Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne

Propaganda – Bücherverbrennung – Russland

Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne

Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat

Am 28. März 2022 wurde Propaganda zum DWDS-Artikel des Tages[1] erklärt. Seit Anfang der 50er Jahre war der Gebrauch des Begriffes bis in die Nullerjahre des neuen Jahrtausends ständig gefallen, um auf eher niedriger Gebrauchsfrequenz bei knapp unter 5 je einer Million Tokens zu verharren. Mit den Reden von Wladimir Putin am 21. und 24. Februar 2022 hat der Gebrauch des Begriffs einen kometenhaften Anstieg erfahren. Die Suchkombination „Putin Propaganda“ zeigt jetzt (9. April 2022, 20:02) bei Google 111.000.000 Treffer innerhalb von 0,50 Sekunden an. Vor drei Tagen waren es noch ca. 2 Millionen weniger. Zugleich verschiebt sich der Begriff der Propaganda von einem ideologischen Kontext zu einem Modus der permanenten Wiederholung in einem Krieg der russischen Falschmeldungen und Drohungen.

Putins Reden zeichnen sich durch einen permanenten Modus der Wiederholung und kühne Montagen aus. In seiner Rede vom 24. Februar beginnt Putin damit, was er bereits am 21. gesagt hatte und betont diese Wiederholung, als solle sie Kontinuität und Kausalität herstellen. Vielfach wurden die Reden auf ihre Ideologie hin gelesen und gar als Putinismus diskutiert. Doch als Ideologie taugen die Reden wenig, wenn man sie wie den Leninismus-Stalinismus in den 1920er Jahre als „proletarische Ideologie“ gebraucht, die die sehr subjektive Triebkraft der proletarischen Revolution ausmachte, worauf Slavoj Žižek Anfang der 90er Jahre einmal mit dem „Spectre of Ideology“ hingewiesen hat.[2] 2022 ist alles anders. Die Praxis der Montage im vermeintlich freien und spontanen Sprechen Putins gibt vielmehr einen Wink auf solche der – postmodernen – Literatur, die Narrative wie bei Vladimir Sorokin auf ironische Weise montiert und dekonstruiert, um ihren Aberwitz offen zu legen. Bei Sorokin wird eine Bücherverbrennung ironisch und abgründig – bei Putin stumpfsinnig.

Vladimir Sorokin hat in seinem Text Манарага 2017 (Manaraga) den Begriff Bücherverbrennung nicht gebraucht. Womöglich hat Wladimir Putin indessen von diesem skandalösen, „postmodernen“ Buch gehört, vielleicht es gar heimlich gelesen, als er behauptete, in Deutschland, in Berlin werde russische Literatur verbrannt. Das Tagebuch eines Meisterkochs, so der deutsche Untertitel, beginnt mit dem „13. März“ eines zunächst ungenannten Jahres, das in einer nicht allzu fernen Zukunft liegen könnte. Die illegale Gourmet-Mode „Book `n΄ Grill“ ist ausgebrochen, so dass der Meisterkoch zur Eröffnung eine Erstausgabe von Fjodor Dostojewskijs Roman Der Idiot verbrennt, um „Schaschlyk vom Stör“ zu grillen.[3] Der Koch spricht „leidlich Französisch, Deutsch und Bayrisch“, hat aber mit „dem mündlichen Russischen … Probleme“[4], weshalb eine deutsche Herkunft trotz seines ungarischen Vornamens Géza und seines russisch-klingenden Nachnamens Jasnodvorskij wahrscheinlich ist. Für seine „Lesung(en)“ hat er sich indessen auf russische Literatur verlegt.[5] Bei den Lesungen verbrennt er vorzugsweise antiquarische Ausgaben russischer Literatur aus „Bibliomuseen der Welt“.[6]

Das Verbrechen der Bücherverbrennung dient Vladimir Sorokin auf subtile Weise nicht dem Hass auf Bücher und/oder ihrer Autoren, sondern dem gastrophilen Genuss. Dafür liest und „verbrennt“ Sorokin montageartig Georges Feydeaus schwankhaft-groteske Komödie Der Floh im Ohr von 1907 und Ray Bradburys mehrfach zitierten Science-Fiction Fahrenheit 451 (z.B. S. 118) von 1953, in dem ein Staat verboten hat, Bücher zu besitzen und zu lesen. Dieses Verbot ist in Manaraga nicht mehr nötig, weil die „Gutenberg-Epoche (…) passé (ist), die Elektrizität (…) den Sieg davongetragen (hat)“ und „die Menschheit aufhörte, Bücher zu drucken, und nur die besten der vorhandenen in den Rang von Museumsstücken erhob“.[7] Was in der Literaturgeschichte zur Praxis der Ordnung von Literaturen gehört, „die besten … in den Rang von Museumsstücken“ zu erklären, hat im Roman konkrete Folgen. Die Ambiguität der Praktiken wird en passant freigelegt. Sorokin gebraucht Worte wie „lesen“ oder „Lesung“ ebenso anders wie zynisch. Russland und Russisch sind im „Postsowjetrussland“ aus der Mode gekommen, weshalb russische Meisterköche englische Roman verbrennen:
„Doch da die Russen nun einmal ihrer alten Ordnung verlustig gegangen waren, fanden sie sich in die neue Lage schnell hinein – und arrangierten sich nicht schlechter als andere, das muss man ihnen lassen: drei berühmte Book-`n΄-Grill-Meisterköche, die ausschließlich auf englischen Romanen grillen – unter ihrem russischen Namen.“[8]      

Sorokins Montagetexte sind, um im Bild zu bleiben, messerscharfe Gegenwartsanalysen der russischen Gesellschaft in ihrer globalen Verflechtung. Seine Texte lesen, heißt Russland lesen lernen. Die Weltgemeinschaft der „Book-`n΄-Grill-Meisterköche“ wird aus der subjektiven Haltung eines von ihnen, Géza Jasnodvorskij, als internationale, hochkriminelle Mafia beschrieben, in der eben auch Russen „mitlesen“. Um an die Bücher als „Scheite“ zu gelangen, müssen die „Meisterköche“ kriminell handeln und mit gewalttätigen Antiquaren Geschäfte machen, als werde mit Rauschgift im großen Stil gedealt. Dabei geht es um sehr viel Geld – „10 000 Pfund für den Abend“ –, so dass Sorokin Narrative der Kriminalliteratur nutzt.
„Ich blättere und sage: »Hoffentlich diesmal ohne Körperverletzungen?«
»Mach dir keine Hoffnungen, Géza!«, lachen die beiden.
»Ach. Ist wieder Blut geflossen?«
»Ein paar Nierenschläge, das ist alles.«
»Tz-tz. Musste das wieder sein …«
Erstaunlich, dass es immer noch einzelne Leute gibt, die das Buch hochhalten.“[9]

Seit Manaraga ist das Verbrechen der Bücherverbrennung ironisch und gesellschaftskritisch im 21. Jahrhundert als Gourmet-Trend angekommen. Gourmet-Trends sind schick und teuer geworden. Literaturen transportieren keine Ideologie mehr, sondern werden nach „Gewichtsklasse(n)“ abgemessen. – „Vollwertiger Roman, mittlere Gewichtsklasse: 720g, 509 S., Velinpapier, Ganzleinen. Ausreichend für acht Spieße.“[10] – Auf der Zunge der Gourmets zergeht die Literatur nun nach den knallharten Gesetzen des Marktes, der Kenner der Gerüche – „Die früheste Turgenjew-Gesamtausgabe riecht nach eingelegtem Obst. Der Gesammelte Dostojewski nach Teer, Tolstoi wiederum nach Apfelpastillen, mit Bärengalle versetzt.“[11] – und der Flammbarkeit des Druckpapiers bei ca. 451° Celsius(!), die Meisterköche hervorbringen. Die „Molekulartechnik“ erinnert nicht von ungefähr an die Molekularküche von Ferran Adrià. Géza hat sich seinerseits 3 Flöhe, gekauft, die ihn mit unterschiedlichen Wissensformen informieren.
„Wobei das mich betreffende Monstrum doch sehr viel weiter nördlich von hier seine Höhle hat: im Berg Manaraga. Ein schöner Berg. Manaraga heißt Bärentatze auf Nenzisch, so hat mich der Floh informiert. Passt! Ein steinerner Bär, der dem Himmel droht. Der Großen Küche, genauer gesagt. Und unsereins soll ihn erlegen …“[12]

Das Bild des Bären als Imagination Russlands kehrt in den Texten Sorokins mehrfach wieder. In Manaraga ist er zu einem „steinerne(n) Bär(en)“ geworden, „der dem Himmel droht“, wie der sowjetische Monumentalsoldat von Lew Kerbel des Sowjetischen Ehrenmals über dem Massengrab der Soldaten am Brandenburger Tor in Berlin von 1945. Monstrum, Berg und Bär verschmelzen in der Tagebucheintragung vom 25. März. Nach Dirk Uffelmann pflegt Sorokin in Manaraga „einen islamophoben Diskurs, den die Autorinstanz weder als gut oder schlecht noch als gerechtfertigt oder xenophob bewertet“.[13] Die Islamophobie des Tagebuchschreibers als Meisterkoch ist eine spezifisch russische, die sich nicht einfach als eine mit der Globalisierung verwandte Angst abgleichen lässt. Uffelmann sieht eine narrative Kluft zwischen dem „ausschließlichen Denken des Erzählers in Kategorien von russischer Kultur und Nationalliteratur“ und „der postdystopischen Welt von 2037“.[14] Die nationale und kulturelle Unbehaustheit zeigt sich an der Figur des Tagebuchschreibers Géza Jasnodvorskij, dass er wohl russische Literatur „liest“ in dem Doppelsinn von verbrennen und verstehen, aber kaum russisch spricht, obwohl sein Text in Russisch geschrieben wird. Im Ergebnis diagnostiziere Sorokin „die reaktionäre, globalisierungskritische und islamophobe Litanei seines Icherzählers als xenophob, paradox und selbstzerstörerisch“[15], schreibt Uffelmann. Man könnte dies heute eine Vorstudie zu Wladimir Putins Kriegspolitik von 2022 nennen.

Der in Moskau geborene Autor Vladimir Sorokin hat 2018 mit Zeichnungen von Ivan Razumov den Text Das weiße Quadrat[16] veröffentlicht, in dem in der gleichnamigen „Sendung“ mit vier Gästen das Russlandbild diskutiert wird. Der Text entwickelt sich aus einer postmodernen Montage unterschiedlicher Texte zwischen russischem Konstruktivismus wie Malewitsch, Quizshow, der antiken Schindung des Marsyas und Dostojewski. Er ist dem Theaterregisseur Kirill Serebrennikow gewidmet, der sich nach unbestätigten Meldungen zwischenzeitlich in Deutschland aufhalten soll, nachdem er Ende März 2022 in Moskau in einem politischen Gerichtsverfahren freigesprochen worden war.[17] Der Text spielt im Fernsehstudio in Moskau, auf dem verarmten Land, vor der Kirche des Heilkundigen Pantaleon, im Filmstudio, im Fernsehen und schließlich auf dem Roten Platz, auf dem Alex aus Stanley Kubricks Clockwork Orange schließlich einer Kolonne vorausläuft.[18] Text und Zeichnungen geben in der Kombination eine eigene Visualität ab. Noch bevor der Text beginnt, tritt ein Bär mit einer zaristischen Krone mit Kreuz und Pelzkrempe auf. Er spielt vor einem Publikum auf einem Akkordeon.[19]

Das Russlandbild im russischen Fernsehstudio wird zu einem Problem des Geschlechts. Während ein Moderator „die Staatsform“ als „eine föderative Demokratie (…) inklusive Präsident und Parlament“[20] voraussetzt, sollen 4 Gäste ihr Bild beschreiben. „Irina, Angestellte im öffentlichen Dienst, Juri, Soldat, Anton, Theaterregisseur, Pawel, Geschäftsmann“[21], sollen ihr eigenes Bild beschreiben. Die Frau aus dem „öffentlichen Dienst“ sülzt poetisch von Russland als Lied: „Ein russisches, ganz klein wenig trauriges, langes Lied.“[22] Der „Stör“ kommt in ihrer Erzählung als Pastetenfüllung vor. Der „Stör“ als Geschmackserinnerung verknüpft. Der Theaterregisseur Anton sieht dagegen „unser Land als riesige, gigantische, jedes Menschenmaß sprengende Laus. Steinhart gefroren und in tiefer Anabiose.“[23] Laus und Floh korrespondieren mit einander als parasitäre Menschenplagen. Für den Soldaten Juri „war Russland immer eine Art Höhle. Eine Höhle der Geheimnisse.“[24] Juri meint, es gehe „nicht nur um Gold, um Erdöl oder Gas. Russland ist reich an inneren Werten, also an dem, was es in sich hat, in seiner Seele. Das Geistige! Das ist unser größter Reichtum.“[25] Und für den Geschäftsmann Pawel ist Russland „immer mit der Vorstellung des Kampfes verbunden“. „Kampf ums Überleben, um einen Standpunkt, um Komfort, treue Freunde, die Liebe, nicht zuletzt ums Geschäft.“[26] Er ruft die „Sowjetunion“ als gemeinsame Erinnerung, als Gemeinsamkeit auf.

Das Geschlecht als Frage der Herkunft und Gemeinsamkeiten[27] wird in der russischen Fernsehsendung Das weiße Quadrat zum Streitpunkt zwischen dem Moderator, Pawel, Irina, Anton und Juri. Die Debatte spitzt sich zu, bis Pawel zu einem Punkt kommt, der zwischenzeitlich an erschreckender Aktualität gewonnen hat. Apple hat seinen Verkauf von iPhones in Russland eingestellt.[28] Pawel konnte 2018 noch sagen: „Das iPhone wird in Amerika hergestellt. Russlands Problem besteht darin, dass Mensch und Staat für sich existieren. Zwischen ihnen gähnt eine Kluft. Und sie wächst. Deshalb wird der Überlebenskampf von Jahr zu Jahr schlimmer.“[29] Die Gemeinsamkeiten der 4 Gäste im Studio und des Moderators sind beim Russlandbild kaum auszumachen. Aber sie haben ihre Herkunft aus der Sowjetunion, die in den Weltraum mit Juri Gagarin vorstieß, ein eigenes Internet entwickeln wollte und Atomwaffen konstruierte. Seit weit über 20 Jahren hatte es Russland 2018 nicht geschafft, an die Entwicklung westlicher Industrienationen anzuschließen. Stattdessen wurde das iPhone zum Statussymbol nicht nur für Fernsehmoderatoren wie dem in Das weiße Quadrat. Wo es kaum noch Gemeinsamkeiten gibt, muss ein Feind geschaffen werden.

Rhetorisch wird von Putin ein alter Feind im Innern propagandistisch recycled. Immer wieder wird vom Moderator der Talkshow die „Fünfte Kolonne“ ins Spiel gebracht, die wie „korrupte() Beamte()“ dem russischen Staat schadet. Der Begriff „Fünfte Kolonne“ ist äußerst beweglich und wird in Deutschland eher für eine „Fünfte Kolonne“ aus Moskau gebraucht.[30] Bernard-Henri Lévy sah im November 2015 Marine Le Pen als „Moskaus fünfte Kolonne“.[31] In Putins Russland wird er als bekanntes Zitat aus Stalins Zeit des Großen Terrors in den 30er Jahren gegen den ultimativen, inneren Feind verwendet. Der Staat muss von der „Fünften Kolonne“ und wer dazu erklärt wird, gesäubert werden. Die „Fünfte Kolonne“ formuliert und reproduziert ein totalitäres Phantasma der Reinheit.  
„Den verdeckten Regieanweisungen Stalins folgend und unter dem Beifall handverlesener Claqueure im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses schließt Wyschinskijs Tirade mit den Worten:
„Das genau ist diese Fünfte Kolonne, dieser Ku-Klux-Klan, die zerschlagen und erbarmungslos ausgerottet werden müssen! Ihr Spiel ist entlarvt! Die Maske des Verrats ist ihnen heruntergerissen worden! Erschießen, zerdrücken muss man dieses verfluchte Natterngezücht!““[32]

Vladimir Sorokins Das weiße Quadrat besticht dadurch, dass es als Montage aus Texten zu Russland exakt jene neuralgischen Bereiche anspricht, die mit der Erklärung des Angriffskrieges auf die Ukraine aufgebrochen sind. Kurz: Die Studiogäste bekommen „Weißen Pep“ gespritzt im Land des Psychopharmaka- und/oder Alkoholmissbrauchs, woraufhin sie nicht mehr wissen, was sie tun. Eine dionysische Orgie im Studio wird losgetreten. Die auch Porno ist und von Ivan Razumov so gezeichnet worden ist. Schließlich wird der Moderator auf das weiße Quadrat gebunden und gehäutet. Die Haut des Moderators wird aufgerollt und mit einer goldenen Krawattennadel zu einem Ring geformt, der dem Regisseur aus der Hand in den Schnee vor dem Studiofenster fällt, wo ihn schon eine Krähe stibitzt, die damit davonfliegt, als ihre Artgenossen sie verfolgen. Der Menschenhautring fällt auf einen Lastwagen, der 6 Stunden 18 Minuten damit auf der Jaroslawer Chaussee fährt… Auf dem Land herrscht so große Armut und Brutalität, dass Sascha nicht nur falschen Honig aus „Melasse, altem Honig und Stärke“[33] vor der Kirche des Heilkundigen Pantaleon als „rechtgläubige(n) Honig“[34] verkauft, vielmehr noch wird der Ring in einer Suppe gekocht und teilweise verspeist. 

Der verstörende Ring aus Menschenhaut als Inkorporation der Schrecken des 20. Jahrhunderts, als Medizinverbrecher in den deutschen Konzentrationslagern Verwertungsexperimente mit der Haut von Menschen, Juden, anstellten, wandert in Das weiße Quadrat wie das Ringlein von einem Ort zum andern. Neben Tauben fliegen auf der Schlusszeichnung Krähen und eine Elster mit dem Hautring samt golderner Krawattennadel über dem Roten Platz am Kreml. Das Titelbild gibt ein Zoomorpher mit Nashornkopf ab, über dessen Horn der Hautring mit Nadeln hängt. Zoomorphe spielen in den Texten von Sorokin wiederholt eine Rolle. Das Politbüro auf der Tribüne am Mausoleum ist zoomorph geworden. Das ist ebenso witzig wie schrecklich. Denn ein regulierendes Politbüro gibt es im Herrschaftsapparat von Putin nicht mehr. Die Trennung zwischen Mensch und Tier hat sich in den Zoomorphen offenbar verabschiedet. Humanismus gibt es mit den Kolonnen auf Roten Platz nicht mehr. Der Mensch, insbesondere als russischer, war schon im Fernsehstudio vor laufender Kamera zum Tier geworden. Ein Medieneffekt nur? Oder der unerbittliche Kampf ums Überleben, den Pawel artikuliert hatte?

In der Erzählung Lila Schwäne des Bandes Die rote Pyramide (2022) wird das Trauma der „Fünften Kolonne“ von Sorokin in die Verkündigung eines „Fünften Imperiums“ transformiert. Wie zu Stalins Zeiten wird eine „große Umgestaltung der Welt“ von einem General versprochen: „er trug eine kleine Ikone vor der Brust, die Juri Gagarin mit einem goldenen Heiligenschein zeigte“.[35] Die Ikonographie der Sowjetunion wird mit dem „goldenen Heiligenschein“ Juri Gagarins ins Religiöse gesteigert. Das ist ebenso paradox wie konstruktiv. Denn Juri Gagarin sollte als erster Mensch in einem speziell für ihn entwickelten, indessen fehlerhaften Raumanzug mit Helm im All die sowjetische Wissenschaft gegen die Religion verkörpern.[36] Auf dem Bleiglasfenster im Foyer des Audimax der Humboldt-Universität zu Berlin erscheint Juri Gagarin in seinem orangefarbenen Anzug mit Helm in einem Ensemble von Wissenschaftlern wie Albert Einstein.[37] Die abstruse Ersetzung des Helms durch einen goldenen Heiligenschein füllt auch eine Leerstelle aus.
„Die überirdische Strahlung russischer Geistigkeit geht von ihm (Jossif Stalin, T.F.) aus! Tief durchdringt sie den Planeten! Posaunentöne hallen durch die Welt: Völker und Staaten, bereut, kehrt ein unter der Flagge des Fünften Imperiums, und ihr werdet teilhaftig der großen Umgestaltung der Welt!“[38]

Die Ersetzung der Wissenschaft durch einen religiös gefärbten Personenkult macht die entscheidende Transformation der traumatischen Sowjetunion in das „Fünfte Imperium“ aus. Ironischer Weise wird mit dem „Fünften Imperium“ die inkriminierte „Fünfte Kolonne“ in ein Versprechen umgewandelt. Die Form des Personenkults in der Erzählung Lila Schwäne nimmt nahezu hellsichtig Putins Stadionrede vom 18. März 2022 anlässlich der Annexion der Krim vorweg.[39] Das Reden wird für den Personenkult zur Machtpraxis, wenn Jewgeni vom „Bund russischer Künstler“ mit gekreuzten „Armen vor der Brust“ wie der Moderator in Das weiße Quadrat verkündet:
„»Wir können über alles reden«, sprach er, »wir müssen es sogar! Flüsternd in den Ecken zu stehen wie der schimmelige liberale Klüngel, genügt nicht. Reden Tag und Nacht, stündlich, minütlich, sekündlich, damit man versteht, in welch großartigen Land wir leben und wie viel wir gemeinsam zu tun imstande sind, wie vieles wir noch vor uns haben und was für einen vortrefflichen Präsidenten, was für hervorragende Militärs, Generäle, Starzen und Heilige, Väter, Mütter, Brüder Ehefrauen, Kinder, wir überwinden jedes Hindernis, finden für alles eine Lösung, vorausgesetzt, wir reden, Reden ist die Hauptsache!«“[40]

Das „Fünfte Imperium“ als Transformation der Sowjetunion wird von Sorokin mit dem Zitat der Reise nach Petuschki von 1969 des sowjetischen Schriftstellers Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew angedeutet und paraphrasiert. Ob die Transformation ein Fiebertraum von Alex nach einem „Seeteufel und Koks“ ist oder die lila Schwäne doch ein Zeichen für ein Unheil sind, das über Russland hereinzieht, bleibt offen. Sie könnten auch nuklear verstrahlt sein. Ob sich Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt haben oder nicht. Die Erzählungen wendet sich in einen morgentlichen F*ck, bevor am „Morgenhimmel“ ein „ebenmäßiger violetter Keil“ aus einem Schwarm Schwäne entsteht. Der Traum artikuliert die sowjetische Angst vor der atomaren Bedrohung, wenn sich die Nuklearwaffen als unzureichend erweisen sollten. Der Einsiedler deutet „seltsame Vogelschwärme (, wo die R-20 stationiert sind)“ als Bedrohung.
„»Dieser Vorfall bedroht die Sicherheit unseres Staates, er könnte uns alle in eine schreckliche Katastrophe stürzen. Russland könnte seinen Atomschild verlieren, seine Sicherheitsgarantie.«“[41]

Sorokins Traumerzählung Lila Schwäne und das Trauma bedingen einander. Im Traum liegen die Männer wenigstens homoerotisch beieinander – „In unmittelbarer Nähe, die Wange an Jewgenis Oberschenkel geschmiegt, der BRK-Mann. Hinter dem General dessen Hand ihm als Kopfstütze diente, der Grobschlächtige; seine Füße in den Jockeystiefeln lagen auf dem zuckenden Gesäß des Weißborstigen.“ Und der F*ck mit Alja wird zum Sprachabenteuer und zur Ekstase, in der das Lila ebenfalls wiederkehrt. Krieg, Angst und Sex liegen nah beieinander, lassen sich kaum voneinander unterscheiden.
„was sind da punkte sind das blasen lila blasen im martini im schweren meer was solln im meer die lila punkte immer mehr punkte im meer he was soll das was soll das was kann das sein und wo kommt das her warum wozu warum warum warum wieso die punkte im glas im pokal he hallo ihr punkte was soll das was wohin jetzt wo fliegt ihr nun hin nein wartet wohin ihr wohin ihr blasen im meer bla bla lila woha woha-aha ah-ha-a-a-a-a-a-aahh?!
Er stöhnte auf, umklammerte sie.“

Neben Lila Schwäne aus dem Bereich von Drogen, Angst, Krieg und Sex als russische Männerseele loten die Erzählungen Die rote Pyramide, Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge, Wellen, Das rostige Mädchen, Der Fingernagel, Der Tag des Tschekisten, Das Tuch und Hiroshima diese weiter aus. In Wellen verschmilzt das delirante Nachdenken nach dem Sex wiederum mit Kriegstechnologie – „Sein Hirn aber, sein mächtiges Hirn ließ sich Zeit: »… wie sie … wie sie das macht (…) … die Welle bricht los, bricht los … sie wird gigantisch sein … einhundert Megatonnen … eine Megatonne ist gleich eine Trillion Kilokalorien … einhundert Trillionen … also … der Energiefluss pro laufendem Meter der Wellenfront … die von den Wellen abgetragene Gesamtenergie bleibt praktisch (…) … eine Welle … Wasser … Wassermann … Kapitäne …« Er war eingeschlafen.“[42] – Wellen der Erregung werden mit Wasser- und Druckwellen verschnitten. Krieg und Sex als Penetration und Ejakulation werden von Sorokin metonymisch verkoppelt. Dadurch wird nicht zuletzt das permanente Reden von der Kriegstechnologie und der Atomwaffe in ihrer sexuellen Dimension entlarvt. – Der Erscheinungstermin für den Erzählband Die rote Pyramide war der 10. Februar 2022, vierzehn Tage vor der Kriegserklärung Putins.

Torsten Flüh

Vladimir Sorokin
DAS WEISSE QUADRAT
Aus dem Russischen von Christiane Körner.
Mit Zeichnungen von Ivan Razumov.
No. 17 | 172 Seiten mit zahlreichen zwei Farben (rot/schwarz)-Abbildungen, Format 18 x 18 cm, Hardcover in Fadenheftung mit einfarbiger Prägung, Kapitalband, farbigen Vor- und Nachsatz 
1. limitierte Auflage von 1000 durchnummerierten Exemplaren
ISBN  978-3-945867-17-4
EUR 28,00

Vladimir Sorokin
Die rote Pyramide
Erzählungen
Übersetzt von: Dorothea Trottenberg, Andreas Tretner
Gebundene Ausgabe 22,00 €
E-Book 18,99 €
Erscheinungstermin: 10.02.2022


[1] DWDS: Propaganda.

[2] Žižek hatte das Gespenst der Ideologie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion analysiert. Slavoj Žižek: The Spectre of Ideology. In: Slavoj Žižek (ed.): Mapping Ideology. London/New York: Verso, 1994, S. 9.

[3] Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, S. 5.

[4] Ebenda S. 19.

[5] Ebenda S. 12.

[6] Ebenda S. 27.

[7] Ebenda S. 13.

[8] Ebenda S. 19.

[9] Ebenda S. 27.

[10] Ebenda S. 5.

[11] Ebenda S. 31.

[12] Ebenda S. 158.

[13] Dirk Uffelmann: Vladimir Sorokins Diskurse. Ein Handbuch. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, S. 227.

[14] Ebenda S. 230.

[15] Ebenda S. 231.

[16] Vladimir Sorokin: Das weiße Quadrat. Berlin: circonis circonia, 2018.

[17] Meldung: Regisseur Kirill Serebrennikow nach Deutschland ausgereist. In: nachtkritik vom 31. März 2022.

[18] Dirk Uffelmann hat die Ausgabe von Das weisse Quadrat durch Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski nicht berücksichtigt. Siehe Dirk Uffelmann: Vladimir … [wie 13] S. 276.

[19] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] ohne Seitenzahl (S. 12-13).

[20] Ebenda S. 16.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Ebenda S. 21.

[23] Ebenda S. 25.

[24] Ebenda S. 29.

[25] Ebenda S. 30.

[26] Ebenda S. 32.

[27] „größere Gruppe, deren Mitglieder durch bestimmte Merkmale, Gemeinsamkeiten miteinander in Beziehung stehen“ in DWDS: Geschlecht.

[28] Chip: Apple stellt Verkäufe von iPhones und Co. in Russland ein. Deutsche Presse-Agentur (dpa) 04.03.2022, 06:23.

[29] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] S. 42.

[30] Siehe Wikipedia: Fünfte Kolonne.

[31] Bernard-Henri Lévy: Moskaus fünfte Kolonne. In: IPG 03.11.2015.

[32] Robert Baag: Stalins Schauprozesse gegen den vermeintlichen Gegner. In: Deutschlandfunk 30.10.2012.

[33] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] S. 131.

[34] Ebenda S. 135.

[35] Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2022.

[36] Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017 21:47.

[37] Vladimir Sorokin: Lila Schwäne. In: ders.: Die … [wie Anm. 35] (nach E-Book ohne Seitenzahl zitiert).

[38] Torsten Flüh: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 17, 2015 20:52.

[39] Siehe Torsten Flüh: Animierte Winterreise südafrikanisch. Zu William Kentridges Mosse-Lecture Image & History. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 6, 2014 21:01. (Erstes Foto rechts, mittig, oben).

[40] Vladimir Sorokin: Lila … [wie Anm. 37].

[41] euronews: [LIVE] Putins Rede anlässlich der Krim-Annexion in einem Moskauer Stadion. Live übertragen am 18.03.2022.

[42] Vladimir Sorokin: Lila … [wie Anm. 37].

[43] Ebenda.
[44] Vladimir Sorokin: Wellen. In: ders.: Die … [wie Anm. 35].

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