Verliebt ins Display

Smartphone – Körper – Spiegel

Verliebt ins Display

Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater

Kurz bevor der Schlussapplaus im Chamäleon in den Hackeschen Höfen aufbrandet, bilden die Körper der Artist*innen senkrecht ein Smartphonedisplay. The Mirror heißt die neue Show der australischen New Circus Kompanie Gravity & Other Myths, mit der das Team des Chamäleon Theaters seit Jahren zusammenarbeitet. Tatsächlich haben die Zuschauer’innen nach der Show das Gefühl, dass es sich bei der Schwerkraft nur um einen Mythos handele und sie ebenso auf die Bühne springen könnten, um sich selbst durch die Luft zu wirbeln. Darcy Grant hat für seine Show als Regisseur die Augen aufgehalten: Fast alle vom Kleinkind bis zur Neunzigjährigen starren heute auf ein – ihr(!) – Smartphonedisplay.

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Jacques Rancière formuliert in seinem Buch Aisthesis die These, dass gerade die populären Künste wie Varieté oder heute New Circus seismographisch gesellschaftliche Umbrüche vorwegnähmen. The Mirror lässt sich parallel zur Artistik und den Songs mit Megan Drury als fragmentarische Mediengeschichte und Transformation des Showbusiness‘ lesen. Denn niemand anderes als Deutschlands erfolgreichste Schlagersängerin, Helene Fischer, kooperiert mittlerweile mit der Übermutter des New Circus‘, dem Cirque du soleil. Doch ihre Show ist nicht so nah an den medialen Umbrüchen und Verwerfungen der Alltagspraktiken am Smartphone dran, wie es Darcy Grant mit Gravity & Other Myths gelingt.

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Zunächst steht vor dem Vorhang auf der Bühne ein größerer Kassettenrekorder mit Radiofunktion aus den analogen Urzeiten der 70er oder 80er Jahre. Radio wurde nicht im Internet gestreamt, sondern mittels Wellen vor allem über UKW – Ultrakurzwelle – gesendet, was nicht immer störungsfrei verlief. Manchmal mischten sich störende Stimmen in die Wellen ein. Die wellenbedingten Stimmen ließen an Geister denken. In der elektronischen Musik wurden die Wellen des Radios und der Tonbandgeräte für künstlerische Transformationen genutzt.[1] Megan Drury im Bademantel wird auf der Bühne des Chamäleon von diesen Geisterstimmen irgendwie heimgesucht. Visuell wird durch das Verschieben von schwarzen Vorhängen auf der Bühne von den Artist*innen durch Formationen, die auf geradezu gespenstische Weise plötzlich entstehen und verschwinden, eine Geisterstimmung andeutungsweise erzeugt.

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Der New Circus bietet mit The Mirror Assoziationsfelder an, die ebenso plötzlich und vor allem schnell aufblitzen, wie sie verschwinden. Dramaturgisch wechselt Darcy Grant zwischen Schnelligkeit, Ausdauer und Überraschung. Das Tempo der Aktionen und ihre Abfolge bestimmen, was die Artist*innen mit ihren Körpern machen. Ihre große Kunst besteht darin, immer alles zu zeigen und gleichzeitig zu verbergen. Insofern ist die Episode mit den schwarzen Vorhängen, die auf der Bühne hin- und hergezogen werden, prototypisch. Immer wird genau austariert, was gezeigt und was verborgen wird. Für die Artistik des New Circus könnte dieses Prinzip der Vorhänge geradezu stilbildend sein. Zugleich wecken die Vorhänge im Publikum den Wunsch, hinter sie zu schauen. Am Trapez oder auf dem Hochseil soll vor allem ein mögliches Halteseil nicht zu sehen sein, damit die Exzeptionalität der Aktion entstehen kann.

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Schon für die Artistik und den Lichttanz der Wende zum 20. Jahrhundert formuliert Jacques Rancière eine Verwandlung der Materie in Geist. The Mirror thematisiert als New Circus und Paraphrase auf aktuelle Smartphone-Praktiken die Verwandlung der Körper und der Subjekte in eine hastige Eskalation der Datenströme. Von und nach immer und überall. Die neue Kunst von The Mirror schafft es anders als bei Rancière nicht mehr, „eine Gesellschaft vorweg(zu)nehmen“. Vielmehr inszeniert sie heute Soziopathen auf dem Display.
„Die neue Kunst ist jene Kunst, die eine Gesellschaft vorwegnehmen will, in der der Geist völlig Materie geworden ist, während die Materie sich gänzlich in Geist verwandelt hat. „Die Bühne in Freiheit, Fiktionen preisgegeben, dem Spiel eines Schleiers nebst Attitüden und Gesten entströmt“, dieses „hochreine Ereignis“ ist viel mehr als eine Zusammenkunft von Ästheten. Sie ist die Bühne einer neuen Welt, in der die Kunst und die Wissenschaft übereinstimmen und das sinnliche Milieu des Daseins und die Form der Gemeinschaft ein und demselben Prinzip gehorchen.“[2]

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Die Artist*innen von Gravity & Other Myths erzeugen eine Exzeptionalität ohne Netz und doppelten Boden aus dem Tempo und dem Timing ihrer Aktionen. Ihre Kunst kreist um das Spiegelbildliche des Smartphones zwischen Narziss-Mythos und Leere. Es ist kaum noch ein Telefon, aber ganz bestimmt protothetisch nach dem deutschen Begriff ein Handy. Das neue Tool für das Ich ist nur vermeintlich handlich und greifbar, während kaum jemand wissen kann, was mit seinen/ihren Daten, Pics und Videos passieren wird. Die Artist*innen müssen auf einander vertrauen, indem das Zufällige und Exzeptionelle durch pure Körperbeherrschung vorgeführt wird. Insofern scheint mit den Artist*innen in The Mirror ein Soziales auf, das mit dem Medium Smartphone gefährdet ist. Spielt das Ich mit dem Smatphonedisplay oder verspielt das Display das Ich?

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An diesem Punkt wurde die Premiere von The Mirror in einer weiterentwickelten Form und mit neuen Artist*innen am 7. September im Chamäleon zu einem aufschlussreichen Ereignis. Denn beim Spiegel wie dem Smartphone als Spiegelmedium geht es immer darum, etwas zu zeigen, um anderes nicht sichtbar werden zu lassen. Es geht immer um eine Konkurrenz, einen Krieg des Sichtbarwerdens. Aufmerksamkeitsfenster. Mit den Worten der Co-Produzenten vom Chamäleon:
„(…) The Mirror (bleibt) eine raffinierte Körperkunst-Performance, die sich spielerisch bis philosophisch mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, mit medialer Selbstinszenierung, mit Körperwahrnehmung und zerbrechlicher Selbstliebe. Wie viel wollen, wie viel sollen wir zeigen, scheinen sich die Performer:innen zu fragen, wenn sie sich dem Publikum offenbaren, mit Bewegungen, Gesten, Blicken; wenn sie von der Handkamera auch bis in den Backstage-Bereich verfolgt werden. Immer den Spiegel im Blick, das Tor zum Ich, zur Seele oder zum Abgrund.“[3]

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Zwischen Apps wie TicToc, Weibo, WhatsApp, Facebook und X etc. auf dem Smartphone spielen immer ein Sichtbarwerden, ein Sichtbarwerdenwollen und Verschwinden eine Rolle. Was als exzeptionell erscheint, wurde bereits millionenfach eingeübt. Dieses Paradox, das sich von der Artistik her entwickeln lässt, durchzieht die Praktiken des Smartphones, die in The Mirror andeutungsweise kritisch vorgeführt werden. Auf großen, senkrechten LED-Wänden werden die Sängerin und die Körperkünstler*innen projiziert. Die smartphoneartigen LED-Wände werden verschoben, zu Hintergründen und Live-Screens. Das artistische Smartphone-Rendezvous auf der Bühne erscheint synchron auf dem Display. Zur Pause sieht das Publikum die Artist*iinnen Backstage. – Ob die Synchronizität tatsächlich auf dem Display stattfindet oder auf ein nur eingespieltes Video umgeschaltet wurde, verschwindet für das Publikum hinter einem Fragezeichen, falls es überhaupt gestellt wird.

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Die en passant abgespielte LiveCam-Sequenz aus dem Umkleideraum gibt zugleich einen Wink auf den lustvollen Voyeurismus der Zuschauer*innen, die immerschon wissen wollten, was in der Pause im Umkleideraum passiert. Sichtbarwerdenwollen und Voyeurismus bedingen einander und stiften Schnittpunkte. Wobei der Voyeurismus am Smartphone mit den entsprechenden Apps, positiv formuliert, vor allem Sicherheit durch Distanz verschaffen soll. Negativ formuliert, entspringt der Voyeurismus einer panischen Angst, nicht den imaginierten Ansprüchen gerecht werden zu können. Voyeurismus verwandelt Ängste in Lust und Kontrollphantasien. Videos und Pics vom Smartphone-Speicher werden zu Kampfmitteln.    

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Der Begriff Artistik und sein Gebrauch im Deutschen wurde schnell mit dem Zirkus als „Zirkuskunst“ verknüpft.[4] Weiterhin wird er für „außerordentliche körperliche Geschicklichkeit“ und ein „großes Maß an formaler Beherrschung“ verwendet. Zugleich wird seine Herkunft ungenau aus dem Französischen angegeben. Dabei ist es wenigstens erwähnenswert, dass wohl ARTISTE von D’Alembert und Diderot in der Encyclopédie berücksichtigt wurde, aber eine Artistik nicht genauer formuliert wird. Die Fähigkeiten, die den artiste auszeichnen, werden insbesondere hinsichtlich der Mechanik und der Intelligenz formuliert. Im Unterschied zur deutschen Artistik wird der artiste nicht im Zirkuszelt, sondern der Wissenschaft und Praxis im Labor angesiedelt:
„ARTISTE, s. m. nom que l’on donne aux ouvriers qui excellent dans ceux d’entre les arts méchaniques qui supposent l’intelligence ; & même à ceux, qui, dans certaines Sciences, moitié pratiques, moitié speculatives, en entendent très-bien la partie pratique, ainsi on dit d’un Chimiste, qui sait exécuter adroitement les procédés que d’autres ont inventés, que c’est un bon artiste ; avec cette différence que le mot artiste est toûjours un éloge dans le premier cas, & que dans le second, c’est presque un reproche de ne posséder que la partie subalterne de sa profession.“[5]
(KÜNSTLER, s. m. Bezeichnung für Arbeiter, die sich in den mechanischen Künsten auszeichnen, die Intelligenz voraussetzen. Und selbst denen, die in bestimmten Wissenschaften, die halb praktisch, halb spekulativ sind, den praktischen Teil sehr gut verstehen, wird von einem Chemiker, der weiß, wie man die von anderen erfundenen Prozesse geschickt ausführt, gesagt, dass er ein guter Künstler ist; mit dem Unterschied, dass das Wort Künstler im ersten Fall immer ein Lob ist und dass es im zweiten Fall fast ein Vorwurf ist, nur den untergeordneten Teil seines Berufs zu besitzen.)

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Die Ambiguität der Gebrauchsweisen des artiste‘ im 18. Jahrhundert gibt einen Wink auf das Problem von Praxis und Mechanik im Horizont der Aufklärung bezüglich der Intelligenz. Denn der Begriff des Artisten oder Künstlers kann nach D’Alembert und Diderot zugleich abwertend gebraucht werden. Der Artist soll sein praktisches Handeln mit Intelligenz verstehen und nicht nur auf geschickte Weise nachahmen. Im Falle der Nachahmung kippt der Begriff sogleich vom Respekt in Spott. Im Deutschen schimmert diese Ambiguität weiterhin durch. Beiläufig werden damit die Künste oder artes neu formuliert. Sie sollen sich nun stärker an einer vernunftorientierten, empirischen Wissenschaft ausrichten. Insofern wird der Begriff des Künstlers und damit auch der Artistik nicht nur als mechanische Zirkuskunst anders formuliert. Die populäre Körperkunst der Artistik wird kulturell nicht zuletzt vor diesem Hintergrund geringer geschätzt.

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Die Elastizität der nur durch Lieder kommentierten Artistik ermöglicht unterschiedliche Sichtweisen von The Mirror. Unter dem Begriff des Spielgels werden unterdessen Praktiken der Mediennutzung im 21. Jahrhundert angerissen, wenn nicht verhandelt. Die Materialität der Spiegel hat sich seit dem 18. Jahrhundert grundlegend verändert. Selbst seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich viel verändert, wenn Megan Drury Sweet Dreams (1983) von den Eurythmics singt. „Some of them want to get used by you, Some of them want to abuse you”, klingt in Zeiten von Cybergrooming mit wiederholt tödlichem Ausgang anders als vor 40 Jahren. Die Anbahnung von sexuellen Kontakten mit Minderjährigen durch ein drehbuchartiges Handeln und Texten im Chat kann heute jede und jeder durchschauen. Die Aufklärung über Cybergrooming des Bundeskriminalamtes kann jede/r sofort bei Google finden.[6] Dennoch gehört es weiterhin zur geübten Praxis nicht nur am PC zuhause, sondern am unentbehrlichen Smartphone.

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Das Smartphone ist mit der Spiegelfunktion zu einer Ich-Prothese geworden. Niemand will es missen. Von der Bezahl- und Bank-Funktion bis zur Verabredung zum Sex findet alles am Display statt. Das lässt sich auf der Bühne insbesondere in den LifeCam-Sequenzen beobachten. Megan Drury wird von den Artist*innen ständig in neue Positionen versetzt. Schnell blitzt dabei die Erinnerung an Berichte auf, wie Smartphone Nutzer*innen verunglückten, weil sie ein besonders spektakuläres Live drehen wollten. Das Display in der Hand taugt zum Suizid. Die Artist*innen – Emily Gare, Lewis Rankin und Maya Tregonning, Hamish McCourty, Jack Manson, Jordan Hart, Josh Strachan und Megan Giesbrecht sowie die Tänzerin und Luftakrobatin Isabel Estrella – erzeugen mit Schnelligkeit, Kalkül und Körperkunst all diese Spiegeleffekt.

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Unversehens werden im Strudel der Körperbilder der Artist*innen die Geschlechter durcheinander gewirbelt. Vom Bodybuilding-Körper bis zum eher fülligen werden mit der Artistik die Kategorien der Körpermaße widerlegt, um die Schwerkraft zu widerlegen. Doch nicht die Schwerkraft wird widerlegt, sondern vielmehr durch andere Gesetzmäßigkeiten als Mythos apostrophiert. Im Spiegel, dem entscheidenden Einrichtungsgegenstand der Fitnessstudios, werden Körper und Geschlecht ständig überprüft und geformt. In der Artistik stört der Spiegel eher, weil es um eine permanente Bewegung geht. Im Spiegel wird nicht die Bewegung, sondern die Effekte der Bewegungen an Sixpack, Bizeps und Oberschenkelmuskulatur überprüft, bewertet, genossen oder verworfen. Stärke wird in der Dreierpyramide durch die Ausdauer beim Tragen der beiden anderen Körper und ein sichtbares Zittern vorgeführt.

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Vier Zweierpyramiden und ein darüber gespannter Körper bilden schließlich ein senkrecht aufgestelltes Orthogon, das ein Display andeuten könnte. Wir wissen nicht, ob die Körper ein Display bilden sollten. Im nächsten Augenblick war die artistische Figur schon wieder verschwunden, weil die Körper auseinander sprangen.

Torsten Flüh

Chamäleon
The Mirror
Hackesche Höfe
bis 7. Januar 2024
täglich außer montags.


[1] Zum Radio, Tonbandgerät und Wellen siehe auch: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[2] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen, 2013, S. 147.

[3] Chamäleon: Pressemappe: The Mirror. Berlin, S. 5.

[4] DWDS: Artistik.

[5] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 1751 — 1772 : ARTISTE.

[6] BKA: Cybergrooming.

Tongeschlechter und das Geschlecht der Musiker*innen

Tonsystem – Persien – Stimmung

Tongeschlechter und das Geschlecht der Musiker*innen

Zur Uraufführung von „My Persia“ von Wolfgang von Schweinitz und dem Triumph des Mābhānoo Ensembles beim Musikfest Berlin

Fast am Ende des Musikfestes Berlin spielte der Jahrestag der Proteste im Iran seit dem 16. September 2022 eine prominente Rolle. Der Kammermusiksaal war für das Konzert des Mābhānoo Ensembles nahezu ausverkauft. Vor dem Konzert waren im Foyer Paare in traditionellen persischen Gewändern und viele Exil-Iraner und -Iranerinnen zu sehen. Die Stimmung im Saal war angespannt. Als das Frauenensemble mit Ostād Majid Derakhshāni den Saal betrat und die Instrumente Oud, Kamāntsche, Daf, Tār und Qānun zu stimmen begann, rief ein Mann aus einer der obersten Reihen etwas auf Farsi in den Saal. Applaus kam aus einigen Ecken des Saals. Die Frau neben dem Mann versuchte, ihn zu beruhigen. In einer Pause musste der Mann den Saal verlassen.

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Am Tag zuvor war die Uraufführung von Wolfgang von Schweinitz‘ Plainsound Duo „My Persia“ op. 66 für Violine und Kontrabass mit Viertelton-Skondatur weitaus ruhiger verlaufen, obwohl es sich um eine noch nie gehörte Revolution in der westlichen wie der persischen Musik gehandelt hatte. Helge Slaato (Violine) und Frank Reinecke (Kontrabass) spielten das Stück in einer bitonalen Harmonik in traditionell persischen Spielweisen. Wolfgang von Schweinitz hat seine Komposition äußerst detailliert ausgearbeitet. Die Musik für die Tār wird auf Violine und Kontrabass transformiert. Den Komponisten interessierte bei dieser Transformation persischer Musik auf europäische Streichinstrumente die musiktheoretische Operation.

© Fabian Schellhorn

Wolfgang von Schweinitz‘ Persien verdankt sich seiner musiktheoretisch durchdachten Kompositionen, die dahingehen, dass der „Tonraum innerhalb einer Oktave weit feinere Abstufungen enthält, als uns die Klaviatur denken lässt“.[1] Der beigelegte „geänderte Ablauf“ gibt einen genaueren Einblick nicht nur in die Abfolge des Präludium und der 4 Sätze von My Persia, das Präludium ist auch genauer aufgeteilt: „Präludium – Kereshme – Darāmand Nr. 1 – Darāmand Nr. 2 – Naghme – Kereshme – Gushe-ye Tork – Chāhāmezrāb – Forud – Hasin – Forud – Hseyni – Kereshme – Āvāz – Kereshme“. Der Berichterstatter hat kaum eine Vorstellung, was „Kereshme“, das im Präludium vier Mal wiederholt wird, heißen könnte. Er könnte nicht einmal „Kereshme“ von „Forud“ oder „Hasin“ unterscheiden. Indessen würde er nach den beiden Persienkonzerten denken, dass es fast immer eine Art „Präludium“ auf der Tār gibt, wenn sie in einem Konzert gespielt wird. Der Übergang vom Stimmen des Instruments zum improvisierten Spielen erscheint ihm fließend.

© Fabian Schellhorn

My Persia mit seinen sehr feinen Abstufungen hat eine Spieldauer von ca. 37 Minuten mit kurzen Unterbrechungen zwischen den Sätzen. Die derart feinen Abstufungen von der Tār auf Violine und Kontrabass übertragen, bedürften eines eingeübten Gehörs. Da diese mit der Uraufführung allerdings zum ersten Mal überhaupt erklangen, blieben sie in gewisser Weise geheimnisvoll. Vielleicht erinnerten die Kompositionen am ehesten an Halim El-Dabh, dessen 100. Geburtstag 2021 durch MaerzMusik und Savvy Contemporary gefeiert wurde.[2] Obwohl Halim El-Dabh als einer der Pioniere der elektronischen Musik gilt, bewegten sich seine Musikforschungen zum Zār/ زار–Ritual in der klassischen Musikpraxis Persiens. Die Faszination des anderen Tonsystems für Wolfgang von Schweinitz, der am California Institute of the Arts bei seinem Kollegen Houman Pourmehdi persische Musiktheorie studierte, lässt sich nachvollziehen.

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Die persische Musiktheorie interessiert Wolfgang von Schweinitz nicht zuletzt deshalb, weil es sich „(t)echnisch gesehen (…) in der persischen Klassik um die pythagoreische Stimmung wie in der altgriechischen Musik“ handele, bei der „der Tonvorrat (…) auf reinen Quinten aufgebaut“ sei.[3] Damit bewegt sich von Schweinitz zugleich in einer „mikrotonalen Kompositionstechnik“.[4] Das Auftragswerk der Berliner Festspiele/Musikfest Berlin und der musica viva des Bayerischen Rundfunks bezeichnet von Schweinitz auch als ein „Riesenexperiment“. Es bedarf einer gewissen Liebe und Offenheit sich in das Stück hineinzuhören und hineinzudenken. Die Übertragungen aus der persischen Klassik als Praxis seiner Komposition beschreibt der Komponist genauer:
„Ich habe eine Aufnahme des gesamten Radifs von Shahnazi. Außerdem konnte ich zurückgreifen auf eine Transkription seiner Improvisation über das Tongeschlecht „Šur“, das an d-Moll erinnert aber eben in Vierteltönen. Der erste Satz ist ein ausgearbeitetes Arrangement davon. Das Spiel der Tār habe ich auf Kontrabass und Geige verteilt, beide zusammen habe ich mir als eine Art „Riesen-Tār“ gedacht.“[5]

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Die intensive Auseinandersetzung mit der persischen Klassik ist vor dem Hintergrund des islamistischen Regimes in Teheran von kulturpolitischer Tragweite. Musik gilt im fundamentalistischen Islam als unrein. Insofern bildet die Ausübung der klassischen, persischen Musik mit dem Saiteninstrument Tār in Persien seit dem 19. Jahrhundert eine kulturpolitische Opposition zum streng islamischen Regime. Für Wolfgang von Schweinitz ist seine Komposition eine „Emanzipation“ von der temperierten Stimmung in der europäischen Musik seit dem 17. Jahrhundert. So ist von Johann Sebastian Bach aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Das wohltemperierte Klavier als Sammlung von Präludien und Fugen bekannt. Temperierung heißt insofern eine Reinigung und Normalisierung des Tonraums. Wolfgang von Schweinitz befragt insoweit die vorherrschende Stimmungstradition.
„Es ist meine europäische Auseinandersetzung mit persischem Material und zugleich mein Beitrag zur Entwicklung einer nicht temperierten europäischen Vierteltonmusik.“[6]   

© Fabian Schellhorn

Im zweiten Teil des Abends spielten Majeed Qadianie auf der Tār und Setār sowie Niloufar Mohseni auf der Tombak Improvisationen über ausgewählte Dastgāhs des Radifs der klassischen persischen Kunstmusik. Im Unterschied zur ausgearbeiteten Komposition nach einem Notensystem entsteht die Improvisation aus der Praxis heraus. Die Modi (dastgāhs  دستگاه) des Spielens nach einer Abfolge oder Melodie (radif ردیف ) wird in der persischen Klassik traditionell mündlich weitergegeben. Der Unterschied zu von Schweinitz‘ Kompositionsverfahren, das auf einer „Aufnahme“ und einer „Transkription“ basiert, wird schnell deutlich. In der mündlichen Überlieferung der Musikpraxis schleichen sich immer auch, sagen wir, Spielräume jenseits einer Partitur ein. Anders gesagt: eine Kluft zwischen dem Schriftsystem der Partitur und der oral-praktischen Weitergabe hat durchaus Effekte auf die Musik. Für Majeed Qadianie hängt die Improvisation von den „Gefühlen der Zuhörer*innen (…), vom Licht im Saal, Faktoren wie diesen (ab)“.
„Wie im indischen Raga-System ist es in der persischen Musik so, dass die Dastgāhs bestimmten Tageszeiten zugeordnet sind, das werde ich auf jeden Fall beachten. Man wählt also für ein Abendkonzert eher eine melancholische Skala und nicht eine kräftige, die man eher am Vormittag spielen würde.“[7]

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Die Improvisation in der klassischen persischen Musik hängt von Stimmungen ab, die mit den Dastgāhs kombiniert werden und korrespondieren. Das Musikgeschehen wird quasi systematisch erweitert. Zwar kann man sagen, dass bei jedem Konzert in einem Musiksaal, vielleicht umso mehr dem Kammermusiksaal Gefühle und Konzentration der Zuhörer*innen immer eine Rolle spielen, aber nach Majeed Qadianie wird die Improvisation zu einer fein abgestimmten Kombinatorik, die das Musikereignis nicht nur rahmt, vielmehr wird sie zu einer atmosphärischen Abstimmung. Die Tombak ist in dieser Kombination nicht nur ein begleitendes Rhythmusinstrument, vielmehr entlockte Niloufar Mohseni ihr einen regelrechten Klangreichtum, der auf die Improvisation reagiert. Majeed Qadianie und Niloufar Mohseni kommunizierten miteinander über ihre Instrumente, was sehr reizvoll war.

© Fabian Schellhorn

Der zweite Persien-Abend beim Musikfest war wiederum mit dem Mābhānoo Ensemble unter der Leitung von Majid Derakhshāni anders gelagert. Meine Berliner Freund*innen Reza und Afsar verfolgen die Auftritte des Ensembles bereits seit geraumer Zeit auf YouTube. Am 16. September nahmen sie allerdings an einer Demonstration teil. Die bereits in der, wenn man es so sagen kann, Renaissance der persischen Klassik angelegte politische Tragweite, ist bei Majid Derakhshāni und dem Ensemble gänzlich aufgebrochen. Majid Derakshāni kombiniert die Instrumentalmusik mit klassischen Gedichten von Rumi und Hāfez sowie dem zeitgenössischen Dichter Gholāmreza Ghodsi (1925-1989). Es handelt sich hierbei also weniger um Improvisationen, sondern um Liedkompositionen und Arrangements. Zuvor hatte Majid Deragshāni mit Roshanak Rafāni Improvisationen auf Tār, Daf und Tombak gespielt. Am 27. September wird das Konzert im Prinzregententheater München im Rahmen der Konzertreihe musica viva des Bayrischen Rundfunks wiederholt.

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Ein Manko des Auftritts im Kammermusiksaal war, dass es keine Übersetzung der Gedichte gab, so dass der Berichterstatter zwar die Lieder hörte, sie allerdings nur nach der jeweiligen Stimmung erahnen konnte. Obwohl Majid Derakhshāni den Ehrentitel eines Ostād (Meister) in der klassischen persischen Musik trägt, erinnerten den Berichterstatter einige Elemente an den modernen Chanson bis zu Anklängen an Jacques Brel. Dass Majid Derakshani mit Mābhānoo ein Frauenensemble geformt hat, löste im Iran offenbar heftige Debatten aus. Wegen der Zusammenarbeit mit den Musikerinnen, die im Iran nicht öffentlich auftreten dürfen, wurde ihm ein Einreise- und Berufsverbot erteilt, so dass er mittlerweile in Hamburg leben muss. Der Musiker und Komponist begründet seine Zusammenarbeit mit der Geschichte der iranischen Musiktradition.
„Wir wissen (…) heute, dass es vor etwa 100 Jahren viele professionelle und virtuose Instrumentalistinnen und Sängerinnen gab. Doch sie trauten sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil es für Frauen als unmoralisch galt zu musizieren. … Das Singen ist für Frauen im Iran grundsätzlich verboten – es sei denn, die Frauenstimme verschwindet im Chor oder wird von einer Männerstimme übertönt. Deshalb gibt es im Iran keine öffentliche Bühne für Sängerinnen.“[8]

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Das Ensemble trat durch die Musikvideos Jane Ashegh und Hamcho khorshid vor 9 Jahren z. B. auf YouTube an die Öffentlichkeit. Die Frage des Geschlechts und seiner Zurichtung spielt im islamischen Iran eine entscheidende Rolle. Aus den Tiefen seiner Erinnerung weiß der Berichterstatter allerdings, dass es in den 70er Jahren bei den Berliner Philharmonikern heftige Widerstände gab, als Herbert von Karajan eine Musikerin ins Orchester aufnehmen wollte. Das Geschlecht spielte in europäischen Symphonieorchestern jahrhundertelang eine Rolle. Eine Geschichte zum Geschlecht der Orchestermusiker*innen in Europa ist bislang nicht erforscht und geschrieben worden. Erst letztes Jahr thematisierte Yannick Nézet-Séguin mit dem Philadelphia Orchestra überhaupt die Frage des Geschlechts in seiner der deutschen Sprache eigenen Mehrdeutigkeit beim Musikfest Berlin.[9] Der Auftritt von Majid Derakhshāni und dem Mābhānoo Ensemble beim Musikfest Berlin wurde zu einem Triumph.

Torsten Flüh


[1] Musikfest Berlin: Abendprogramm 15.9.2023: Persien I West-östliche Begegnung. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[2] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[3] Stefan Franzen: „Mir geht es um die Emanzipation der Konsonanzen“. Wolfgang von Schweinitz im Gespräch. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 7.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda S. 8.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Stefan Franzen: Wie ein Teppich mit kleinen Webfehlern. Majeed Qadianie und Frank Reinecke im Gespräch. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Bahar Roshanai: Zwischentöne. Bahar Roshanai im Gespräch mit Majid Derakhshāni. In: Musikfest Berlin Abendprogramm 16.9.2023: Persien II Māhbānoo Ensemble. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 11.

[9] Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Erzählen – Klanggemälde – Musikpreis

Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin

Darf der Berichterstatter drei ebenso unterschiedliche wie herausragende Orchester beim Musikfest Berlin in einer Besprechung nacheinander würdigen? Ihm ist nicht ganz wohl dabei. Doch die Komprimierung führt zugleich dazu, dieses von Winrich Hopp mit den Berliner Philharmonikern und den Berliner Festspielen zusammengestellte Festival mit seiner Abfolge großer und größter Orchester und Dirigent*innen ins rechte Licht zu rücken. Beim Musikfest Berlin stellen sich Jahr für Jahr die weltbesten Orchester zu Beginn ihrer Tournee durch Europa und Großbritannien ein. Das Berliner Musikpublikum bekommt das seit Jahren eher etwas träge mit. Kurt es noch spätsommerlich auf Mallorca oder in Heringsdorf und Świnoujście an der Ostsee? Glücklicherweise wird das Festival medial von Deutschlandfunk Kultur begleitet und fast lückenlos aufgezeichnet.

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Große Dirigent*innen sind weiterhin fast immer männlich. Das Programm des Konzerthausorchesters Berlin mit seiner neuen Chefdirigentin Joana Mallwitz hat der Berichterstatter am 12. September versäumt, pardon. Ansonsten wurden bereits Ivan Fischers Dirigat mit dem Concertgebouw Orchestra, Sir Simon Rattles mit dem London Symphony Orchestra[1] und das aufsehenerregende, fast zufällige Debut von Dinis Sousa mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique[2] besprochen. Am 3. September dirigierte nun Sir George Benjamin das einzigartige Ensemble Modern Orchestra beim Start seiner Tournee anlässlich der 30jährigen Zusammenarbeit. Benjamin hatte erst kürzlich als Komponist und Dirigent den hochdotierten Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten. Am 5. September folgte Andris Nelsons als Stardirigent und am 11. September leitete Vladimir Jurowski das Bayrische Staatsorchester anlässlich seines 500jährigen Jubiläums – in Berlin.

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Die Ernst von Siemens Musikstiftung feiert 2023 ihr 50jähriges Jubiläum.[3] Die 1972 durch den kinderlosen Industriellen und Mäzen Ernst von Siemens gegründete Musikstiftung gehört neben der Kunststiftung zu den wichtigsten deutschen Musikförderungsinstitutionen. Der Ernst von Siemens-Musikpreis wurde am 7. Juni 1974 von seinem Stifter an Benjamin Britten überreicht. In der Stiftungsurkunde vom 20. Dezember 1972 ist als Zweck unter 2c formuliert: „die Verleihung von Preisen an produzierende oder reproduzierende Musikkünstler oder Musikwissenschaftler, die auf ihrem Gebiet besondere Leistungen vollbringen, insoweit dadurch ihr künstlerisches Schaffen gefördert und wertvolle Kunstwerke der Allgemeinheit zugeführt werden.“[4] Nach Benjamin Britten, Herbert von Karajan, 1979 Pierre Boulez[5], Karlheinz Stockhausen[6], Hans Werner Henze[7], die Bratschistin Tabea Zimmermann[8] oder Rebecca Saunders 2019[9] und Olga Neuwirth 2021[10] hat nun George Benjamin[11] den Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten.

© Fabian Schellhorn

Sir George Benjamin hatte mit dem Ensemble Modern Orchestra ein besonderes Konzertprogramm ausgewählt, in dem die Uraufführung von Francesco Filideis Cantico delle Creature und seine Liedkomposition A Mind of Winter (1981) mit Anna Prohaska als Solistin zwei Höhepunkte setzten. Das sehr jung besetzte Ensemble Modern Orchestra brillierte indessen ebenso mit Spira (2019) von Unsuk Chin, Cloudline (2021) von Elisabeth Ogonek, die ihre Komposition „ein Klanggemälde für Orchester“ nennt, und glut (2014-18) von Dieter Ammann. Damit war eine erstaunliche Bandbreite an zeitgenössischen Kompositionspraktiken zwischen „Konzert“, erzählendem Gestus und „Klanggemälde“ angelegt. Benjamin lässt sich vielleicht als ein Klangforscher der Stimmungen beschreiben. Die Stimmung wird auditiv durch eine große Besetzung zwischen Flöten, Oboen bis zur Tuba, einem umfangreichen Schlagwerk und nicht weniger groß besetzten Streichern zwischen Violine und Kontrabass produziert. Unsuk Chin erzeugt mit einer derartig großen Besetzung aus leisen, zarten Tönen bis in eine breite Polyphonie eine kreisende Bewegung, die sich visuell als aufsteigende Spirale denken lässt. Nach einer größtmöglichen Klangausdehnung bewegt sich die Spirale wieder zurück und verklingt in den Violinen.

© Fabian Schellhorn

Die Spielweisen in der zeitgenössischen Musik erforschen oft das Klangspektrum jenseits der klassischen Stimmungen. Das praktische Regelwerk der Stimmung wird überschritten. Instrumente werden auf immer wieder andere Klangspektren durch Praktiken erforscht. Darin haben sich das Ensemble Modern und das Ensemble Modern Orchestra ein einzigartiges Feld der Klangerzeugung erarbeitet. Von den Orchestermitgliedern wird eine hohe Präzision und Flexibilität ebenso wie eine außergewöhnliche Ensemblesensibilität verlangt. Kein Themen- oder Melodiengerüst trägt das Orchester. George Benjamin hat nicht nur 30 Jahre mit dem Ensemble Modern diese Orchesterklangbereiche erforscht, vielmehr hat er sie mit den Musiker*innen und Komponist*innen praktisch entwickelt. Diese Musikpraxis wurde im Konzert nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass Unsuk Chin, Francesco Filidei und Dieter Ammann bei der Aufführung anwesend waren und sich beim Dirigenten wie dem Ensemble bedankten.

© Fabian Schellhorn

Francesco Filidei entfaltet mit seiner Komposition des Cantico delle Creature, der in der Übersetzung als Sonnengesang des Franz von Assisi bekannt ist, aus einem leisen Pfeifen des Windes ein Welthörspiel zur Ehre Gottes. Der tiefreligiöse Gesang auf alle Lebewesen bzw. die Schöpfung lässt diese wiederholt zu Ton kommen, wenn Filidei in seiner Besetzung prominent 2 Schwirrbögen für ein ansteigendes Pfeifen des Windes oder einer Art Lebensströmen einsetzt. „Cowbells, Ocean Drum, Lockpfeifen (Nachtigall, Wachtel, Drossel)“[12] etc. geben nicht nur vom Namen her, vielmehr noch durch ihre Klangbreite einen Wink auf die Vielfalt der Klangereignisse, die in dem lyrischen Sopran von Anna Prohaska sehr hoch als Lob intoniert werden.
„Laudato si, mi signore, per sor‘ aqua,
la quale è multo utile et humile et pretiosa et casta.
Laudatio si, mi signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la notte,
et ello è bello et iocundo et robustoso et forte.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.“[13]     

© Fabian Schellhorn

Anna Prohaska zelebriert mit ihrer lyrischen Sopranstimme Filideis Cantico ebenso wie George Benjamins A Mind of Winter mit dem Gedicht von Wallace Stevens. Ihre Projekte für die zeitgenössische Musik machen Anna Prohaska zu einer Ausnahmesängerin. Sie erweitert ständig ihr Repertoire in neue Bereiche, ob mit den Bachkantaten unter der Leitung von Sir Simon Rattle 2022[14] oder dem Projekt Endor 2021[15] immer wird das Lied mit ihrer Stimme neu ausgelotet. Bedenkenlos könnte man Anna Prohaska für den Ernst von Siemens-Musikpreis vorschlagen. Nach einer Art Vorspiel mit gregorianischen Anklängen in Filideis Cantico delle Creature stimmt Prohaska den Gesang an. Stimme und Polyphonie des Gesangs bilden ein vielschichtiges und voluminöses Klangereignis. Der religiöse Gesang wird durch die Polyphonie eher in eine zeitgenössische Wahrnehmung von Natur und Umwelt transformiert. Anthropozän und Klimawandel geben heute einen Wink darauf, dass wir mit den Ressourcen respektvoller umgehen sollten.
„Laudatio si, mi signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flora et herba.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.)“[16]

© Fabian Schellhorn

George Benjamin hat für A Mind of Winter das Gedicht The Snow Man von Wallace Stevens umbenannt und 1981 mit der Widmung „For my mother, on her birthday“ versehen. Die Umbenennung erlaubt nicht zuletzt die geschlechtliche Befreiung des Gedichtes. Welches Geschlecht das lyrische „one“ im ersten Vers des Gedichtes hat, bleibt offen, wenn es nicht durch den Titel The Snow Man bestimmt wird. Benjamins Gespür für Stimmungen wird nicht zuletzt im Titelwechsel deutlich. Das Gespür für die frostige Winterstimmung beginnt „aus einer mit „Silence“ überschriebenen Generalpause, um dann „icy and misterious“ fortzufahren.[17] Anna Prohaska versteht es, die Stimmung fast gänzlich ohne Vibrato mit ihrer Stimme entstehen zu lassen.
„One must have a mind of winter
To regard the frost and the boughs
Of the pine-trees crusted with snow;
(Man muss Winter im Sinn haben,
um auf den Frost und die mit Schnee
verkrusteten Äste der Kiefern zu achten,)”[18]    

© Fabian Schellhorn

Das Ensemble Modern Orchester und die Solistin wurden vom Publikum begeistert gefeiert. Es bedarf weniger eines ausgedehnten Musikwissens als ein Gespür für das Engagement und die Sensibilität des Orchesters. Das wurde einmal mehr dadurch bestätigt, dass neben dem Berichterstatter zwei jüngere Menschen aus Italien saßen, mit denen er ins Gespräch kam. Sie verstünden nicht viel von klassischer oder zeitgenössischer Musik, aber sie hätten bemerkt, wie begeistert und konzentriert diese jungen Musiker*innen gespielt hätten. Dass sie mit Anna Prohaska einen Weltstar ihres Faches auf den internationalen Opernbühnen gehört hätten, könnten sie nicht beurteilen. Aber das sei sehr intensiv gewesen. Das kennten sie gar nicht. Und der junge Mann fragte, wo er denn noch in Deutschland in ein Konzert gehen solle. Herkunft und Hintergrund des Paares blieben im Dunkel. Aber sie hatten etwas entscheidendes mitbekommen, das das Konzert so einzigartig machte. Das Zusammenspiel von Dirigent, Solistin und Orchester war von gegenseitigem Respekt und Freude an der Musik geprägt.

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Andris Nelsons tourte mit dem Boston Symphony Orchestra, kurz BSO, vom 25. August bis 8. September zwischen Royal Albert Hall in London und der Philharmonie de Paris durch Europa. Am 5. September gastierte er beim Musikfest Berlin mit dem Orchester. Das Programm wechselte mehrfach während der Tournee, wiederholt bildete George Gershwins Piano Concerto in F mit Jean-Yves Thibaudet den Mittelteil. In London und Berlin eröffnete Andris Nelsons mit Julia Adolphes Makeshift Castle (2022) den Abend. Die Komposition ist ein Auftragswerk des BSO und des Gewandhausorchesters Leipzig, denen Andris Nelsons als Chefdirigent und Gewandhauskapellmeister vorsteht. In Berlin beendete mit dem zweiten Teil Igor Strawinskys Ballettmusik Petruschka von 1911 den Abend. Petruschka erforderte einen Kommentar der Berliner Festspiele, der äußerst berechtigt erscheint:
„Wir weisen darauf hin, dass in Strawinskys Partitur Petruschka mit den Figuren des M* und des Z*** im Originaltext rassistische Stereotype und Figurennamen enthalten sind. Diese historischen Bezeichnungen waren bereits im Zeitkontext mit abwertenden Konnotationen verbunden und sind Teil einer rassistisch-romantisierenden Erinnerungskultur, die bis heute zur Abgrenzung und Abwertung von Schwarzen Menschen und europäischen Sinti*zze und Rom*nja beiträgt.
Die Berliner Festspiele haben sich den Grundsätzen der Antidiskriminierung und Diversität verpflichtet. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die historischen Begriffe nur noch in der abgekürzten Version (M*, Z***) zu verwenden.“[19]

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Einerseits gehören die Ballettmusiken wie Petrouchka – Scènes burlesques en quatre tableaux (1911) und Sacre du printempsTableaux de la Russie païenne en deux parties (1913)[20] von Igor Strawinsky zum Repertoire der Klassischen Moderne, andererseits bricht mit ihnen die Geschlechterfrage der Moderne in der Musik auf. Auf der Suche nach dem Geschlecht in der im Deutschen angelegten Mehrdeutigkeit von Ursprung, Herkunft, Rasse, Nation und Identität wie nicht zuletzt dem Russischen in der Moderne zertrümmert Strawinsky in der Musik tradierte Muster und schafft zugleich neue ein- wie ausschließende Abgrenzungen. Musikalisch spielt dafür eine Aufwertung wenn nicht Neudefinition der Perkussionsinstrumente im Orchester die entscheidende Rolle. In Petruschka beginnt das erste Bild mit Strawinskys Russischem Tanz. Doch was ist an dem Tanz aus einer Jahrmarktsmusik heraus russisch? Petruschka ist nicht nur ein „ewig unglückliche(r) Held() aller Jahrmärkte in allen Ländern“[21], wie Strawinsky es formulierte, oder ein russischer Melancholiker, vielmehr wird er selbst mit dem Russischen Tanz als Russe eingeführt – und häufig mit den Matroschka-Puppen, die sich gleich einer Zwiebel bis zu einer kleinsten Puppe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entpacken lassen, verwechselt.

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Das Russische in den Ballettmusiken Igor Strawinskys war nicht zuletzt dem Branding der Ballets russes Serge Diaghilevs in Paris geschuldet. Gleichzeitig vollzog der Komponist einen radikalen Bruch mit dem Russischen und trieb das Orchester mit Sacre du printemps an das Ende der Melodie und des Melodischen als Folklore. Diese Bewegung kündigt sich in Petruschka bereits an, in der es zwar dreizehn Szenen gibt, die sich unterdessen in der Musik schwer abtrennen lassen. In der Visualisierung als Ballett lassen sich die Szenen genau unterscheiden, in der Aufführung von Andris Nelsons mit dem BSO verliert sich schnell der Faden in der Abfolge der Szenen bis „Petruschkas Geist erscheint“. Insofern sind die Szenen „Der M*“ und „Z*** und ein genusssüchtiger Kaufmann“, womit eine Prostitutionsszene umschrieben wird, durchaus rassistisch angelegt. Allerdings fällt es schwer, dies in der Musik zu hören, weil Strawinsky eben keine folkloristischen Modell benutzt. In der Hinsicht könnte die Frage nach dem Russischen bei Strawinsky durchaus intensiver bearbeitet werden.

© Fabian Schellhorn

Julia Adolphes Makeshift Castle mit den beiden Sätzen Sandstone und Wooden Embers verfolgt einen Gestus der Erzählung in der Musik. Dahingehend korrespondiert sie mit der erzählenden Geste des Concerto in F von George Gershwin, das 1925 in den drei Sätzen „Allegro“, „Adagio – Andante con moto“ und „Allegro con brio“ die Lebenspraktiken der Stadt New York als Inbegriff der modernen Großstadt des 20. Jahrhunderts in Musik verwandelt. Die Hektik, Schnelligkeit und Wechselhaftigkeit des Großstadtlebens, wie es mit dem „Allegro furios“ zwischen Klavier mit Jean-Yves Thibaudet und Orchester zum Klingen gebracht wird, reißt derart mit, dass das Publikum am 5. September zum Beifallssturm ermuntert wurde. In der Großstadt des 20. Jahrhundert wird das Individuum mitgerissen. Im Unterschied dazu wecken die „gegensätzliche(n) Zustände von Beständigkeit und Vergänglichkeit, von Beharrlichkeit und Auflösung, von Entschlossenheit und Hingabe“, wie es Julia Adolphe formuliert, mit Sandstone (Sandstein) und Wooden Embers (Hölzerne Glut) nicht zuletzt im Schlagwerk von Tomtoms, Großer Trommel, Glockenspiel, Klangstäben und Holzblock ein fast meditatives Hinhören.

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Dass das Bayrische Staatsorchester unter der Leitung von Vladimir Jurowski sein 500jähriges Jubiläum am 11. September mit einer Laudatio von Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, gebürtig aus Ulm, in der Berliner Philharmonie hochoffiziell feierte, hat fast einen Zug von Ironie. Gleichzeitig gibt es einen Wink auf die Verflochtenheit der Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Denn Claudia Roth setzt als Ministerin das Förderprogramm „Exzellente Orchesterlandschaft“ fort.[22] In ihrer Rede wandte sie sich mehrfach vom Rednerpult den Orchestermitgliedern direkt zu, um zu betonen, wie wichtig die Orchesterarbeit sei. Im Jahr 1523 stellte Herzog Wilhelm IV. von Bayern aus dem Haus Wittelsbach den Sänger-Komponisten Ludwig Senfl in München an seinem Renaissance-Hof im Neuen Hof, dem Ursprung der Münchner Residenz an. Darauf führt das Bayrische Staatsorchester seinen Ursprung zurück.

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Das Berliner Jubiläumskonzert wurde symbolträchtig von dem in Moskau geborenen Dirigenten Vladimir Jurowski, der sein Studium in Berlin und Dresden fortsetzte, mit der Symphonie Nr. 3 „White Interment“ (2003) der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevà eröffnet, was seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges 22. Februar 2022 eine starke Geste ist. Polevà komponiert mit dem großen Orchester von 144 Mitgliedern satte Klangcluster, die melodisch angelegt sind. Aus einem Klangteppich steigen rhythmische Schläge empor, die an Herzschläge erinnern können und zumindest teilweise durch Zupfen der Harfe erzeugt werden. Polevà komponierte mit White Interment (Weißes Begräbnis) eine Trauermusik, die 2003 einen Wink auf postsowjetische Verwerfungen in der Ukraine geben kann. Die breitangelegte, getragene Symphonie mit den Tempi „Andante assai – Meno mosso – Più mosso – Andante assai bildet fast eine geschlossene Kreisform. Vladimir Jurowski dirigierte das Bayrische Staatsorchester detailreich und ernst. Das Publikum applaudierte intensiv und der Dirigent bat die Komponistin ans Pult.

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Mit der Trauermusik von Victoria Vita Polèva war auch für das zweite Stück des Abends, Alban Bergs Konzert für Violine und Orchester, „Dem Andenken eines Engels“, eine Stimmung vorgegeben. Den Anlass für Bergs Konzert gab der Tod der 18jährigen Manon Gropius an Kinderlähmung am 22. April 1935 in Wien. Sie war die Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Die Epidemie der Kinderlähmung oder Poliomyelitis war insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft tödlich.[23] Vilde Frang spielte die Solovioline, wofür sie stürmisch gefeiert wurde. Auf diese Weise war das Konzert von einer Trauermusik und einer das Requiem mit dem Zitat des Bachchorals Es ist genug paraphrasierenden Komposition geprägt. Doch im Konzertsaal spielt dann gerade durch den Anlass des Jubiläums und der Exzellenz des Orchesters eine Art freudige Begeisterung in den traurigen Hintergrund hinein.

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Eine freudige Begeisterung strukturiert nicht zuletzt Richard Strauss‘ Eine Alpensinfonie genanntes Großwerk. Zwischen 1899 und 1915 komponiert, fällt die Komposition in eine Zeit des Reisens und der Entdeckungen malerischer Landschaften unter zunehmend schnellerer Eisenbahnverbindungen. Von den Kaiserbädern auf Usedom wie Heringsdorf an der Ostsee bis in die Chiemgauer Alpen z.B., wo Ernst von Siemens‘ Vater 1911 in Ruhpolding ein großzügiges Jagdhaus als Urlaubsziel errichten ließ [24], nahm der frühe Tourismus des Bürgertums einen kräftigen Aufschwung. Hatte im 18. Jahrhundert die Grand Tour des Bürgertums und des Adels in Italien noch ein Bildungsprogramm mit dem Reisen verknüpft, so entdeckt das Bürgertum des Kaiserreichs um 1900 den Reiz der schnellen Ortswechsel im Rhythmus des Jahreszeiten bei gleichzeitig größtmöglichem Komfort. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz so überraschend, dass Eine Alpensinfonie schließlich unweit des Siemens-Stammsitzes in der Schönberger Straße am Anhalter Bahnhof in der alten Berliner Philharmonie an der Bernburger Straße am 28. Oktober 1915 mit der Dresdner Königlichen Kapelle uraufgeführt wurde. Man darf annehmen, dass das Orchester aus Dresden mit dem Zug über den Anhalter oder den Dresdner Bahnhof angereist war. (Der Siemens-Stammsitz lag insofern fernverkehrsmäßig günstig an zwei Kopfbahnhöfen.)

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Doch zurück zur freudigen Begeisterung, die in einem Auf-und-Abstiegs-Motiv von Richard Strauss als eine individuelle Erkundung eines Alpengipfels strukturierend bis in einzelne Wassertropfen in der Klarinette beim Abstieg nach einem Gewitter intoniert wird. Geradewegs zyklisch wird ein Tag in den Alpen von der „Nacht“ und dem „Sonnenaufgang“ bis zum „Sonnenuntergang – Ausklang“ und „Nacht“ auskomponiert. Die alpine Landschaft mit einer psychovisuellen „Erscheinung“ sowie „Gefahrvolle(n) Augenblicke(n)“, einer „Vision“ und einer „Elegie“ wird zu einer Erlebnislandschaft mit allem drum und dran. Mehr konnten sich selbst die Angehörigen der Berliner Industriellenfamilie von Siemens in den Alpen nicht wünschen. In mehreren Klangebenen überschneiden sich in der mehr oder weniger individuellen und einmaligen Alpensinfonie Ausflugserlebnis und Naturereignis. Nicht ohne Ironie wird das alpine Programm mit „Auf dem Gipfel“ und einer trotz heftigem Gewitter nicht wirklich gefährlichen Alpenwanderung vielschichtig und ereignisreich mit dem größtmöglichen Klangkörper bis zur Orgel auskomponiert. Die Pastorale schimmert nur noch hervor, längst ist alles zum imperialen Effekt zwischen alter Philharmonie und riesigem Anwesen der Familie Siemens in Potsdam geworden.  

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Vladimir Jurowski dirigiert Eine Alpensinfonie genau zwischen dem Bogen der kaiserlichen Reichshauptstadt Berlin und dem Jagdhaus, sagen wir, bei Ruhpolding in den Chiemgauer Alpen mit dem Schnellzug im Hintergrund. Den Schnellzug hat Richard Strauss nicht in den Tagesablauf einkomponiert. – Ankunft per Schnellzug. – Nacht – Sonnenaufgang … – Doch Eine Alpensinfonie mit ihrem Erlebnispotential funktioniert genauso wie die durchaus kostspieligen Schnellzüge von und nach Berlin. Eine Alpensinfonie endet so leise, dass man ein ansetzendes Schnarchen des erlebnisgestättigten Wanderers erwarten könnte. Doch Richard Strauss hat mit dem leisen Schluss bestimmt schon den ansetzenden, brausenden Applaus mit einkalkuliert. Ein wenig fühlt man sich als Hörer bei Richard Strauss immer an der Nase geführt. Ein triumphaler Konzertschluss! Mit dem Vorspiel zum 3. Aufzug der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner als Zugabe unterstrich der Dirigent die Exzellenz des Orchesters, aber verschwendete sie auch.

Torsten Flüh 

Musikfest Berlin 2023
bis 18. 9. 2023

Konzerte zum Nachhören:
Deutschlandfunk Kultur
Ensemble Modern Orchestra
Aufzeichnung vom 3. September 2023

Bayrisches Staatsorchester
Aufzeichnung vom 11. September 2023


[1] Torsten Flüh: Furiose Gedankenmusik. Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. September 2023.

[2] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[3] Zeitreise: 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung. (Website)

[4] Ebenda year 1973.

[5] Zu Pierre Boulez und Daniel Barenboim als seinen Schüler siehe: Torsten Flüh: Verspätete Ankunft der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[6] Zu Karlheinz Stockhausen siehe: Torsten Flüh: Spiritualität und elektronische Geisterkunst. Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[7] Zu Hans Werner Henze siehe: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. November 2019.

[8] Zu Tabea Zimmermann siehe: Torsten Flüh: Von dem Gesang der Bratsche. Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. September 2020.

[9] Zu Rebecca Saunders siehe: Exakte Explosionen. Zur Deutschen Erstaufführung von Rebecca Saunders to an utterance beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Oktober 2021.

[10] Zu Olga Neuwirth siehe: Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.

[11] Zu George Benjamin siehe: Torsten Flüh:  Aufgespürte Stimmungen. Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[12] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 Ensemble Modern Orchestra/Sir George Benjamin II. Chin/Ogonek/Filidei/Benjamin/Ammann. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[13] Ebenda S. 18-19.

[14] Torsten Flüh: Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis. Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle (und Anna Prohaska). In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Mai 2022.

[15] Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.

[16] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 … [wie Anm. 12] S. 20-21.

[17] Dirk Wieschollek: Feier der Elemente. In: ebenda S. 13.

[18] Ebenda S. 16-17.

[19] Musikfest Berlin: Programm 5.9.2023 Boston Symphony Orchestra/Andris Nelsons. Adolphe/Gershwin/Strawinsky. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 3.

[20] Siehe zu Le Sacre du Printemps: Das Enden der Melodie. Sir Simon Rattle treibt die Berliner Philharmoniker zu einem schonungslosen Le Sacre du Printemps. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Juni 2017. (als PDF unter Publikationen)

[21] Ebenda S. 12.

[22] Bundesregierung: Bund stärkt vielfältige Orchesterkultur. Pressemitteilung 5. September 2023.

[23] Siehe zur Kinderlähmung: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[24] Erik Lindner: Ernst von Siemens. In: Siemens Historical Institute (Hg.): Lebenswege. München: Siemens, 2015, S. 10.

Die Geschichte mit dem Dreh

Geschichte – Chronologie – Maschine

Die Geschichte mit dem Dreh

Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin

Im Kulturwerk des Hauses Unter den Linden 8 der Staatsbibliothek zu Berlin werden neuerdings deren Schätze aus ihrem sonst schwer zugänglichen Bestand gezeigt. Astrit Schmidt-Burkhardt stellt mit Die Chronologiemaschine einen ebenso aufsehenerregenden wie wirkmächtigen Schatz und sein Umfeld vor. Im 18. Jahrhundert wurde er zwischen Wissenschaft und Zeitvertreib so prominent, dass Denis Diderot der „Chronologique (machine.)“ im 3. Band der Erstausgabe der Encyclopédie 1753 eine ausführliche Beschreibung widmete. Der Originaleintrag im Band ist in der Ausstellung aus dem Bestand der Staatsbibliothek aufgeschlagen. In dessen letzten Absatz wird der Name ihres „auteur“ mit „M. Barbeu du Bourg, docteur en Medecine, & professeur de Pharmacie dans l’université de Paris“ verraten.

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Jacques Barbeu-Dubourg hat seine Maschine für den praktischen Gebrauch konstruiert. Sie lässt sich bequem transportieren, gar unter den Arm nehmen, aufklappen und dann mit zwei Kurbeln nach links oder rechts drehen. Durch das Aufklappen entsteht eine Art Rahmen, in dem sich die Weltgeschichte nach dem europäischen Wissensstand des 18. Jahrhunderts vor- oder zurückspulen lässt. Durch die praktische Verwendung, die an das Wischen mit dem Finger auf dem Smartphone erinnert, litten die aus Papier angefertigten Maschinen allerdings so sehr, das aktuell nur noch ein restaurierungsbedürftiges Originalexemplar in der Bibliothek der Princeton University bekannt ist. Die Ausstellungsbesucher*innen müssen dennoch nicht auf die Chronologiemaschine verzichten. Die Kuratorin hat eine nach dem Original anfertigen lassen, die man sofort ausprobieren wollte, wäre sie nicht in einer Vitrine eingeschlossen.

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Mit der Chronologiemaschine  von Barbeu-Dubourg lassen sich eine ganze Reihe von Verwendungen bedenken. Sie lädt ein zu Zeitreisen durch die Geschichte. Sie gibt den Anwender*innen das Gefühl, mit den Kurbeln gleich Gott die Geschichte in der Hand zu haben. Und sie unterscheidet sich als Carte chronographique, wie Barbeu-Dubourg sie selbst nannte, grundsätzlich von einem Buch, in dem sich nur blättern und lesen lässt. Schmidt-Burkhardt sieht in der Maschine gar das Medium Film angelegt. Sie spricht von „Visual History“ angesichts ihres Schatzes, den sie zufällig fand und der in einem eher begrenzten Kreis internationaler Fachleute diskutiert wird. „Visualisierte Vergangenheit, (…), überführt Geschichtsschreibung in Geschichtsbilder.“[1] Die Handlichkeit der Maschine, die den Blick auf die Geschichte dreht, verändert alles. Zugleich verspricht sie nach dem amtlichen Titel für die Pariser Zensurbehörde vom 28. Mai 1753 einen chronographischen und universellen Zugriff auf die Geschichte: Chronographie universelle & details qui en dépendent pour la Chronologie & les Génealogies.[2] (Universelle Chronographie & abhängige Details für die Chronologie & die Genealogien.)

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Gleich einem medienhistorischen Scharnier treffen in der Chronologiemaschine unterschiedliche Geschichtsformate des 18. Jahrhunderts aufeinander. Für die Zensurbehörde des Königs von Frankreich sind die Genealogien eine Legitimation seiner bereits durch die Aufklärung schwankenden Herrschaft. Die in der Encyclopédie umfangreich diskutierte Wissensform der Chronologie, der uhrwerkgleichen, aber linearen Abfolge von Zeitpunkten, setzt unterdessen bereits an dem Narrativ der dynastischen Genealogie als Abfolge von Geburten in einer Herrscherfamilie an. Die Genealogien (les Génealogies) sind im Titel für den königlichen Zensor wichtig. Tatsächlich hat das Denken der Genealogie insbesondere im europäischen Adel bis heute überlebt. Im Deutschen bilden sie Geschlechter, ohne dass sie in der Gender Debatte größere Aufmerksamkeit genössen.

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Wie wird die Chronologie in der Encyclopédie formuliert? Das Uhrwerk als Maschinenmodell der Aufklärung par excellence wird zunächst nicht erwähnt. Vielmehr wird eröffnend Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) von d’Alambert und Diderot zitiert: „In tempore, (…), quoad ordinem successionis, in spatio quoad ordinem situs locantur universa.“[3] In der Zeit sind in Bezug auf die Reihenfolge der Abfolge, im Raum in Bezug auf die Reihenfolge der Orte, alle Dinge lokalisiert. Das physikalische Zeitmodell, das sich von der uhrwerkgleichen Astronomie in ihrem Modus der Wiederholung unterscheidet, bahnt im 18. Jahrhundert mit der Chronologie ein neuartiges Denken der Zeit. Ließe sich die Reihenfolge der Zeitpunkte genau aneinanderreihen, dann hätte man sie mit einem Blick erfasst. Gegenüber den genealogisch angelegten Zeiten der Bibel seit Adam und Eva, in denen sich immer wieder durch unterschiedliche Autoren Verwandtschaftsverhältnisse überschneiden oder unklar bleiben, entsteht mit der Chronologie im 18. Jahrhundert ein neuartiges Zeitmodell.

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Graphisch wird die Chronologie bei Jacques Barbeu-Dubourg zu einem Zeitstrahl, auf dem jeder Zeitpunkt wie auf einem Metermaß verzeichnet werden kann. Er klebte die „fünfunddreißig einzelnen Kupferdrucke im Folioformat“ mit Leim aneinander, so dass er „ein rund 16,5 Meter langes Papierband“[4] erhielt, das sich auf- und abrollen lässt. Ob und welche Rolle dabei die Kenntnis von chinesischen Bildrollen oder die Thora spielten, ist nicht bekannt. Doch seit dem 17. Jahrhundert waren chinesische Bildrollen nach Europa gelangt, um viel Aufsehen an Höfen, unter Forschern und Sammlern zu erregen. Barbeu-Dubourgs Carte chronographique ist als Bildrolle vor allem anders strukturiert. Der Zeitstrahl verläuft von links nach rechts gleich der griechisch-lateinischen Lesepraxis. Während zum Beispiel im Arabischen und Chinesischen von rechts nach links gelesen wird.

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Am oberen Rand der Kupferstiche verläuft gleich einem Lineal z.B. auf der Tafel 25[5] der Zeitstrahl, der in einen Rhythmus von zehn Jahren und wiederum wechselnd in Jahre eingeteilt ist. Ein Jahr wird mit sechs Strichen in zwölf Monate visuell rhythmisiert. Auf diese Weise vermisst Jacques Barbeu-Dubourg die Zeit kurztaktig, um Namen und Ereignisse einzutragen. Gegenüber der Bindung der Tafeln als Buch, Mappenwerk oder Leporello wie es durch die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt als Leihgabe in der Ausstellung überliefert ist[6], wird durch das unterbrechungslose Abrollen der vermessenen Zeit aller erst ein Kontinuum der Zeit visualisiert bzw. wahrnehmbar. Beim Leporello als Format der Karte bedarf es einer Art von in die Seiten geklebter Merkzettel, um Namen, Zeitpunkt und Ereignis aufzufinden.[7]

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Die maschinelle Rollmechanik als Chronologie der Maschine erspart Merkzettel und das Blättern. Auf dem Plakat für die Ausstellung im Kulturwerk hat Schmidt-Burkhardt denn auch genau diesen rhythmisierten Zeitstrahl als „(e)ine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts“ abbilden lassen.[8] Zugleich wird die durchaus paradoxe Geschichtlichkeit der Karte zwischen neuzeitlicher Chronologie und biblischer Genealogie augenfällig. Vor dem Beginn des Zeitstrahls steht „DIEU“ und am Anfang unter „Adam“ „Eve“. Nach der Genesis, Schöpfungsgeschichte des Alten Testament schnitt Gott im Garten Eden Eva aus einer Rippe Adams.[9] Im Erzählmodus des Genesis braucht es keiner zeitlichen Festlegung dieses ursprünglichen Ereignisses, vielmehr wurde im Judentum, Christentum und Islam seither der genealogische Vorsprung des Mannes tradiert und transformiert.

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Das Paradox von Chronologie nach Newton und Genealogie nach der Genesis im Buch Moses lässt sich mit den epochalen Entwürfen eines Kenotaphs für Isaac Newton des Revolutionsarchitekten Étienne-Louis Boullée von 1784 bedenken.[10] Boullée visualisiert in seinem Entwurf ein Weltgebäude ohne Gott. Statt des christlichen Gottes im Himmel wird Newton im Mittelpunkt der nicht zuletzt chronologischen Zeitläufe aufgebahrt. Boullée hatte mit seinem Entwurf die sprengende Kraft Newtons, die sich in der Enzyklopädie ankündigte, verstanden. Jacques Barbeu-Dubourg und die Enzyklopädisten versuchen unter dem Auge der Zensur mit der Chronologie etwas zu vereinen, dessen Unvereinbarkeit bereits aufgebrochen war. Insofern weist der kartografische Zeitstrahl in eine Zukunft über die vermessene Zeit hinaus.

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Das Revolutionäre der Chronologiemaschine wird letztlich mit einem Begleitbuch abgefedert, das die Kuratorin nur in der finnischen Nationalbibliothek aufspüren konnte: Introduction abrégee al l’Histoire des différents peuples anciens et modernes; Contenant les principaux événements de chaque siécles, & quelques traits de la vie des Personnages illustres, depuis la création du monde jusqu’à présent. Pour servir principalement d’explication à la Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg (Paris 1757).[11] Um die Chronologiemaschine Barbeau-Dubourg werden unterschiedliche Medien zur Wissensgenerierung eingesetzt. Das gibt auch einen Wink auf die Fiktion der Chronologie, wie sie als Zeitmodell in der Mitte des 18. Jahrhunderts debattiert wird. Die Bildgeschichte der Maschine mit verschiedenen bildhaften Elementen, verlangt möglicherweise nur aus Gewohnheit nach einer Erzählung.  

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Die nachträgliche, gekürzte Einführung in die Geschichte als Ergänzung zur visuellen Maschine gibt einen Wink auf ein Wissensproblem der Visual History. Das visuelle Wissen durch Bilder bleibt zumindest elastisch und erfordert eine Einführung (Introduction) gleich einer Gebrauchsanweisung, um nicht zuletzt im Gespräch ausgetauscht zu werden. Bis zur Hebung des Schatzes durch Schmidt-Burkhardt konnte die finnische Nationalbibliothek die Introduction nicht zuordnen. Nach der Hebung konnte das Buch nicht mehr für die Ausstellung im Kulturwerk ausgeliehen werden, weil die Sicherheitsmaßnahmen nicht zu finanzieren waren. Ein Foto des Titels muss nun in der Ausstellung ausreichen. Wissen und Wertschätzung sind mit bestimmten Praktiken verknüpft.

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Zahlreiche Exponate der Ausstellung kommen aus Privatsammlungen. Deshalb sind sie als Schätze dem Blick der Öffentlichkeit i.d.R. entzogen. Astrit Schmidt-Burkhardt hat mit der Ausstellung und dem Buch Die Chronologiemaschine nicht nur ein medienhistorisches Novum ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, sie hat mit ihrer langjährigen und hartnäckigen Forschungsarbeit von Bildtheorie, Medien-, Kunst- und Wissensgeschichte ebenso verborgene Schätze von einigem Wert gehoben. Im Kulturwerk sind nun viele Schätze in einem Kontext zu sehen, der aller erst ihre Wertschätzung für Forschung und Publikum einsetzen lässt. Mit der Ausstellung wird nicht zuletzt das 270. Jubiläum der Pariser Chronologiemaschine in Berlin gefeiert.

Torsten Flüh

Stabi Kulturwerk
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts
bis 8. Oktober 2023
Unter den Linden 8
10117 Berlin

Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne.
Berlin: Lukas Verlag, 2022
256 Seiten, 280 Abb., 240 x 310 mm,
Festeinband. durchgängig vierfarbig.
48,- €   


[1] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne. Berlin: Lukas Verlag, 2022, S. 11.

[2] Ebenda S. 22.

[3] D’Alembert, Diderot: Chronologie. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Tome 3. Paris, 1753. (Wikisource)

[4] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 20.

[5] Ebenda S. 29 und in der Totalen gut auf Abbildung 77, S. 71 zu erkennen, ebenso S. 88 bis 91.

[6] Das Leporello ebenda S. 157 bis 230.

[7] Ebenda z.B. 162.

[8] Staatsbibliothek zu Berlin: Ausstellung: Die Chronologiemaschine – Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts. (Termin)

[9] „21 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 1. Moses 2, Vers 21-22. In: Lutherbibel 2017.

[10] Siehe: Archiinform: Newton Kenotaph. Letzte Aktualisierung: 9.8.2023.

[11] Gekürzte Einführung in die Geschichte verschiedener alter und moderner Völker; Enthält die wichtigsten Ereignisse jedes Jahrhunderts und einige Merkmale des Lebens berühmter Persönlichkeiten, von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart. Dient hauptsächlich der Erläuterung der Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg. Zitiert nach Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 9.

Grandioses Großwerk durchglüht

Industrielle Revolution – Antike – Grand Opéra

Grandioses Großwerk durchglüht

Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin

Sir John Eliot Gardiner (80), dem die Einstudierung und Aufführung der ungekürzten Fassung der Grand Opéra Les Troyens von Hector Berlioz durch den Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique sowie mehreren hochkarätigen Solist*innen zu verdanken ist, fiel gleichsam der Revolte eines Sängers auf den Altären von Troja und Karthago zum Opfer. Nach der Aufführung beim Festival Berlioz in La Côte-Saint-André, Auvergne-Rhône-Alpes, dem Geburtsort des Komponisten, sei der Sänger des Priam und Narbal, William Thomas (Bass), zur falschen Seite von der Bühne abgegangen, woraufhin es hinter der Bühne zu einem Disput gekommen sei, an dessen Ende Gardiner den Sänger des Königs von Troja und des Ministers der Königin von Karthago geohrfeigt habe. Fortan übernahm Gardiners Assistent Dinis Sousa bei den Salzburger Festspielen und beim Musikfest Berlin sowie bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall das Dirigat.

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Hector Berlioz schrieb das Libretto zu seiner Oper Les Troyens nach dem Epos Aeneis des römischen Dichters Vergil selbst. Es geht um den Gründungmythos Roms und des römischen Reiches durch den Trojaner Aeneas (Michael Spyres). Insofern Vergil mit Aeneis Motive und Mythen der früheren Illias und Odyssee wiederholt und transformiert, handelt es sich um eine Wiederholung, die von Berlioz ins Format der Grand Opéra im Paris der Industrialisierung transformiert wird. Gefühle und Wissen, Gesetze und Verrat, Erfüllung von Konventionen und Eigensinn, Zukunftswissen und Zufall, Volk und Prosperität spielen bei Berlioz eine strukturierende Rolle. Im aufblühenden Karthago schimmern die Versprechen der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Dido (Paula Murrihy) und Aeneas geben sich als Höhepunkt der unendlichen Ekstase hin: „Nuit d’ivresse/et d’exstase infinie!“, der „Nacht der Glut und des sel’gen Verlangens!“

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Die Grand Opéra Les Troyens in Gänze halbszenisch aufzuführen, war seit Jahren der große Wunsch von Sir John Eliot Gardiner. Die doppelte Tragödie des Untergangs von Troja mit dem Suizid der Cassandra (Alice Coote) wie den Trojanerinnen und des Suizids der Königin von Karthago, Dido bzw. französisch Didon (Paula Murrihy), setzt das antike Format von den Gesetzen der Götter, der Prophezeiung und den Gefühlen der Menschen gleich zweimal ebenso aufwendig wie eindrücklich in Szene. Gardiners, sagen wir, Leitungspraxis ist seit Jahren umstritten. Die Gesetze eines globalen Gleichheitsdiskurses und nicht allein die nun herbeizitierten Ärzte, Medikamente und hohen Temperaturen in La Côte-Saint-André haben Gardiner zumindest tragisch mitgespielt. Die Hochkultur der europäischen Klassik bebt mit Les Troyens und einem Gesetzeswandel.

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Die Aufführung von Les Troyens beim Musikfest Berlin war mit erheblichem Aufwand und einem Comic von Mikael Ross als Plakat und Programm angekündigt und beworben worden. Les Troyens sprengt Dimensionen mit „über sechseinhalbtausend Takte(n) Partitur“[1]. Der Comic bietet nicht nur Bilder von der antiken Sage der Trojaner, nach der Cassandra, Tochter des Königs von Troja, Priamus, franz. Priam, die die Zerstörung Trojas vorhersagt und nicht gehört wird, vielmehr ziehen die Trojaner witzig in Hans Sharouns Philharmonie ein. Dort wird Cassandra ausgebuht. Doch dann wird die Aufführung zu einem Triumph. Der zeitgenössische Comic verknüpft Literatur- und Opernwissen mit den aktuellen Themen einer so großen, weil vielzähligen konzertanten, halbszenischen Opernaufführung.

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Die Erwartungen an eine ungekürzte Aufführung von Les Troyens waren groß. Dennoch war das Haus nicht ausverkauft, was als Verhalten des Klassik- und Opernpublikums kaum nachzuvollziehen ist. Es sei allerdings die Indiskretion erlaubt, dass Sir Simon Rattle und seine Frau Magdalena Kožená der Aufführung beiwohnten. Das war mehr als eine Überraschung, weil die Aufführung um 17:00 Uhr begann und nach 22:00 Uhr endete. Einerseits ist bekannt, dass Sir Simon Rattle selbst ein Interesse für Hector Berlioz hegt und die Grande Symphonie funèbre et triomphale mit den Berliner Philharmonikern zum 50. Jubiläum der Philharmonie 2013 prominent aufgeführt hat.[2] Andererseits wird Dinis Sousa seine Neugier geweckt haben. Dinis Sousa wurde vom Publikum, den Solist*innen, dem Chor und Orchester gefeiert, soviel kann vorweggenommen werden.

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2019 stand die Opéra comique Benvenuto Cellini von Hector Berlioz mit Sir John Eliot Gardiner dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique im Programm des Musikfestes Berlin und gab mit einem Streikchor einen Wink auf die Industrialisierung sowie politische Debatten der 1830er Jahre in Frankreich und Paris.[3] Berlioz begann nach längerem Zögern im April 1856 die Komposition von Les Troyens, nachdem von Mai bis Oktober 1855 in Paris die Exposition Universelle des produits de l’Agriculture, de l’Industrie et des Beaux-Arts stattgefunden hatte und das bekannte Dimensionen sprengende Palais de l’Industrie am Champs-Élysee gebaut worden war. Berlioz hatte zur Weltausstellung im Oktober und November zwei Konzerte beigesteuert. Benvenuto Cellini war schon 1838 in der Pariser Oper mit dem proletarischen Streikchor uraufgeführt worden. In die Spannung von Industrialisierung, Investitionen, Kapitalismus, neuen Großbauten und wirtschaftlicher Blüte, die zugleich ganz Paris und seine Bevölkerung davonrissen, ziehen die Trojaner ins Exil nach Karthago.

© Fabian Schellhorn

Die Zukunft lässt sich in Paris um 1855 schwer vorhersagen. Seit 1838 hat die Geschwindigkeit der Veränderungen zugenommen, als Hector Berlioz mit Cassandra eine Frau, die hellsichtig geworden ist und deren Warnungen nicht gehört werden, zur Hauptfigur des ersten Teils seiner Oper macht. Gegenüber dem Epos wird die Funktion Cassandras viel stärker herausgearbeitet. Das Zukunftswissen spielt in der Oper als Gesetz der Götter eine brutale und strukturierende Rolle, während im zeitgenössischen Paris niemand weiß, ob er/sie morgen unermesslich reich oder bankrott sein wird. Industrialisierung und Finanzkapitalismus machen vor allem Paris zum neuen Dreh- und Angelpunkt der Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Anders gesagt: Das „Vergilische() Herzweh“[4], dass Hector Berlioz in seiner Autobiographie zum Auslöser für die Komposition der Grande Opéra macht und mit der Michael Stegemann in Hectors Schatten argumentiert, kann zugleich in der Industrialisierung liegen, in der alles Versprechen, aber nichts mehr sicher ist.

© Fabian Schellhorn

Im Unterschied zu den prägenden Vergil-Lektüren der Kindheit im ländlichen La Côte-Saint-André kann Berlioz, der mit Rufnamen so heißt wie der älteste Sohn des trojanischen Königs Priamos, Hector, welcher von Achilleus getötet und dreimal um die Stadt Troja geschleift wird, in Paris nicht mehr davon laufen. Er muss seine Erzählung verarbeiten oder die Figur Hector verschieben. Der schreckliche Tod Hectors wird vom Librettisten und Komponisten nicht erwähnt, vielmehr erscheint er Cassandra als um die Zukunft wissender Geist. Die Opernhandlung beginnt mit dem Tod Achills. Opfer will Hector nicht sein.
„SOLDAT
Wisst ihr wohl, wessen Kriegszelt an diesem Ort stolz sich erhob?
TROJANISCHES VOLK
Nein, sag es uns. Hier stand …
SOLDAT
Das des Achills.
TROJANISCHES VOLK weicht entsetzt zurück
Zeus!
SOLDAT
Verweilt, tapfere Männer,
Achill ist tot,
und dort könnt ihr sein Grab erblicken.
Schaut es an.“[5] 

© Fabian Schellhorn

Diese initiale, gleichsam mikrologische Beobachtung des Beginns der fünfaktigen Oper gibt einen Wink auf Berlioz‘ Übertragungsverfahren. Er überträgt nicht nur Vergils Aeneis vom Lateinischen ins Französische, vielmehr noch vom Epischen ins Dramatische, das mit einer neuartigen Subjektposition des Dichtererzählers bei Vergil bereits angelegt war. „Während sich in den Proömien von Ilias und Odyssee kein Verb in der ersten Person Singular findet und der Erzähler der Argonautika erst am Anfang  des zweiten Verses „ich will erinnern“ sagt, folgt bei Vergil schon in Vers 1 unmittelbar auf die knappe Themenangabe Arma uirumque („Waffen und Mann) das selbstbewußte cano („singe ich“).“[6] Das neuzeitliche Auftauchen des Subjekts im Libretto der Oper verändert alles. Kassandra sieht in der Eröffnungssequenz Hector als Wissenden. Im Französischen wird diese entscheidende Übertragung durch Cassandre mit einer Wiederholung noch stärker betont:
„J’ai vu l’ombre d’Hector
parcourier nos remparts
comme un veilleur de nuit.
J’ai vu ses noirs regards
interroger au loin
le détroit de Sigée …
Malheur !“[7] 

© Fabian Schellhorn

Das Sehen als Form des subjetbezogenen Zukunftswissens wird für Cassandre bzw. Kassandra zur Tragödie. Denn sie sieht etwas Anderes, das weder ihr Geliebter Choröbus (Lionel Lhote) noch die Trojaner sehen können oder sehen wollen. Das Trojanische Pferd wird vom Volk in die Stadt gezogen. Der warnende Priester Laokoon wird von Schlangen aus dem Meer verschlungen. Durch die Subjektivierung des Sehens und Wissens von Kassandra und Choröbus schafft Hector Berlioz einen neuartigen dramatischen Konflikt, der ebenso neuzeitlich ist, wie er den Konventionen der Oper entspricht. Die Übertragungen funktionieren auf eine Art und Weise, die aus dem lateinischen Text neuartige Erzählungen entstehen lässt. Der Berichterstatter muss zugeben, dass er nicht vergilfest ist und die Aeneis nicht vollständig kennt. Choröbus kommt im Buch II des Epos in der Schreibweise Coroebus als Geliebter vor, indessen lassen sich die unterschiedlichen Formen des Wissens wie sie im Duett artikuliert werden, nicht finden.[8] Vielmehr meldet sich der Epiker, Vergil in Vers 402 prominent mit einem Ausruf zu Wort, der beide Wissensformen in Frage stellt, bevor sich Coroebus, dem Tode nah, in den Zug der Kämpfenden wirft:
„Heu nihil inuitis fas quemquam fidere diuis!“
(Leider kann man lange Zeit niemandem vertrauen!)

Es ist die Gesangsform des widerstreitenden Duetts, mit der exemplarisch das unterschiedliche Wissen der Subjekte Cassandra und Choröbus inszeniert und verhandelt wird. Die verfehlende oder tragische Liebe des Subjekts, die im Duett von Kassandra und Choröbus besungen wird, trägt Züge der Romantik und ihres Liebesdiskurses. Für den ersten und zweiten Akt der Oper mit dem Schauplatz Troja wird dieser Liebesdiskurs als Problem des subjektiven Wissens strukturierend. Kassandra drängt Choröbus aus ihrem Vorwissen zur Flucht. Doch der „Liebeswahn“ als Form seines Wissens lässt ihn bei ihr bleiben.
„KASSANDRA
Willst du so blind wie sie
darauf bestehen,
zu opfern dich für deinen Liebeswahn?
CHORÖBUS
Ich weiche nicht von dir!“[9]

© Fabian Schellhorn

Hector Berlioz schrieb sein Libretto für das Publikum seiner Epoche in Paris. Dadurch verschiebt sich nicht zuletzt die antike Erzählung. Obwohl er sich an Vergils Handlung orientiert, werden die Sehnsüchte, Diskurse und Ängste der Mitte des 19. Jahrhunderts verhandelt. Es geht weniger um ein Bildungswissen der Antike, als darum im Format der Bildung narrativ und musikalisch den Nerv der Zeit zu treffen. In Karthago stärker als in Troja bis zum Schluss des 2. Aktes kommen die Sehnsüchte nicht zuletzt nach einem gerechten und prosperierenden Staat zum Zuge. Didon bzw. Dido als Königin von Karthago gibt den geflüchteten Trojanern nicht nur Asyl, vielmehr noch ehrt sie ganz nach dem Programm der Weltausstellungen Landwirtschaft, Industrie und die Schönen Künste, die in „constructeurs, matelots, laboureurs“ (Konstrukteure, Matrosen, Arbeiter) übersetzt werden.
„DIDO
Es ward euch zu gefallen
dieser herrliche Tag,
den im Herzen stets bergt,
auf dass er kröne euer Friedenswerk,
auserkoren vor allen.
Naht euch, Männer des Baus,
ihr des Meers, ihr des Felds!
Diese Hand reicht euch dar
die würdige Belohnung
für jenes Wirken, welches Kraft
und Wohlergehn den Staaten verleiht.“[10]

© Fabian Schellhorn

Mit mehreren Pantomimen und Balletten entfaltet Berlioz einen musikalischen Horizont des Staates bzw. eine universelle Staatspraxis, in der das Trojanische wie das Karthagische Volk nicht nur als Chor zu Wort kommt. Märsche und Hymnen ordnen ganz im Sinne eines prosperierenden Staates nicht zuletzt die Arbeiter der Industrie. Gegenüber Benvenuto Cellini gibt es keinen Streikchor. Vielmehr werden die Arbeiter in militärischen Märschen diszipliniert. Vor dem Hintergrund der Barrikadenkämpfe vom 22. bis zum 26. Juli 1848 in Paris, der wechselnden Putschversuche in den folgenden Jahren, liefert Berlioz mit Dido als Königin ein befriedendes Staatsmodell, während im Hintergrund das Gesetz der Götter unerbittlich für Aeneas an der Bestimmung, nach Italien zu reisen, festhält. Das unausweichliche Gesetz der Götter, so sehr es die Liebe zwischen Dido und Aeneas ermöglicht und zerreißt, verspricht eine Stabilität, die es in Paris schwerlich gibt.

© Fabian Schellhorn

Die Ordnung der Natur wird vom Dichter Iopas (Laurence Kilsby) auf Befehl der Königin nicht zuletzt als eine des Staates besungen. In das antike Gewand gekleidet soll Iopas „in der schlichten Hirtenart“ singen. Im Refrain des Liedes wird die römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, Ceres, besungen. Das Hirtenlied, das man auch eine Pastorale nennen könnte, erfüllt nicht nur eine Forderung der Grand Opéra, vielmehr führt es die Ordnung als Natürliches auf. Es naturalisiert gewissermaßen die Ordnung. Das Lied ist von Berlioz besonders schön und eindrücklich komponiert und wurde von dem jungen Tenor Laurence Kilsby bravourös gesungen. Während eine antike Erzählung aufgeführt wird, schimmert doch überall ein Ringen um Ordnung und Gesetze durch, an denen es mangelt:
„O Ceres voll Huld,
wenn begrünt die Flur
zur Feier des Lenzes
du lässest erglänzen,
schallt dir Lob und Preis.“[11]  

© Fabian Schellhorn

Der Suizid der Frauen, also Cassandras, der Trojanerinnen und der Dido ist einerseits im Epos angelegt, andererseits stellt er im Kontext des 19. Jahrhunderts in Paris und der Industrialisierung die Frage nach dem Frauenbild. Cassandra und Dido sind weibliche Herrschaftsfiguren. Während Cassandra durch ihr Zukunftswissen herrscht und machtlos bleibt, quasi nur als Medium von den Göttern missbraucht wird, um die Härte des Gesetzes vorzuführen, ist Dido vielschichtiger zwischen treuer Witwe, Mutterfigur, Schwester und Liebender angelegt. Klaus Heinrich Kohrs hat auf die „Spiegelungen der beiden „personnages dominateurs““ hingewiesen.[12] Seit 1830 kursiert durch Eugène Delacroix in Paris und Frankreich das Bild der Marianne als Nationalfigur mit dem Gemälde La Liberté guidant le peuple. Marianne führt das Volk mit der Trikolore in die Freiheit. Sie trägt eine in der Antike den Männern vorbehaltene Bonnet phrygien oder phrygische Mütze und löst die dynastische Nationalfigur der Francia oder Gallia ab. Es gibt insofern ein gewisses Spannungsfeld des Frauenbildes, in dem Frauen in einem Suizid über sich selbst und ihr Leben bestimmen. Kohrs hört und liest bei Didon gar eine „äußerste() Willenskraft“:
„„Von einer konvulsivischen Energie ergriffen, besteigt Didon mit schnellem Schritt den Scheiterhaufen“, notiert Berlioz in der Partitur.“[13]

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Das Frauenbild der Grand Opéra, das von Berlioz über die Musik auch mit einem psychologischen Wissen von sich selbst ausgestattet wird, spitzt zumindest jenes des Epos zu. Auffällig sind die männlichen Attribute, mit denen die vorbildlichen Frauenfiguren versehen werden. Es geht ihnen um Ehre und Kontrolle über ihr Leben. Anders formuliert: mit dem Suizid, nehmen sie sich das Leben und beenden es nicht nur.[14] Die letztlich auf der Opernbühne pantomimische Geste der Selbsttötung behauptet unter der Herrschaft der Weissagung eine Autonomie des Subjekt, die gerade für Frauen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert fragwürdig oder utopisch ist. Aeneas als prototypischer Mann wird von den Gesetzen der Götter getrieben und unterwirft sich seiner Bestimmung, nach Italien ins Exil zu gehen und Rom zu gründen, während die beiden Frauenfiguren Cassandre und Didon ihre Autonomie behaupten. Wie lässt sich dieses verschlungene Geschlechterverhältnis lösen?

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Das Geschlechterverhältnis als eines neuartiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse für Männer und Frauen spielt eine Rolle für Hector Berlioz. Als Mann und als Namensvetter des antiken Hector muss er Übertragungsprobleme bearbeiten. Insofern die phrygische Mütze der Marianne antikengeschichtlich ursprünglich ein Stierhoden gewesen sein soll und La Liberté damit einen Machtverlust der Männer verspricht, wird von Berlioz mit Cassandre, Didon und Hectors Gattin Andromaque das Geschlechterverhältnis verhandelt. Der Librettist und Komponist findet sich immer wieder verstrickt in den Epos. Kohrs sieht in der Pantomime eine erfolgreiche Übertragung.
„… des toten Hector Gattin Andromaque mit ihrem Sohn Astyanax, deren Pantomime zu einer ergreifenden langen Klarinettenmelodie zum Musterfall einer Seelenbewegung wird. Die Musik im Verein mit der Pantomime repräsentiert hier den inneren Vorgang eines schmerzlichen Ausbruchs der Selbstdisziplin und deren schließliche Wiedergewinnung, die Voraussetzung für das Auferstehen aus dem Schmerz ist.“[15]

© Fabian Schellhorn

Die Pantomime indessen wird seit Ende des 18. Jahrhunderts als Gefühlsmedium entwickelt. Sie ist heutzutage fast völlig als Medium verschwunden. Pantomimen und Lebende Bilder entwickeln seit der Zeit um 1800 eine neuartige Sichtbarkeit von Gefühlen insbesondere mit Antikenbildern z.B. der Lady Hamilton. Doch die Lebenden Bilder werden nicht von Musik begleitet oder gar durch sie zum Sprechen gebracht. Das Weinen der Andromaque, das in der Pantomime auf das Volk übertragen wird, gehört geradewegs zum Repertoire der Pantomimen und Lebenden Bilder. Weit wichtiger als die Sichtbar- und Hörbarmachung der „Seelenbewegung“ wird, dass Berlioz die Kunst der Pantomime so weiterentwickelt, dass ein psychologisches Schauspiel aller erst wahrgenommen werden kann. Die nicht zuletzt mit den Frauenfiguren aufgeworfene Geschlechterproblematik wird quasi durch Berlioz‘ Musik aufgenommen und in eine „Seelenbewegung“ transformiert. Der Gefühlsprozess oder auch die musikalische Gefühlsgeschichte befriedet gleichsam die Geschlechterfrage, indem Hector(!) Andromaque vorspielt, wie sie sich verhalten soll.

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Durch eine erweiterte Lektüre gewinnt Hector Berlioz Grand Opéra Les Troyens eine Vielschichtigkeit, die sich beim Hören und Zuschauen in der Philharmonie an mancher Stelle wie ein Blitz einstellte. Dafür braucht es eine Genauigkeit und Klarheit in der Aufführungspraxis durch exzellente Musiker*innen, Chorist*innen und Solist*innen, die von einem brillanten Dirigat geführt werden. Deshalb wurde der Abend durch Dinis Sousa zu einem Triumph. Ob sich der Dirigent Gedanken um die vielfältige Verflochtenheit der Komposition wie des Librettisten und Komponisten gemacht hat, wissen wir nicht. Sie ließen sich auf ihn übertragen, aber das muss nicht sein. Vielmehr wurde die Verflochtenheit der Grand Opera durch die komplette Aufführung gerade in jenen Passagen, von denen Opernkenner häufig sagen, dass sie als Längen und Wiederholungen verzichtbar seien, man die Partitur also kürzen könne, zu aller erst hörbar. Und das ist ein unschätzbares Verdienst des Projektes, das auf tragische Weise mit Sir John Eliot Gardiner verbunden sein wird. Wie ein Epos für alle Zeit.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023


[1] Michael Stegemann: Hectors Schatten. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2023. Berlioz: Les Troyens, Berlin 2023, S. 15.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013. (PDF unter Publikationen)

[3]  Siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[4] Michael Stegemann: Hectors … [wie Anm. 1] S. 13.

[5] Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Libretto. Berlioz: Les Troyens, (Deutsche Übertragung : Simon Werle) Berlin 2023, S. 4-5.

[6] Niklas Holzberg: Die Stimme der Einfühlung. Vergil als empathischer Epiker. In: Berliner Festspiele: Musikfest … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 6.

[8] Siehe: Publius Vergilius Maro: Aeneis. (Wikisource)

[9] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 10.

[10] Ebenda S. 31.

[11] Ebenda S. 45.

[12] Klaus Heinrich Kohrs: Eine Oper der Frauen: Cassandre und Didon. In. Berliner Festspiele: … Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 25.

[14] Siehe dazu auch: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2017. (PDF unter Publikationen)

[15] Klaus Heinrich Kohrs: Eine … [wie Anm. 12] S. 24-25.

Furiose Gedankenmusik

Lied – Leben – Nichts

Furiose Gedankenmusik

Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin

Das Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin fast schon traditionell mit dem Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam unter der Leitung von Iván Fischer – 2022 hatte Klaus Mäkelä das Orchester durch die 6. Symphonie von Gustav Mahler geleitet – fiel in diesem Jahr mit dessen 7. Sinfonie weniger spektakulär aus. Stattdessen überraschte das ziemlich junge London Symphony Orchestra am Montag unter der Leitung von Sir Simon Rattle mit der 9. Sinfonie von Mahler in einer selten, vielleicht sogar noch nie gehörten Intensität und Zerrissenheit. Das Musikfest Berlin ermöglicht genau diese Hörvergleiche auf höchstem musikalischem Niveau. Die äußerste Konzentration wird nicht nur vom Orchester, sondern ebenso vom Publikum gefordert und mit Glück zum geteilten, unvergesslichen Ereignis.

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Ganz zu Anfang hatten Iván Fischer und das Concertgebouw die Reihe der Musikfest-Konzerte mit Jörg Widmanns Orchesterliedmontage Das heiße Herz eröffnet. Die Komposition nimmt unterschiedliche Lied- und Kompositionsschemata auf, um mit Gedichten von Klabund[1] bis Clemens von Brentano eine Art Welttheater des Liebens für Orchester und Bariton (Michael Nagy) zu entfalten. Das heiße Herz lässt sich in seiner eigensinnigen Form in mancherlei Beziehung zu den Kompositionsweisen von Gustav Mahler setzen. Die Texte aus der Zeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert kombinieren verschiedene Sprechweisen über die Liebe – Sprachen der Liebe. In der Orchesterversion des Concertgebouw wird die Montage waghalsig gegenüber dem Liedzyklus auf 5 statt 8 Lieder ausgedünnt.[2] Text und Ton treten in eine andere Konstellation.

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Die Form Liedzyklus wird von Jörg Widmann mit der Auswahl der Texte in Gedichtform neuartig montiert und komponiert. Die Fallhöhe des ersten Liedes Der arme Kaspar von Klabund mit der Tempobeschreibung „Zögernd, instabil“ gibt einen Wink auf das Kompositionsverfahren wie den Kaspar. Alfred Henschke, der sich den Künstlernamen Klabund zugelegt hatte, veröffentlichte 1922 den Gedichtband Das heiße Herz mit Balladen, Mythen und Gedichten bei Erich Reiss in Berlin. Die „Ballade“ Der arme Kaspar eröffnet in knapper Form den Gedichtband. Während die Ballade als tänzerische Gedicht- wie Liedform i.d.R. eine längere Erzählung umfasst, fällt Klabunds Ballade in diesem Band äußerst knapp aus. Auf Seite 7 passt unter Der arme Kaspar gar noch die erste Strophe der Ballade Laotse.[3] Wobei die Abfolge von Kaspar und großer Namen wie Laotse, Hiob, Mohammed, Montezuma etc. als weitere Balladentitel zumindest eine eigenwillige Auswahl ankündigt. 

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Die Ballade von lateinisch ballare für tanzen wird von Klabund insbesondere durch die kurze Reimform mit den wiederholten Fragen nach woher, wohin, wo, wann zu einer tänzerischen Bewegung. Auf äußerst knappem Raum wird das sich bewegende Ich in einen Strudel der Fragen hineingezogen, die mit der Wiederholung der Fragen nach dem Wohin und Woher endet: „Ich geh – wohin? Ich kam – woher?“ Die Fragen des ebenso instabilen wie armen Kaspar reichen in ihrer Knappheit bis ins „All“, indem Klabund die Begriffe anders verwendet und mit „Viel schwer.“ auf „Viel leicht.“ durch die Schreibweise das Sein des Ich in einen Taumel versetzt. Was durch die Schreib-Lese-Operationen zugleich ins Komische und Satirische kippt, erweist sich in seiner typographischen Mikrologie der Getrenntschreibung als großes Welttheater.

© Fabian Schellhorn

Jörg Widmann zeigt sich mit seiner Titelwahl wie Montage von Gedichten als ein ebenso genauer wie kluger Leser und Komponist. Wird doch die Figur des Kaspar in der Literaturgeschichte als eher komische und lachhafte verortet. Alfred Henschke bzw. Klabund als Künstlername aus Klabautermann und Vagabund verriet ebenfalls eher scherzhafte Züge. Und inwieweit das lyrische Ich der Ballade Der arme Kaspar mit einer Selbstwahrnehmung des Dichters korrespondiert, der sich nicht zuletzt durch seine Liebe lächerlich macht – „Ich steh und fall,/Ich werde sein.“ –, lässt sich nicht festlegen. Schließlich gehört Klabund zu jener Generation deutschsprachiger Dichter, deren Tuberkuloseinfektion nicht nur ihr Leben und Lieben – Das heiße Herz – vorzeitig beendete, sondern im Denken früh beeinflusste.[4]

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Was heißt Romantik für den Liedzyklus von Jörg Widmann, wenn er damit zitiert wird, dass seine „Liebe zur Romantik, die in zahlreichen Anspielungen auf Robert Schumann und Gustav Mahler greifbar“ werde?[5] Romantik wird leicht mit einem Sonnenuntergang am Meeresstrand, roten, lockenden Lippen und roten Rosen verknüpft. Damit räumt Jörg Widmann durch die Montage von Heinrich Heines Das Fräulein stand am Meer pointiert auf. Denn Heine kontert dem Programm der Romantik in ihrer Gefühls- und Liebesprogrammatik mit der naturwissenschaftlichen Vorhersehbarkeit von Sonnenunter- und Sonnenaufgang. – „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt von hinten zurück.“ – In der orchestralen Komposition wechselt ein (romantischer) Walzer als Versprechen von Zweisamkeit in eine Art chaotische Jahrmarktsmusik. Musikalisch wird gerade nicht die Regelhaftigkeit komponiert, vielmehr der Effekt einer Zertrümmerung des Romantischen.

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Jörg Widmann verschiebt mit seiner Komposition das landläufige Wissen um die Romantik und Liebe. Das vermeintliche Epochenwissen von der Romantik mit ihrer Liebesthematik wird von Anfang an mit Klabund auf die Probe gestellt. Es geht vielmehr in die Richtung eines systemischen Selbstzweifels. Denn das (romantische) Ich ringt darum, sich durch die Liebe bestätigt zu finden. Diese Bestätigung wird ihm oft verwehrt. Ob in Des Knaben Wunderhorn oder Clemens Brentanos Litanei Einsam will ich untergehn steht das Ich radikal in Frage zwischen Gottverlassenheit und Untergang als „Herz in deinem Herzen“. Dass das Bariton-Ich in der Orchesterversion oft vom Orchester übertönt wird und in ihm untergeht, lässt sich auch als ein weiterer Wink auf die Brüchigkeit des Subjekt in der Romantik hören und bedenken. Widmann schichtet in seiner Komposition mehr die Ebenen von Text, Stimme und Orchester, als dass er sie instrumentiert.

© Fabian Schellhorn

Der Liedzyklus, der auf eine, wie es im Programm heißt, Auswahl gekürzt worden war, bleibt offen. Jörg Widmann war jedenfalls anwesend und wurde wie der Solist und der Dirigent vom Publikum gefeiert. Die Textverständlichkeit und ihre Schwächung durch das Orchester schienen zu Widmanns Kalkül zu gehören. Das Genre des Orchesterliedes wurde insofern Gegenstand der Befragung durch die Komposition und Instrumentation. Das hört sich bei Widmann und der Interpretation durch Iván Fischer und dem Concertgebouw Orchestra facettenreich und transparent an. Die Nähe und die Differenz zu Gustav Mahler wurde indessen mit der 7. Sinfonie spürbar. Diente die Kürzung nur, um die Überlänge von ca. 80 Minuter der Siebenten nicht auf den ganzen Orchesterabend auszudehnen? Von Romantik wird man selbst beim Andante amoroso als Tempo des 4. Satzes schwerlich sprechen können. Was könnte an diesen Brüchen amourös und landläufig romantisch  sein? Oder soll die „Nachtmusik“ des 2. und 4. Satzes eher an „Nachtstücke“ eines E.T.A. Hoffmann oder eines Robert Schumann erinnern?

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Der 1. Satz Langsam (Adagio) – Allegro risoluto, ma non troppo lässt an eine wilde Filmmusik mit Reitern denken. Es bäumt sich in der 7. Sinfonie von Mahler wiederholt eine Art Ritt oder ein Getriebenwerden auf. Dadaa Dadadadaa. Geht es um angriffslustige Männlichkeit mit den fanfarenartigen Motivfetzen? Sind die verfolgungsartigen Nachtmusiken mit den für den Liedgesang verwendeten Instrumenten Gitarre und Mandoline ebenso wie als solistisch behandelte Erinnerungen an Liebeslieder? Die 7. Sinfonie führt eine Art Schattendasein im Repertoire wie das „Schattenhaft“ des 3. Satzes. Und dann gibt es da die Herdenglocken im Scherzo, die anders als Apotheose im 5. Satz wiederkehren. Wie lässt sich die 7. Sinfonie dirigieren, interpretieren und hören?

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Der Berichterstatter rang mit den Motivfetzen als Gedankenfetzen des 1. Satzes. Sir Georg Solti soll geschrieben haben, dass ihm die Siebente „wie das Werk eines Verrückten“ vorgekommen sei.[6] Die Fanfarenmotive stehen zumindest im äußersten Wiederspruch zum wiederholten Abbruch der Ankündigung eines Aufbruchs. Die anklingenden Fanfaren zeitigen den Filmmusikeffekt, der nicht ein- oder aufgelöst wird. Vielleicht gibt es keinen Aufbruch eines Mannes mehr als einer Frau einzulösen. Es ist lediglich und womöglich gar eine kasparhafte Geste des Aufbruchs, die zu nichts führt. Die Siebente führt zu nichts – und das ließe sich pointiert herausarbeiten. Das Rondo-Finale des 5. Satzes erreicht mit den scheppernden Herdenglocken keine Apotheose, vielmehr bleibt das Glockengeläut hohl und leer. – Übrigens erklingt in der 9. Sinfonie noch einmal ein Glockengeläut, aber nicht mit Herden- oder Kuhlocken, sondern mit Glockenspiel und 3 tiefen Glocken an, eher schatten- oder schemenhaft.

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Was passiert also, wenn der Berichterstatter während der Aufführung der Frage nachgeht, was er hört? Er schreibt sich mit dem Musikfest-Bleistift Worte mit Fragezeichen ins Programmheft. „Schlaflosigkeit“ „Glockengeläut am Schluss Chaos?“ „Frage der Männlichkeit“ Wie deutlich sollen die Liedbegleitungsinstrumente Mandoline und Gitarre zu hören sein? Gesungen wird nicht. Ließe sich das stärker hörbar machen? Ist die Serenade nur noch eine Erinnerung an erotische Abenteuer eines Mannes? „Alles wieder gut?“ Oder gerade nicht. „Gedankenmusik“ – Iván Fischer dirigiert das Concertgebouw Orchestra vom Blatt. Die Frage von Chaos, vielleicht Verzweiflung, oder abschließender Konklusion durch ein „Es ist alles wieder gut, nach all der Verwirrung und Hektik“ wird von Fischer mit seinem Dirigat nicht entschieden. Laut ist keine Lösung, aber das Publikum applaudiert. So gab es beim Eröffnungskonzert zwei Schwachpunkte: die mutwillige Kürzung von Jörg Widmanns Das heiße Herz und eine gute, aber uninspirierte 7. Sinfonie.

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Möglicherweise lassen sich die Interpretationen der Sinfonien von Gustav Mahler, vor allem die 5., 6., 7., 8., Das Lied von der Erde [7], 9. darin einteilen, wie stark der dumpfe Hammerschlag in der Sechsten beachtet wird oder nicht. Claudio Abbados Aufführung von Das Lied von der Erde als Requiem für einen Atheisten zum 100. Todestag des Komponisten 2011 bleibt ein Referenzerlebnis. Dann wird es entweder weiter seicht oder radikal. Hört, ja, liest man Gustav Mahler von der 9. Sinfonie, also vom Ende her, lässt sich die Radikalität in seiner Gedankenmusik nicht überhören. Denken die Gedanken mich oder denke ich mich? Bin ich Subjekt oder Objekt? Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden lässt sich ein instabiler Text von Heinrich von Kleist mit ungewisser Herkunft und fragwürdigem Adressaten nennen. Mit einer Anekdote aus der Französischen Revolution konterkariert Kleist in dem Text den Verstand des Subjekts und macht es abhängig vom „Zucken einer Oberlippe“:
„Vielleicht, daß es – auf diese Art – zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“[8]

© Fabian Schellhorn

Mahler befragt mit seiner 9. Sinfonie nicht zuletzt im 2. Satz mit Etwas täppisch und sehr derb die Geschäftigkeit des Lebens im Angesicht des Todes voller Ironie. Im Adagio gibt es nur noch Gedankenfetzen, die sich unvermittelt und in gewisser Weise belanglos vor dem Nichts oder auch aus dem Nichts einstellen. Weder Motive noch Gedanken werden kontextualisiert oder ausgeführt. Um die Sinfonie, die keine mehr ist, nicht zerfasern zu lassen, braucht es Intensität, äußerste Konzentration. An diesem Punkt setzt Sir Simon Rattle mit dem, man kann es gar nicht oft genug sagen, sehr jungen London Symphony Orchestra einen neuen Standard. Die Orchestermusiker*innen sind dem Dirigenten für die Erfahrung dieser Intensität offenbar dankbar. Vielleicht bleibt nichts als diese Intensität, die im Gegensatz zur Geschäftigkeit sich hetzender Gedanken steht.

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Sir Simon Rattle dirigiert nicht vom Blatt, sondern aus seinem Körper. Die großen Symphonieorchester wie die Berliner Philharmoniker[9] oder das Concertgebouw haben ein eigenes, gewissermaßen instutionalisiertes Musik- und Praxiswissen generiert, das in ihnen zirkuliert und auch einschränken kann. In Klangkörpern, wie man sagt, bildet sich Wissen heraus und kursiert in ihnen. Beim London Symphony Orchestra ließ sich mit der 9. Sinfonie von Gustav Mahler hören und beobachten, wie ein solches Klangkörperwissen insbesondere durch die Praxis entsteht, indem der Dirigent sein Mahler-Wissen an es heranträgt. Intensität und Konzentration sind alles und können zu einer Entdeckungsreise werden. Umso mehr störte den Berichterstatter sein gewiss freundlicher, aber mit seinem linken Bein zuckender Sitznachbar, dessen Gegenrhythmus auf die Rücklehne übertragen wurde. – Dennoch konnte das LSO unter Sir Simon Rattle so sehr überzeugen, dass das Publikum nach einem längeren Moment der Stille in Ovationen ausbrach.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023 


[1] Zu Klabund siehe: Torsten Flüh: Vom literarischen Kosmopoliten. Zu Alfred Henschke genannt Klabund – Ick baumle mit de Beene im Theater im Palais und seinem Roman Pjotr – Roman eines Zaren. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Januar 2023.

[2] Siehe: Jörg Widmann: Das heiße Herz. Mainz: Schott Music, 2018. (Website)

[3] Klabund: Das heiße Herz. Berlin: Erich Reiss, 1922, S. 7. (Internet Archive)

[4] Siehe: Torsten Flüh: Von … [wie Anm. 1].

[5] Olaf Wilhelmer: Liebesfreud, Liebesleid, Liebeslied. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin Eröffnungskonzert: Royal Concertgebouw Orchestra/Iván Fischer 26.08.2023.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Zum Lied von der Erde siehe: Torsten Flüh: Requiem für einen Atheisten. Claudio Abbado dirigiert Das Lied von der Erde und spricht über Politik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Mai 2011. (PDF unter Publikationen)

[8] Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. (zuerst veröffentlicht postum 1878 Wikisource)

[9] Zur 8. Symphonie von Gustav Mahler siehe auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Klangwolke.
Berliner Philharmoniker spielen unter Sir Simon Rattle die 8. Symphonie von Gustav Mahler. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2011. (PDF unter Publikationen

Queere Geschichte nach Fotos

Queer – Geschichte – Deutschland

Queere Geschichte nach Fotos

Zu Benno Gammerls empfehlenswerten Buch Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Die Form von Queer ist anders. Benno Gammerl stellt in seinem neuen Buch jedem historischen Abschnitt ein Foto voran. Kaiserreich – Weimarer Republik – Nationalsozialismus – Nachkriegsdekaden in Ost und West – Bewegungen seit den 1970er Jahren – Neue Normalitäten seit den 1980er Jahre – Diversifizierung seit den 1990er Jahren bilden historische Ab- und Einschnitte, in denen queeres Leben nicht zuletzt durch deutsche Straf-, Ehe-, Personenstands- und Familiengesetze kriminalisiert, terrorisiert, gelockert und schließlich in Vielfalt normalisiert wurde, um sogleich durch religiöse und rassistische Randgruppen angegriffen zu werden. Queer heißt weiter ein Leben in Unruhe. Queer stört weiterhin.

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Benno Gammerl kann derzeit im Horizont der akademischen Lehre als führender Historiker für die queere deutsche Geschichte angesehen werden. Mit Queer legt er nun ein gut lesbares, ebenso unterhaltsames wie fundiertes Buch vor, das nicht nur von queeren Menschen zur Selbstvergewisserung ihrer Geschichte, sondern von einer breiten Öffentlichkeit gelesen werden sollte. Wenn wir uns in diesen Monaten und Wochen das enthemmte patriarchale Gestammel inklusive Flugzeugabsturz aus dem Kreml anhören müssen, das sich mit alten Begriffen und Stereotypen gegen ein nicht zuletzt queeres Europa aufbäumt, dann wird klar, dass Queer als „ein(e) deutsche Geschichte“ zum Herz eines Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses von Deutschland und Europa gehört. – Was erzählen Fotos vom queeren Leben?

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In dieser Buchbesprechung im Format Blog erscheinen Fotos aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Der Berichterstatter hat die Fotos in mehreren kleinformatigen Alben nach dem Tod seiner Großtante Alice vor 30 Jahren geerbt. Die Personen auf den Fotos, so lebendig sie wirken, sind – wie es gerade auf einer Einladung zu einer Vernissage in Hamburg heißt – hinüber. Auf den Fotos sind Alice, Walter und Erich, soviel lässt sich sagen, oft in den Dünen von Westerland oder Timmendorfer Strand, Grömitz oder Travemünde zu sehen. Genaue Ortsangaben gibt es nicht. Strandidyllen. Irgendwo ist „Das Kleeblatt“ auf die Rückseite eines Fotos mit Bleistift geschrieben. Junge Menschen. Drei junge Menschen, sagen wir, in den 30er Jahren. – Was sollte an diesen Fotos mit Strandsand, Dünen, Himmel queer sein? 

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Mit diesen Fotos wird an Benno Gammerls Geschichtsverfahren angeknüpft. Die Fotos sind Zeugnis. Aber wir müssen erst einmal beginnen zu sehen, was bzw. wer uns aus einem Foto entgegenspringt. Sie faszinieren ohne ganz und gar sichtbar zu sein. Es hat in der Praxis des Fotografierens und des Fotografiertwerdens immer Formen der Selbst-Inszenierung gegeben. Oft haben diese wie auch andere Fotos Eingang in Archive gefunden. Gammerl würdigt in seiner Einleitung „die entscheidende und herausragende Arbeit, die queere, schwule, lesbische und trans* Archive leisten“.[1]

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Die adjektivischen Benennungen queer, schwul, lesbisch, trans und inter für geschlechtliche Praktiken verschafften und verschaffen weiterhin die Möglichkeit zur Fremdbezeichnung wie zur Selbst-Bestimmung von Menschen. Der Begriff schwul erreichte vor allem in den 80er Jahren bis zu Beginn der 90er seine höchste Gebrauchsfrequenz in Zeitungen. Seither hat sich der Gebrauch auf einem hohen Niveau von 3345 Nennungen 2022 eingependelt.[2] Im Vergleich dazu beginnt mit 1991 ein steiler Anstieg des Begriffes queer mit 1461 Nennungen im Jahr 2022.[3]

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Der Gebrauch eines Begriffs, um eine Lebensform zu benennen, schafft ein sprachliches Feld für Debatten um diese und deren Ausgestaltung.[4] Gegenüber queer wird in deutschsprachigen Zeitungen schwul immer noch mehr als doppelt so häufig verwendet. Die Benennung verspricht, dass ein breites und vielfältiges Wissen zu schwul kursiert, während queer „als Sammelbezeichnung für nicht heteronormative sexuelle und geschlechtliche Praktiken und Subjektivitäten“ sich noch nicht „durchsetzen“ konnte.[5] Praktiken der Benennung und ihres Gebrauchs geben einen Wink auf historische Verschiebungen. Gammerl macht deshalb auf „Kritiken an allzu eindeutigen Vorstellungen von geschlechtlicher und sexueller Identität“ aufmerksam.[6]
„Denn zwischen gleich- und andersgeschlechtlichem Begehren kann man nur dann klar unterscheiden, wenn zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht eine klare Grenze verläuft. Bisexuelle verwirren diese Ordnung ebenso wie intergeschlechtliche Menschen, die sich seit 2018 nach dem deutschen Personenstandsrecht als divers bezeichnen können.“[7]   

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Der Begriff queer eröffnet nicht zuletzt durch die Ausdifferenzierung im deutschen Rechtssystem wie aktuell mit der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, in der Alice Schwarzer in EMMA mit „biologische(n) Fakten“ argumentiert[8], eine inklusive Geschichte der Sexualitäten und des Empfindens. Der am 23. August vorgestellte Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes „soll das Leben für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen erleichtern“.[9] Bei Drucklegung von Queer konnte Benno Gammerl diese neueste Wendung im Feld der Lebensformen noch nicht absehen. Während Bundesfamilienministerin Lisa Paus den „Schutz lang diskriminierter Minderheiten“ als einen „gesellschaftspolitische(n) Fortschritt“ hervorhebt, betont Bundesjustizminister Marco Buschmann den „Geist des Grundgesetzes“.[10] Die Debatte gibt mit den „biologische(n) Fakten“ einmal mehr einen Wink darauf, wie lebendig biologistische Argumentationsmuster im Feld der Geschlechter weiterhin sind.

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Das Foto mit den 5 Frauen, eine mit Hut, eine mit schwarzer Haube und jeweils einem Bleistift in ihrer rechten Hand, dessen eines Ende sie an ihr Unterkinn legen, als erwüchsen daraus Bärte der Gelehrsamkeit, dabei den Blick leicht angewinkelt in die Kamera gewendet, wird von Benno Gammerl dem Kapitel Unterdrückung, Aufklärung und Skandalisierung. Das Kaiserreich vorangestellt. Er beschreibt das Foto ein wenig anders und nennt sie „Frauenaktivistinnen“.[11] Die Handhabung des Stiftes durch die Frauen dürfte um 1900 eine provokative Geste gewesen sein. Nicht nur, dass sie als Frauen schrieben und sich in Debatten schriftlich zu Wort meldeten, vielmehr finden sie mit den sich selbst ermächtigenden Stiften in einer Zeit zusammen, in der ein Bleistift wie in Thomas Manns Roman Der Zauberberg als phallisches Symbol kursieren konnte.[12] Gammerl erzählt vom Kaiserreich anders, als es bislang vor allem wegen der Homosexuellengesetzgebung, dem § 175 Strafgesetzbuch, historisch betrachtet wurde.
„So verschieden diese Strategien waren – und man sollte sich davor hüten, sie alle vorschnell als progressiv zu beklatschen –, so teilten sie doch einen sexualreformerischen Kern. (…) Unser Bild dieser Periode ist eher von ihrem Anfang geprägt, den wir bestens zu kennen meinen: Preußen, militärischer Triumph, der Spiegelsaal in Versailles, viele Männer in Uniformen mit Ordensglitter und hohen Lederstiefeln – Kaiserkrönung.“[13]

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Spätestens mit dieser Formulierung zum Geschichtswissen über das Kaiserreich wird deutlich, dass Benno Gammerl mit Queer die landläufige Geschichtsschreibung in Frage stellt, wenn nicht angreift. Man könnte das Geschichtsschreibungsverfahren mit den Fotos ein mikrologisches nennen. Plötzlich bricht mit einem mutig inszenierten Foto von 5 Frauen das Verständnis einer ganzen Epoche auf. Wie kommen die Frauen in einem Münchner Fotoatelier überhaupt dazu? Minna Cauer, Lily von Gizycki verheiratete Braun, Anita Augspurg, Marie Stritt und Sophia Goudstikker sprengen das Geschichtsbild nicht zuletzt durch ihre Lebensweisen. Anita und Sophia nutzen das noch junge Medium Fotografie für eine kalkulierte Inszenierung eines Frauenbildes.
„Anita Augsprug und Sophia Goudstikker waren ein Paar. Sie trennten ich 1899 und lebten danach mit anderen Partnerinnen zusammen.“[14]

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Benno Gammerl arbeitet mit Queer die Widersprüche und Brüche in der deutschen Geschichte heraus. Denn seine Geschichten orientieren sich an dem Alltäglichen und der Herausbildung von Wissenschaften, an Einzelschicksalen und politischen Parteien. Es gibt keine bruchlose Geschichte vom queeren Leben. Die Verfolgung durch den § 175 StGB gehörte ebenso zum Kaiserreich wie die Entstehung einer Vokabulars und diverser Rollenmodelle. Auf diese Weise zeigt sich, dass Queer als Geschichtsschreibung breiter angelegt ist, als es Herrschaftsgeschichten bislang getan haben. Geschichte ist keinesfalls eine Abfolge von gekrönten Häuptern – Elisabeth II., Charles III. –, wie es immer noch gern erzählt wird.
„Queeres Leben war damals immer auch, aber nie nur von Verfolgung und Stigmatisierung geprägt. Die Sorge war sozusagen eine ständige Begleiterin, aber zugleich kämpften Aktivist*innen couragiert für eine Verbesserung der Lebenssituation von Homosexuellen, Transvestiten und anderen Menschen, die wir heute als queer bezeichnen würden. Neben den Emanzipationsbewegungen spielten die Wissenschaft und der aufklärerische Impetus eine wichtige Rolle sowie der subkulturelle Alltag mit seiner Lust und Unübersichtlichkeit.“[15]

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Zum Kaiserreich gehörten auch die Burschenschaften. Wie sich kürzlich mit einem MeToo-Schlaglicht gezeigt hatte, gehört zu den studentischen Verbindungen eine spezifische Geschlechtspraxis, die weder in der Homosexuellen-, noch Schwulen- oder Queerforschung berücksichtigt worden ist. Das liegt an ihrer klandestinen Organisationsform. Dennoch wäre hier einer wichtigen Spur nachzuforschen, die gesellschaftliche Relevanz hat. Die Geschlechtspraxis der Burschenschaften reicht hinüber in den Nationalsozialismus[16], den Benno Gammerl von Anfang an mit der Plünderung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933 und der prominenten Verbrennung einer Büste Magnus Hirschfelds als „entgrenzte Verfolgung“ benennt.[17] Die Verstrickungen des mannmännlichen Begehrens im Nationalsozialismus bis hinauf zu dessen Elite, wenn man es so nennen will, werden auch von Gammerl noch zu wenig berücksichtigt.
„Trotzdem ist es wichtig, den homosexuellen Alltag im Blick zu behalten, wenn man von der queeren Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland spricht. Man sollte sich nicht allzu ausschließlich auf die Verfolgung männerbegehrender Männer konzentrieren und deren Leiden nicht allzu sehr ins Schreckliche übersteigern. So entscheidend dieser Teil der Geschichte ist, bei Weitem nicht alle queeren Menschen gerieten in die Fänge von SS und Gestapo, kamen ins KZ und wurden dort ermordet. Gleichgeschlechtlich begehrende und gender-non-konforme Menschen wurden zu Opfern, konnten aber auch Täter*innen sein. Manche wurden vermutlich beides zugleich.“[18]

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Queer eröffnet eine andere und weitreichende Geschichtsschreibung auf mehreren Ebenen. Indem Begehrensverhältnisse und Lebensformen in großer Vielfalt bis in die jüngste Zeit berücksichtigt werden, erhält die Frage des Geschlechts für die Geschichte eine neue Dimension. Denn es ist keinesfalls so, dass das Geschlecht für die Geschichtswissenschaft keine Rolle gespielt hätte. Vielmehr dreht sich bei ihr alles um das Geschlecht ob im Sinne von Genealogien oder eine vermeintlich biologische Normalität. Benno Gammerls Queer ist mit 233 Seiten plus Hinweisen zum Nach- und Weiterlesen ein überschaubarer Geschichtsband geblieben. Monographien zu einzelnen Herrschaftspersönlichkeiten bringen es in dieser Wissenschaft locker auf das Doppelte bis Vierfache. Insofern wird Queer nicht wegen seines schieren Umfangs, sondern wegen seiner Methodik zum Standardwerk. Es setzt einen neuen Standard in der Geschichtswissenschaft bezüglich der Geschlechterfrage.

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Und das Kleeblatt – Walter, Erich und Alice? Sie könnten vermutlich auch andere Namen haben. Es wird wohl ein vierblättriges Kleeblatt gewesen sein. Denn eines musste die anderen drei fotografieren. Während eine weibliche Person auf Westerland neben Walter im Strandsand sitzt, hat dieser sich seitlich Erich und der Kamera zugewandt. Walter und Erich waren heimlich ein Paar in Hamburg. Walter bewahrte den Taschenkalender 1938 von Erich bis zu seinem Tod auf. Schwer entzifferbare Einträge deuten gemeinsame Unternehmungen an. Erich fiel an der Westfront 1939, wie man sagt. Walter überlebte unter dem Schutz seines Vorgesetzten in der Wehrmacht den Krieg. In den 50er und 60er Jahren gab es wilde Feste. Vielmehr ist nicht überliefert. – Die Alben befinden sich im Archiv des Schwulen Museum.

Torsten Flüh

Benno Gammerl
QUEER – Lesung
Prinz Eisenherz
Datum: Samstag, 16. September 2023
Uhrzeit: 20:30 Uhr
Adresse: Motzstr. 23
Eintritt: 7,-

QUEER – Lesung
Stadtbibliothek Erlangen – Innenhof
Datum: Freitag, 22. September 2023
Uhrzeit: 19:00 Uhr
Marktplatz 1
91054 Erlangen

Benno Gammerl
Queer
Eine deutsche Geschichte
vom Kaiserreich bis heute
24,- €


[1] Benno Gammerl: Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München: Hanser, 2023, S. 21.

[2] Siehe: DWDS: schwul – Verlaufskurve. (Verlaufskurve)

[3] Ebenda: queer – Verlaufskurve (Verlaufskurve)

[4] Zum Begriff schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (siehe PDF unter Publikationen)

[5] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 19.

[6] Ebenda S. 20.

[7] Ebenda S. 20 – 21.

[8] Emma: Trans-Debatte. (Website)

[9] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bundeskabinett beschließ den Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz 23.08.2023.

[10] Ebenda.

[11] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 27.

[12] Siehe auch Thermometer in Der Zauberberg in: Torsten Flüh: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[13] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 31.

[14] Ebenda S. 28.

[15] Ebenda S. 58.

[16] Siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[17] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 97.

[18] Ebenda S. 124.

Puppe wird Mensch

Frau – Maschine – Mensch

Puppe wird Mensch

Zum ebenso witzigen wie verstörenden Anti-Patriarchat-Film Barbie

Um es gleich vorwegzuschreiben: Barbie wird aus dem Reich der Babypuppen, begleitet von der Eröffnungssequenz von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra als Über-Mensch und dessen Karikatur geboren.[1] Der Film beginnt, um es einmal sozusagen, wenig zartbesaitet und mädchenhaft mit einem Massaker im Mädchenzimmer. Puppenköpfe werden zertrümmert. Schluss mit den lebensreformerischen, pausbäckigen Käthe-Kruse-Puppen zur Einübung des Mütterlichen als Schauspiel. Her mit den überzeichnet langen Beinen und Füßen in High Heels, Wespentaille und Blond. Pumps oder Birkenstock (Productplacement) ist nicht die Frage. Seit dem 9. März 1959 müssen sich kleine Mädchen und solche, die eine Frau werden wollen, strecken und blondieren. Barbie war schon 1959 die perfekte Drag Queen.  

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Greta Gerwig als Drehbuchautorin wie Regisseurin und Margot Robbie als Barbie-Hauptdarstellerin wie Mitproduzentin dürften die Filmgeschichte soweit kennen, dass mit genau der Über-Mensch-Musiksequenz Stanley Kubricks Science Fiction-Film 2001: A Space Odyssey (1968, in UHDTV 2018) eröffnet. Das Mädchenzimmer – Set design: Sarah Greenwood und Katie Spencer – wird als schroffe Wüste eines leeren Planeten vorgeführt. Barbie-Puppe: Über-Mensch: Künstliche Intelligenz: Maschine – und dann geht es so um und bei 110 Minuten für Barbie darum, nicht nur Mensch, sondern geschlechteter Mensch zu werden, wenn sie sich, all ihren Mut zusammenraffend, an der – O-Ton – „Gynecologist“-Rezeption anmeldet. Tatsächlich lässt sich der Film Barbie mit 2001 lesen bzw. sehen. Denn in beiden Filmen wird der Schrecken von mechanischer Puppe – Barbie – oder KI – HAL 9000 – und dem Menschlichen verhandelt.

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Barbie ist nicht mehr und nicht weniger als ein Musicalfilm mit einer Fülle von Anspielungen auf die Pop- und Filmgeschichte ebenso wie die Schrecken und Ängste einer aktuellen globalen Welterfahrung. Im Takt der schnellen Schnitte – Schnitt: Nick Houy – blitzen Aha- und Kenn-ich-Effekte auf, um sogleich wieder vergessen zu werden. Nick Houy hat bereits mehrfach mit Greta Gerwig zusammengearbeitet. Erstaunlicherweise werden keine Kreativen für Special Effects in den Castlisten für den Film genannt. Die Barbieland-Szenen dürften indessen nicht nur Atelierbauten sein. Wenn Barbie aus dem ersten Stock ihres Fünfziger-Jahre-Traumhauses in ihr Cabrio schwebt und der Stoff ihres mehrlagigen Faltenrocks wie ein Fallschirm für Sekunden aufbläht, dann wird die Szene heute gewiss nicht mehr mit Seilen im Studio gefilmt, sondern digital bzw. durch eine KI perfekt aufbereitet worden sein.

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Aktuelle Musicalfilme oder früher Revuefilme wie bei Erich von Sternbergs Blonde Venus (1932) mit Marlene Dietrich sind Maschinen.[2] Auf das Blond der Blonde Venus wird zurückzukommen sein. In Barbieland werden fast ununterbrochen Maschinen vorgeführt. KIs sind für die Perfektion der Barbies geschrieben worden. Doch das Spielzeug-Barbieland leugnet in seiner pinken Perfektion jeglichen digitalen Eingriff. Denn die Puppe als Model der Maschine soll vergessen werden. Seit E.T.A. Hoffmanns Olympia werden Maschinen bzw. Automaten geschaffen und konstruiert, um verkannt und geliebt zu werden. Denn Nathanael verliebt sich in der Erzählung Der Sandmann (1815) in Olympia.[3] Um in die „Real World“ zu gelangen, müssen Barbie und Ken mit Auto, Boot und Flugzeug durch Maschinenlandschaften fahren. Die Bühnenmaschinerie bewegt weder Auto, Boot noch Flugzeug von der Stelle weg. Stattdessen ziehen Wolken, Möwen und Wellen aus Plastik vorbei. Es lebe die alte Illusionsbühne mit Maschinerie.[4]

  

In einer Reihe von islamischen Staaten wie Ägypten, Algerien, Libanon, Irak, Kuwait etc. wurde der Film entweder bereits aus dem Kinoprogramm verbannt oder wird ein Verbot wegen dargestellter Homosexualität diskutiert.[5] – Wie schwul ist Barbieland? Und was macht das mit dem Patriarchat? – Viel expliziter als gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern wird der Wechsel vom matriarchalen „Barbieland“ in ein patriarchales „Kenland“ vorgeführt. Das patriarchale Kenland muss allerdings in seiner ebenso mädchenhaften wie albernen Ken-Genealogie als Nachkommen der Pferde scheitern. In der „Real World“ begehrt die Spielzeug-Barbie gegen das patriarchale Management des Konzerns Mattel auf. Das patriarchale Gesellschaftssystem wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Insofern legt der von Frauen inszenierte und produzierte Barbie-Film seine Spur in die Krise des Patriarchats zwischen Hollywood und Hilla am Ufer des von der Türkei ausgetrockneten Euphrat, dem alten Babylon.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Das temporäre Patriarchat in Barbieland dockt ebenso an stereotype Vorlieben von Mädchen für Pferde an wie der Werbewirklichkeit männlichen Alkoholkonsums und Zigarrenrauchens. Denn – so könnte die These lauten – das Patriarchat ist kapitalistischer als das Matriarchat. Ken wird zum Boss des Patriachats, weil er sich selbst als defizitär wahrnimmt, was in I’m Just Ken von Ryan Gosling gesungen wird. Die Selbsteinschätzung trifft offenbar einen Nerv der Zeit und der Männer. Denn Ryan Gosling kommt damit in die 100 der Billboard Hot 100. Wie die insgesamt 16 Songs von Ava Max über Dua Lipa und Billie Eilish bis zu Sam Smith – Man I Am – bieten die Songs eine Storyline. In den Songs mehr noch als in den Dialogen werden die Mythen der Männlichkeit und patriarchaler Herrschaft erzählt. Kens narzisstische Kränkung neben Barbie immer nur die Nummer Zwei zu sein, führt zu einer Entdeckung seiner „Kenergy“ als Männlichkeit und Verbrüderung mit anderen Männern:
„I’m just Ken (and I’m enough)
And I’m great at doing stuff
So, hey! Check me out, yeah, I’m just Ken
My name’s Ken (and so am I)
Put that manly hand in mine
So, hey! World, check me out, yeah, I’m just Ken
Baby, I’m just Ken (nobody else, nobody else, nobody)”[6]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Männlichkeit von Ken (Ryan Gosling) und seinen Doubles existiert nur nach den Regeln des Patriarchats und denen der Puppe. Was es heißt Mann zu sein, wird vom britischen Singersongwriter Sam Smith mit Man I Am nach I’m Just Ken, Nummer 8, im Soundtrack an Position 11 beantwortet. Das heißt zweierlei: erstens haben die Produktionsfirmen zwischen Mattel Films und Margot Robbies LuckyChap Entertainment die Superstars der Singersongwriter mit Billie Eilish und Sam Smith als geschlechtliche Identifikationsfiguren für den Soundtrack eingebunden. Billie Eilish ist immer die weibliche Identifikationsfigur der Generation Z bis zum Trip, durch die What Was I Made for? absolut credible rüberkommt. Sam Smith wendet sich explizit an die männliche Hörerschaft: „This is for the boys“. Dazu gehört auch die Verleugnung, schwul zu sein: „No, I’m not gay, bro“. Sam Smiths Ken ist nicht schwul, was nur deshalb bemerkenswert ist, weil Barbie nicht sagen muss: „No, I’m not lesbian, sis“. Dramaturgisch kommt Man I Am zum Zuge, wenn es um die Einsetzung des Patriarchats geht:
„It’s time you realize
That in this world we’ve all been taught a lie
You think that women rule the world
But, baby, where I’ve been
All the things I’ve seen
This Ken has crossed the borderline”[7]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie lässt sich nicht leicht in ein Filmgenre einordnen. Obwohl ab 6 Jahre freigegeben, handelt es sich allein schon wegen seiner Überlänge von fast 2 Stunden und Dialoge um keinen Kinderfilm (59 Minuten). Ebenso die verbale Verhandlung von Matriarchat, Patriarchat, Kommerz, Kapitalismus und Geschlecht adressiert sich schwerlich an Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahre. Barbie könnte dem Genre der Screwball Comedy entsprechen, die ihre Ursprünge in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat. Zu deren Praxis gehören: „respektloser Humor, schneller Rhythmus, Dialogorientiertheit, exzentrische Charaktere und d(ie) battle of sexes“.[8] Die Schlacht der Geschlechter im Film zwischen Barbie und Ken etc. entgeht einem Publikum aus Kindern. Stattdessen ließen sich am Kino in der Kulturbrauerei Jugendliche sehen, die sich anscheinend wie Figuren des Films gekleidet hatten. Insofern könnte Barbie eine Rezeptionspraxis anstoßen, wie sie in den 70er Jahren für die Rocky Horror Picture Show (1975) entwickelt wurde. Das Publikum imitiert die Filmfiguren und nimmt ihre Identität für die Dauer der Filmvorführung an. Der Berichterstatter sah den Film in der Kulturbrauerei auf Einladung zu einem 65. Geburtstag in Begleitung eines emeritierten evangelischen Pfarrers und einer emeritierten Professorin für Islamwissenschaften. Anders gesagt: Greta Gerwig schafft es mit Barbie, nicht nur einen „fantasy comedy film“, was nicht das Gleiche wie ein Spielfilm im Genre der Komödie ist, gedreht zu haben. Eher schon ließe sich mit seinem außerordentlich breiten Erfolg von einem spaßigen, hoch präzisen Debattenfilm sprechen.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie trägt durchaus Züge eines Historienfilms, wenn „Based on Barbie by Mattel“ als Quelle angegeben wird. In mehrfacher Hinsicht verhandelt der Film das 20.Jahrhundert und die Utopien der 50er Jahre. Barbieland orientiert sich in der Architektur, den Einrichtungsstücken des Traumhauses, dem Auto, den Frisuren und der Mode an der amerikanischen Moderne zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In den 50er Jahren gab es mehr Zukunft als heute mit der Generation Z bzw. der Letzten Generation.[9] Zur amerikanischen Moderne der 50er Jahre gesellt sich die Abfolge der Barbie-Editionen, die im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr Berufsfelder für Barbie als Frauenmodel erschließen. Doch Barbies Berufskleidung wird im Spielzeugland nicht zur Arbeit angezogen. Sie arbeitet nicht, aber konsumiert endlos. Zwischen Kapitalismuskritik und einem utopischen Kapitalismus bleibt die Barbie-Geschichte in der Schwebe. Dazu gehört auch, dass Barbie in einer pinken Bonbonwirklichkeit schlank bleibt. Die Abwesenheit der Arbeit und arbeitender Menschenpuppen legt nicht zuletzt nah, dass die Befreiung von der Arbeit durch Computer, Roboter und Künstliche Intelligenz geschieht.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die visuelle Absenz von Arbeit in Barbieland lässt sich nicht nur als kindliche Utopie auffächern, denn Barbie muss vielmehr eine geradezu mythologische Arbeit aufnehmen, wenn sie in der „Real World“ nach dem spielenden Mädchen suchen muss, das auf sie Todesgedanken und Plattfüße übertragen hat. Die Billie Eilish-Frage „What Am I Made For?“ verpasst insofern das Problem der Übertragung von Gedanken auf eine Puppe im mehr oder weniger therapeutischen Spiel. Identität und Übertragung rücken erstaunlich nah zusammen. Gleich einem märchenhaften oder mittelalterlichen Ritter muss Barbie aufbrechen, um durch Arbeit ein Identitätsproblem zu lösen bzw. eine Identität zu finden. Die blonde Barbie wird allerdings von einer schwarzhaarigen, älteren Latina gespielt und gedacht. Sie hegt Todesgedanken, weil ihre Tochter (America Ferrera) erwachsen wird. Die Arbeit mit der Latina lässt sich schwer auflösen, generiert allerdings eine Latina-Familie für Barbie. Paradoxerweise wird Barbie durch das familiale Übertragungsproblem von der geschlechtslosen Puppe zum weiblichen Menschen in der Gynäkologie-Praxis transformiert.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Barbie-Geschichte des Spielzeug-Konzerns Mattel wird in einer Art Traumszene mit der Erfinderin Ruth Handler (Rhea Perlman) im Headquarter des Konzerns verklärt. Denn in der neuartigen Puppe für Mädchen überschneiden sich unterschiedliche Puppenmodelle. Einerseits entspricht Barbie einer Anziehpuppe für Modeentwürfe en minature, andererseits wird Barbie zu einem mehr oder weniger pädagogischen Model für die Einübung der Rolle der Frau. Puppen sind sozusagen role models insbesondere für Mädchen – gelegentlich auch für Jungs. Historisch stand ebenso der Bild-Karikaturist Reinhard Beuthien mit seiner Figur Lilli für Barbie von Ruth Handler Pate. Von Anfang an überschneiden sich in der Barbie-Puppe mit blondem Pferdeschwanz als Produkt überzeichnete Körpermaße und eine Lust am Kleiderwechsel. Aus Ruth Handlers Prototyp-Barbie generieren sich bis auf den heutigen Tag alle Barbie-Modelle, um ein ebenso buntes, pinkes wie diverses Barbieversum zu generieren.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie setzt nun insbesondere den Prototyp mit Margot Robbie als einer Schauspielerin in Szene, die dem Prototyp zumindest in der Maske (Oscar-Kategorie Best Makeup) des Films zum Verwechseln ähnlich wird. Wer für das Makeup verantwortlich zeichnet, wird bislang nicht angeführt. Ob das Makeup weitgehend digital in Barbie und Barbieland eingesetzt worden ist, wird noch nicht verraten. Doch Margot Robbie wie Ryan Gosling agieren mit makellosen, prototypischen Körpern, die ständig zwischen Puppen- und Menschenkörpern oszillieren. Als Barbie/Margot Robbie und Ken/Ryan Gosling in der „Real World“ von Venice Beach Skatepark in Los Angeles ankommen, verwechselt ein Passant auf der Promenade sofort den Puppenkörper von Barbie mit einem Frauenkörper, indem er ihr auf den Hintern schlägt. Barbie lädt zu übergriffigem Verhalten ein, um es in ihrer Unschuld mit einer Backpfeife zu quittieren. Eine Backpfeife, die Filmgeschichte werden könnte. Wenig später wird Barbie zu – stereotyperweise – Bauarbeitern sagen, dass sie keine Genitalien habe.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Konzerngeschichte als eine Quelle für das Drehbuch von Greta Gerwig und Noah Baumbach spart genau dort mit Humor und Ironie pophistorische Spuren aus, wo es mehrdeutig und schwierig wird.[10] Ken wird zwar zu einer mehr als komischen Figur, aber die durchaus witzige Ebene seiner Herkunft wird unterschlagen. Es geht um den boy als doll oder im Deutschen den Jungen als ambige Puppe. Unschlagbar in der Mattel-Firmengeschichte ist 1961 die nur für Kinderohren unzweideutige Werbung für Ken mit „HE’S A DOLL“.[11] Die Mattel-Werbung machte Ken zu einer Puppe mit blonden Haaren und blauen Augen im blauen Sakko. Ein männlicher Barbie-Clon, der fortan ihr geschlechtsneutraler Boyfriend sein sollte. Bereits 1959 traute so manch eine Gay-Person ihren Ohren nicht, als Cliff Richard seinen Hit Living Doll sang: „Got myself a cryin‘, talkin‘, sleepin‘, walkin‘, livin‘ doll/Gonna do my best to please her just ‚cause she’s a livin‘ doll.” Cliff Richard stand Pate für Ken. Der Maler David Hockney regte der Song 1960 dazu an, seinen DOLL BOY mit dem Zusatz „Queen“ in Öl auf Sackleinen zu versehen.[12]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Das Problem der Mechanik wird im Song Living Doll von Cliff Richard zum Symptom der Liebe. Das Ich ist zu einer Living Doll geworden, die sich und ihre Gefühle nicht beherrschen kann. Es wird von den Gefühlen beherrscht. Noch bevor Mattel Ken herausbringen konnte als einen neuartigen Typus von Puppe und Boyfriend, hatte David Hockney sich in einen „Doll Boy“, einen Puppenjungen verliebt oder sein Begehren als prekär gemalt. Diese ebenso popkulturelle wie begehrensökonomische Überschneidung in der Figur Ken, er soll von den Barbie-Mädchen gekauft werden, wird in ihrer Tragweite im Film und den Songs von Ryan Gosling und Sam Smith nicht einmal angerissen. Das Dilemma der Homosexualität, wie es nicht zuletzt von Muslimen mit dem Film debattiert wird, ist nicht nur in der körperlichen Ähnlichkeit von Barbie und Ken, sondern ebenso im Feld der Sprache angelegt, wenn Puppe und Junge sich gegeneinander abgrenzen müssen.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Haarfarbe Blond hält ebenso in dem Revuefilm Blonde Venus ein Versprechen bereit. Im Unterschied zu Barbie war der Film kein großartiger Erfolg an den Kinokassen. In dem Film von 1932 wird eine Evolutionsszene als Revuenummer karikiert: ein Mensch in einem Gorilla- bzw. Menschenaffenkostüm wird wie aus dem Dschungel Afrikas zu rhythmischer Trommel-Musik an einer Kette von afrikanisch-gekleideten Revuegirls mit schwarzen Afroperücken auf die Bühne geführt, um nach einigen schwankenden Bewegungen zunächst die Affenhandschuhe von weißen Frauenhänden zu ziehen. Zum Song Hot Voodoo – “Hot voodoo, black as mud/Hot voodoo, in my blood/That African tempo, has made a slave…” – entkleidet sich Marlene Dietrich des Affenkostüms und setzt sich demonstrativ eine blonde Afroperücke mit funkelnden Amor-Pfeilen auf ihre blonden Haare.[13] Das gleich mehrfach wiederholte und gesteigerte Blond macht den verführenden Anspruch komisch statt erotisch. Das überreizte Blond wird im Kontext zeitgenössischer Evolutions- wie Rasseideologien als lächerlich entlarvt. Barbie und Ken waren immer blond und geschlechtsneutral

Barbie – Screenshot Official Trailer

In einer Welt, in der sich die Debatte um Texterzeugungsprogramme und Künstliche Intelligenz, über Sprachsoftware und Intelligenz, über Rechte am Bild und digitaler Verwertung von Schauspieler*innen in den letzten 5 Jahren zugespitzt hat, wird mit dem Film Barbie mit echten Schauspieler*innen weniger eine Spielzeugpuppe verhandelt als vielmehr die beunruhigend, brüchige Grenze von Puppe bzw. Künstlicher Intelligenz und Mensch. Der vermeintliche Mangel an Intelligenz von blonden Menschen wird im Film offensiv vorgeführt und in Dialogen witzig thematisiert. Ruth Handler wusste möglicherweise sehr genau, was sie mit den kleinen, weißen, blonden und blauäugigen Puppen tat, als sie sie in Serienproduktion gab. Als Anziehpuppen im Mädchenzimmer verloren die großen, sich als überlegen gebenden Blondundblauäugigen den Schrecken, den sie noch kurz zuvor bei der Selektion an der Rampe von Auschwitz verbreitet hatten. – Ob Barbie in der Debatte ebenso den Schrecken vor dem Patriarchat und der KI nehmen kann, bleibt offen.    

Torsten Flüh

Barbie (2023)
frei ab 6 Jahre
im Kino in Ihrer Nähe


[1] Zu Nietzsches Buch Also sprach Zarathustra siehe auch: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[2] Siehe zur Revue als Maschine: Torsten Flüh: Traumheftig! Die neue Grand Show THE ONE im Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2016 (als PDF unter Publikationen).

[3][3] Zur Figur der Olympia siehe: Torsten Flüh: Aus Beethovens Geisterreich. Zur Uraufführung von Hoffmanns Erzählungen als Stummfilm mit der Musik von Johannes Kalitzke im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2021.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[5] Zu Homosexualität und Staat siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[6] Google: I’m Just Ken. Lied von Ryan Gosling. (Suchergebnis).

[7] Zitiert nach Genius: Man I Am. Sam Smith (21. Juli 2023)

[8] Hans Jürgen Wulff: Screwball Comedy. In: Filmlexikon der Universität Kiel: 2022/03/23 01:17.

[9] Siehe zur generationellen Wahrnehmung: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[10] Siehe: Matel: History (18.08.2023).

[11] Ebenda History 1960s.

[12] The David Hockney Foundation: Doll Boy, 1960-1961. (online).

[13] Siehe: Internet Archive: Blonde Venus (1932) by Josef von Sternberg ca. 26:16.

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Polizei – Homosexualität – Staat

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau

Im Lesecafé der Stadtbibliothek Spandau hielt Ralf Kempe am 10. Juli 2023 seinen Vortrag zum „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vom 24. April 1945.[1] Die Rote Armee kämpfte seit dem 16. April mit einem „Zangenangriff“ in den Straßen von Berlin[2], als der vermeintlichen Gerechtigkeit durch den „geheimen Führererlass“ vom 15. November 1941 Genüge getan werden musste. 4 wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftete Polizisten wurden von einem Polizeioberleutnant und weiteren Kollegen zu einer Grube geführt und von einem Polizisten per Genickschuss hingerichtet. Die Befehlsketten der Polizei im weitgehend in Trümmern liegenden Berlin hatten noch einmal funktioniert. Ralf Kempe lässt seit Jahren der Gedanke nicht los, dass er auf dem Polizeiübungsgelände in der Pionierstraße über den sterblichen Überresten dieser schwulen Polizisten nach Dienstanweisung trainiert haben könnte.

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Für Ralf Kempe als Teil der Polizei Berlin geht es um Respekt, Vielfalt, Würde, Totenruhe und eines von wahrscheinlich viel mehr Verbrechen gegen homosexuelle Polizisten etc. in Berlin und dem Deutschen Reich, die seit dem 15. November 1941 vollstreckt und sehr häufig vergessen wurden, weil sie vergessen werden sollten. Wer mitgemacht hatte, schwieg. Die Verurteilung des Polizeimeisters der Schutzpolizei Otto Jordan erfolgte nicht nur nach dem § 175 StGB, dem sogenannten Homosexuellenparagraphen, der ab 1935 zu einer „totalen Kriminalisierung“[3] gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Männern führte und am 11. Juni 1994 abgeschafft wurde, sondern nach einem „geheimen Führererlass“. Die anderen drei Polizisten wurden ohne Urteil erschossen. Ralf Kempe als Erster Polizeihauptkommissar wird von seiner obersten Dienstherrin der Polizeipräsidentin Dr. Barbara Slowik bei der Aufarbeitung des historischen Verbrechens unterstützt.

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Im Oktober 2021 und Frühjahr 2022 unterstützte der Volksbund mit dem Umbetter Joachim Kozlowski und dem Leiter der Polizeihistorischen Sammlung Berlin Jens Dobler Kempes Suche nach den „Gebeine(n)“ der 4 ermordeten Polizisten.[4] Dennoch konnten keine sterblichen Überreste gefunden werden. Luftbilder aus dem betreffenden Zeitraum sind schwer zugänglich. Ralf Kempe hat die Vorarbeiten der SPDqueer Spandau und der AG Rosa Winkel zu Otto Jordan[5] vertieft und durch systematische Archivsuche sowie internationale Korrespondenz erweitert. Es ist ihm, als Ansprechperson LSBTI der Direktion 2, eine ebenso persönliche wie polizeihistorische Angelegenheit, dass das Verbrechen an Otto Jordan, Reinhold Hofer, Willi Jenoch und Erich Bautz nicht vergessen wird. Für Reinhold Hofer konnte Kempe erst im Oktober 2021 dessen Schicksal und den richtigen Namen klären, denn dessen Ehefrau hatte ihn im April 1945 als vermisst gemeldet. Seit 1945 wurde er als vermisst vom Suchdienst des DRK geführt und konnte nun nach mehr als 75 Jahren durch Kempes Nachforschungen gelöscht werden. Er hat sich dafür eingesetzt, dass nunmehr folgender Wortlaut auf der Tafel am Polizeidienstgebäude in der Moritzstraße 10 steht:

Zum Gedenken
und zur Mahnung
Die Polizeibeamten
Otto Jordan
Reinhold Hofer
Willi Jenoch
Erich Bautz
wurden in den letzten Kriegstagen
in der Polizeiarrestanstalt Moritzstraße inhaftiert,
weil ihnen Homosexualität angelastet wurde.
Am Abend des 24. April 1945 wurden sie zur
Polizeiübungsanlage Pionierstraße
verbracht, erschossen
und dort namenlos vergraben.
Sie sind unvergessen.[6]

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Es ist vermutlich allein der Witwe Erna Jordan zu verdanken, dass es 1947 und 1948 überhaupt zu einem Prozess vor dem Schwurgericht Berlin gegen die Täter, den Revieroberleutnant Alfred Wandelt und den Landgerichtsrat Simon (Gerichtsherr beim Reichsführer SS) im April 1948 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kam. Damit wurde das Verbrechen aktenkundig. Zeitungsartikel erschienen im Tagesspiegel und dem Spandauer Volksblatt. Denn die Witwe Jordan brauchte nicht nur einen Totenschein, sondern hoffte auch auf Entschädigung und Pension. Der Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, auf den allein Alfred Wandelt als schuldig erkannt und zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er keinesfalls absitzen musste, ist schwierig zu verifizieren. Welche Gesetzesnorm galt? Das Grundgesetz trat erst 1949 in Kraft. Vom 20. September 1945 bis 1949 galt das alte Reichstrafgesetzbuch, das natürlich kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorsah. Insofern herrschten die alten Gesetze. Spandau gehörte zum Britischen Sektor der in 4 Sektoren geteilten Stadt: Sowjetischer, Britischer, Amerikanischer, Französischer Sektor.

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Homosexualität als Grund für die Verhaftung der 4 Polizeibeamten erscheint in den Zeitungsberichten nicht. Anscheinend geht es bei der Verhandlung des „Verbrechen(s) gegen die Menschlichkeit“ allein um die Frage nach der Verantwortlichkeit in der Befehlskette. Denn in „der Verhandlung drehte es sich nun um die Frage, wie weit Simon an der Erschießung beteiligt war“. „Simon hatte keine Entscheidungen zu treffen, und ein Telefonat mit Wandelt, das zu der Hinrichtung führte, konnte ihm nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Simon wurde daher freigesprochen.“[7] Der Vizepräsident des Landgerichts Berlin Dr. Blasse spricht im Jahr 1948 als „Polizistenmord in Spandau“ kursierenden Fall ausgerechnet den „Gerichtsherr(n) beim Reichsführer SS“ Simon frei, weil das entscheidende „Telefonat … nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden“ konnte? Der „Polizistenmord“-Prozess wie die entsprechende Berichterstattung – „Die SS-Verbände haben nicht nur gegen die herannahenden Truppen zu kämpfen, sie müssen sich auch des „inneren Feindes“ erwehren.“ (P.J.B. Tagesspiegel) – bringen durchaus an das Verständnis der Leser*innen appellierend die SS ins Spiel.

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Die (Berliner) SS als Machtelite geistert durch den „Polizistenmord“-Prozess und mit dem als Zitat markierten „inneren Feind()“ wird an ein weithin bekanntes Wissen in der Bevölkerung appelliert. Innerhalb der SS muss es somit einen „Feind“ gegeben haben. Welche Rolle spielt dieser Feind? Und wird dieser „innere() Feind()“ noch heute nicht geradezu permanent ins Spiel gebracht, wenn es um eine bedrohliche Lage der Machtelite und damit die Macht selbst geht? Ralf Kempe umgeht eine genauere Analyse des „geheimen Führererlass(es)“, weil er dem nationalsozialistischen Gedankengut keinen Raum geben will. Ihm geht es um die Kollegen. Doch die Homophobie, die mit dem „geheimen Führererlass“ formuliert wird und der die 4 Polizisten in Spandau zum Opfer fallen, verdient eine genauere Analyse. August Heißmeier war von 1933-1945 als Chef des SS Hauptamtes und General der Waffen SS zuständig für den Polizeibereich Berlin-Brandenburg.

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Ralf Kempe stellte in einem Organigramm zugleich Wolf-Heinrich Graf von Helldorf als Polizeipräsident in Berlin von 1935 bis 1944 vor. Helldorfs Beteiligung an der Organisation des Attentats vom 20. Juli 1944 gilt als äußerst ambivalent. Er wurde dennoch in Plötzensee am 15. August 1944 hingerichtet. Er wird häufig als Abenteurer und Spieler charakterisiert, der mehrfach durch Adolf Hitler und Josef Goebbels mit hohen Geldsummen entschuldet wurde. Auf einem Foto von 1933 posiert er in Polizeiuniform neben Goebbels, Karl Ernst, Hans Meinshausen und Albert Speer.[8][9] Die Verstrickung des Berliner Polizeipräsidenten Graf von Helldorf nicht nur im Widerstand gegen Adolf Hitler, sondern in Machtkämpfe auf allerhöchster Ebene 1944 musste eine Schwächung der Staatsorganisationen und somit des Staates selbst in Berlin zur Folge haben. Die verschärfte Verfolgung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten im Prozess des Machtverlustes gibt einen Wink auf ein Konstrukt von Geschlecht und Macht.

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Woher kommt der unbändige Hass auf die 4 Polizeibeamten in unterschiedlichen Funktionen, der zu ihrer Erschießung führt, während 10 weitere inhaftierte Polizisten freigelassen wurden, um sich im Kampf zu bewähren? Im Bewusstsein eigene Kollegen zu töten, wird Simons Befehl ausgeführt. Die „Homosexualität (, die ihnen) angelastet wurde“, macht im Moment der Auflösung von Machtstrukturen derartige Angst, dass nur eine Auslöschung als Linderung angesehen wird. Der als „Streng vertraulich!“ ausgegebene „Erlass des Führers zur Reinhaltung der SS und Polizei vom 15. November 1941“ ist ein ebenso rhetorisches wie verräterisches Schriftstück.
„Um die SS und Polizei von gleichgeschlechtlich veranlagten Schädlingen reinzuhalten, bestimme ich:
I.
Für die Angehörigen der SS und Polizei tritt an Stelle der § 175 und 175a des Strafgesetzbuches folgende Strafbestimmung:
Ein Angehöriger der SS und Polizei, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit dem Tode bestraft.
…“

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Der als „Streng vertraulich!“ eingestufte Führererlass wird anscheinend in der Forschung zur Homosexuellen-Sonder-Gesetzgebung wenig beachtet. Schwule Polizisten und SS-Angehörige haben es weiterhin schwer als Opfer wahrgenommen zu werden. Doch die Formulierung der „Erlass zur Reinhaltung“ lässt sich nicht nur mit einer persönlichen Marotte Adolf Hitlers oder Heinrich Himmlers, der 1936 zum Leiter der gesamten deutschen Polizei ernannt worden war, erklären. Mit der „Reinhaltung“ wird vielmehr eine Reinheit vorausgesetzt, die gerade nicht existiert. Hitler formulierte nicht zuletzt in Absprache mit Himmler ein staatstheoretisch bedenkenswertes Verhältnis von Geschlecht und Staat. Denn Himmler sprach bezüglich des sogenannten Dritten Reiches schon 1937 von einem „Männerstaat“, der dadurch gefährdet würde, dass gleichgeschlechtliche Kontakte nicht etwa die Ausnahme seien, sondern „in der SS“ einmal „pro Monat“ aufgedeckt würden.[10] Die SS als Elite des „Männerstaat(es)“, zu der ebenso die Polizei gehört, generiert gewissermaßen die eigene Gefährdung, weil sie einen Männerkult betreibt. Körperliche Merkmale werden als erstrebenswert und begehrenswert in Machtverhältnissen gesetzt.

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Slavoj Žižek sagte einmal über das Begehren, dass uns gezeigt werden müsse, was wir begehren sollen. In dieser Begehrensökonomie erweist sich der „Männerstaat“ als ein Paradox. Dieses Paradox durchzieht den „Männerstaat“ rechter Ideologien und Organisationen bis auf den heutigen Tag. Das Begehren wird insbesondere mit den Uniformen der SS und Polizei geweckt und gleichzeitig aufs Schärfste mit dem Tode bestraft, wenn dem Begehren (zu sehr) nachgegeben wird. Hinter einem vermeintlichen Leistungsprinzip – „rein nach Leistung“ – verbirgt sich bei Heinrich Himmler eine Begehrensökonomie, die seit seiner Jugend eingeübt worden ist. Begehrt werden soll nicht zuletzt die Macht, die zum Mitmachen anstachelt. Die Teilhabe an der Macht erfordert insbesondere ein Kartell des Schweigens. Himmler formulierte das frühzeitig mit anderen Worten.
„In dem Augenblick aber, wo dieses Prinzip, nicht rein nach Leistung auszusuchen, sondern (…) ein geschlechtliches Prinzip im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstörung des Staates. (…)“[11]

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Heinrich Himmler hielt seine Rede zur Homosexualität, in der er „ein paar Gedanken entwickel(te)“,[12] am 18. Februar 1937 vor den „Gruppenführern“ der SS.[13] Der „Männerstaat“ wird einerseits historisch mit den „germanischen Völker(n)“ gegen den „Frauenstaat“ der „Amazonenreiche“ und der Königin in „Holland“ in Verbindung gebracht, andererseits werden ökonomische, bevölkerungspolitische und SS- bzw. SA-spezifische Argumente bei Karrieren angeführt. Das Trauma des Röhm-Putsches vom Juni/Juli 1934 wirkt in der Rede explizit nach. Denn schließlich hatten altgediente Kameraden auf ihresgleichen schießen müssen, um das Begehren zu kontrollieren. Himmler erwähnt ausdrücklich „den homosexuellen SA-Gruppenführer Heines und de(n) homosexuellen Gauleiter und Oberpräsidenten Brückner“. Um das eigene Begehren zu kontrollieren, wird das ungezügelte Begehren auf die SA als einen äußeren Konkurrenten um die Macht und „inneren Feind“ projiziert. Denn selbst 1937 gibt es weiterhin sogenannte Fälle „von Homosexualität“.  
„Wir haben in der SS heute immer noch pro Monat einen Fall von Homosexualität (…) Diese Leute werden selbstverständlich in jedem Fall degradiert und ausgestoßen und werden dem Gericht übergeben. Nach Abbüßung der vom Gericht festgesetzten Strafe werden sie in ein Konzentrationslager gebracht und werden auf meine Anordnung auf der Flucht erschossen. Das wird (…) von mir durch Befehl bekanntgegeben.“[14]

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Der von Heinrich Himmler propagierte „Männerstaat“ gibt nicht zuletzt einen Wink auf seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft Apollo von 1865, der in die Franco-Bavaria München aufging.[15] Die Burschenschaft trägt die Farben Schwarz Rot Gold und wirbt heute mit „800 Akademiker im Kartell“. Burschenschaften wurden nicht nur gegründet, um günstige Studentenzimmer für Mitglieder zur Verfügung zu stellen, vielmehr bilden Burschenschaften „Kartelle“ aus Alten Herren, die das „Bündnishaus“ und berühmtberüchtigte Trinkgelage durch ihre Beiträge finanzieren und zugleich mit einem sogenannten Leporello Karrierewege im „Männerstaat“ öffnen. Die rein männlichen Trinkgelage führen geradezu prototypisch zu mehr oder weniger sanktionierten sexuellen Übergriffen, die unter dem Begriff der Enthemmung verbucht werden. Anders gesagt: die Burschenschaft Apollo bereitete Himmler ab dem 14. Juni 1920 nicht nur auf das „arische Prinzip“[16] vor, vielmehr erlernte er gewissermaßen Karriere- und Verschwiegenheitspraktiken, die niemals unter „Homosexualität“ verbucht werden mussten. Dass sich jüngst der Alte Herr der Burschenschaft Franco-Bavaria München, der CSU-Politiker Peter Raumsauer, mit „Ungeziefer“ für Geflüchtete einen Lapsus erlaubte, erscheint in der Konstellation der Burschenschaftspraktiken eben nicht zufällig. Heinrich Himmler studierte vom Herbst 1919 bis Sommersemester 1922 an der Technischen Hochschule München.[17]

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Während aus deutschen Burschenschaften gleichgeschlechtliche Übergriffe oder auch Freundschaften selten an die Öffentlichkeit dringen[18], veröffentlichte Der Standard im Zuge der MeToo-Debatte 2020 das Protokoll Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“[19] Die männerstaatlichen Strukturen funktionieren über Begehrens- und Machtstrukturen, die den Missbrauch mit einschließen. Exemplarisch wird vom männerstaatlich erzogenen Vater im Protokoll die Frage gestellt, ob der Sohn „jetzt schwul“ sei. Obwohl oder gerade weil der Vater die Praktiken der Burschenschaft kennt, droht er dem Sohn. In Schlagenden Verbindungen gehört zugleich die Körperverletzung als Körpererfahrung von Nähe und Distanz zum guten Ton – „Ich habe drei Mensuren gefochten, zwei Mal wurde ich abgeführt mit einem „Lappen“ und riesengroßen Schmissen und einmal mit einem „Scherzerl“.“[20] Der „Scherzerl“ ist eben kein Scherz, sondern ein abgetrennter „Hauptlappen“.
„Warum ich meinem Vater nichts sagen konnte? Schon, als im Internat etwas Ähnliches passiert war, kam die Frage, ob ich jetzt schwul sei. Das war nicht der einzige Vorfall, wo ich seine Homophobie gespürt habe. Deshalb hatte ich Angst, wegen des Übergriffs so gesehen zu werden. Jetzt bin ich mit einer Frau verheiratet und selbst Vater. Noch dazu konnte ich nie etwas gegen seine „heilige“ Burschenschaft sagen.“[21]

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Die Überlänge der Rede Heinrich Himmlers[22], der lediglich als Diplom-Landwirt sein Studium abschloss, weil er gleichzeitig bereits in paramilitärischen Diensten und Organisationen aktiv war, bevor er im August 1923 Mitglied der NSDAP wurde, verrät eine zumindest ausgiebige Beschäftigung mit der „Homosexualität“ und ihren Abgrenzungen. Als Diplom-Landwirt gehörte Himmler bestimmt nicht zu den führenden Alten Herren – und wurde dennoch einer. Obwohl die Burschenschaft Apollo 1936 sich selbstauflöste, existierten die Verbindungen weiter. Das allerhöchste Gebot der Verschwiegenheit, wie es noch im Protokoll von 2020 wiederklingt, wird von Himmler mit der Sünde der „Lüge“[23] und dem Verbrechen eines „unstillbare(n) Mitteilungsbedürfniss(es) auf allen Gebieten“[24] konterkariert. Das Verschwiegenheitsgebot der Burschenschaften als Karrierepraxis ist Heinrich Himmler zutiefst vertraut, trotzdem spricht er zu viel von der Homosexualität. Die Elastizität seiner Rede speist sich aus einem Erfahrungs- und Eigenwissen zwischen Bildung und Halbwissen wie insbesondere des Wissens um das eigene Begehren. Darin liegt vor allem ihre rhetorische Kunst: unablässig über Homosexualität zu sprechen, um das eigene Begehren zu zügeln. Die Rede zur Homosexualität in der SS wird selbst zum Indiz für ein „unstillbares Mitteilungsbedürfnis“ und wird vier Monate später in weiten Teilen wiederholt.[25]

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Ralf Kempe hat mit seiner in Uniform und damit als Vertreter der Polizei wie des Staates das Verbrechen gegen schwule Polizisten vom 24. April 1945 in die Aufmerksamkeit der Queer Studies gerückt. Er zitierte abschließend eine Formulierung von Theodor W. Adorno: „Die Wertschätzung von Vielfalt bedeutet, ohne Angst anders sein zu können.“ Bis zum allerletzten Moment – und noch einige Jahre darüber hinaus – musste ein homogener „Männerstaat“ verteidigt werden, der insbesondere rechten Parteien mit einer patriarchalen Führungsfigur strukturell und keinesfalls zufällig als Vorbild dient. Dass sich nun gerade eine weibliche Führungsfigur als rechte Parteichefin in Deutschland, aber auch in Frankreich und Ialien hervortut, ist keinesfalls ein Widerspruch. Vielmehr lässt sich Begehren zwischen den Geschlechtern übertragen. Das Paradox des „Männerstaates“ und ob die Parteien dann eines Tages nicht „reingehalten“ werden müssen, wird sich nicht auflösen lassen. Ralf Kempe geht davon aus, dass die 4 schwulen Polizisten von Berlin und ihre Ermordung kein Einzelfall waren. Die Rede Himmlers von 1937 und der Führererlass von 1941 geben Grund genug für die Annahme, dass sehr viel mehr SS-Angehörige und Polizisten nach den gleichen Regeln zur „Homosexualität“ ermordet worden sind.

Torsten Flüh  


[1] Der Rechtsbegriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wird heute im Völkerstrafrecht anders gebraucht, als es der Tagesspiegel vom 21.04.1948 gebrauchte: „Wandelt und Simon werden sich in wenigen Tagen wegen dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu verantworten haben.“

[2] Siehe: Deutsches Historisches Museum (DHM): Arnulf Scriba: Die Schlacht um Berlin 1945. Berlin, 14. Mai 2020.

[3] LSVD: Paragraph 175 StGB: Verbot von Homosexualität in Deutschland. (Online)

[4] Diane Tempel-Bornett: Geschichte ist eine Bürde und Pflicht. Volksbund hilft bei der Suche nach ermordeten Polizisten aus Spandau. 01/07/2022.

[5] Carola Gerlach/Bernd Grünheide: Otto Jordan (Polizeibeamter), ohne Anklage und Urteil ermordet am 24.4.1945. (AG Rosa Winkel).

[6] Transkription nach im Vortrag gezeigtem Foto.

[7] Ohne Namen: Der Polizistenmord in Spandau. Zehn Jahre Zuchthaus für Wandelt. In: Spandauer Volksblatt v. 30.04.1948.

[8] Wikipedia: Wolf-Heinrich Graf von Helldorf: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ernsthelldorfhanke.jpg

[9] Zur Frage der Machteliten siehe auch: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[10] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich Himmler: Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen. Frankfurt am Main: Propyläen, 1974, S. 95.

[11]Ebenda.

[12] Ebenda S. 94.

[13] Ebenda S. 291, Fußnote 133.

[14]  Ebenda S. 97-98.

[15] Siehe das Foto nach S. 64 ebenda. Und: Wikipedia: Münchner Burschenschaft Franco-Bavaria. (Wiki) und (Internet-Auftritt)

[16] Ebenda.

[17] Siehe Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 10] S. 264.

[18] Aus den Erzählungen eines Freundes des Berichterstatters, der zumindest für eine kürzere Zeit ein Zimmer in einem Kieler Bündnishaus bezog, wurden gleichgeschlechtliche Praktiken mit Burschenschaft-Bewohnern als üblich mitgeteilt.

[19] Fabian Schmid: Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“. In: Der Standard vom 2. März 2020.

[20] Ebenda.

[21] Ebenda.

[22] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

[23] Ebenda S. 96.

[24] Ebenda S. 97.

[25] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

Im Netz der Literaturen

Jugend – Sprache – Liebe

Im Netz der Literaturen

Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel

Die Spinnennetze in den Büschen und zwischen den Pfeilern der Balustrade zum Großen Wannsee des Literarischen Colloquiums Berlin drohten unter stürmischen Regenböen zu zerreißen. Nachdem Michel Decar aus seinem Text und Künstlerroman Kapitulation, der am 1. September 2023 im Verlag März erscheinen wird, auf der Seebühne unten im Garten fünfzehn Minuten gelesen hatte, zog eine Regenwand heran. Die Mikrofone und das Mischpult wurden von den Technikern des LCB abgebaut. Stecker raus. Fortsetzung nach 30 Minuten Pause und Ortswechsel in den Saal mit der Ausstellung LCB-Editionen 1968-1989 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Assemblage – 60 Jahre Literatur intermedial. Das LCB feiert sein sechzigjähriges Bestehen und zum 18. Mal Kleine Verlage.

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Literarische Texte lassen sich dehnen und verweben wie Netze der fleißigen Spinnen. Texte bilden Texturen, Romane als fleißig und oft gegen die Zeit ausgelegte Gespinste. Sigrid Behrens wird von ihrem Hamburger Verleger von MTA (Minimal Trash Art) mit dem Roman Gute Menschen angekündigt. Lesepremiere des neuen Buches. Fünfzehn Minuten. Die Fünfzehn dauern meistens länger. Danach betritt Friedrich Kröhnke die Lesebühne innen. Er liest aus seinem gerade im Rimbaud Verlag aus Aachen erschienenen Roman Spinnentempel die Passage, als der Ich-Erzähler den Spinnentempel der Baha’I von Battambang besucht. Dann denkt er auf einem Bett im Hotel liegend über sein Leben nach. Sehr viel später liest Christoph Geiser fünfzehn Minuten aus seinem Caravaggio-Roman Das geheime Fieber, der gerade als Teil der Werkausgabe bei Secession in Berlin erschienen ist. Alle Lesungen lassen sich gar nicht hören und bedenken, sie hinterlassen schon so im Flash ein eigentümliches Gespinst.

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Es ist ja nicht so, dass sich alle Besucher*innen, Autor*innen, Lektor*innen und Verleger*innen auf der Seewiese versammelt hätten, um z.B. dem Autor Michel Decar aufmerksam zu lauschen. Viele tummeln sich gleichzeitig oben an der LCB-Villa um die Verlagsstände draußen. Vielmehr geht es bei diesem Event ebenso um ein Sehen und Gesehenwerden, Streunen und Blättern an den Verlagsständen, Signaturensammeln eines Autors, um die Bücher einer oder einem Lieben mit Widmung zu schenken oder, durch das Autogramm aufgewertet, auch nur antiquarisch zu verkaufen. Die veganen Speisen vom Grill oben am Eingang links sind schnell ausverkauft. Bratwurst und Nackensteak werden eher als Drohung wahrgenommen. Frischhaltedosen werden auf der steil abschüssigen Wiese ausgepackt und mit Familien, der oder dem Liebsten geteilt, bis das Wetter doch zu ungemütlich wird.  

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Die kleinen Verlage aus vielen Teilen des Leselandes Deutschland sind besonders eigentümlich, eigenwillig und oft auf ein bestimmtes, von den großen Publikumsverlagen wie Suhrkamp vernachlässigtes Lesepublikum spezialisiert. So das Credo. MTA wirbt mit „MTA ist für die Kunst, nicht für den Profit.“[1] März gibt sich „immer radikal, niemals konsequent“, und schreibt seine Geschichte seit 1967 dem „Vormärz“ mit seinem Verleger Jörg Schröder.[2] Bernhard Albers gründete und leitet seit 1981 die Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH mit dem Credo „zeitgenössische Lyrik und Prosa“[3], der Name des Lyrikers Arthur Rimbaud gibt einen Wink nicht zuletzt auf das komplizierte Verhältnis zu dem zehn Jahre jüngeren Paul Verlaine oder umgekehrt. 1995 spielte Leonardo DiCaprio, gerade 21, Arthur Rimbaud in Agnieszka Hollands Total Eclipse – Die Affäre von Rimbaud und Verlaine.   

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Das allerdings wollte der Berichterstatter gar nicht so genau erzählen, das schlich sich vielmehr ins Erzählen ein. Das Einschleichen ganz anderer Erzählungen macht unterdessen Literaturen unterschiedlicher Genres aus. Heute wird fast jeder Text zum Roman. Die kürzere Form der Erzählung erscheint immer seltener unter dem Titel. Ein Roman soll es schon sein. Romane waren einst lang bzw. dick bis sehr, konnten wie bei Proust keine Grenzen und kein Ende finden. Heute sind sie eher kurz, versprechen aber eine komplexe Geschichte über eine gewisse Zeitspanne. Kapitulation – Roman[4], Gute Menschen – Roman[5], Spinnentempel – Roman[6], Das geheime Fieber – Roman[7]… Der Romantitel ist eine eigene Formulierungskunst. „Noch wach?“[8], der Roman des Benjamin von Stuckrad-Barre über Julian Reichelt und Bild traf voll die What’s App-Sprach- und Aufreiß-Praktiken aller Menschen, die What’s App nutzen – und das sind fast alle. Nur Verkopfte gendern, Reichelt und Stuckrad-Barre nie:
„Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden.“[9]

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Kapitulation ist auch gut – aber wer möchte schon seine eigene Kapitulation – vor was auch immer – erleben oder eingestehen müssen. Bei „Noch wach?“ wollen alle Leser*innen – aus welcher Perspektive auch immer, Frauen, gar Feministinnen – durch das Messanger-Schlüsselloch gucken. Von der Lesebühne am Wannsee werden Satzfetzen von Michel Decar herangepeitscht, als sich der Berichterstatter nähert. Es geht um die Literaturpreisverleihung einer Kreissparkasse, die mit irgendwelchen Nazis ganz früher oder auch schon nicht mehr so ganz früher ihr Preisgeldvermögen angelegt haben könnte oder hat. Der Schriftsteller im Künstlerroman gerät in einen Konflikt. Die Verlagsbeschreibung klingt fast gleich: „Als die Preisverleihung im Wolfsburger Ritz-Carlton zur Farce gerät …“[10] Preisgeld von altem Geld oder gar kein Geld – zum Überleben als Künstler? Passt. Künstler-Tristesse funktioniert heute so oder auch schon länger, wenn man an den Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung-Fall Fritz Martini von 1966 denkt.[11]  

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Der Gute Menschen-Romantext wird im Saal schon nicht mehr so brutal von der Witterung zerfetzt. Gedränge im Saal. Es treibt auch die zuvor wandelnden Besucher*innen vor Platzregen oder doch nur Schauer ins LCB-Innere. Bevor Sigrid Behrens zu lesen beginnt, erklärt sie. Zeitverlust. Bei der Lesung soll vor allem der neu publizierte Text, in diesem Fall ein Milieuroman, sprechen. Kann man nicht erklären, muss der Text selbst machen. Verlagsbeschreibungen sogenannte Klappentexte verfehlen i.d.R. den Roman oder wecken bedenkliche Identifikationswünsche. Und „Idylle“ ist fast wie Kitsch schon immer falsch.
„Eine Frau geht. Sie verlässt die jugendlichen Kinder, den loyalen Ehemann, das schöne Haus, das sie über Jahre hinweg gestaltet hat, die liebenden Familien und den innig verbundenen Freundeskreis. Sie verlässt eine Idylle, sie bricht ins Ungewisse auf. Warum? Wofür?“[12]   

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Der Stich der 15-Minuten-Stechuhr beendet die Lesung. Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und die schöne, farbige Frau, die sich aus den knapp 100 Bänden der LCB-Editionen von 1968 bis 1989 nicht recherchieren lässt, bleiben aus der temporalen Ferne ungerührt der Kamera zugewandt. Wong May veröffentlichte Wannsee-Gedichte (1975), György Konrád Gesicht und Maske (1978), und Jiří Kolář Suite (1980). Regine Ehleiter, die an der Freien Universität den Exzellenzcluster Temporal Communities leitet, hat die Ausstellung LCB-Editionen, 1969-1989 – eine Re-Lektüre kuratiert.[13] Ab 1974 gingen die Editionen aus dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) hervor. Die Wannsee Poems der 1944 geborenen Wong May wurden von Nicolas Born, der im LCB aktiv war, ins Deutsche übersetzt. Die Ausstellung läuft noch bis zum 31. Oktober 2023 und wurde begleitet von einem Festival im Juni.

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Temporal Communities könnte beinahe zum Spinnentempel von Friedrich Kröhnke überleiten, weil der Roman um die verlorene Zeitlichkeit von Gemeinschaften kreist, könnte ich schreiben im Hinüberwerfen des Fadens. Kröhnkes Roman vom Ich, das sich wiederholt an die Leser*innen adressiert – „Sie sagen, das sind beliebige und oberflächliche Eindrücke, und wie in allem will ich Ihnen ja gar nicht widersprechen.“[14] – webt sich aus Erinnerungen wie Literaturen z.B. Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas und gibt sich, in der vor May, Konrád, Kolář und der Schönen gelesenen Passage, ironisch. Die Passage befindet sich schon im 4. Teil der mit Versen aus Leonard Cohens Song So long, Marianne als Motto versehenen 5 Teile des Romans.
„… Oh you are really such a pretty one.
I see you’re gone and changed your name again …
In den weiteren Jahren meines Lebens habe ich kaum etwas getan. Eigentlich bin ich nur herumgereist.“

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Der Spinnentempel und das Spinnen werden von Kröhnke in vielfältiger Weise durchkomponiert. Baha’I-Tempel, Paris, die OCI erinnern an Spinnen und insbesondere Taranteln, die sprichwörtlich wie von einer Tarantel gestochen, was eigentlich gebissen heißen müsste, den Gebissenen in Ekstase versetzen. In Battambang übernachtet und überlebt der Ich-Erzähler Fips für „lachhaft geringe Summen in geradezu prächtigen Hotels“ gelegentlich gegenüber einer Markthalle:
„Die Markthalle war ein weiterer Anziehungspunkt. Frühstück gab es keins im Hotel, und  ich frühstückte in der Markthalle. Sie war spinnenförmig, ein Bau im Stil des Art Déco aus der französischen Kolonialzeit. Man genoss das bunte Treiben, die Geräusche und Gerüche unter einem Kuppeldach, das sich in alle Himmelsrichtungen verzweigte, ihre Seiteneingänge waren Spinnenarme, …“[15]

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Friedrich Kröhnke liest in einem lakonischen Tonfall, der mit der sprachlichen Ironie das Publikum mehrfach zu einer amüsierten Reaktion reizt. So schon bei der Begründung des Aufenthalts in Battambang für „lachhaft geringe Summen“. Die dem Namen der kombodschanischen Verwaltungshauptstadt inhärente Alliteration wird lakonisch gelesen komisch. In Battambang überkreuzen sich für Fips mehrere Erinnerungsstränge an seine frühe Jugend wie den Spinnentempel der Baha’I in Langenhain im Taunus, einer Jugendliebe und die Kommunistische Internationale nicht zuletzt an das kommunistische Regime in Kambodscha. Ein Verbrechen. Kröhnke beherrscht einmal mehr die kompositorischen Verfahren der Themensetzung, ihrer Wiederholung und Variation. In Battambang und im Kröhnke-Tonfall wird die Religionsfrage im Alter bittere Ironie:
„Ich war sechzig und wollte noch einmal etwas anderes in meinem Leben. Einer religiösen Richtung anzugehören! Da hat man doch ein gutes Recht drauf: im Alter religiös zu werden.“[16]  

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Der Roman Spinnentempel entwickelt in seiner Verdichtung einen eigenen Sound zwischen Velosolex-Knattern, dem Allegro con fuoco oder feurig schnell des 4. Satzes aus Antonín Dvořáks Aus der Neuen Welt, der Internationale und So long, Marianne. Geräusche tragen zum Sound bei. Nicht zuletzt der „so süße(), schöne(), melodische() Gesang, der über die Dächer ringsum schwebte“[17] in Jerusalem – der Ruf des Muezzin. Das Fips genannte Ich, das einen Zwillingsbruder namens Falk hat, verliebt sich sechzehnjährig in den fünfzehnjährigen Tibor Teichmann in „der sogenannten Wissenschaftsstadt“.[18] Sie besuchen auf Fahrrad und Velosolex im Jahr 1972 den Spinnentempel, weil eine „spinnerte alte Dame über Baha Ulla undsoweiter geredet hatte“.[19] Frühzeitig setzt Kröhnke die Ambiguität von Spinnen und spinnen zur literarischen Komposition ein. An den Grenzen der Fakten wird entlang erzählt, so dass die Erzählung wie am Faden einer Spinne in der Schwebe und elastisch bleibt. Anders formuliert: Spinnentempel lässt sich ebenso als Literatur-Roman lesen. Als Roman von der literarischen Produktion.[20]

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Die Jugendliebe zu Tibor Teichmann wird vom Erzähler Fips mit dem Wunsch, „von diesen jungen Lehrern anerkannt zu sein“, verknüpft.[21] Diese jungen Lehrer waren links. ’68 hinterließ seine Spuren und Fips und Falk waren mittendrin. Sie wurden Trotzkisten, genauer Lambertisten „nach ihrer führenden Persönlichkeit, Pierre Lambert“.[22] Fips‘ Erzählung wird zu einer generationellen Geschichtserzählung von Reisen nach Paris in die Faubourg St. Denis, wo die Organisation Communiste Internationaliste, kurz OCI ihre Zentrale hatte, die sogleich literarisch mit Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas verwoben wird:
„die Zentrale der OCI, Michael Kohlhaas‘ „Sitz unserer provisorischen Weltregierung“. Wir waren müde und bekamen gleich unsere Lager zugeteilt: nebeneinander zu zehnt oder so kampierten die nach und nach nachts Eintreffenden auf Matten oder in Schlafsäcken auf den unsauberen Fußböden der großen Büroräume, welche Namen hatten, Salle Rosa Luxemburg, Salle Friedrich Engels, Salle Léon Sedow…“[23]   

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Es geht nicht nur um „Tagträume … und Träume“[24], die erzählt werden, vielmehr um ein Trauma zugleich. Das Trauma des Verlusts einer Jugendliebe durch Verbot und gesellschaftlicher Ächtung, weil gleichgeschlechtlich, und durch eine kaderförmige Organisation.  Aus den Romanen und Erzählungen von Friedrich Kröhnke können die Leser*innen wissen, dass er und sein Bruder Karl sich als Gymnasiasten euphorisch in „eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte(n)“.[25] – Wie eine Sprache finden für das, was einem angetan wurde beziehungsweise wo man mitmachen musste? – 1977 schrieb Friedrich Kröhnke zum ersten Mal über Zweiundsiebzig. Als er es 1987 veröffentlichte, hatte er im August 1986 in einer „Nachbemerkung“ vermerkt:
„Ich habe das alles nämlich zu einer Zeit geschrieben, als ich mich in eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte, geradezu heimlich geschrieben, denn „Subjektives“ war nicht angesehen.“[26]

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Ist das Subjektive Kitsch? Das wiederholte Einräumen, dass die subjektive Erzählung von Tibor Teichmann ebenso wie von der OCI Kitsch sein könnte, gibt einen Wink. – „Das alles, sagen Sie, ist offensichtlich ein Kitsch.“[27] – Nicht Fips sagt, dass es ein Kitsch ist, sondern eine imaginäre/r Leser*in, die angeschrieben wird. Wer die imaginäre Leser*in sein könnte, wissen wir nicht. Das heimlich Subjektive und der Kitsch durchziehen den Roman thematisch.[28] Seit 1986 ist schon eine gewisse Zeit vergangen. Ist die imaginäre, lambertistische Leser*in eine Art Über-Ich, das zensiert und zugleich den Kitsch für notwendig hält, wenn es um das Subjekt Fips geht, das als Ich erzählt? Wenn man die Zweiundsiebzig in Anschlag bringt, dann kehrt 50 Jahre später 2022 ein Liebesobjekt wieder, das zuvor schon vielfach abgewandelt worden war. Transformiert in immer wieder neue, eher flüchtige Verhältnisse mit Fünfzehnjährigen. Die Jugendliebe zweier Jungen, die man heute queer benennen würde, schwul gar, scheitert nicht zuletzt am – autoritären – Medium Festnetztelefon, das zwischenzeitlich immer weniger, kaum noch genutzt wird. Über das Festnetztelefon übten die Väter und Mütter ihre Autorität aus.
„Es gab noch keine Mobiltelefone und kein What’s App, nichts von alledem. Wenn ich bei seinen Eltern oder in der Arztpraxis anrief, wurde auf der anderen Seite aufgelegt.“[29]

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Wie schwul ist ein Roman, in dem das Lemma nicht einmal vorkommt? Schwul ist nicht irgendein Lemma. Im Caravaggio-Roman Das geheime Fieber (1987!) wird schwul zwar nicht in der Passage verhandelt, die Christoph Geiser am Nachmittag der Kleine(n) Verlage am Großen Wannsee zu fortgeschrittener Zeit mit Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und der schönen, farbigen Frau im Rücken vorliest, aber sonst geradezu um Legitimation ringend im kunsthistorischen Kontext bearbeitet. Ein Restaurator gebraucht schwul eher abwertend, wenn Maler „noch das von Michelangelo kopiert (hätten)“. Lässt sich schwul kopieren?
„Schwul, sagt der Restaurator, waren doch auch seine Nachfolger, diese Manieristen, fast eine Mode, als hätten sie noch das von Michelangelo kopiert – aber ins Süßliche verkehrt; der ist wenigstens nicht süßlich, nicht einmal süß, auch darum ist es kein Kitsch, sondern eine Provokation, gegen diese Moden, diese Idealisierung.“[30]

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Mit der Restaurator-Szene zum Gemälde Amor als Sieger, der in der Berliner Gemäldegalerie hängt, wird der Roman über Caravaggio und schwul eröffnet. In zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung des Romans hatte 1986 Derek Jarmans biografischer Film Caravaggio Premiere. Die vom Restaurator formulierte „Provokation“ in der Darstellungsweise eines fünfzehn- oder sechzehnjährigen, fast noch kindlichen nackten Jungen umgeben von allegorischen Instrumenten wie einer Violine, einer Laute, einem Winkel und Zirkel, aber auch zwei Pfeilen in der linken Hand, einer Schreibfeder und einem Teilen einer Rüstung, schließlich einer Art Himmelsglobus mit Sternen und einem Bogen für die Violine, die Flügel aus dunklen oder verschatteten Schwanenfedern nicht zu vergessen, wird vor allem durch ein angedeutetes Lachen im abgeschatteten Knabengesicht gestützt. Der Amorknabe provoziert. Er triumphiert nicht – Cupid as Victor. Das Gemälde ist eher dunkel als hell gehalten, doch der Körper, die Haut, das Glied sind hell ins Licht gerückt.[31]

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An der exponierten Nacktheit und dem Lachen brechen sich die Imaginationen und Identifikationen. Schuld oder Unschuld. Provokation oder Triumph. Religiöse Allegorie oder sich exponierender Junge aus dem Volk. Und was daran, an der Haltung und dem Verhalten ist schwul? Der Bogen aus dem italienischen 17. Jahrhundert ins emanzipative Schwul des 20. Jahrhundert lässt sich nicht so einfach schlagen. „Ich bin schwul“, wurde erst im 20. Jahrhundert in Berlin sagbar, wie es Robert Beachy mit W. H. Auden gezeigt hat. Im beginnenden 21. Jahrhundert, um die natürlich immer schleichende Transformation von Kulturpraktiken wie meist geübt in Jahrhunderten beizubehalten, ist der Amorknabe oder Cupidboy prekär geworden. 1987 war es eine Provokation:
„Ein nackter Bub auf einer Holzbank, nichts sonst, wenn ich mir die Zutat, das Stilleben wegdenke. Haut und Fleisch zum Greifen. Das ist nicht irgendeiner, das sind alle, alle zusammen in einem. Der Kopf eines Halbwüchsigen, fünfzehn-, sechzehnjährig, dem ich die Haare auf der Stirne streichen möchte, während er, ganz weggeräumt noch, lächelt geniert ein wenig, weil er sich einem wildfremden Schwulen hingegeben hat, in irgendeinem Hotelzimmer, einer einschlägigen Pension – amüsiert von der Erregung, aber befriedigt – versöhnlich nach dem geilen Spiel; das Schwänzchen eines Zwölfjährigen – nichts kommt, wenn es ihm beim Spielen plötzlich kommt – geil, aber verboten heute, auch in den größten Städten unberührbar, damals bloß ein wenig sündig; Pubertätsspeck an den Flanken, für die Gier der Hände, zum Kneifen wenigstens.“[32]

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Wie eine Sprache finden im Schreiben? Literaturen müssen sich immer eine Sprache erschreiben. Die Provokation, die emanzipatorische Geste, sich in einen Diskurs einschreiben oder gegen den Zeitgeist anschreiben haben immer die künstlerische, die literarische Produktion – um Amor als Sieger nicht zuletzt der Künste nachklingen zu lassen – beflügelt. Woher die Flügel genau kamen und kommen, wie lange sie tragen, über What’s App hinaus oder nur den Moment einer groß orchestrierten Hype der Ex-Freunde um eine Herrn Döpfner herum, der Medienturm exponiert, lässt sich auch bei kleinen Verlagen nicht so schnell entscheiden. Trash oder zeitgenössische Prosa? Kapitulation oder Spinnentempel? Gute Menschen oder das geheime Fieber? Der Roman Spinnentempel in seiner Ambiguität und Verdichtung zu einer lakonischen Sprache zwischen Schulverweis und Weltregierung fällt dann doch auf, vielleicht gar heraus. Queer history ist er allemal. Im 15-Minutes-Time-Slot fällt das noch nicht einmal so stark auf. Literaturen brauchen Zeit.

Torsten Flüh

Michel Decar
Kapitulation
Berlin: März, 2023.

Sigrid Behrend
Gute Menschen
Hamburg: Minimal Trash Art, 2022.

Friedrich Kröhnke
Spinnentempel
Aachen: Rimbaud, 2023.

Christoph Geiser
Das geheime Fieber
Berlin, Secession, 2023.

Literarisches Colloquium
LCB-Editionen, 1968-1989 – eine Re-Lektüre
bis 31. Oktober 2023.


[1] MTA: Über MTA.

[2] März-Verlag: Google Header.

[3] Rimbaud-Verlag: Google Header.

[4] Michel Decar: Kapitulation. Berlin: März, 2023. (Website)

[5] Sigrid Behrens: Gute Menschen. Hamburg: Minimal Trash Art. 2022. (Website)

[6] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel. Aachen: Rimbaud, 2023. (Website)

[7] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Berlin, Secession, 2023. (Website)

[8] Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2023. (Website)

[9] Ebenda S.

[10] Michel Decar: Kapitulation [wie Anm. 4] ebenda.

[11] Siehe: Torsten Flüh: Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt. Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juni 2023.

[12] Sigrid Behrens: Gute … [wie Anm. 5]

[13] LCB: https://lcb.de/programm/lcb-editionen-ausstellung/

[14] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 94.

[15] Ebenda S. 75.

[16] Ebenda S. 81.

[17] Ebenda S. 92.

[18] Ebenda S. 5.

[19] Ebenda S. 16.

[20] Zu weiteren Werken von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Der Mythograph

Ein Werkaufriss zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Friedrich Kröhnke. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[21] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 19.

[22] Ebenda S. 34.

[23] Ebenda S. 52.

[24] Ebenda S. 26.

[25] Friedrich Kröhnke: Zweiundsiebzig. Das Jahr, in dem ich sechzehn wurde. Frankfurt am Main: Materialis Verlag, 1987, S. 86.

[26] Ebenda.

[27] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 23.

[28] Zu weiteren Romanen von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Farbenfroh wuchernde Sehnsucht. Friedrich Kröhnke feiert den 150. Geburtstag von Max Dauthendey mit dem paradoxwitzigen Text Wie Dauthendey starb Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2017. (Jetzt unter Publikationen)
Und: Torsten Flüh: Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur. Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Oktober 2018. (Jetzt unter Publikationen)

[29] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 27.

[30] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Zuerst: Zürich: Nagel & Kimche, 1987, S. 16.
Zum Lemma schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (Jetzt unter Publikationen)

[31] Amor als Sieger von Caravaggio https://smb.museum-digital.de/object/60794?navlang=de

[32] Christoph Geiser: Das … [wie Anm. 30] S. 18.