or ignorance means that their career in Runway will end (Weisberger, Ch.5 p.47). This is the way Miranda uses her power toward her workers by reminding them that their careers depend on Miranda’s hand.”[6]

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Die Macht in der Modewelt wird damit nicht zuletzt vom Runway auf die Herausgeberin der Vogue bzw. Runway übertragen. Doch die Hochglanzfotos vom Turningpoint des Runways – Shoot! Flash! Turn away! – üben eine millionenfach reproduzierte visuelle Macht aus. In den internationalen Reality-Formaten von Germany`s Next Topmodel mit der Machtfigur Heidi Klum wird zwar ständig der Runway vorgeführt, um ein Casting, nicht aber die Mode zu illustrieren. Die Figur des Chefmodels Heidi Klum hat sich in der Öffentlichkeit dabei kontinuierlich zwischen Mutterfigur und Generalin über die Armee der deutschen Models entwickelt. Öffentlich werden Frauenkörper formatiert und standardisiert. Auf dem Runway wird eine strenge Selektion mit der Aussicht auf einen internationalen Modeljob betrieben. Doch der Runway selbst darf nie, thematisiert werden! Shoot! Flash! Turn away! Was auch immer auf den Fashion-Blogs oder den Seiten der Modemagazine erscheint, wird sich am Turningpoint ereignet haben. Blitzschnelle Rechenprozesse der Autofokusse schießen die Couture und das Material ab. Shoot! Flash! Turn away!

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Die Macht der Frauen in der Modewelt wird durch patriarchale Muster der Unterwerfung generiert. In Weisbergers Roman wird die Figur der Mutter mit der des kapitalistischen Ausbeuters über Gefühle bzw. Gefühlswissen verschnitten: „Deep in her heart, Andrea feels that the relationship between her and Miranda is like a predator and baby mammals.”[7] Weisberger erzählt die Macht der Frauen als eine der Gefühle und des Gefühlswissens, das sich in Widersprüche verstrickt. Das Bild der mächtigen Frauen in der Modewelt, wird nicht nur mit widerstreitenden Gefühlen angelegt, sondern reproduziert nicht einmal so sehr auf dem Laufsteg, als vielmehr daneben das christliche Urmotiv von Mutter und Hure. Aufopferung und Geschäftssinn werden nicht nur in Miranda oder dem Model Heidi Klum reproduziert, sondern funktionieren genau in diesem kapitalistischen Modus. Ob oder wie sich die Machtverhältnissen verändern ließen wird gar nicht erst angeschrieben, weil es um vermeintlich persönliche Gefühle und Schwächen der Frauen geht. Gerade damit wird ein patriarchales Frauenmodel bestätigt. Gender und Geschlechterbilder werden allerdings auf dem Runway entworfen und reproduziert.

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The Devil wears Prada als Erzählung aus der Modewelt könnte unappetitlich wirken, weil Sprachformen wie Verleumdung, Beleidigung und Drohung prominent angewendet werden. Doch genau diese Erzählung als vermeintliche Enthüllung über die Mechanismen der Modewelt generierte nicht nur einen hochprofitablen Hollywoodfilm mit Meryl Streep, vielmehr noch feierte das gleichnamige Musical mit der Musik von Elton John im August 2022 seine Weltpremiere in Chicago. Allerdings fiel das Musical, das möglicherweise den Runway zu sehr zur Show mit Gesang machte, durch.[8] Models sprechen nicht. In der Grand Show des Berliner Friedrichstadt Palastes oder kurz The Palace spielt der Runway immer eine prominente Rolle fürs Showkonzept.[9] Nicht zuletzt haben Designer wie Manfred Thierry Muggler, Michael Michalsky, Jean Paul Gaultier oder Philip Treacy die Kostüme für die Grand Shows entworfen. Denn jede Fashion Show erzählt vom Runway und der Modewelt. Cum Dederit, als Titel für die Herbst/Winter 23/24 Kollektion von Lucas Meyer-Leclère erzählt anders vom Runway. Die zutiefst in der Modewelt verketteten patriarchalen Machtverhältnisse und Dichotomien werden gesprengt.

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LML-Studio arbeitet an der Schnittstelle von Design, Kunst und Diskurs, wie bereits im August 2019 mit Design Art von Donna Huanca’s Friends @ Gensler 13A besprochen wurde. Mode muss nicht neu erfunden werden, sie kombiniert als ursprüngliches Design immer mehrere visuelle und diskursive Felder miteinander. Lucas Meyer-Leclère, der in Berlin lebt und arbeitet, hat Erfahrungen bei Karl Lagerfeld u.a. in der internationalen Modewelt gesammelt. Deshalb funktioniert Cum Dederit als ganz große Fashion Show in St. Marien. Cum Dederit bringt die Evangelische Kirche in Berlin und die Gemeinde von St. Marien zusammen mit der Debatte um das Geschlecht und die Diversität. Sie sind jedem Kleidungsstück eingenäht. Auf den Pressesitzen liegt mit dem Programm Bertold Höckers Broschüre Homosexualität und Christentum aus. 2021 erklärte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ihre Schuld an queeren Menschen in St. Marien.[10] Entscheidend für den Erfolg war nicht das große Geld eines Luxusmodekonzerns, sondern Lucas‘ einzigartige Vernetzung von Kirchengemeinde und Modewelt.

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Cum Dederit knüpft an den Psalm 126/127 an. Bekannt ist der Psalm in der Komposition von Antonio Vivaldi. Die Psalmen sind von hoher semantischer Elastizität. Denn die Psalmen aus dem Hebräischen im Buch der Psalmen im Alten Testament gelten selbst als poetisch religiöse Texte. Die Form der Psalmen nach dem altgriechischen ψαλμός psalmós wird mit Saitenspiel oder Lied übersetzt. Cum Dederit ist insofern bereits eine Übersetzung aus dem Hebräischen und Altgriechisch, wobei die hebräische Zählung um eins vorausgeht. Deshalb ist der Psalm 126 nach der hebräischen Zählung Psalm 127. Die Übersetzung von Cum Dederit ins Deutsche bietet einige Schwierigkeiten. Wörtlich müsste cum dederit mit als er gab übersetzt werden. Doch im Psalm 126 wird Cum dederit dilectis suis somnum mit Denn seinen Geliebten gibt er Schlaf übersetzt. Nach der Lateinischen Formulierung ist das göttliche Geschlecht des oder der Gebenden irrelevant. Dederit allein kippt sogar temporal ins Futur mit wird geben. Anders gesagt: cum dederit lässt mehrere Übersetzungsmöglichkeiten zu, die vor allem um die göttlich-kreative Geste des Gebens kreisen.

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Der Runway, dessen deutsche Form als Laufsteg viel zu altbacken nach dem schmalen Präsentationsgang in einem Modehaus der 50er Jahre klingt, wird von LML-Studio exakt zum Ort der vielfältigen Überschneidungen in der Modewelt gemacht. Die Vielfalt unterläuft zugleich das Diktat, den Modebefehl beispielsweise der Männlichkeit von Boss. Der Mittelgang des Kirchenschiffes von St. Marien wird stattdessen zum Kreuzungspunkt von Ethik, Ökonomie, Klimadiskurs, Geschlecht, evangelische Kirchenpraxis und Communities. Innerhalb der 10 bis 15 Minuten wird auf dem Runway eine Art Welttheater der Geschlechter aufgeführt. LML schöpft das Format Fashion Show hochprofessionell aus und legt zugleich die Diktate und Dogmen der Modewelt offen. Das ist nicht einmal Karl Lagerfeld in Paris gelungen! Lucky Love singt in seinem Song Masculinity:
„What about my masculinity ?
What the fuck Is wrong with my body ?
Am I not enough ?
Who gives you the right to run to rules ?
What’s wrong with you ?”

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Das Zusammentreffen der Gemeinden, einer International Fashion Community und der evangelischen Kirchengemeinde St. Marien-Friedrichswerder Berlin, wurde nur durch gegenseitigen Respekt möglich. Respekt macht Design und das kurzzeitige Zusammentreffen allererst möglich. Heidi Klum oder Anna Wintour, nicht einmal Vivienne Westwood hätten mit ihrer Macht medialer Aufmerksamkeit eine Chance im Gemeindekirchenrat aus Gemeindegliedern und Pfarrer*innen gehabt, auch nur ein Casting, geschweige denn eine Fashion Show im Mittelschiff als Runway in St. Marien zu veranstalten. Hugo Boss und Adidas wären selbst mit ihrem Kampf ums Klimalabel beim Gemeindekirchenrat abgeblitzt. Beim Kauf eines Laufschuhs werden heute die Käufer*innen von den Mitarbeiter*innen im Adidas Flagship Store auf der Tauentzienstraße per Tablet gefragt, wie klimafreundlich sie die Marke Adidas bewerten. – Statt durch ökonomische Macht wurde Cum Dederit nur möglich durch Respekt.
„What about my masculinity ?
What the fuck is wrong with my body ?
Am I not enough ?
Or even too much ?
It would be shortsighted to try
Is it coming through you mind
That I don’t care
To be a man.”

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Marianastic als Titel lässt sich auf viele Weisen lesen. So stecken sowohl die Namen Maria wie Marian darin. In einigen Regionen und Namenskombinationen wird Maria als weiblicher wie männlicher Vorname im Deutschen verwendet, um somit das Geschlecht ambig lesbar zu machen. Von Sprache zu Sprache kann Marian, das Geschlecht wechseln. Im Deutschen ist Marian männlich, während der Name im Englischen für das weibliche Geschlecht verwendet wird. Der Name als Akt der Benennung macht das Geschlecht. Ebenso lässt sich fantastic mitlesen. Entscheidend ist für das kombinierte Titelwort, dass es im weltweiten Googlewissen so gut wie unbekannt, daher zwar einzigartig, aber arbiträr ist. Insofern passt Marianastic als Adjektiv für Cum Dederit.

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Die Models für LMLs Cum Dederit sind divers, sie passen in kein eindeutiges Schema von männlich oder weiblich, gesund oder krank, deutsch – GNTM! – oder anders, weiß oder farbig. Ein farbiges Model hat sichtbare Pigmentstörungen, Verletzungen im Gesicht, die zu Recht an eine Maske erinnern. An dieser Maske bricht visuell das rassische Wissen. Lucky Love gehört zum Freundeskreis von Lucas und seinem Partner Jens. Und dann beginnt Lucky Love auf dem Runway leise Masculinity a cappella nach dem Furor der Orgel von Jonas Sandmeier zu singen. Sein linker Arm ist amputiert. Das ist ein Statement zum Körper in der Modewelt und in einem Moment, in dem abertausende Männer, Frauen und Kinder in der Ukraine Gliedmaßen verlieren. Danach kommt nur noch der Höhepunkt einer klassischen Fashion Show mit dem Brautmodel, das eine Frau oder Transfrau sein kann. Wer will es entscheiden?! Wer hat das Recht darüber zu entscheiden? Es geht um ein Bild von Frau. Lucas Leyer-Leclère macht für einen Moment die Anbetungsgeste der Frau. – Dann zerspringt das Modebild im Applaus, den Flashs und dem Lächeln der Models ins Nichts.

Torsten Flüh

https://www.lml-studio.com


[1] „Zeuxis malte im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Daraufhin stellte Parrhasius seinem Rivalen ein Gemälde vor, auf dem ein leinener Vorhang zu sehen war. Als Zeuxis ungeduldig bat, diesen doch endlich beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten, hatte Parrhasius den Sieg sicher, da er es geschafft hatte, Zeuxis zu täuschen. Der Vorhang war nämlich gemalt.“ (Plinius, Nat. Hist. XXXV, 64) zitiert nach: Wettstreit der Künste: Zeuxis von Sandrat. (Legenden)

[2] Georgia Bynum: The Impact of Fast Fashion in Bangladesh. In: The Borgen Project May 26, 20221.

[3] Jason Burke: Bangladesh factory fires: fashion industry’s latest crisis. In: The Guardian Sun 8 Dec 2013 13.58 GMT.

[4] Georgia Bynum: The … [wie Anm. 2]

[5] Erliska Erliska: POWER AND GENDER OPPRESSION IN LAUREN WEISBERGER’S THE DEVIL WEARS PRADA AND SETH GRAHAM SMITH’S PRIDE AND PREJUDICE AND ZOMBIES. In: Bahasa dan Seni Jurnal Bahasa Sastra Seni dan Pengajarannya, Surabaya, August 2017, 45(2):121-131.

[6] Ebenda S. 125.

[7] Ebenda.

[8] Wikipedia: The Devil Wears Prada (Musical).

[9] Siehe u.a. Torsten Flüh: Traumheftig! Die neue Grand Show THE ONE im Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 18, 2016 20:56.

[10] Torsten Flüh: Redet freundlich miteinander. Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“. In: NIGHT OUT @ Berlin 29. Juli 2021.

Vom literarischen Kosmopoliten

Theater – Roman – Pandemie

Vom literarischen Kosmopoliten

Zu Alfred Henschke genannt Klabund – Ick baumle mit de Beene im Theater im Palais und seinem Roman Pjotr – Roman eines Zaren

Der literarische Kosmopolit berlinert und heißt Klabund. Noch zu Kaisers Zeiten hätte Henschke, mit Vornamen Alfred, womöglich ein wenig provinziell geklungen. Im Theater im Palais lassen Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler begleitet von Ute Falkenau am Klavier Alfred Henschke mit seinen Texten wieder aufleben. In der Neujahrswoche wird der Apothekersohn aus Crossen an der Oder zu einem heiteren Aufmacher des Jahres und der Weltliteratur. Denn Alfred Henschke schrieb in mehreren Sprachen, forderte Kaiser Wilhelm II. 1917 wegen des Krieges in der Neuen Zürcher Zeitung zur Abdankung auf und veröffentlichte 1923, also vor 100 Jahren den Roman Pjotr – Roman eines Zaren. Mit der Eröffnungssequenz schlägt Klabund eine andere Geschichtsschreibung an: „Pjotr ist geboren. Don, Dnjepr, Wolga, Oka treten über ihre Ufer. Schlamm wälzt sich über die Weizenfelder und viele Menschen ertrinken. Winterblumen neigen gebrochen ihre Häupter. Die Haselmäuse pfeifen vor Angst.“[1]

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Klabund, auf dessen programmatischen Namen zurückzukommen sein wird, hätte es sich nicht Freude träumen lassen, dass Pjotr im Internet heute als eine PDF der exklusiven Bodleian Libraries der University of Oxford in der 2. Auflage von 1923 allgemein zugänglich ist. Pjotr by Klabund world wide webed. Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler stellen nun Alfred Henschke neben Walter Benjamin u.a. im Rahmen der Berliner Geschichten im Theater im Palais vor. Klabund ist 2023 aus mehreren Gründen aktuell. 1925 veröffentlichte er in seiner Gedichtsammlung Harfenjule im Berliner Verlag Die Schmiede das Gedicht Die heiligen drei Könige, wurde von der NSDAP angezeigt und veröffentlichte im März einen offenen Brief mit dem Titel Gotteslästerung? in Siegfried Jacobsohns Weltbühne: „was dem einen sein Gott, ist dem andern sein Teufel“. Am 14. August 1928 starb er an den Folgen der langjährigen epidemischen, bakteriellen Tuberkulose. Krieg, Epidemie, Fieber und Tod beeinflussten Klabunds Namenswahl und Schreiben. Er war Kriegsgegner und formulierte seine Texte mit scharfem Witz.

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Der Klabund-Abend mit Musik von Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann und Dimitri Kabalewski (1904-1987) im Palais am Festungsgraben ermöglicht einige Verknüpfungen. Bis 1945 war das Palais Amtssitz des Preußischen Finanzministeriums. Davor hatte es schon die Schuch’sche Theatertruppe beherbergt. 1950 bis 1990 wurde es das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft bzw. Haus der Kultur der Sowjetunion genutzt. Die historische Aufladung des Gebäudes mit seinem anheimelnden Kammertheater mit 99 Sitzplätzen und einzelnen Tischchen zum Abstellen z. B. eines Zsa Zsa Gabor-Vermuth-Cocktails – kriegt man ja auch nicht überall – hätte Klabund ganz bestimmt zu einer humorvollen Geschichte inspiriert. Anno 2023 nach der „Zeitenwende“ wird die kleine Bühne mit den Berliner Geschichten zum Welttheater. Klabund machte Crossen an der Oder beispielsweise mit seinem Grünberger Feldzug zum Schauplatz von Weltgeschichte und mit der Anspielung auf „die geraubte Helena“ zur Weltliteratur. In ca. 1 Stunde und 40 Minuten bringen Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler die welthaltige Literatur von Alfred Henschke dem Publikum nah. Und die hat’s in sich.

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Pjotr, als eine Art satirischer Geschichtsroman wurde von Klabund im November 1922 im „Hause Buller in Speldorf“ geschrieben, wie es auf der Titelseite des Buches heißt. Seit 1916 hatte Klabund mit Moreau. Roman eines Soldaten und Mohammed. Roman eines Propheten (1917) eine neuartige Form der Geschichtserzählung entwickelt. 1928 erschien in diesem Titelformat noch Borgia. Roman einer Familie zu seinen Lebzeiten. Das Haus Buller in Speldorf lässt sich als Schreibort des Romans nicht verifizieren. Möglicherweise handelte es sich um ein Sanatorium an der Ruhr bei Mühlheim. Denn wie schon Moreau von Klabund 1915 in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke in Davos entstanden sein dürfte, waren die wechselnden Aufenthalts- und Schreiborte Klabunds mit seiner Tuberkuloseerkrankung verbunden. In Davos regte er gar eine „Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen“ zu schreiben an, die das Verhältnis von Isolation, Lesen und Schreiben sowie häufigen Ortswechseln anreißt.
„Man müsste einmal eine Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen schreiben, diese konstitutionelle Krankheit hat die Eigenschaft, die von ihr Befallenen seelisch zu ändern. Sie tragen das Kainsmal der nach innen gewandten Leidenschaft.“[2]

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Thomas Mann hatte bereits 1913 an seinem Sanatorium-Roman Der Zauberberg zu schreiben begonnen, der erst 1924 erscheinen sollte.[3] Ulrike Moser führt Klabund neben Christian Morgenstern in ihrem Kapitel Das Sanatorium als Lebensform prominent an, als Beispiel für Tuberkulosekranke, die gereist seien „von Sanatorium zu Sanatorium“, „getrieben von der Hoffnung auf Heilung oder zumindest einen kurzen Aufschub“. Klabund habe „immer wieder in Davos“ gekurt, „wo er 1928 mit 37 Jahren an der Schwindsucht“ gestorben sei.[4] Paul Raabe hatte 1990 Texte zu Klabund und Davos zusammengestellt. Raabe ordnet Klabund nicht zuletzt wegen seiner Veröffentlichungen im „expressionistischen Verlag von Erich Reiss“ (in Berlin), in dem auch Moreau und Pjotr erschienen sind, dem Expressionismus zu, um auf dessen „Außenseiterposition (…), die durch seine Krankheit erklärt werden kann“, hinzuweisen.[5]

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Um 1889 führte der Arzt Karl Turban, der selbst unter der Tuberkulose litt, einen „strengen Kurbetrieb“ mit Liegekuren ein.[6] Die „patentierten Liegestühle()“ werden von Klabund als Schicksal der Schwindsüchtige(n) formuliert: „Sie müssen ruh’n und ruh’n und wieder ruh’n“.[7] Die „langen Liegekuren“ vor allem am Nachmittag führen nicht nur zur „Muße“[8], wie es Raabe nennt, vielmehr wird der regelmäßige Zwang zum Nichtstun Denkprozesse freigesetzt haben, die ihrerseits die literarische Produktion beeinflussten. Eine Art Delirium in der Zeitform des Präsenz, wie es so markant im Pjotr gebraucht wird.
„Die Diener bekreuzen sich.
Sie wispern:
Ein Wolfskind ist geboren, ein Wolfssohn.
Die Brüder eilen, ihn zu begrüßen.
Eine alte Wölfin gelangt bis in den Hof und
jault hungrig nach dem Fenster des ersten
Stockes hinauf. Natalia Naryschkina, die
Zarenmutter, erwacht davon aus dem Schlaf.
Sie hält den Atem an und lauscht.“[9]

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Im Sanatorium findet das Leben als Ausnahmezustand statt. Erstens werden Tuberkulosekranke abgesondert wegen der Ansteckungsgefahr. Zweitens fliehen sie ins Sanatorium, um nicht sterben zu müssen. – „Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch.“ (Alfred Henschke, 31. Juli 1913)[10] – Und drittens dreht Klabund die isolierende Praxis im nicht ganz so strengen Sanatorium Haus Stolzenfels einfach um. Das soziale Manko, das die Tuberkulose mit sich bringt, sowie die Angst vor Ansteckung und Tod – „Die Haselmäuse pfeifen vor Angst.“ – werden von Alfred Henschke als Klabund in der internationalen Welt von Davos zu Fasching am 1. März 1916 trotzig berlinernd mit einem „Nu jrade!“ umgedreht:
„Es wird dringend ersucht, bereits zum Abendessen im Kostüm zu erscheinen. Nur Damen und Herren, bei denen Tuberkeln nachgewiesen sind, haben Zutritt. Der Infektion sind keine Schranken gesetzt. Schlittelverbot! Es herrscht ein rauher, aber herzlicher Ton. Nu jrade!
I. A. Klabuntata Klabore.“[11] 

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Auf ebenso spaßhafte wie todernste Weise wird das medizinische Wissen der Tuberkulose von Klabund im „Programm“ vom „Bazillenwalzer“ bis zur „Temperaturpolka“ literarisch transformiert.[12] Das volkstümliche Berlinern mit seinen reichen Verschleifungen und Auslassungen der Konsonanten – „Nu jrade!“ – verwendet Klabund auch, um das angstmachende Wissen zu unterlaufen. Man könnte das Humor oder eine humoristische Kombinatorik von paradoxen Begriffen nennen. Die Diagnose als Verfahren der Benennung einer Krankheit und ihrer Symptome wird durch die Kombinatorik ins Komische bzw. Lächerliche gekehrt. Klabunds frühes „Programm“ zum Fasching in der Welt der Tuberkulose gibt einen Wink auf seine literarischen Verfahren. Sie werden nicht nur gegen die Schrecken der Krankheit verwendet, vielmehr werden damit Wissensformationen angegriffen.
„Allgemeiner Rippenresektionsgesang (Chor.)
Auftreten des Prestidigitateurs »Henri bleu« sowie
der verschiedensten Rasselgeräusche.
(Liege) Sackhüpfen. (I. Preis: ein Thermometer)
Elegabal Nachtschweiss, der Künstler am Trapez
Das Tangofieber im Fiebertango“[13]

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Das Berlinern wird von Alfred Henschke alias Klabund nicht zuletzt mit dem Gedicht Ich baumle mit de Beene in Harfenjule 1927 zur Sozialkritik eingesetzt. Gabriele Streichhahn singt Ick baumle mit de Beene nach der Komposition von Friedrich Hollaender mit dem Ton und der Gestik mädchenhafter Unschuld. Was zunächst als volkstümliches Kinderlied daherkommt, erweist sich als eine Art Autobiographie der Prostitution und sexuellen Abweichung. Prostitution als soziale Frage ist um 1920 insbesondere in den deutschen Großstädten und beispielsweise bei Magnus Hirschfeld im Institut für Sexualwissenschaften im Tiergarten ein umkämpftes Thema. 1919 hatte Hirschfeld Richard Oswald für den Film Das gelbe Haus/Die Prostitution/Im Sumpf der Großstadt (§ 184 StGB etc.) beraten.[14]

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Klabund nutzt das Berlinern, um mit mit dem Jargon das Moralwissen der gebildeten Schichten und staatlichen, sittenpolizeilichen Macht zu konterkarieren. Während insbesondere die Katholische Kirche gegen die Prostitution mit ihrem Moralcodex argumentiert und eine erste Abtreibungsdebatte abschmettert, wird von Klabund in Ich baumle mit de Beene das Thema als Problem von ungewünschten Geburten, Bildung, Arbeitslosigkeit und Homosexualität formuliert:
„…
Neulich kommt ein Herr gegangen
Mit ’nem violetten Shawl,
und er hat sich eingehangen,
und es ging nach Jeschkenthal!
Sonntag war’s. Er grinste: „Kleene,
wa, dein Port’menée is leer?“
und ich baumle mit de Beene,
mit de Beene vor mich her.

Vater sitzt zum ’zigsten Male,
wegen „Hm“ in Plötzensee,
und sein Schatz, der schimpft sich Male,
und der Mutter tut’s so weh!
Ja so gut wie der hat’s Keener,
Fressen kriegt er, und noch mehr,
und er baumelt mit de Beene,
mit de Beene vor sich her.

Manchmal in den Vollmondnächten
is mir gar so wunderlich:
ob sie meinen Emil brächten,
weil er auf dem Striche strich!
Früh um dreie krähten Hähne,
und ein Galgen ragt, und er …,
und er baumelt mit de Beene,
mit de Beene vor sich her.“

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Klabunds Gedichte und Texte müssen genau gelesen und gehört werden. Grammatische Volten im Genus zwischen Feminum und Maskulinum lassen ganz andere als Kinderlieder entstehen. Der Vater muss offenbar in der in Berlin allseits bekannten Justizvollzugsanstalt „Plötzensee“ eine Strafe verbüßen, weil „sein Schatz, der schimpft sich Male“, also männlichen Geschlechts ist, während weiterhin der § 175 Strafgesetzbuch zur mannmännlichen Sexualpraxis gilt. Magnus Hirschfeld hatte mit Richard Oswalds Anders als die Andern 1919 in Berliner Kinos die Folgen des § 175 zwischen Erpressung und Selbstmord thematisiert. Erst 1929 deutete sich eine Gesetzesänderung im Reichstag an. Und auch „mein Emil“ streicht oder treibt sich nicht als Freier, sondern als „Stricher“ auf dem Strich herum. Gabriele Streichhahn präsentiert das Lied mit der intendierten Unschuld auf der Bühne des Theaters im Palais, obwohl das feminine Ich sich ebenso wie die Männer prostituiert. Klabunds Stärke liegt, wie er seinen Namen ab 1916 umschreibt, in der „Wandlung“. Nicht nur der Vagabund und der Klabautermann schwingen in Klabund mit, vielmehr wird die Ruhelosigkeit des Vagabunden für den früh an Tuberkulose Erkrankten auch eine Lebenspraxis im Wechsel der Sanatorien. Er wird ein umherirrender infektiöser Schreckensmann, der sich durch das Schreiben wandelt.

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Die Mehrdeutigkeit wird zur Signatur der Klabundschen Texte. Gern werden Angst und Schrecken in einer witzigen Wendung überhört oder überlesen. Ein derart lächerlicher Todernst wurde seit je in der deutschen Literatur – und schon bei Goethe im „Nachdenkliche(n) Leichtsinn“ – überlesen. So wird denn auch der Klabund-Abend im TiP vielschichtig und vieldeutig. Ein Augenzwinkern hier, ein Schmunzeln da, weist auf die Vieldeutigkeit des Gelesenen hin. In den 70er Jahren gab es durch die 68er ein kurzes Revival für Klabund. Aber die Klabund-Forschung bleibt dünn, wird durch das Volkstümliche wohl gar ausgebremst. Christian von Zimmermann kommentiert in der Klabund-Ausgabe 1999 Pjotr als „amoralischen Menschentypus, den der Autor ohne eigene moralisierende Parteinahme“ schildere.[15] 2023 liegen die Texte, die u.a. in Sanatorien artistisch schnell geschrieben wurden, weit zurück. Doch gerade die unscheinbaren Kurztexte greifen Themen der Moderne auf. Denn Klabund reagiert beispielsweise mit dem „Gedicht“ Leuchtet Ihre Uhr des Nachts? auf die moderne Reklame für mit Radium versehene Uhren. Die Reklamefrage, „ein gelbes Plakat mit blutroten Buchstaben (springt) in die Augen“, stürzte den Leser wie in E.T.A. Hoffmanns Sandmann die ganze Wahrnehmung ins Chaos.

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Die Reklamefrage wird von einem in der Münchner Kaufingerstraße flanierenden Ich plötzlich persönlich genommen. Denn sie soll persönlich genommen werden. Die Folgen der Reklamefrage – gleich Millionen Reklamefragen im Internet – stürzen den Leser in eine Krise, bis er eine neue Uhr mit „Radium“ kauft. – „Ich sitze im Keller und sehe des Nachts meine Uhr leuchten. / Manchmal ziehe ich sie auf, damit mein Herz nicht stehen bleibt.“ – En passant werden zugleich nationalistische Identitätssymbole wie das „Eiserne Kreuz“ sowie Kriegssouvenirs und -parolen entwertet.
„Was nützt es, daß ich mich mit Hindenburgseife wasche? Daß ich auf der Matratze „Immer feste druff“ schlafe? Daß ich ein Portemonnaie besitze mit dem Eisernen Kreuz ins Leder gepreßt? Daß auf meinem Taschentuche die Schlacht zwischen Metz und den Vogesen abgebildet ist? Daß ich eine Armbinde trage mit der Inschrift. „Gott strafe England?“ Daß mein Tintenfaß einen 42 cm-Brummer darstellt? Daß der Federhalter, mit dem ich schreibe, aus Patronenhülsen besteht? Daß ich mich jeden Tag mit dem nach einmaligem Gebrauch unfehlbar wirkenden Entlausungsmittel „Mackensen“ entlause?
Was besagt das alles, wenn ich keine Uhr besitze, die des Nachts leuchtet?
Weinend wachte ich den Morgen heran.“[16]

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Mit seinen sogenannten Gedichten entwickelt Klabund korrespondierend mit dem Roman Pjotr eine neuartige Form aus Erzählung und Sprachautomatik. Eine sozusagen wörtlich genommene Frage kann eine kaskadenförmige Sinnkrise auslösen. Sie funktioniert wie mit dem Reim im „Gedicht“ Ich baumle mit de Beene, in dem „schimpft sich Male“ auf „zum ´zigsten Male“ oder „dem Striche strich“ auf „so wunderlich“ reimt. Die Sprachautomatik des Reimens setzt für den jung verstorbenen, durchaus unbequemen, deutschen Dichter nicht zuletzt eine erstaunliche Produktivität frei. Unbequem war Klabund wegen der nicht nur bakteriellen, sondern der sprachlichen Infektion, die bereits einem zeitgenössischen Kritiker in der Basler Nationalzeitung aufgefallen war. Die kurzen, verdichtenden Sätze mit den widersinnigen Reimen werden als „glühende Raserei“ aufgefasst.
„Ein Mensch tobt in einer glühenden Raserei durch die Welt, stößt sich an ihr von Morgen bis Abend, sprudelt fortwährend besessene Worte, kämpft und ringt mit ihr ohne Unterlaß, lacht doch über sie, kann nicht aufhören sie zu lieben. Das ist Klabund.“[17]

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Mit dem Berliner Geschichten hat das Theater im Palais gleich neben dem Gorki Theater ein Theaterformat entwickelt, das u.a. Walter Benjamin, Gerhart Hauptmann, Ringelnatz und Alfred Henschke auf ebenso unterhaltende wie kluge Weise ins Interesse rückt. Lockt der Alfred Henschke-Abend mit dem Jargon – Ick baumle mit de Beene –, so stellt sich mit Klabund heraus, das im Berlinern einige Sprengkraft sitzt. Ute Falkenau als musikalische Leiterin erweitert die Lesungen und Lieder mit musikalischen Entdeckungen. Berliner Geschichten können also auch ganz anders funktionieren und z.B. zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Dichter Klabund führen. – Zum Jahresbeginn 2023 erinnert Klabund an die abklingende Covid-18-Pandemie und einen russischen Zaren, vor dem alle Angst haben sollen. Die Funktion der Sprache und der Geschichtserzählungen ist mit dem russischen Angriff auf die Ukraine nur allzu deutlich geworden. Klabund zeigt, wie man folgenreich Geschichten anders erzählt.

Torsten Flüh

Theater im Palais
Am Festungsgraben 1
10117 Berlin
Berliner Geschichten
Alfred Henschke genannt Klabund. Ick baumle mit de Beene.
nächste Vorstellung am 22. Februar 2023 19:30 Uhr  


[1] Klabund: Pjotr. Roman eines Zaren. Berlin: Erich Reiß, 1923. (Digitalisat)

[2] Zitiert nach: Wikipedia: Klabund. (Das Zitat und die Bekanntschaft mit dem ebenfalls tuberkulösen, jungen Dramatiker Hans Kaltneker in Davos werden nicht von Erich Raabe in „Klabund in Davos“ erwähnt. Es handelt sich hier offenbar um ein Zitat aus der Kaltneker-Forschung jüngerer Zeit.)

[3] Zur Tuberkulose-Epidemie und Roman siehe auch: Torsten Flüh: Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020. Wie die Kombucha-Brauerei Bouche in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23.Dezember 2020.
Und: ders.: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[4] Ulrike Moser: Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte. Berlin: Matthes & Seitz, 2018, S.89.

[5] Erich Raabe: Klabund in Davos. Texte Bilder Dokumente. Zürich: Arche Verlag, 1990, S. 7.

[6] Ulrike Moser: Schwindsucht [wie Anm. 4] S. 84.

[7] Erich Raabe: Klabund … [wie Anm. 5] S, 124.

[8] Ebenda S. 16.

[9] Klabund: Pjotr. [wie Anm. 1] S. 5-6.

[10] Zitiert nach Erich Raabe: Klabund … [wie Anm. 5] S. 15.

[11] Ebenda S. 20.

[12] Ebenda S. 23.

[13] Ebenda.

[14] Siehe: Torsten Flüh: Ehre und Erotik verdinglicht. Zur Sonderbriefmarke 150. Geburtstag Magnus Hirschfeld und der Ausstellung Erotik der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN  Juli 22, 2018 17:41.

[15] Christian von Zimmermann: Kommentar. In: Christian von Zimmermann (Hg.): Klabund. Werke in acht Bänden. Band 3. Heidelberg: Elfenbein Verlag, 1999, S. 312.

[16] Zitiert nach: Leselaube: Texte, Gedichte, Märchen, Zitate, Redensarten, Lieder. Klabund (eigtl. Alfred Henschke, 1890-1928) Leuchtet Ihre Uhr des Nachts?

[17] Basler Nationalzeitung zitiert nach Reklame in Klabund: Pjotr … [wie Anm. 1] S. ohne Zahl (168).

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Kriegswinter in Europa

Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne

Der Kurfürstendamm funkelte am 17. Dezember dank diverser Sponsoren in allerschönster Adventsbeleuchtung. Überall am Boulevard mit den Flagshipstores von Apple über Dior und Hermès bis Prada und Mientus hell ausgeleuchtete Luxusgeschäfte. Das Licht und die spiegelnden Scheiben blenden und locken, als der Berichterstatter von U-Kurfürstendamm unter dem legendären Café Kranzler mit dem 29er zum Lehniner Platz fährt. Sieht so Energiesparen im Kriegswinter aus? – Zwei Tage später wird der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, in den Tagesthemen vor einem erleuchteten Baum sagen, dass jede Beleuchtung für die russische Armee ein Ziel darstellen könnte. In der Hauptstadt der Ukraine bleibt es überwiegend dunkel und kalt, wegen anhaltender russischer Angriffe. Im Globe der Schaubühne spielen sie gleich Plagen, wie es kurz auf der digitalen Eintrittskarte steht.

Plagen mit einem Zitat von William Shakespeare aus dem Hamlet, erlebte seine Uraufführung am 16. September 2022. Drei Monate später ist das Projekt des ukrainischen Autors und Regisseurs Stas Zhyrkov, der bis zum Angriff der russischen Armee auf die Ukraine als künstlerischer Leiter das Left Bank Theatre, Kyiv, auf dem linken Neubauufer des Dnjepr, dem drittlängsten Fluss Europas nach Wolga und Donau, führte, brandaktuell. Stas Zhyrkov hatte 2019 zusammen mit Tamara Thurnova die Leitung des Kiewer Theaters für Drama und Komödie übernommen und reformiert. Plagen in der Übersetzung von Sebastian Anton mit Holger Bülow, Dmytro Olinyk und Oleh Stefan ist eine Art Dokumentartheater für Deutsche und Ukrainer*innen auf höchstem schauspielerischem Niveau geworden. Beim Schlussapplaus gibt es minutenlang Standing Ovations.

Der Dnjepr ist für die deutsche und europäische Wahrnehmung weniger mythologisch aufgeladen wie die Donau als österreich-ungarischer Kaiserreichsmythos oder die Wolga als ein zentraler russischer und sowjetischer Mythos, wie es Janet Hartley in ihrer Mosse-Lecture im Sommer entfaltet hat.[1] Über den Dnjepr gibt es keinen sowjetischen Musicalfilm wie Wolga, Wolga von 1938. Die raumordnende Funktion des Dnjepr wird aktuell weniger an Kiew als vielmehr an dem im November von russischen Truppen befreiten Cherson diskutiert. Das linke Ufer des Dnjepr liegt der russischen Seite näher. In den dreißiger Jahren gehörten der Dnjepr und das ukrainische Territorium zwar schon zur Sowjetunion, aber erst in den 40er Jahren mussten die Ukrainer ihre Familiennamen der russischen Schreibweise anpassen, wie das Publikum von Oleh Stefan quasi als Aufmacher des Theaterabends in der Schaubühne erfährt. Denn er war russisch-sowjetisch aufgewachsen und hatte sich gar als angehender Schauspieler an der russischen Theaterkultur orientiert.

Der Traum von einer Karriere als Schauspieler in Moskau verband Dmytro Olinyk und Oleh Stefan. Moskau war im Sowjetsystem das Traumziel für eine Karriere der Menschen in Kiew und der gesamten Ukraine. Wieviel Russland ist die Ukraine? Diese Frage wird nicht zuletzt mit dem brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russischen Föderation unter der Leitung von Wladimir Wladimirowitsch Putin auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 heiß und blutig umkämpft. Die Namensänderung, die Oleh Stefan durch Gespräche mit seinen älteren Familienmitgliedern von „Stefanow“ vornahm, basiert auf anderen Erzählungen als denen, mit welchen Putin seine Invasion versucht historisch zu rechtfertigen. Putin im Kreml ist kein Zar des 19. Jahrhunderts, sondern ein ehemaliges Mitglied einer St. Petersburger Straßengang im Sowjetsystem, das 1989 als fast allmächtiger KGB-Offizier in Dresden die Implosion seiner Macht erleben musste.

Die humorvoll erzählte Geschichte des Namens bzw. Familiennamens und der russischen Karriere, die die beiden geflüchteten, ukrainischen Schauspieler verbindet, handelt von Umschreibungen. Sie stellen plötzlich Fragen danach, wer und wie sie sein, denken und heißen wollen. Die Arbeit von Schauspielern besteht darin, sich permanent in andere Personen zu verwandeln. Die Verwandlung oder Umschreibung vom sowjetischen Pionier russischer, sagen wir, Bauart in einen ukrainischen Schauspieler verlangte diesen beiden Schauspielern einiges ab. Abgeschlossen war die Umschreibung vermutlich ganz und gar nicht, als der Angriffskrieg am 24. Februar über sie hereinbrach. Kurz darauf sollten sie als Männer das ukrainische Territorium verteidigen. Pavlo Arie hat in seinem Tagebuch des Überlebens diesen Einbruch formuliert.
„Erster Tag: 24. Februar 2022. Der alles umfassende Krieg beginnt für mich mit dem Wort KRIEG.
Der Lärm einer Explosion weckt mich auf. Das erste, was ich sehe, ist das Leuchten des Handydisplays. Dort steht: MAMA. Ihre Sprachnachricht lautet: KRIEG.“[2]   

Das Globe in der Schaubühne am Lehniner Platz ist auf räumliche Enge und Nähe ausgerichtet. Für Sich waffnend gegen eine See von Plagen ist der komprimierte Zuschauerraum gewählt worden. Eng neben und übereinander sitzen die Zuschauer*innen ganz nah an den Schauspielern. Oleh Stefan steigt in einer Szene gar in die ersten Reihen des kaum abgetrennten Zuschauerraums. Holger Bülow performt die übersetzten Tagebuchtexte von Pavlo Arie in einem kofferartig schmalen Zimmer, das wie eine Raumkapsel durch die Dunkelheit zu jagen scheint. Enge. Statt Weite generiert der Krieg Enge. Schauspieler müssen plötzlich in den Krieg, der bis zum 24. Februar gelegentlich fiktiv auf dem Theater stattfand. Schauspieler werden zu Kriegern an Waffen, mit denen sie töten sollen.
„Die Reaktionen meiner Freunde auf Facebook einschließlich der grell-lauten apokalyptischen Neuigkeiten teilen das Leben in ein Davor und ein Jetzt. Ich packe meinen Ausweis und andere Papiere in den Rucksack, Unterwäsche, Socken, T-Shirts, einen Apfel, Wasser, Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Schmerzmittel. Ich überlege panisch, wie ich hier rauskommen und auch, wie ich meine Mutter beruhigen kann.“[3]  

Der Krieg löst bei Pavlo Arie vor allem eine Panik vor Einschließung und Enge aus. Mit dem „Lärm einer Explosion“ verändert sich das Leben für alle zumindest männlichen Schauspieler. Sie werden wie Vova Kovbel mit der Frage konfrontiert, ob sie das ukrainische Territorium mit der Waffe verteidigen wollen. Viele tun es, können sich einer Mobilmachung, die nicht so heißen soll, nicht entziehen. Ihre Videos auf sozialen Medien wie Facebook werden im Globe eingespielt. Nah und groß. Bedrohlich nah. Pavlo Aries Tagebuchaufzeichnungen sind vom ersten Tag an sehr präzise:
„In den Nachrichten heißt es, dass wir mit der Situation zurechtkommen werden, die Welt hinter uns steht, und man Kyiv allen, die wollen, Waffen aushändigt, ein Pass genügt. Dann ist es jetzt hier so wie in der Schweiz, alle eine Waffe haben. Wow! Fuck you, Putin! La-la-la. Ich nehme eine Pille, die stellt mich bis abends ruhig.“[4]

Pavlo Aries Tagebucheintragungen und das ganze Projekt aus verschiedenen Materialien zum Angriffskrieg auf die Ukraine überraschen auch, weil die Grenzen zwischen Fiktion und Verhaltensweisen trotz aller Dokumentationsmedien irritierend unscharf bleiben. Auf einer Art Arbeitstisch liegen Dutzende orange Filmkassetten. Doch sie werden nicht benutzt. Schauspieler und Puppenspieler wie „der Spanier“ finden sich plötzlich im Kampfgebiet wieder. Die Männer vom Theater halten auf einmal tödliche Waffen in den Händen, die töten sollen. Ist das jetzt nicht zugleich fiktiv, wenn das Training an Spielkonsolen sich im Nu mit Granateneinschlägen überschneidet? Schauspieler werden schwer verletzt und sehen einen Freund neben sich sterben, wobei die Sprache der Sprachgewandten versagt.
„Was macht es mit dem eigenen Körper und der eigenen Psyche, wenn man eine Waffe in die Hand nimmt? Was bedeutet es, zum Gewehr oder zur Pistole zu greifen, zu Gegenständen also, die dafür gemacht sind, Schaden anzurichten, zu zerstören – vor allem, wenn das eigene Leben bis dahin darauf ausgerichtet war, fiktive Welten zu erdenken und zu erschaffen?“[5]

Wie nah kommen Gewalt und Kriegsverbrechen an mich als Zuschauer heran, wenn ich im Globe sitze? Wie zeigt sich die Gewalt? Gab es nicht schon viel stärkere Gewaltszenen auf dem Theater zu sehen als in diesem Stück, wenn Telefongespräche zwischen russischen Armeeangehörigen und ihren Frauen bzw. Freundinnen eingespielt werden, die der ukrainische Geheimdienst aufgezeichnet hat? In den Telefonaten ist von Kriegsverbrechen die Rede. Männer verbalisieren ihre Faszination, wie einem Ukrainer die Kehle durchgeschnitten wird. Ein russischer Mann spricht davon, wie ein sechszehnjähriges, ukrainisches Mädchen vergewaltigt wird und die Freundin sagt nur, dass sie nicht will, dass ein Kind dabei gezeugt wird. Die Stimmen hören sich unaufgeregt, freundlich, bisweilen scherzend an. Die Monstrosität der Gewalt und Verbrechen kommt in einem Plauderton daher.
„Ukrainska Pravda, an online newspaper, has identified a Russian soldier who told his wife he shot civilians in the head even when they begged for mercy. The newspaper cited its sources at the Security Service of Ukraine (SBU) and said that he is 27-year-old Dmitry Gennadyevich Ivanov from the village of Kupsola in the Russian republic of Mari El. He is currently serving in Russian-occupied Kherson Oblast.“[6]

Hannah Arendts Formulierung von der „Banalität des Bösen“ auf den Verbrecher Adolf Eichmann kommt mit einem Mal in den Sinn: Ehefrauen und Freundinnen werden beiläufig Kriegsverbrechen am Mobiltelefon erzählt. Die Ungeheuerlichkeit der Gewalt gegen Zivilisten lässt sich beiläufig in Worte fassen. Sie lastet womöglich so sehr auf den namentlich bekannten Tätern, dass sie gleich einer Zote mitgeteilt werden muss. Die unterschiedlichen, stark kontrastierenden Erzählweisen zwischen Tagebuch, Telefonat mit Zote, gar einem Slapstick von der richtigen Bekleidung im Krieg machen im Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie auch deutlich, wie schwierig es ist, vom Krieg zu sprechen, wenn er wirklich nah ist. Im Vorlauf für die Uraufführung wurden im Spielzeitprogramm der schaubühne für August – Januar die beiden Begriffe Waffe und Künstler_in gegeneinandergesetzt. Der Kriegseinbruch trifft die Lexik.
„To Take Arms against a Sea of Troubles“[7]

Je mehr ich den Telefonaten in der Erinnerung nachhöre, umso treffender will mir der Begriff Zote zu diesen Erzählungen erscheinen. Eine Zote wird zunächst einmal als ein obszöner oder schmutziger Witz definiert. Im DWDS heißt es: „unanständiger Witz, obszöner, derber Spaß“.[8] Und das Sexuelle spielt bei den Erzählungen mit den „Ehefrauen“ am Telefon fraglos eine Rolle. Dass es sich um ein Verbrechen handelt, ist den Tätern sehr wohl bekannt. Doch zugleich wird das Erzählen libidinös besetzt. Wovon auf keinen Fall gesprochen werden soll, weil es sich außerhalb der Kriegsszene abspielt, es also als obszön verdrängt wird, bricht im Telefonat mit den Frauen vertraulich hervor. Die Zote wird so zu einer scherzhaften Erzählweise des Krieges, selbst dann, wenn niemand darüber lachen kann. Dass der SBU, also ukrainische Geheimdienst, diese Telefonate gezielt abgehört und archiviert hat, spricht dafür, dass der Mechanismus der Zote im Krieg, in die ein Kriegsverbrechen verpackt wird, bekannt ist.

Sich waffnend gegen eine See von Plagen sollte von deutschen Theaterbesucher*innen viel stärker besucht werden, weil das Projekt nicht zuletzt die Frage der Sprache im Krieg bearbeitet. Vielleicht haben schon viele Menschen in Deutschland vergessen, wie sehr der Krieg und die Berichterstattung vom Krieg, wie sie 2014 in den Mosse-Lectures u.a. von Antonia Rados thematisiert wurde[9], die Sprache auch in Deutschland verändert haben. Der Angriffskrieg auf die Ukraine findet nicht nur geographisch auf dem Territorium statt, das wir bis zum Ural Europa nennen. In den Predigten der Evangelischen Kirche in Deutschland am Heiligabend kam der Krieg in Europa allenfalls marginal vor. Mehr oder weniger überraschend hat der Angriff auf die Energieversorgung selbst in einer Stadt wie Kiel, deren Glocken vom Rathausturm verkünden „Kiel hat kein Geld, das weiß die Welt, ob’s noch was kriegt, das weiß man nicht“[10], nicht zum Abstellen der Saunen im Hörnbad geführt.

Torsten Flüh

schaubühne
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Ein Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie
Gastspiel Februar 2023 in Hamburg.


[1] Siehe: Torsten Flüh: Wechselvolle und dramatische Klimaveränderungen an der Wolga. Zu Janet Hartleys Mosse-Lecture Taming the Volga: Imperial Policies to Control Nature, People and Beliefs mit einer Respondenz von Hans Jürgen Balmes über den Rhein. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juni 2022.

[2] Pavlo Arie: Tagebuch des Überlebens. Zitiert nach Programmzettel: Sich waffnend gegen eine See von Plagen. Schaubühne Globe, Berlin 10. September 2022.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Zitiert nach Programmtext: Sich waffnend gegen eine See von Plagen. Berlin: Schaubühne 2022.

[6] Oleg Sukhov: Ukrainska Pravda identifies Russian soldier bragging about war crimes in intercepted phone call. In: Kyiv Independent May 13, 2022 8:38 pm.

[7] Schaubühne Berlin: 61. Spielzeit 2022/23. Berlin 2022, S. 10.

[8] DWDS: Zote.

[9] Torsten Flüh: Vom Dilemma von Zweifel und Glauben an das Gerücht. Antonia Rados‘ Mosse Lecture zum Semesterthema Vom Krieg berichten. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 11, 2014 19:58.

[10] Anna-Sophie Börries: Wie der Vers zur Melodie entstand. In: Kieler Nachrichten (ohne Datum).

Sinnliches Beben

Erdbeben – Schrift – Erzählen

Sinnliches Beben

Zur Kleist-Preis-Verleihung 2022 an Esther Kinsky und zu ihrem Roman Rombo

Am 27. November fand im Deutschen Theater Berlin die Verleihung des Kleist-Preises an Esther Kinsky nicht ohne Beben, aber mit strahlend blauem Himmel über Berlin-Mitte statt. Weder bebten die Erde noch die Stimmen in Berlin. Doch mit Esther Kinskys Roman Rombo und Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili wurden Beben in ihrer Ereignishaftigkeit zum Auslöser von Lesungen, Grußwort, Preis- und Dankesrede während der Matinée. Paul Ingendaay begründete seine Wahl Kinskys als Kleist-Preisträgerin 2022 gar mit „Erdbewegungen“ und Rombo. Beben finden nicht zuletzt in den, wie man heute sagt, Medien statt. Schon Kleists Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647 wird zuerst ab dem 10. September 1807 im Morgenblatt für gebildete Stände abgedruckt.

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Die einhundertsechzigjährige Verspätung der „Szene“, die Kleist erzählt, als passiere sie „gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung“ ist bedenkenswert. Plötzlich wird das längst vergangene Erdbeben in der Zeitung, im Morgenblatt für gebildete Stände, aktuell.[1] Die offenbar verspätete Erzählung des Ereignisses, bei dem nicht nur architektonisch die Institutionen der Macht wie das Gefängnis zerstört werden, setzt andere Möglichkeiten des Erzählens frei.[2] Selten lag ein Roman der Kleist-Preisträger*in so nah an einem Text eben dieses Autors wie Rombo (2022), der von dem Erdbeben am 6. Mai 1976 um 20:59 Uhr (MEZ) im Friaul in Gang gesetzt wird. Rombo erscheint ebenfalls mit einer bezeichnenden Verspätung. Der Schweizer Klarinettist Claudio Puntin spielte auf die Texte abgestimmt drei Improvisationen mit dem Titel Jetzt Jetzt Jetzt.

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Der Augenblick, das Jetzt, lässt sich schwer erzählen. Aber ein Jetzt wie ein Erdbeben ändert alles. In Kleists Erzählung vom Augenblick wird die Syntax, „als ob“ das „ganze() Bewusstsein zerschmettert worden wäre“, eruptiv. Bei Claudio Puntin beginnt Eruption mit der Bassklarinette erst leise, kaum hörbar, um dann ein Inferno des Knirschens und Schleifens wie von Schiefer- oder Erdplatten freizusetzen. Die Worte kommen an die Geräusche aus der Bassklarinette kaum heran. Brüllt da ein Tier? Die wunderbaren Sprecher*innen des Deutschen Theaters Berlin, Almut Zilcher und Felix Goeser, lesen Texte von Kleist und Kinsky vor. Die Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Anne Fleig, erwähnt in ihrem poetisch-analytischen Grußwort über Esther Kinskys Übersetzen und Schreiben den „hellblauen Himmel“ und die Blautöne.[3] In ihrem Unterwegsein folge Esther Kinsky den Spuren Heinrich von Kleists.

© Lorenz Brandtner

Das Grußwort von Prof. Anne Fleig, die Laudatio von Paul Ingendaay und die Preisrede von Esther Kinsky sind erstmals als Audio-Dateien auf der neuen Website der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft über die Plattform SoundCloud veröffentlicht worden. Das gesprochene Wort unterscheidet sich in seiner Wahrnehmung von dem gedruckten als Text. Es geht um das Hören, das auch mit dem Titel Rombo angeschrieben wird. Rombo wird vom Italienischen rombare mit brausen, röhren, rummeln oder grollen übersetzt. Mit Rombo als ein schwer einzuordnendes akustisches Ereignis und „Horchen auf weiteres Grollen“[4] geht es bei Esther Kinsky nicht zuletzt ums Übersetzen, das sie aus mehreren Sprachen wie Italienisch beherrscht. Insofern lässt sich nicht nur mit den Audio-Dateien eine technische Neuerung für den Internet-Auftritt der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft bedenken, vielmehr geben sie zugleich einen Wink auf das Hören von Worten, Texten und Stimmen.[5] Die Form der Audio-Datei als ein Medium des Hörens und Gehörfindens setzt nicht zuletzt das Jetzt in Szene.

© Lorenz Brandtner

Anders als bei Kleists Erdbeben in Chili montiert und komponiert Esther Kinsky in ihrem Roman Stimmen. Sie erzeugt eine Polyphonie von Stimmen zum Ereignis. Denn „Rombo“ ist im Roman fast beiläufig als Titel auf eine „Schachtel mit mehreren CDs“ geschrieben: „Rombo steht darauf. Und: 25 anni dopo. Le voci del terremoto. Die Stimmen des Erdbebens.”[6] – Im Internet lässt sich auf Anhieb keine derartige CD-Sammlung von 2001 finden. Existieren die Stimmen von Anselmo, Olga, Gigi, Silvia, Toni, Mara, Lina in der ersten Person Singular allein durch den Roman? Die Vielstimmigkeit des Romans wird durch fragmentarische Landschaftsbeschreibungen vom „Tal“ bis zum „Monte San Simeone“ von den „Vipern“ bis zum „Kuckuck“ vom „Brennenden Busch“ bis zum „Teufelssporn“ angereichert und erzeugt. Um dem Grollen beizukommen, werden Fragmente aus Karl Friedrich Naumanns Lehrbuch der Geognosie von 1850 mehreren Kapiteln vorangestellt.

© Lorenz Brandtner

Kleists Erzählung in Fortsetzungen in der Zeitung unterscheidet sich im Erzählmodus von der Montage unterschiedlicher Stimmen bei Esther Kinsky. Am 11. September 1807 beginnt die Erzählung von „Jeronimo und Josephe. (Fortsetzung)“ mit: „Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug auseinander gesprengt ward.“[7] In der das Ereignis aus der Perspektive Josephens wiederholenden Fortsetzung wird nicht nur akustisch der „krachende Einsturz der Gebäude“ formuliert, vielmehr wird mit dem von Kleist gern verwendeten „plötzlich“ der unter- und abbrechende zeitliche Modus betont. Kleist verwendet in seinen Erzählungen von Das Bettelweib von Locarno über Das Erdbeben in Chili bis zu Michael Kohlhaas zweiundsechzigmal (62) plötzlich – im Erdbeben viermal.[8] Das Plötzlich steht der Kontinuität der Fortsetzungen entgegen. Mit dem „plötzlich“ werden das Gesetz und die Ordnung nicht nur des „ganze(n) Hinrichtungszug(s) auseinander gesprengt“. Etymologisch wird plötzlich im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache als Interjektion „schallnachahmend“ mit einem „schnellen Schlag oder Aufprall“ in Verbindung gebracht: plotz, plumps, bauz.

© Lorenz Brandtner (Ausschnitt T.F.)

Esther Kinsky eröffnet ihre Dankesrede mit der Erinnerung an die Oder und einen Besuch im Kleist-Museum in Frankfurt am nahen Fluss, als sie vor 16 Jahren aus Polen kam. Die Beschreibung der Oder-Landschaft in einer für sie typischen Weise wird dem Museumsbesuch und den Schriften Kleists vorausgeschickt. So kommt Esther Kinsky über Flucht und Krieg in Mariupol auf das Thema „Gewalt als menschliche Äußerung“ bei Kleist zu sprechen.[9] Sie zitiert aus dem Brief vom 25. Februar 1795 an seine Schwester Ulrike den Satz, der nach dem 24. Februar 2022 so ganz anders klingt als all die Jahre zuvor: „Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können!“ Während Esther Kinsky ein besonderes Gespür für die Beschreibung von Natur hat, habe Kleist dafür kaum einen Sinn gehabt. Naturbeschreibungen finden sich bei Kleist so gut wie keine. Kinsky dagegen beschreibt Täler und Blumen.
„Im Mai steht an den Laubwaldrändern der Brennende Busch in Blüte. Die Blume ist von den steinigen Hängen Kretas hierhergewandert, heißt es, die Samenkapseln öffnen sich platzend im Sommer und schleudern die Samen einige Meter weit. So wandert die Blume von Kalkboden zu Kalkboden, überquert Meere in den Taschen und Kleidungsfalten der Wanderer (, …)“[10]      

© Lorenz Brandtner

Es spricht für eine große Formulierungskunst der Natur, wie Esther Kinsky das Vorkommen des „Brennende(n) Busch(es)“ im Friaul mit „Wanderer(n)“ verknüpft, die zugleich Migranten auf dem Mittelmeer sein könnten. Vom Namen „Brennender Busch“ her erinnert Diptam als monotypische Pflanze der Gattung Dictamnus an den brennenden Dornbusch aus der Bibel. Im Exodus 3,1 erscheint Moses Gott im Dornbusch. – „Dort erschien ihm der Engel des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Er schaute hin: Der Dornbusch brannte im Feuer, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt.“ – Die Natur wird auf diese Weise bei Kinsky zu einem vielschichtigen Träger von Geschichte. Zugleich gilt Diptam als Heilpflanze. Die „Landschaft“ wird für die Autorin zu einem Palimpsest an der Grenze von Schriftstück und Geologie:
„Viel Stein. Die Flüsse, Bäche, Rinnsale schreiben das Ihre ins Tal, weiße Zeichen und Linien der Beharrlichkeit, ohne Ziel als die Einfurchung im Festen. Wege, Straßen schreiben eine andere, unbeholfenere Schrift der ausgehandelten Zugänglichkeit. Woher, Wohin.“[11] 

© Lorenz Brandtner

Die „Landschaft“ als Schreibszene bzw. zweier Schreibszenen: eine der „Flüsse, Bäche, Rinnsale“ im Stein und eine der menschlichen Ordnung, der „ausgehandelten Zugänglichkeit“. Esther Kinskys Natur- und Landschaftsbeschreibungen bewegen sich zwischen Natur und Kultur. Immer schon spielt in der Sprache die Kultur in die Natur hinein. So wird Rombo nicht zuletzt ein Buch der Schrift und Eruption durch die Verschiebung „grosser Schollen und ausgedehnter Tafeln“[12], wie sie Eduard Suess 1892 in Das Antlitz der Erde formuliert hat. Die Roman-Monteurin stellt den Kapiteln wissenschaftliche Texte voran, die oft mit elastischen Formulierungen „einen Causal-Zusammenhang“ zwischen den „Vorzeichen der Erdbeben“ herstellen und bezweifeln, wie Naumann schreibt – „oder in dem Stande des Barometers, (…) oder in dem Verhalten der Thiere und in dem Befinden der Menschen als solches Vorzeichen ansehen möchte, – wie oft findet es nicht auch Statt, ohne dass ein Erdbeben darauf folgt!“[13] – Erdbeben werden durch die Seismografie heute Schriftstücke, die entziffert werden sollen.

© Lorenz Brandtner

Erdbeben lassen sich bis auf den heutigen Tag nicht verhindern und schwer prognostizieren. Es gibt Gebiete, die als besonders anfällig für Erdbeben gelten, wie der Pazifische Feuerring an der Ostküste Süd- und Nordamerikas oder Japan. Dennoch hat der Mensch wider besseres Wissen diese Gebiete nicht verlassen. Im Unterschied zu Kleist können wir heute wissen, wo Erdbeben wie in Chile oder jüngst am 11. Dezember in 60 Kilometer Tiefe mit einer Stärke von 6,0 in Mexiko häufiger auftreten. Die Millionenmetropole Mexiko City wird mehrmals im Jahr von schweren Erdbeben wie erst am 22. September 2022 mit 6,8 heimgesucht. Italien kennt ebenfalls schwere Erdbeben. Im „4. Quartal 2021 (wurden) 5.078 Erdbeben registriert, wovon 1.527 eine Magnitude von mehr als 1.5 aufwiesen und 29 eine Magnitude von mehr als 3,5“, was zugleich durch Online-Marketing als Werbung für einen Urlaub in Italien unter „Sehenswertes“ erscheint.[14] Sie hinterlassen Risse. Abgründe tun sich auf. Esther Kinsky entdeckt „vom Tal aus“ eine „Verzeichnung“, die sich „lesen“ lässt „wie eine Schrift“.
„Die Verzeichnung eines Hergangs, auf der Tafel der nach Südosten gewandten Bergseite, gelegentlich begangen von winzigen fernen Figuren, die sich über die Schrift bewegen, als seien sie dazu bestellt, diese nur in bestimmtem Licht erkennbaren Zeichen mit ihren Schritten nachzuzeichnen.“[15]   

© Lorenz Brandtner

Rombo handelt auf leise und zugleich grandiose Weise von der Schrift, könnte man sagen. Die Schrift wird nicht zuletzt mit Heinrich von Kleists Zeitungsprojekt Berliner Abendblätter ab dem 1. Oktober 1810 mit „einer indischen Handschrift“ zum Thema und sollte das gewohnte Lesen von Zeitungen wie dem Morgenblatt für gebildete Stände auch stören.[16] Die Rätselform des Logogriphs, mit dem die Sinnfrage der Schrift spielerisch gestellt wird, fügt Kleist wiederholt in seine Zeitung ein. Die Schrift stört ebenso bei Esther Kinsky, wenn es in „Störungen“ heißt: „Der Boden des täglichen Lebens wird zum gestörten Gelände, auf dem ein jeder nach Verlorenem sucht, tastend, schauernd, horchend.“[17] Das Störpotential der Schrift kommt nochmals in „Störstufen“ zum Zuge. Die Zerstörungen des Erdbebens stören Alltägliches und Gewohntes. In der Buchausgabe von Rombo kommt die Schrift in der zerstörten Apsis der Chiesa di Sant‘ Andrea Apostolo von Venzone schon als „Umschlagabbildung“ zum Zuge.[18] Ein Foto, das Esther Kinsky selbst gemacht hat. Dergleichen Einritzungen werden jedem Kapitel im Buch vorangestellt.

© Lorenz Brandtner

Die Schrift tendiert seit alters her zur Bildlichkeit.[19] In Rombo bekommt sie einen Zug zum Graffiti, einer zweifellos störenden Schrift im öffentlichen Raum. Das Faszinosum Schrift wird von Esther Kinsky durch die Bildlichkeit der Fotografie in Szene gesetzt. Die Fotografie erscheint dabei selbst an der Schnittstelle von Lichtschrift, Belichtung – „nur in bestimmtem Licht erkennbare() Zeichen“ – und Bild. Die Schrift wird in Rombo visuell sinnlich, bevor irgendein Sinn entstehen könnte. In den Erzählungen vom Erdbeben geht es z.B. bei Silvia darum, Ordnung in die Erinnerungsschrift zu bringen, was immer auch nicht gelingen will.
„Ich habe ein gutes Gedächtnis, ich kann Dinge leicht behalten. Zum Beispiel Dinge, die ich im Fernsehen gesehen habe. Ich habe viele Erinnerungen. Aber sie sind nicht geordnet. (…) Aber das Lied weiß ich bis heute, und bis heute meine ich, es handelt vom Streit meiner Eltern. Ich weiß nicht, ob andere Leute ihre Erinnerung in Ordnung halten können. (…) Und immer ist da dieses Knirschen, dieses leise Klirren der Splitter und Bruchstücke.“[20]   

© Lorenz Brandtner

Das Erzählen vom Erdbeben stellt bei Esther Kinsky eine eigene, sinnliche Ordnung her, indem es das Ereignis verfehlt. Die Stimmen haben eine hohe Dichte. Im Versuch vom Erdbeben zu erzählen, vermischen sich „Erinnerungen“ an Fernsehsendungen mit denen vom Streit der Eltern aus der Kindheit und dem Ausfegen der Scherben nach dem Beben. – „Manchmal kommt mir die Erinnerung vor wie ein Scherbenhaufen.“[21] – Ein „Scherbenhaufen“ lässt sich nicht wieder zusammensetzen. Aber das Kehren der Scherben schreibt sich in das Gedächtnis ein. Die auditive Wahrnehmung eines bestimmten „Knirschen(s)“, das sich sogleich durch „dieses leise Klirren“ ersetzen und wiederholen lässt, bleibt durch die hilflose deiktische Geste der Wiederholung des Demonstrativpronomens singulär. Es lässt sich damit für Silvia auch nicht in (eine) Ordnung bringen. Für Silvia ist „dieses Knirschen“ bekannt, aber zugleich lässt es sich durch die Wiederholung als Singularität schwerlich anderen Menschen mitteilen.

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Die Sinnlichkeit des Erdbebens wird von Esther Kinsky vor allem akustisch durchgespielt, um sich zugleich mit anderen Sinnen wie dem taktilen zu vermischen: „Erst dieser Wind, geheult hat im Hof, auf einmal, etwas ist draußen umgefallen, und es war mir so kalt, ganz plötzlich. Dann dieser Laut. Dieses dunkle Rollen. Es war so lebendig.“[22] Akustisches vermischt sich mit dem taktilen der Temperaturwahrnehmung „ganz plötzlich“. Die Sinnlichkeit tendiert in Olgas Erzählung gar zum Traum: „Die Wörter dauern länger als die Dinge oder die Ereignisse. Das ist wie mit einem Traum. Man redet und redet, wenn man einen Traum erzählt, und hinterher ist der Traum nicht mehr das, was er war.“[23] Kinsky spielt die Wahrnehmungen und Redeansätze durch. Das Erdbeben wird zu einem Trauma und Traum. Darin zeigt sich die große Erzählkunst der Kleist-Preisträgerin 2022. Denn zugleich werden die Leser*innen damit auf die Spur gebracht, eine Geschichte lesen zu wollen.

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Mit Rombo hat Esther Kinsky ein großartiges und vielstimmiges Erinnerungsbuch über das Erdbeben in Venzone geschrieben, das die Erinnerung und die Fremdheit der Sprache reflektiert. Der „lange() aus einem zerstörten Fresko gerettete() Streifen, der bedeckt ist mit Zeichen, wie sie jahrhundertelang Pilger an bestimmten, vereinbarten Stellen an den aufgesuchten Stätten hinterließen“[24], lässt sich lesen. Er wurde aus den Trümmern des durch das Erdbeben zerstörten Domes gerettet. Esther Kinsky hat ihn gelesen und wiedergeschrieben, um ihre Leser*innen mit dem Geheimnis der Schrift vertraut zu machen.

Torsten Flüh

Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
Kleist-Preis 2022
Verleihung des Kleist-Preises am 27. November 2022

Esther Kinsky
Rombo
Fester Einband mit Schutzumschlag, 267 Seiten
ISBN 978-3-518-43057-6
Suhrkamp Verlag, 2. Auflage
24,00 € (D), 24,70 € (A), 34,50 Fr. (CH)
ca. 13,2 × 21,4 × 2,6 cm, 434 g


[1] Heinrich von Kleist: Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647. In: Morgenblatt für gebildete Stände. Band 1,2. 1807. Nro. 217. Donnerstag, 10. September, 1807, S. 866. (Digitalisat).

[2] Vgl. dazu „institutions of power“ In: Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2019, S. 209, Anm. 36.

[3] Das Grußwort von Prof. Anne Fleig ist als Audio-Datei auf der Seite der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft nachzuhören: Grußwort.

[4] Esther Kinsky: Rombo. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 14.

[5] Zum Hören siehe auch: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[6] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 35.

[7] Heinrich von Kleist: Jeronimo … [wie Anm.1] S. 871. (Digitalisat)

[8] Siehe u.a. Heinrich von Kleist: Ausgewählte Schriften. Gesammelte Kleine Werke. Project Gutenberg.

[9] Kleist-Preis: Preisrede der Kleist-Preisträgerin 2022 Esther Kinsky. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises am 27. November 2022 im Deutschen Theater Berlin.

[10] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 82-83.

[11] Ebenda S. 67.

[12] Ebenda S. ohne Seitenzahl (107).

[13] Ebenda S. ohne Seitenzahl (65).

[14] Italien Sehenswertes – Urlaub mal anders: Erdbeben in Italien. (ohne Datum – 2022).

[15] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 55.

[16] Heinrich von Kleist: Gebet des Zoroaster. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. (Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.) Band II/7 Berliner Abendblätter I. Basel; Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 7.

[17] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 27.

[18] Siehe Rückumschlag von Esther Kinsky Rombo.

[19] Zur Schrift und Bildlichkeit siehe auch: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27. (Auf einigen Computern ist diese Schrift nicht mehr zu lesen.)

[20] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 54-55.

[21] Ebenda S. 54.

[22] Ebenda S. 71.

[23] Ebenda S. 75.

[24] Ebenda S. 264.

Immersives Tiefenerlebnis per Code

Mystik – Coding – Schrift

Immersives Tiefenerlebnis per Code

Zu Sahar Homamis Ausstellung XODخود bei SOMA 300 in der Eylauer Straße 9

Séverine Galiano hat XOD von Sahar Homami in drei außergewöhnlich hohen Räumen von SOMA 300 kuratiert. XOD liest sich erst einmal wie ein Code, ein Computercode. Was oder wer wird hier codiert? Oder wird etwas kalligraphisch wiedergeschrieben? Nachdem die Besucher*innen von der Eylauer Straße 9 in einer Licht- und Klanginstallation eine steile Treppe hinab auf das Niveau der Neubauten Am Lokdepot gestiegen sind, tauchen sie ein in eine kalligraphische Reise um das Selbst, mit anderen Schriftzeichen: خود XOD. Das Areal am einstigen Tempelhofer Berg, der jetzt Kreuzberg genannt wird, kennt größere Höhenunterschiede zwischen bergigen 66 Metern über Normalhöhen Null, Urstromtal und industrieller Eisenbahnarchitektur um 1900. Die Lettern SOMA lassen sich nach dem altgriechischen σῶμα (sõma) als Körper lesen und passen daher auch zum Ausstellungsraum, den sich die Besucher*innen körperlich begeben.

Sahar Homamis Ausstellung XOD inszeniert Schreib-Lese-Szenen sinnlich an der Schnittstelle von ebenso haptischer wie visueller Kalligraphie. Durch die Kalligraphie tendiert die Schrift ins Figurative. Die Codierung als Schrift aus 0 und 1 lässt die zweidimensionale Kalligraphie von Hand ins visuell Dreidimensionale expandieren. Immer schon tendierte die Verräumlichung der Schrift ins Dreidimensionale, wenn sie beispielsweise in chinesische Orakelknochen[1] oder ägyptische Tontafeln geritzt oder als urzeitliche Wahrsagelebern geformt wurde.[2] Sahar Homami verarbeitet insbesondere im Augmented Space Schrift in eine visuell erweiterte Erfahrung. Die visuelle Wahrnehmung wird durch codierte Animation in einen Strom hineingezogen. Die Erweiterung wird zugleich zu einer Einschließung. Durch die Codierung als Schriftmodul werden „Ich“, „Du“, „Selbst“ und „Gott“ in einen visuellen Strudel hineingezogen, an dessen Ende sich ein Auge abzeichnet.

Die Arbeiten der Kalligraphin und Programmiererin Homami entwickeln sich aus einer transkulturellen Erforschung der Schrift. In der Kalligraphie überschneiden sich ästhetische Modelle mit der Generierung von Sinn. Der Ursprung der Kalligraphie lässt sich schwer eingrenzen. Gilt sie der ästhetischen Freude an der Schrift als Steigerung von Sinn? Oder verlangt die Chirographie eine Aufgabe des Sinns an die Schönheit der Form und der Linien? Die illuminierten Handschriften des Mittelalters oder schon die ägyptischen Papyri tendieren immer zu einem ästhetischen und poetischen Überschuss. Sehr oft werden in der Kalligraphie solche Schriftzeichen wiederholt, die bereits wiederholt worden sind. Kalligraph*innen sind immer auch Kopist*innen, bevor die technische Vervielfältigung seit dem Druck das Handwerk des Kopierens übernahm. Wir wissen nicht, ob jede Kopist*in verstand, was sie schrieb. Überwiegend wurde die Kalligraphie im religiösen Kontext von Männern ausgeübt und als Praxis besetzt.

Die Kalligraphie lässt sich zunächst einmal als eine Praxis hingebungsvollen Schreibens von Männern bedenken. Schriftsteller*innen ihrerseits sind selten Kalligraph*innen. Oft verschwindet der Name des Kalligraphen in der Geschichte hinter dem Autor. Die Position des Kalligraphen ist ein unsichere, schwankende, weil die Handschrift mit dem Projekt der Aufklärung und des Wissens vom Menschen zu aller erst konzeptualisiert werden musste. Johann Caspar Lavater formulierte 1777 die Handschrift zu einem physiognomischen Indiz um. – „Setzt man es nicht als die höchste Wahrscheinlichkeit voraus, daß (seltene Menschen ausgenommen) jeder Mensch seine eigene, individuelle, und unnachahmbare, wenigstens selten und schwer ganz nachahmbare Handschrift habe?“[3] – Die Handschrift wird durch Lavater zu einem Gegenstand des Wissens wie es in seinen mehrbändigen Physiognomische(n) Fragmente(n), zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe im Titel versprochen wird. Doch in der Praxis der Kalligraphie als Chirographie geht es darum, die „eigene individuelle, und unnachahmbare … Handschrift“ mit der Hand aufzugeben. Sahar Homami knüpft mit خود XOD nicht zuletzt an die persische Kalligraphie Nastaʿlīq aus der Zeit um 1400 an. خود lässt sich als Selbst übersetzen und berührt damit die Praxis von Schrift und Selbst. An der Kalligraphie des خود wird das Selbst gemessen oder auch in der Schönheit aufgelöst.

Im Persischen gibt es eine graphische Nähe des Selbst zu خداوند beziehungsweise phonetisch zu xoda, was als Gott übersetzt wird. Insofern geht es mit XOD kalligraphisch um eine Schnittstelle von Selbst und Körper. Nicht zuletzt hatte Lavater Hände als Zeichen des Charakters gelesen. Die Hand und die Körperlichkeit der Handschrift werden in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Selbstapparat verschaltet. Gerade an der Handschrift entwickelt sich eine Debatte um das Selbst bis zur „Schönschrift“ in der 3. Klasse der Grundschule. Lernmaterialien richten das Schönschreiben aus und versprechen eine „Schriftverbesserung“ in der „Grundschrift“.[4] Durch die „Schönschrift“ im Grundschulalter wird paradoxer Weise das Selbst geformt, das bereits vorhanden sein soll. In fast allen modernen Schriftkulturen wird das Erlernen einer Grundschrift mit dem Schreiben von der Hand erlernt und normiert.

Sahar Homami erforscht und entwickelt mit der Kalligraphie eine Schnittstelle von Selbstproduktion und Selbstauslöschung wie sie in meditativen Praktiken des Sufismus, Mystizismus oder Zen-Buddhismus geübt wird. Die Kopisten heiliger Schriften ob im Christentum des Mittelalters, im Judentum oder Islam und auch anderer Schriftkulturen müssen sich ganz der Schönheit der Schrift im mehrfachen Sinne unterwerfen. Anders gesagt: Kopisten wie sie noch für die Anfertigung einer Thorarolle tätig sind, schreiben sich in eine augmented reality hinein, die ihre ausschließliche Konzentration und Leichtigkeit verlangt. Ein falscher Strich oder Punkt zerstört die Heiligkeit der Schrift. Am Bildschirm lässt er sich mit der Tastatur löschen. Auf der Thorarolle mit Tinte nicht. Die Praxis der Kalligraphie stellt komplexe Anforderungen, die selten bedacht werden. Sahar Homami arbeitet mit ihnen die Technik und sich selbst erforschend. Im aktuell viel besprochenen augmented space tauchen die kalligraphischen und kopierenden Praktiken nur anders auf, während wir uns seit dem Schönschrift-Unterricht in der Grundschule bereits hineingeschrieben haben.

Die Kalligraphin schreibt Love anders. Die Kaligraphien zu diesem Titel enthalten weder das Wort Liebe noch können sich die Betrachter*innen sicher sein, ob die runden Muster von Hand geschrieben sind oder von einem graphischen Programm durch einen Code generiert wurden. Doch die Love-Kaligraphien erinnern an hinduistische oder buddhistische Mandalas. Die in einem Kreis Formen wiederholen und ordnen. Junge Inder*innen praktizieren das Mandala-Malen oder -Schreiben als Entspannungstechnik. Mandalas können zugleich als eine Praxis der Leere oder der Fülle entstehen. Sie sollen nichts darstellen oder bedeuten. Mit dem Wort Love werden die Mandalas semantisch aufgeladen und situieren sich doch jenseits einer Darstellung von Liebe. Sahar Homami arbeitet mit Begriffen und visuellen Erfahrungen, die zugleich auf Literaturen aus unterschiedlichen Kulturen rekurrieren. Doch sie ist keine Erzählerin. Eher eine Ermöglicherin des Erzählens, indem sie Ornamente und Strukturen anbietet.

Der Begriff فناء fana‘ wird vom Sufismus gebraucht und geprägt. Er wird mit Erlöschen oder Schwinden des Ich-Bewusstseins übersetzt. Insofern bietet er ein Gegenkonzept zum Selbst an. Durch فناء wird eine konzeptuelle Nähe zu Gott versprochen, die vor allem durch Männer praktiziert wird. Durch die Praxis des فناء wird eine dialektische Selbstaufgabe geübt, die eine Vereinigung mit der Schrift verspricht. Sahar Homami versteht ihr Forschung und Kunst zugleich als eine feministische Intervention in patriarchale Herrschaftspraktiken. Denn ihre Arbeiten legen die religiösen Praktiken als solche erst frei. Durch eine technisch ausgefeilte Projektion wird in der fana‘-Installation jeder Körper, der den Raum betritt, als Flamme projiziert und verbrannt. Insofern wird ein körperliches Ich als Projektion ausgelöscht und versprochen. Die Dichterin Ginka Steinwachs, die die Ausstellung gleichzeitig besuchte, begab sich an der Wand als Projektionsfläche sozusagen in die projizierten Körper. Tiefe und Oberfläche brechen sich so gesehen in der فناء-Installation.

Durch eine Art Notfall konnte die Besprechung nicht wie geplant vor dem 26. November erscheinen, womit es möglich gewesen wäre, die von Séverine Galiano kuratierte Ausstellung noch zu besuchen. Sahar Homamis kalligraphische Forschungen werden sich indessen weiterentwickeln. Mit XOD hat sie allererst auf die Vieldeutigkeit der Kalligraphie als Praxis aufmerksam gemacht.

Torsten Flüh

Sahar Homami
www.saharhomami.com

Séverine Galiano
https://art-et-industrie.com     


[1] Zur Orakelknochenschrift siehe: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27.

[2] Zu den Wahrsagelebern siehe: Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.

[3] Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 112. (Deutsches Textarchiv)

[4] Siehe beispielsweise: Unterrichtsmaterialien für die Grundschule. Schön schreiben mit Grundschrift Heft 3. grundschulmaterial.de