Vom Logogriph als Genre der Zeitung

Literatur – Ausstellung – Vermittlung

Vom Logogriph als Genre der Zeitung

Zur Sonderausstellung Zwischen Tinte und Tatsache: Kleists „Berliner Abendblätter“ und den Kleist-Festtagen in Frankfurt (Oder)

Zwischen Kleist-Museum und Kleist Forum feierte die Stadt Frankfurt an der Oder zum zweiunddreißigsten Mal seit 1991 ab 10. Oktober ihren bekanntesten Sohn an sechs Tagen unter dem Titel Vom Suchen und Erfinden. Anke Pätsch, Kleist-Museum, und Florian Vogel, Kleist Forum, hatten ein umfangreiches Programm ausgearbeitet. Das rbb-Studio im Oderturm und der Regionalsender überhaupt engagierten sich tatkräftig vom Ufer der Oder mit dem Kleist-Museum bis in die Obere Stadt mit dem Kleist-Forum am Platz der Einheit. Frankfurts Innenstadt wurde gegen Ende des Krieges im April 1945 zu 93% zerstört. In den 50er und 60er Jahren wurde sie unter Aufgabe des alten Stadtgrundrisses neu aufgebaut. Die spätbarocke Garnisonsschule von 1777 in der Faberstraße wurde 1968 zum Kleist-Museum umgebaut. Frankfurt nennt sich heute „Kleiststadt“.

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Es ist vor allem das Literaturmuseum mit dem Namen Kleist, das Frankfurt zur „Kleiststadt“ gemacht hat. Die Gedenk- und Forschungsstätte bildet den Kern des Stadtnarrativs seit den 1970er Jahren, das nach 1989 und noch einmal stärker nach dem Kleistjahr 2011 zum Lable der Stadt geworden ist. Der historische Teil des Museumsgebäudes wird gerade saniert und modernisiert mit Bundes-, Landes- und Stadtmitteln. Das Kleist-Denkmal im Gertraudenpark von 1910 leitete verspätet mit seiner Bronzefigur literatur- und stadthistorisch im Duktus des Kaiserreichs eine Erhebung Heinrich von Kleists in den Literaturkanon ein mit den Worten: „einen idealen Jüngling (…), in der Form elastisch-geschmeidig, kräftig in seinem Gliederbau, von schwerer Abspannung sich lösend, dahingesunken die Leyer zur Seite legend, und doch, lorbeerbekränzt, bereit, sich wieder zu erheben“.[1] – Wie lässt sich indessen Kleists Zeitungsprojekt von 1810 für eine Ausstellung visualisieren?

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Der Literaturbegriff wird noch bis ins 21. Jahrhundert auf die Belletristik verkürzt, obwohl Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.[2] Das hätte eine breitere Debatte anstoßen können. Alexijewitsch wurde zum Vorwurf gemacht, dass es sich bei ihren zunächst in Zeitschriften veröffentlichten Texten um „Journalismus“ handele, dem man „nicht mit Literatur verwechseln“ dürfe, weil sie „nur“ Interviews aufgeschrieben habe.[3] Die Ausstellung setzt nun gerade an diesem Punkt ein, wenn es heißt: „Heinrich von Kleists „Berliner Abendblätter“ waren ihrerzeit eine der ersten Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum und eine echte Sensation: Sie ließen die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur verschwimmen.“[4] In der Pressemitteilung heißt es weiter: „Als Herausgeber und Redakteur (…) bewegte er sich in seinen Artikeln zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Berichterstattung und Literatur.“[5]

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Heinrich von Kleist spielt in seinen Berliner Abendblätter eine Vielzahl von Literaturformen zwischen Tagesbegebenheiten, dem Logogriph Der Griffel Gottes, dem Gerücht, dem Polizei-Ereigniß, der heute auf dem Smartphone aufpoppenden „Eilmeldung“ Extrablatt, dem Glossar Charité-Vorfall oder dem Druckfehler ebenso wie Miscellen, Legende und Anekdote, dem Brief Schreiben aus Berlin. 10 Uhr Morgens. etc. durch. Christoph Martin Wielands Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst verwirft die im Barock beliebten „Logogryphe()“[6] 1757 als „närrische() Erfindungen eines kranken Witzes“[7]. Im 19. Jahrhundert werden sie verstärkt zu einer Mode in Zeitungen und Zeitschriften. Geht es zunächst um ein poetologisches Verfahren durch Umstellung von Buchstaben andere Worte und Bedeutungen zu erzeugen – „s i e  i s t  g e r i c h t e t !“[8] –, popularisieren die sich seit den 1840er Jahren verbreitenden Zeitungen das „Logogryph“ zum Rätselraten, das nur eine Antwort gelten lässt.[9] Kleist macht es am 5. Oktober 1810 einmal zur Angelegenheit der „Schriftgelehrten“ und nicht nur zum Witz.

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Viviane Jasmin Meierdreeß hat als Kuratorin die Ausstellung in vier Sequenzen und einer Mitmachebene für die Besucher*innen aufgeteilt. Dabei geht es zunächst um eine eher abstrakte Topographie der Abendblätter von Berlin „Die Stadt als Handlungsort“, dann um das „Extrablatt“ als Genre, um das Berichten „Zwischen Fakt und Fiktion“ und um die Berliner „Zensur“ als Veröffentlichungsrahmen der Tageszeitung. In der Raummitte ist ein schreibpultartiger Tisch mit Texten, Stiften, Papier und mit einer Schublade, in der sich eine transparente Box für Kommentarzettel befindet, aufgestellt. Das Studio Neue Museen aus Halle hat die visuelle Gestaltung eingerichtet. Ein Modell des Ballons von „Prof. J.“, der mit dem „Wachstuchfabrikanten“ Carl Friedrich Claudius „in die Luft“ gehen sollte, aus dem Otto-Lilienthal-Museum in Anklam gehört zu den Ausstellungsstücken, die gleich beim Betreten des Raumes ins Auge fallen. Der im „Schreiben“ am 15. Oktober 1810 um „10 Uhr Morgens“ angekündigte Ballonaufstieg „um 11 Uhr“, war um „2 Uhr Nachmittags“ noch nicht geschehen, „es verbreitete sich das Gerücht, daß er vor 4 Uhr nicht in die Luft gehen würde“.[10]   

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Die Zensur aller Zeitungen durch das Innenresort, vergleichbar in der Zuständigkeit eines Innenministeriums, des Preußischen Staates, dem Karl August von Hardenberg unter Friedrich Wilhelm III. seit Juni 1810 als Staatskanzler vorstand, wird genauer als Rahmen für Kleists Projekt chronologisch durch eine Zeitachse über eine Wandseite visualisiert. Zugleich wird „die drohende Zensur“ als Grund für das Schwanken „zwischen Berichterstattung und Literatur“ (Pressemitteilung) angegeben. Einerseits erhielt Kleist überhaupt die Gelegenheit durch Hardenberg, das Projekt einer Tageszeitung zu starten, das mit dem Gebet des Zoroaster als „Einleitung“ quasi programmatisch am 1. Oktober 1810 eröffnet wird.[11] Andererseits installiert Hardenberg eine Zensur der politischen Meinungsäußerung unter der Besatzung durch Napoleonische Truppen in Berlin und Preußen bei einer bedingten Eigenständigkeit seit Oktober 1806[12], als Schadows Quadriga vom Brandenburger Tor nach Paris in den Louvre abtransportiert worden war.[13]

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Die politischen Rahmenbedingungen in Berlin waren mit dem Brandenburger Tor ohne Quadriga als Symbol der Souveränität Preußens gewissermaßen tagtäglich offensichtlich. Doch war „die drohende Zensur“ für Heinrich von Kleists Schreib- und Publikationsverfahren in den Berliner Abendblättern der Grund für ein Schwanken „zwischen Berichterstattung und Literatur“? Der Literaturbegriff spielt zweifelsohne eine entscheidende Rolle für die Einordnung der Texte in Form und Materialität einer Zeitung als Blätter statt eines gebundenen Buches oder Heftes. Mit dem frühen „Schreiben aus Berlin“ wird eine neuartige Zeitlichkeit im Bericht formuliert, wenn gleichsam am „Puls der Zeit“ von 10:00 bis 14:00 Uhr eine Dynamik der Ankündigung durch Verschiebungen bis zum „Gerücht“ sehr genau formuliert wird. Ist das noch ein Bericht? Oder schon eine Analyse sprachlicher Prozesse von Ereignissen? Der blau gestreifte, gelbe Ballon als Eyecatcher mit winziger Figur im Korb sieht gut aus. Doch dann kommt das Lesen von Kleists Texten.

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Das Lesen in Ausstellungen ist für die aktuelle Zielgruppe der Smartphone-Nutzer*innen zwischen 6 und 60 eine Herausforderung. Eilmeldungen und Push-Nachrichten werden rauf und runter gescrollt mit dem Fingerwisch. Gleich einem Extrablatt terrorisieren in der Phase bewaffneter Konflikte in Europa und dem angrenzenden Nahen Osten – ja, wen denn? – die Leser*innen. Gerade junge Menschen – sagen wir zwischen 16 und 36 – werden auf X, TicToc, WhatsApp etc. von vermeintlichen Meldungen und Narrativen terrorisiert und manipuliert. – Sie lesen nicht? Doch sie lesen: Eilmeldungen, Push-Nachrichten, Überschriften, Link-Kürzel etc. Sie lesen Worte wie: Hamas, Palästina, Juden, Israel, Kind, Baby, Krankenhaus, Hass, Iran, Irak, Opferzahlen, Namen und Bezeichnungen wie Mörder in Deutsch und Englisch, aber Arabisch etc.. Auf Facebook werden die Traueranzeigen mit Kurzbiographie ermordeter Israeli geteilt, auf TicToc blutende Babys gezeigt. Alle, wir sind verdammt zum Lesen! Nur: Wie lesen?

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Kommen wir also zurück zu den Visualisierungen in der Ausstellung z.B. das Brandenburger Tor! Das Brandenburger Tor ist abstrahiert mit Quadriga dargestellt. Das Brandenburger Tor hat mit Quadriga heute einen weltweiten Wiedererkennungseffekt gleichsam von Frankfurt an der Oder bis Fuzhou am Min Jang in China. Man braucht die Quadriga auf dem Tor nur anzudeuten, und schon wissen wir, dass das Brandenburger Tor gemeint ist. 1810 war sie weg. Visualisierungen in Ausstellungen wollen und sollen gelesen werden. Sie pendeln zwischen Bild und Schrift. In der Ausstellungsarchitektur von Studio Neue Museen werden Texte bildhaft präsentiert wie das „Zitat“ zum „Extrablatt“ und dann gibt es noch größere Textflächen mit kleiner Schriftgröße, an die die Besucher*innen herantreten müssen, um sie lesen zu können. Die Texte sind insofern visuell in Stufen gegliedert. Die Besucher*innen sollen über plakative bzw. bildhafte Schrift an Kleists Texte herangeführt werden. Jede Stufe erfordert eine Entscheidung, mehr zu lesen.

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Zur Ausstellung Zwischen Tinte und Tatsachen wurden während der Kleist-Festtage „Express-Führung(en)“ angeboten. So auch zum „Feierabend mit Kleist“ am 13. Oktober mit „Express-Führung und Konzert“. Der Pianist Ricardo Bozolo spielte als Hommage Werke aus der „Spätromantik“ von Brahms, Mendelssohn Bartholdy und Chopin. Bozolo schlug den Bogen in seiner Ankündigung von Kleist zu den Klavierstücken über das Unglückliche und Romantische. Er ist seit 2021 Klavierlehrer an der Musikschule der Stadt Frankfurt Oder. Die „Express-Führung“ zum „Journalisten Kleist“ und das gefühlvolle Konzert mit Werken von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Frédéric Chopin produzierten einen gewagten Eindruck von der Literatur Heinrich von Kleists wie sie vor 1910 rezipiert wurde. Also, Frédéric Chopin (1810-1849) als Komponist in Konstellation mit Kleist wäre gewiss noch einmal interessant, aber ganz anders in ihren Männerfreundschaften!

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Der durch verknappende Online-Medien wiederkehrende Epochenbegriff der Romantik macht genau das Gegenteil von dem, was Heinrich von Kleist als Redakteur und Dichter ebenso wie Journalist beispielsweise mit dem Logogriph Der Griffel Gottes messerscharf als Frage des Lesens und des Wissens bearbeitet. Literaturvermittlung sollte heutzutage viel stärker als Medienpädagogik praktiziert werden, die sich wunderbar, möglicherweise mit einem etwas zeitraubenden, genauen Lesen einiger weniger Kleist-Texte in der Zeitung üben lässt. In den Berliner Abendblättern gibt es keine Kuschelromantik bei Rotwein und Häppchen. Aber wenn man die Stolperstellen eines fraglosen Leseverstehens in den Tagesbegebenheiten und Schreiben aus Berlin ernst nimmt, dann könnte Literatur für junge Menschen ein Angebot für andere Praktiken beim Scrollen und Lesen bieten, was gesellschaftspolitisch relevant wäre.

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Als Uraufführung boten der Schauspieler Mathieu Carrière und seine Tochter Elena die Lese-Performance Kleist und andere Monster auf der Studiobühne des Kleist-Forums. Im ersten Teil des Abends lasen Tochter und Vater aus Mohamed Kacimis Stück Ich liebe den Tod so wie ihr das Leben mit verteilten Rollen als Geheimdienstoberst und Selbstmordattentäter. Im Ankündigungstext heißt es, dass das Stück in Frankreich verboten war, um dem „Monster“ keine Stimme zu geben. Matthieu Carrière hatte schon 2020 Kacimis Die Jungfrau von Orleans zu den Kleist-Festtagen im Kleist-Forum übersetzt und mit Freund*innen gelesen. Die Freiheit des Theaters gewiss auch im kleistischen Sinne stand zur Frage. Carrière hat als Schauspieler immer eine starke, intellektuelle Beziehung zur französischen Literatur und Kultur gepflegt und dies zu einer Art Alleinstellungsmerkmal gemacht. Im zweiten Teil der Lese-Performance bot Judith Rosmair vor allem eine textliche Überarbeitung des Monologs der Penthesilea aus dem gleichnamigen Stück von Heinrich von Kleist.

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Der Begriff Monster ist in der deutschen Sprache überwiegend junger Menschen recht populär. In der Titel-Kombination mit dem Namen Kleist geht es weniger um ein „furchterregendes, hässliches Fabelwesen, Ungeheuer von fantastischer, meist riesenhafter Gestalt“ als vielmehr um „etwas furchterregend Großes, Unübersichtliches, ein gefährliches Ungetüm“[14]. Sind Selbstmordattentäter und Heinrich von Kleist Monster? Oder ist es für islamistische Selbstmordattentäter ein Euphemismus? Ist das von einem Monster Reden einfach woke? Was passiert, wenn eine junge Schauspielerin (28) einen mordenden islamistischen Attentäter liest? Verliert seine angekündigte Tat dann ihren Schrecken? Am 13. Oktober 2023, 6 Tage nach dem Massaker auf einem Club Festival und in Kibbuzen, in der sich auf die Schrift (!) des Koran[15] berufenden Hamas an israelischen Männern, Frauen, Kindern, Babys, Alten und ihrer kriegsrechtswidrigen Entführung als Geiseln nach Gaza klang das monströs falsch auf der Studiobühne des Kleist-Forum.

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Matthieu Carrière gab zwar nach der Lese-Performance seine Bedenken zur Zeitgemäßheit seiner Uraufführung kund und lud zu einem Gespräch ein. Doch die Kunstfreiheit des Theaters blieb beschädigt. Dafür hätte die Performance zuvor stärker eingeordnet werden müssen. Es herrschte vielmehr eine Sprachlosigkeit nach der Aufführung. Eine Einordnung der Ereignisse vom 7. Oktober in Israel fand auch von Herrn Vogel nicht statt. Betrübnis. Betretenheit. Aber wie Worte finden? Was darf das Theater? Kleist allemal arbeitete an der Sprache und ihren Fallstricken nicht zuletzt in den Berliner Abendblättern. Gewiss auch mit der furchtbaren Verwechslung der sich im Reim Sinn vorschützenden, mordenden „Küsse“ und „Bisse“ der Penthesilea.

Torsten Flüh  

Sonderausstellung:
Zwischen Tinte und Tatsache:
Kleists „Berliner Abendblätter“
bis 25. Februar 2024
Kleist-Museum
Faberstraße 6-7
15230 Frankfurt (Oder)


[1] Die Verzahnung von Kleists Literatur mit dem Narrativ der Nation wurde von Wolfgang Barthel herausgearbeitet. Das Frankfurter Kleist-Denkmal hatte zum „Nationaldenkmal“ werden sollen. In Ermangelung eines zur Übertragung in eine Statue geeigneten Bildes vom Dichter schwingt in der Beschreibung des Denkmals mit dem „idealen Jüngling“ in der Formulierung „bereit, sich wieder zu erheben“ die nationale Bestimmung mit.  Wolfgang Barthel: Der Traum vom Nationaldenkmal : Gottlieb Elsters Denkmal für Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder. [Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte, Frankfurt an der Oder] / Frankfurter Buntbücher ; 1. Frankfurt, 1991, S. 12.

[2] Zu Swetlana Alexijewitsch siehe: Torsten Flüh: Eine Feier des Austausches und die Trauer. Zu HERE AND NOW. Ein Fest zum 60. Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2023.

[3] dpa: Radisch über Alexijewitsch: Das ist keine Literatur. In: Frankfurter Rundschau 10.10.2015 11:51 Uhr.

[4] Zitiert nach Website: Sonderausstellung: Zwischen Tinte und Tatsache. Kleist-Museum.

[5] Kleist-Museum: Pressemitteilung 28/2023 vom 9. Oktober 2023.

[6] Jens König: Aenigma. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 1 A-Bib. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1992, S. 193.

[7] Christoph Martin Wieland: Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst. Anno 1757. In: Deutsche Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Wielands Gesammelte Werke. Erste Abteilung. Vierter Band. S. 343.

[8] (Heinrich von Kleist:) Der Griffel Gottes. In: Berliner Abendblätter 5tes Blatt. Den 5ten October 1910.
Zum Logogriph siehe auch: Torsten Flüh: Schweigen? – Aushalten. Indigo und die Kleist-Preis-Rede von Clemens J. Setz im Deutschen Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. November 2021.

[9] Zur Geschichte des Logogryphs siehe: Jens König: Aenigma … [wie Anm. 6] S. 187-195.
Ebenso verkürzend: Wikipedia: Logogriph.
Zum Logogryph siehe auch den Gebrauch durch Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg in: Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2019.

[10] (Heinrich von Kleist:) Schreiben aus Berlin. In: Berliner Abendblätter 13tes Blatt. Den 15ten October 1910.

[11] Zur Einleitung siehe: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 56-60.

[12] 1810 malte Carles Meynier das monumentale Gemälde von 330 x 493 cm Entrée de Napoléon à Berlin. 27 octobre 1806, das in Versailles hängt. Die Quadriga ziert noch das Brandenburger Tor auf dem Bild, bevor sie in der Militärtradition der Trophäe, zerlegt und abmontiert wird. Sie kehrt im April 1814 nach dem Sieg über Napoleon nach Berlin zurück und wird zum Nationalsymbol.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[14] DWDS: Monster.

[15] Zur Schrift des Koran siehe: Torsten Flüh: Das Ursprüngliche des Korans. Stefan Weidners Seminar Vom Übersetzen des Unübersetzbaren im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Februar 2010. (als PDF unter Publikationen)

Eine Feier des Austausches und die Trauer

Literaturen – Künstler*in – Austausch

Eine Feier des Austausches und die Trauer

Zu HERE AND NOW. Ein Fest zum 60. Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in der Akademie der Künste

Musiker*innen und Komponist*innen sind es vielleicht, die als Stipendiat*innen des Berliner Künstlerprogrammes wie Matana Roberts und Merche Blasco durch das Festival Maerz Musik besonders gut vernetzt sind in den Medien der Stadt. – Wer? – Beim Namen Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreis 2015, meint dagegen sofort jede und jeder zu wissen, von wem und was die Rede ist. Sie war – immerhin mit 62 Jahren für den Literaturnobelpreis gehandelt – 2011 Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms. Aus Anlass des 60. Jubiläums unterhielt sie sich am 12. Oktober mit dem Präsidenten des DAAD, Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, über das Sprechen mit Menschen in Weißrussland, der Ukraine und Russland. Gestreift wurde auf der Jubiläumsveranstaltung unter Schock auch der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober auf die israelische Zivilgesellschaft.

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Die Leiterin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD Silvia Fehrmann moderierte charmant den Abend im HERE AND NOW mit Grußworten von Katja Keul, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Oliver Friederici, Staatssekretär für Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Berliner Senat, und Prof. Dr. Joybrato Mukherjee sowie das Bühnenprogramm mit den teilnehmenden Fellows wie MADEYOULOOK aus Südafrika, Matana Roberts aus den USA, Merche Blasco aus Spanien, Jay Bernard aus Großbritannien und natürlich Swetlana Alexijewitsch, die 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Literaturnobelpreis erhielt. Im Juni 2021 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz von Frank Walter Steinmeyer verliehen. Sie lebt seither in Berlin.[1] In den Grußworten wie im Podiumsgespräch wurden die Kraft der Kunst, der Literatur und des kulturellen Austausches beschworen sowie der Terrorangriff angeschnitten.

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Einleitend und rückblickend ist bedenkenswert, dass der Terrorangriff der Hamas von den Akteur*innen im HERE AND NOW zwar 5 Tage danach angesprochen, betrauert, die verstörenden Freudenbekundungen auf der Sonnenallee verurteilt wurden, doch anders als die Kriegserklärung Putins gegen die Ukraine und die Kultur des Westens, nicht als ein Angriff auf eine Kultur des Austausches, der Diversität und „des Westens“ formuliert wurde.[2] Die Kultur des Austausches in einer Praxis des gegenseitigen Schenkens und Respekts als Leitbild des Berliner Künstlerprogramms und des DAAD war auf schockierende Weise massiv angegriffen worden. In den „Leitlinien“ des Künstlerprogramms heißt es u.a.:
„Als Team des Berliner Künstlerprogramms des DAAD haben wir die Verantwortung, diese ethischen und demokratischen Werte zu wahren. Wir arbeiten unablässig daran, unser Programm so inklusiv und sicher wie möglich zu gestalten – für Menschen aller Geschlechter, Rassifizierungen, Altersgruppen, Veranlagungen und Klassen sowie für weitere Gruppen, die häufig unerwähnt bleiben. Wir fordern daher alle auf – unsere KollegInnen, PartnerInnen und AuftragnehmerInnen sowie unsere StipendiatInnen und BesucherInnen –, sich gegenseitig zu respektieren.“[3]

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In der deutschen Debatte um den Terrorangriff, die gezielte bestialische Gewalt gegen Israelis, gegen jüngste, junge bis sehr alte Jüd*innen und eine offene Gesellschaft, wie sie mit dem psychodelischem-trance Supernova Festival von Re‘im angegriffen worden ist, wird lediglich auf die propalästinensischen Freudenfeiern mit Feuerwerk auf der Sonnenallee verschoben. „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im Ressort der CDU des Berliner Senats? Mit derartigen Verschiebungen geht es darum, sich nicht angesprochen bzw. angegriffen fühlen zu müssen. Längst ist der Palästinakonflikt als Kern des Nahostkonflikts kein lokaler mehr. Einerseits brüstet sich die Hamas selbst damit, dass sie durch ihre widerlichen Taten und den offenbaren Missbrauch von hunderten palästinensischen jungen Männern, die sie mit syrischem Captagon, der sogenannten „Dschihadisten-Droge“[4], in sexualisierte Kampfmaschinen verwandelt hatte, wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht, nachdem Israel schon mit Saudi Arabien Beziehungen aufgenommen hatte und die Hamas in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte. Andererseits nutzen die Mullahs in Teheran und Erdogan die Hamas als Schachfigur in einem Krieg der Autokraten und Patriarchen gegen die Demokratie und westliche Werte, weil ihre Regime kulturell selbst massiv unter Druck stehen.

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Permanent wird aktuell hinsichtlich Israel und Palästina mit Gaza medial versucht, eine Homogenität von territorialen Lagern herzustellen, die sich bei näherer Betrachtung in Ängste, Medienschlachten und bestenfalls Heterogenität auflöst. Das ist nicht nur ein deutsches Problem. Kein einziger Staat des Nahen Osten oder der arabischen Welt ist homogen – weder Israel noch der Nicht-Staat Palästina. Widerstreitende Narrative des Islam und des Judentums kursieren lebhaft in der Region. Die Historisierung des Konflikts ist für die Hamas nur noch ein Kampfmittel, das islamistisch aufgeladen wird, während sich eine Weltöffentlichkeit und nicht zuletzt der aus Portugal stammende, ehemals sozialistische UN-Generalsekretär António Guterres im historischen Narrativ verstricken. Die Spaltung geht weit ins Innere der von den USA initiierten Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen (UN), die die Hamas und damit das Regime in Teheran mit der Historisierung ihres Terrors erreicht haben. Statt Respekt zu üben, wird ein Terrorkrieg nicht allein um Israel und sein Territorium geführt. In den Berliner Jubiläumsreden auf der Bühne der Akademie der Künste wurde dieser weitreichende, kulturelle Konflikt, der die Leitlinien des Künstlerprogramms massiv angreift, umgangen. – Vielleicht saß der Schock noch zu tief.  

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Als Vorspann präsentierte das kollaborative Künstlerkollektiv MADEYOULOOK aus Molemo Moilea und Nare Mokgotho das Videoprojekt Menagano (2022). Sie waren Stipendiat*innen 2022 im Künstlerprogramm. Die Darstellung einer Landschaft bleibt im Video schemenhaft, um es einmal so zu formulieren. Es geht von einer de-kolonialen Wahrnehmung von Landschaft aus. Die genaue und innere Kenntnis des Landes prägt die ästhetische Imagination von Land und befragt mit dem programmatischen Namen – made you look – des Kollektivs, was eine Landschaft sehen lässt. Insofern wird das koloniale Verständnis der Landschaftstradition in den visuellen Künsten gestört. Das Video will nicht einfach eine Landschaft zeigen. Vielmehr erforscht es Sichtweisen der Landschaft nach ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Sie bieten dafür Modelle der Erinnerung von Geschichten, orale Traditionen, „black love“ etc. an, die die Landschaft in ihrer Sichtbarkeit befragen, aus hierarchischen Verhältnissen lösen und zerstreuen. Da das Video vor der Anmoderation gezeigt wurde, zerstreute es sich auch in dem Eintreffen und Gesprächen des Publikums.

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Die Jazz-Saxophonistin, Jazz-Klarinettistin und Komponistin Matana Roberts, die 2018 im Bereich Musik & Klang am Programm teilnahm, ist in den USA recht bekannt. Ihr Kostüm mit bis auf die Augenbrauen gezogenem Zylinder, wallendem Gewand und an Kreolen erinnernden großen, flächigen Ohrgehängen erinnerte den Berichterstatter – möglicherweise völlig zu Unrecht – an New Orleans und James Bond 007 in Leben und sterben lassen (1973). Matana Roberts wird zum Jazzstil der New Creatives gezählt, die hoch individuell und flexibel ihre Performances einrichten. Sie bot damit eine besondere Jubiläumsperformance, mit der sie das Berliner Künstlerprogramm des DAAD als ein einzigartiges mit einer Improvisation aus Text und Sound feierte. Zugleich erinnerte sie an die glimmer: aurum performance  von und mit Otobong Nkanga zum 50. Jubiläum 2013.[5] Otobong Nkanga hat seither eine Reihe namhafter Kunstpreise verliehen bekommen.

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In mehrfacher Hinsicht war das vielschichtige Gespräch von Joybrato Mukherjee mit Swetlana Alexijewitsch über ihre Literatur der Höhepunkt des Festprogramms. Denn sie hat mit der „Komposition ihrer Interviews (…) eine() eigene() literarische() Gattung gefunden“, wie es Gottfried Honnefelder am13. Oktober 2013 in der Paulskirche in der „Urkunde“ des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels formulierte.[6] In seiner „Begrüßung“ stellte Honnefelder die Frage, ob „es Frieden geben“ könne, „wenn Menschen – und mit zunehmender Moderne ganze Menschengruppen – stumm gemacht werden und als Randphänomene politischer Prozesse aus dem Blick geraten, ja vom Rest der Welt vergessen werden“.[7] Die wenig später nobelpreiswürdige Arbeit mit der und für die Literatur von Swetlana Alexijewitsch besteht nicht in einer Befriedung widerstreitender, ja, sich bisweilen in wenigen Sätzen eines Interviews bekämpfender Narrative, sondern im Zulassen und Aufschreiben des Widersprüchlichen. Kein Urteil. Keine Kommentierung. Keine Konklusion.
„»Was wäre, wenn der Putsch gesiegt hätte? Er hat doch gesiegt! Das Dserschinski-Denkmal wurde gestürzt, aber die Lubjanka ist geblieben. Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.«“[8]

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Die Frage der Literatur oder Literaturen bricht mit Alexijewitschs Schreib- und Kompositionsverfahren auf. Kolportiert sie nur? Oder komponiert sie schon, wenn sie schreibt: „Ich sitze in der Küche bei Moskauer Bekannten. Eine große Truppe ist versammelt – Freunde, Verwandte aus der Provinz. Wir erinnern uns, dass am nächsten Tag der Jahrestag des Augustputsches ist.“[9] Und dann folgt neben anderen eine weitere namenlose Stimme, die den „Putsch“ vom 19. bis 21. August 1991 in Moskau einordnen will, die eine atemberaubende Formulierung findet: „Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.“ Das ist ein kurzer, ich möchte wohl sagen, kleiner Satz, der in seinem nachträglichen Wahrheitsgehalt auf einen gewissen KGB-Mitarbeiter in Dresden, Wladimir Wladimirowitsch Putin, zuzutreffen scheint. Das konnte selbst 2015 noch niemand so klar wissen. Wir wissen nicht, ob der Satz tatsächlich so oder etwas anders in Moskau gefallen ist. Heute springt er bestimmt nicht nur für mich wie eine Prognose und Wahrheit hervor.

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Swetlana Alexijewitsch hat das Zuhören zum Verfahren ihrer Literatur gemacht, worauf sie nicht zuletzt Joybrato Mukherjee im Podiumsgespräch wiederholt ansprach. Das Zuhören und Aufschreiben geschieht ohne einen „Haltepunkt, eine(r) oberste(n) und rettende(n) Instanz“, wie es Karl Schlögel in seiner Laudatio 2013 nannte.[10] Die Fragen nach der Ungeheuerlichkeit des russischen Angriffs auf die Ukraine nach Befehl Putins ließen die Schriftstellerin fast ungerührt. In ihren Texten mit den Gesprächen aus den 90er Jahren sind alle Narrative bereits enthalten, die sich in der Kriegserklärung verdichteten und entluden. In den Aufzeichnungen einer Beteiligten schreibt sie bereits 2013:
„Veraltete Ideen leben wieder auf: vom großen Imperium, von der »eisernen Hand« … Die sowjetische Hymne ist zurück, es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt »Die Unseren«, es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus-Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie …“[11]

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Im deutschen Feuilleton brach 2015 eine heftige Debatte über die Literatur[12] aus, als die Feuilleton-Chefin der ZEIT, zweifellos eine „Instanz“, Iris Radisch, wiederholt schrieb und sagte, dass Alexijewitschs Texte „keine Literatur“ seien. Literatur müsse „etwas Schöpferisches haben“. Sie müsse „«fiction», eine eigene Erfindung sein“. Sie müsse „eine besondere Sprachqualität haben“. Und sie müsse „- das ist ganz wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben“.[13] Gegenüber Karl Schlögels Diktum – „Swetlana Alexijewitschs Schreiben beginnt mit einem Abschied von der schönen Literatur.“ – von 2013 hatte sich Radisch doch noch ein wenig Zeit gelassen, um die polyvokale Literatur der „Küchengespräche“[14] als eine aus Literaturen zu verwerfen. Kann es mehr Weltverwandlung geben als mit der Formulierung „Wir bauen den Kapitalismus unter der Führung des KGB auf“?  

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Swetlana Alexijewitschs Literatur beginnt bei der Selbsterzählung der Menschen, nicht zuletzt als „Homo sovieticus[15], die sich nicht einfach nur als eine Reportage abtun lassen. Denn das Erzählen von sich selbst und einer Katastrophe mit einem nachträglichen Wissen legt kollidierende Narrative z.B. von Milch als Medizin frei. Wir wissen selbst bei Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft (1997/2019) nicht, wie viel nachträgliches Wissen bereits in die stockende Erzählung von den ersten Stunden der Katastrophe eingeflossen ist. Der paradoxe Untertitel „Eine Chronik der Zukunft“ gibt einen Wink auf die narrative Uneinholbarkeit der Katastrophe. Denn eine Chronik wird immer erst nachträglich, chrono-logisch[16] und nicht im Voraus angelegt.[17] Nicht zuletzt prallen Narrative von der Zukunft, der Sicherheit, der Medizin etc. aufeinander.
„Meine Freundin Tanja Kibenok kam … Ihr Mann lag im selben Zimmer … Sie kam mit ihrem Vater, der hatte ein Auto. Wir fuhren ins nächste Dorf, um Milch zu besorgen. Etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt … Wir kauften mehrere Dreilitergläser mit Milch … Sechs, damit es für alle reichte … Aber die Männer erbrachen die Milch … Sie verloren immer wieder das Bewußtsein, man hängte sie an den Tropf. Die Ärzte behaupteten merkwürdigerweise, daß es Gasvergiftungen seien, von radioaktiver Strahlung sprach keiner.“[18]  

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Das Jubiläumsprogramm bekam auf diese Weise mit dem Gespräch mit Simultanübersetzung ins Englische und Deutsche eine zugleich andere als vorhersehbare Wendung und Aktualität. Eine sich in eine Vielzahl von Narrativen aufspaltende, sich schwer in Worte fassen lassende Katastrophe war passiert. Sie holte das Bühnenprogramm ein, war allgegenwärtig und ließ sich dennoch nicht einfach durch Verbalisierung vergegenwärtigen. Das Programm musste weiterlaufen. Wahrscheinlich geht es nicht ohne Programm und dem Festhalten an Narrativen, während diese attackiert werden. Alexijewitsch beharrt auf den „Stimmen … Stimmen … Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben.“[19] Vom Gespräch bleiben die Stimmen, die mehr sind als die Narrative und das Auditive.[20]

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Merche Blasco verwandelt das Studio der Akademie der Künste im HERE AND NOW in einen Club. Der Club als ein Raum der Musik, der Lichteffekte, der Interaktion mit den Tanzenden und der zumindest erotisch aufgeladenen Interaktion der Tanzenden untereinander auf der Tanzfläche und in den Sitz- wie Liegeecken hat sich wenigstens seit The Long Now beim Festival MaerzMusik 2016[21] zur innovativen Schnittstelle von Experimentalkunst und Unterhaltung etabliert. Merche Blascos Live-Set als Teil einer umfangreicheren Komposition im Künstlerprogramm lässt sich durchaus tanzen, wenn das Format Jubiläumsveranstaltung nicht mit einem eher clubfernen Publikum in den Sitzreihen im Auditorium stattgefunden hätte. – Provokation? Nein, Praxis und Realität des kulturellen Austausches in generationellen Verhältnissen.

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Die Multimedia-Künstlerin Merche Blasco kommt zwar aus Spanien, lebt aber seit längerer Zeit in New York und zur Zeit in Berlin. An den Schnittstelle von DJ und Komposition wird von Merche im Live-Set als Kunstform mit Lichtquellen und elektromagnetischen Kraftfeldern ein komplexer Klang erzeugt, der zu tranceartigen Zuständen führen kann. Die Künstlerin kleidet sich für dieses Live-Set in der Tradition des Futurismus mit einer Art übergroßen spiegelnden Halskrause, fluoreszierenden Linien im Gesicht und im toupierten Haar. Die Bewegungen am Set wirken choreographisch durchgearbeitet. Mit wenigen Haltungsveränderungen werden komplexe Klangereignisse mit rhythmischen Elementen am Laptop und Set erzeugt. Die bewusstseinsverändernden Klang- und Lichteffekte gehören zum Setting des Clubs, zu dessen Intensivierung in Berliner Clubs als billiger Kokainersatz aktuell Captagon kursiert und konsumiert wird.

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Trance und Erweiterung des Bewusstseins könnten durchaus als Signatur des Futurismus‘ mit seinem Versprechen für Kunst und Kultur in der europäischen Moderne beschrieben werden. Zugleich geben die akustischen und visuellen Verfahren einen Wink auf den Russischen Kosmismus.[22] Multimedialität der Arbeit von Merche Blasco unter Einsatz digitaler Verarbeitungsprozesse generiert eine Intensivierung der Wahrnehmung, die paradigmatisch eine Loslösung von einer Normal-Wahrnehmung verspricht. Man könnte es zugleich als eine Art des Feierns und Rausches benennen wie eine fließende Programmierung. Die clubartige Musik- und Bühnen-Performance von Merche Blasco reflektierte nicht zuletzt Musikevents wie das Supernova Festival vom 7. Oktober an der Grenze zu Gaza.     

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Den Abschluss des Bühnenprogramms machte Jay Bernard mit einer eingespielten Lesung seines Kurzessay Über Kunst in Englisch und einer Projektion in Deutsch, was zu einer misslichen Kollision des Gehörten mit dem Gesehenen führte. Der queere und farbige Künstler und Schriftsteller Jay Bernard wuchs im Süden von London auf. Er präsentiert seine Position zur Kunst in Anknüpfung an Derek Jarman, der unter anderem 1986 den Film Caravaggio mit Dexter Fletcher und Tilda Swinton drehte, bevor er 1994 an AIDS verstarb. Projiziert wurde der deutsche Text auf blauem Hintergrund. Der blaue Hintergrund bezieht sich bereits auf ein Gedicht von Derek Jarman: „ The sky-blue butterfly/sways on a cornflower/Lost in the warmth/of the blue heat haze/Singing the blues/Quietly and slowly/Blue of my heart/Blue of my dreams…” Denn Jay Bernard hat mit BLUE NOW eine umfangreichere Arbeit zur Kunst veröffentlicht. Zu bedenken ist dabei u.a.. dass im Word-Programm Links blau unterlegt werden.

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Torsten Flüh


[1] Vera Nerusch: Alexijewitsch: Weg zur Freiheit ist lang. (Interview mit Swetlana Alexijewitsch) In: DW 06.01.2022.

[2] Zum Wortlaut der Kriegserklärung siehe Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.
Und: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[3] Berliner Künstlerprogramm: Leitlinien. (Internet)

[4] Siehe: ARD: Syrien und der Drogenhandel mit der „Dschihadisten-Droge“ Captagon

Syrien und der Drogenhandel mit der „Dschihadisten-Droge“ Captagon. In: Tagesschau24 Stand: 10.07.2023 11:12 Uhr

[5] Siehe Torsten Flüh: The Golden Jubilee. 50 Jahre Berliner Künstlerprogramm des DAAD. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Dezember 2013. (Publikationen)

[6] Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana Alexijewitsch. Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Frankfurt am Main 2013, S. 6.

[7] Gottfried Honnefelder: Begrüssung. In: ebenda S. 11.

[8] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 32. (Zuerst: München: Carl Hanser, 2013.)

[9] Ebenda S. 29.

[10] Karl Schlögel: Laudatio. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana … (wie Anm. 6) S. 30.

[11] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand … (wie Anm. 8) S. 17.

[12] Zur Debatte über die Literatur siehe auch: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 15-16.

[13] dpa: Radisch über Alexijewitsch: Das ist keine Literatur. In: Frankfurter Rundschau 10.10.2015 11:51 Uhr.

[14] Karl Schlögel: Laudatio… [wie Anm. 11] S. 41

[15] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand … (wie Anm. 8) S. 9.
Siehe auch: Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017.
Ebenso: Torsten Flüh: Kontroverse Erinnerungskünste der Sowjetmacht. Zu Karl Schlögels Schmöker Das sowjetische Jahrhundert und einer Ausstellung im Haus Zukunft. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. November 2017. (als PDF unter Publikationen)

[16] Zur Chronologie als Format der Moderne: Torsten Flüh: Die Geschichte mit dem Dreh. Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. September 2023.

[17] DWDS: Chronik.

[18] Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Berlin: suhrkamp taschenbuch, 2019, S. 21. (zuerst 1997 unter dem Titel Tschernobylskaja molitwa in der Zeitschrift Druschba narodow in Moskau)

[19] Swetlana Alexijewitsch: Dankesrede. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana … (wie Anm. 6)  S. 65.

[20] Zur Stimme siehe auch: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Unbestimmtheit und Verclubbung. Zu The Long Now 2016 im Kraftwerk Mitte bei MAERZMUSIK. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[22] Siehe: Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung und Finissage Art Without Death: Russischer Kosmismus im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Oktober 2017. (als PDF unter Publikationen)

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Emanzipation – Sexualität – Gewalt

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Zur verspäteten Ausstellung Aufarbeitung: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen der Emanzipation im Schwulen Museum

Die Kuratorin der Ausstellung und Mitglied im Vorstand des Schwulen Museums, Dr. Birgit Bosold, formulierte bereits bei der Eröffnung des Schwulen Museums im Juni 2013 an seinem professionalisierten Standort in der Lützowstraße gegenüber dem Berichterstatter ihr Unbehagen mit den visuellen und literarischen Sammlungsbeständen.[1] Das Schwule Museum in der Trägerschaft eines Vereins aus Engagierten mittlerweile aller Vertreter*innen der LGBTIQ* Community hatte es geschafft, seine Emanzipation so weit zu institutionalisieren, dass es aus dem Hinterhof auf dem Mehringdamm[2] in großzügige, helle Räume auf mehreren Etagen in die Lützowstraße ziehen konnte. Mit mehr als zehnjähriger Verspätung kam nun durch die dankenswerte Hartnäckigkeit von Bosold die Eröffnung der Ausstellung zustande.

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Die Institutionalisierung als ins Vereinsregister eingetragener Verein, durch öffentliche Projektmittel des Hauptstadt Kulturfonds und der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs finanzierte Ausstellung und Form der Anerkennung wie Bestätigung der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung seit den 1970er Jahren, als die ARD am 15. Januar 1973 Rosa von Praunheims und Martin Danneckers Agitprop-Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt bis auf Bayern bundesweit im Fernsehen ausstrahlte, hatte vermeintlich das Versprechen der Emanzipation zur Gleichheit durch ihr eigenes Museum eingelöst. Doch die Umbrüche und Unordnung revolutionär-libertärer Befreiungsbewegungen produzieren zugleich Praktiken der Überschreitung, die im weiteren Prozess einer postrevolutionären Ordnungsfindung[3], inkriminiert werden können. Dann gilt es, die von der Bewegung zusammengetragenen und geschenkten Archive und Bestände aufzuarbeiten.

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Die schwule Emanzipationsbewegung ist in Narrative und visuelle Muster verstrickt, die seit dem 19. Jahrhundert wenigstens als prekär angesehen werden müssen. Eines der Narrative umschreibt die Bilder der Männlichkeit und ihre hierarchische Anordnung, wie sie von Johann Joachim Winckelmann 1756 mit Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst angeschrieben wird.[4] Das Alter der „jungen Spartaner“ in Winckelmanns einleitenden Gedanken zur Kunst bleibt elastisch. Doch der Archäologe und Kunsttheoretiker formuliert ein klares, hierarchisches Verhältnis, das zum Körperbild junger Männer geworden ist.[5] Ob es sich dabei bereits um sexualisierte Gewalt handelt, muss einmal dahingestellt bleiben, sollte allerdings in seiner Tragweite angesichts der Aufarbeiten-Ausstellung im Schwulen Museum bedacht werden:
„Die jungen Spartaner mussten sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfiengen fett zu werden, eine strenge Diät auflegten.“[6]

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Eine wiederkehrende Formulierung in den Interviews und Berichten der Forscher*innen und der Opfer in der Ausstellung des Schwulen Museums in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung ist jene, „dafür“ keine Sprache gehabt zu haben. Die sexualisierte Gewalt als Missbrauch in hierarchischen Verhältnissen von älteren Männern und Frauen zu viel jüngeren, minderjährigen oder adoleszenten macht nicht nur sprachlos, vielmehr hatte sie keine Sprache bzw. wurde in einer Vielzahl von Narrativen, Rollenmodellen und Bildtopoi kanalisiert, umgelenkt und sanktioniert sowie instrumentalisiert. Dies ist nicht auf schwule oder lesbische Sexualitäten begrenzt, sondern kann auf ähnliche Weise in heterosexuellen Beziehungen stattfinden. Anders gesagt: die Leerstelle Sexualität verlangt nach einer verbalen und visuellen Systematisierung, wenn Konrad Hoffmann davon spricht, dass mit (Bild)Topos „ein formallogisches Systemtraining in dialektischem Schlußfolgern gemeint ist“.[7]

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Das Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche brach mit medialem Aplomb 2010 anlässlich der Missbrauchsdebatte um das Berliner Canisius-Kolleg und die reformpädagogische Odenwaldschule (OSO) auf. Plötzlich wurde der Topos des „pädagogischen Eros“ hinterfragt, der den systematischen Missbrauch an Jungen und Mädchen verbrämte. Experten der Pädagogik und Reformpädagogik wie Hartmut von Hentig und der ehemalige Schulleiter der OSO, Gerold Becker, standen plötzlich als Missbrauchstäter in der Öffentlichkeit. Die sprachlosen Opfer wurden zunächst entweder medial denunziert oder aus der Reformpädagogik heraus angezweifelt. Gerade weil es sich bei der Odenwaldschule um eine bei Vermögenden beliebte Eliteschule für ihre Kinder handelte, deutsche Karrieren daraus hervorgegangen waren, sollte der „pädagogische Eros“ nicht kritisch debattiert werden. Hans-Jürgen Heinrichs stellte am 18. März 2010 in der Sendereihe Forschung und Gesellschaft im Deutschlandradio Kultur die Frage: „Der pädagogische Eros Reformpädagogik auf dem Irrweg?“[8] 

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Die Reformbewegung der Jahrhundertwende, die OSO war 1910 gegründet worden, wie die Jugendbewegung und Reformpädagogik generierten ein Narrativ, das noch im Kaiserreich die Sexualität junger Menschen einerseits befreien und zugleich im Dienste der Gesellschaft als deren Verjüngung kanalisieren sollte. Die Reform als liberale Variante der Revolution vermied den Umbruch, weil sie zugleich eine andere gesellschaftliche Form, wie sie in allen Bereichen des Zusammenlebens unter dem Schlüsselbegriff „ganzheitlich“ in der Odenwaldschule praktiziert wurde, anbot. Die Reformbewegung reicht weit in die Publikationen der Verbalisierung und Visualisierung schwuler und lesbischer Rollenmodelle in den 20er Jahren hinein, wie die Ausstellung in den Räumen des Schwulen Museums im Bereich „Leitmedien“ mit der Zeitschrift Der Eigene von Adolf Brandt, Die Insel – Das Magazin der Ehelosen und Einsamen von Friedrich Radszuweit oder Die Freundin – Das ideale Freundschaftsblatt ebenfalls von Radszuweit reich bebildert zeigt. Das Genießen der jugendlichen Körper wird zu einer weit verbreiteten (Sub)Kultur.

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Die Rolle der Sprachlosigkeit vor allem der Opfer kann bei der Aufarbeitung kaum überschätzt werden. Der Aktivist Matthias Katsch, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, erhielt denn auch einen Platz in der Abfolge der Eröffnungsreden. Wo soll man ansetzen? Wo beginnt die falsche Sprache oder wie Bodo Kirchhoff schrieb „Scheinsprache“? Wie geht die richtige Sprache? Was hilft das Erzählen? Wie wichtig ist das Gehörtwerden? Was macht Öffentlichkeit? Im Umfeld der verzögerten und verspäteten Debatte um die Odenwaldschule machte Bodo Kirchhoff im Spiegel publik, dass er als 12-jähriger Schüler vom Kantor seiner Evangelischen Internatsschule am Bodensee sexuell missbraucht worden war.
„Die falschen Pädagogen sind, wie sie sind, sexuelle Freaks im Kleinen, und genau das reichen sie weiter. Keinem der Betroffenen sieht man an, wie viel in ihm kaputt ist, welchen Umfang das Sprachloch hat; jeder hat seine Scheinsprache entwickelt, um mit sich und der Welt klarzukommen. Macht kaputt, was euch kaputtmacht, hieß es, als ich Student in meinem Gehäuse war; aber es reicht, davon Wort für Wort, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu erzählen.“[9]

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Das Erzählen als Strategie der Aufarbeitung nimmt einen breiten Raum in der Ausstellung auf Bildschirmen mit Kopfhörern ein. Händeringend, stockend, nach Worten suchend wird in den Videos erzählt, während in Heften und Flugblättern ebenso wie Zeitungsartikeln um 1968 in der sogenannten Sudentenrevolution oder Studentenbewegung Forderungen der Emanzipation nach Legalisierung von Sex mit Kindern und Jugendlichen formuliert werden. Aus den unterschiedlichen Exponaten bricht ein Widerspruch und eine explosive Spannung hervor. Wie lassen sich diese unvereinbaren Erzählungen aushalten? Das Schwule Museum und das Archiv der deutschen Jugendbewegung stellen sich nun ihrer, durchaus schmerzhaften Aufarbeitung, wie es zu „Zwiespältige Erbschaften“ heißt:
„Lange Zeit haben unsere Einrichtungen Nachweise für sexuellen Kindes-Missbrauch aufbewahrt, ausgestellt und veröffentlicht. Nachweise sind zum Beispiel Bilder und Texte.
Das Problem: Unsere Einrichtungen sind nicht kritisch mit den Nachweisen umgegangen. Sie haben die Nachweise sogar bewundert.“[10]

„Und das motiviert mich, daran jetzt intensiv zu arbeiten.“

Wo sollen die postrevolutionären Grenzen nach ’68 gezogen werden? Der Liberalisierung homosexueller Praktiken ging 1918 die Novemberrevolution voraus. Am 12. November 1918 hatte der „Rat der Volksbeauftragten“ verkündet: „Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.“ In der revolutionären Scheidezeit von 1918/19 gelingt es Richard Oswald unter Beratung durch Magnus Hirschfeld den Film, heute würde man es Doku-Drama nennen, Anders als die Anderen zu drehen und in die Berliner Kinos zu bringen. Schnell wird der Film zur Abschaffung des § 175 StGB zensiert und verschwindet wieder, um teilweise verschnitten in Zirkeln weiter als zensiertes, aber emanzipatorisches Wissen zu kursieren. Wer liest und bewundert Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig? War Tadzio nicht immer schön und viel zu jung für die Blicke Aschenbachs? Und was passierte mit Luchino Viscontis „Most beautiful Boy in the World” (2021), Björn Andrésen? Er war 15 Jahre, als Visconti ihn 1971(!) in Morte a Venezia zu Tadzio machte. Die Ausstellungswand erwähnt Manns Der Tod in Venedig, der längst in den queer studies reüssiert hat.

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Als prekärer Bildtopos wird ebenso das Plastikmotiv des Dornausziehers erwähnt, der in der Literatur von Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater bis zu vielfachen Plastiken von Knaben reproduziert wird. Heinrich von Kleist macht den Dornauszieher aus den Antikensammlungen in deutschen Städten zu einer entscheidenden Frage des Wissens von sich selbst und der Kunst. Mit anderen Worten: Der Dornauszieher hat zuerst keine Sprache, für das, was er tut! Beim Versuch der Wiederholung, nachdem er gesprochen hat, misslingt ihm die „Grazie“ auf lächerliche Weise, wie es heißt:
„Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte.“[11]    

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Keine Antikenreplik, sondern eine eher ungeschickte, vermutlich massenhaft gefertigte Nachbildung wie jene millionenfache des David von Michelangelo wird hinter einer roten Plastikfolie ausgestellt und verborgen. Dornauszieher und David bildeten für Generationen Schwuler ein Paar der Bezugnahme und einer Art emanzipatorischen Stolzes. Die Antikenreplik folgt dem Modus der Wiederholung zur Bestätigung einer Wahrheit, so simpel sie auch sein mag. Durch die Frage nach der ihr immanenten sexualisierten Gewalt wurde nicht zuletzt die Vereinssatzung des Schwulen Museums fragwürdig, wie es auf der Präsentationswand heißt:
„In der Gründungs-Satzung unseres Träger-Vereins stand zum Beispiel bis zum Jahr 2011: Das Schwule Museum soll die Geschichte der „Knaben-Liebhaber“ bewahren.
In der Satzung des AdJb stand bis zum Jahr 2002: Das Archiv muss sich um den Nachlass von Gustav Wyneken kümmern.
Gustav Wyneken wurde im Jahr 1921 wegen sexuellem Kindes-Missbrauch verurteilt.“[12]

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Welche künstlerischen Interventionen werden in der Ausstellung praktiziert, um die missbräuchlichen verbalen und visuellen Narrative wie Bildtopoi nicht zu reproduzieren? Und was passiert nach dem Aufarbeiten mit den Archivbeständen? Einerseits besteht die Aufarbeitung aus dem Benennen und Erinnern von Straftatbeständen, die ihre Gültigkeit in Zeiten massenhafter, tatsächlicher und medialer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht verloren haben. Vielmehr ist ein Kampf gegen Kindesmissbrauch in Zeiten des Internets und seiner massenhaften Verbreitung dringlicher geworden denn je. Das Darknet ist dafür nur ein Beispiel. Cybergrooming ist ein anderer Begriff für eine bild- und textbasierte Missbrauchspraxis an Minderjährigen im Internet. Eine visuelle Praktik der Intervention sind die roten Folienstücke, die über Fotos und Archivgegenstände gelegt sind. Auch die roten Schnüre, an denen Präsentationsflächen aufgehängt sind, signalisieren prekäre Sammlungsstücke.

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Aus der Retrospektive der visuellen Archivmaterialien und Texte, die gezeigt werden müssen, ohne zugleich die sexuelle Gewalt zu reproduzieren, ergeben sich Konflikte der vom Format Ausstellung geforderten Anschaulichkeit, die zu einer Schuldfrage zugespitzt werden. Auf diese Weise werden Forderungen nach Legalisierung von sexuellen Handlungen mit Kindern, wie sie seit 1968 bis zu Beginn der 80er Jahre gefordert wurden, als Schuld, wie in der Ausstellung mit „Beschämende Solidarität“ formuliert, anerkannt werden müssen.
„Dass „nicht gewalttätige“ sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen für Kinder unschädlich seinen, war noch 1968 sexualpolitischer Konsens in emanzipatorischen Milieus. Forderungen nach Abschaffung der Schutzaltersgrenzen und Entkriminalisierung „einvernehmlicher“ sexueller Beziehungen mit Kindern waren auf der Höhe der Zeit. „Pädoaktivistische“ Positionen begründeten sich nicht mehr mit dem hierarchischen Modell des „pädagogischen Eros“, sondern mit Rhetoriken von „sexuelle Befreiung“ und Antipädagogik“. Auch wegen gemeinsamer Erfahrungen von Verfolgung und Ächtung fanden sie breite Unterstützung in der Schwulenbewegung. Gegenstimmen wurden dagegen kaum wahrgenommen.“[13]

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Die Medienforscherin und -künstlerin Claudia Reiche steuert eine Bildeschreibung anstelle eines Ölgemäldes bei. Über der Rückseite des Gemäldes hängt eine Plexiglasscheibe mit einem Text. Ein Bild und eine Erzählung lassen sich genießen. Wie lässt sich diesem verdrehten Genießen entgegenarbeiten? Wie kann die verführerische Schicht von Farben, Spiegelungen und sich abzeichnenden Formen durchkreuzt werden? Kann ein Zur-Sprache-bringen der Konstruktion des Bildes das Genießen abwenden? Es dreht sich immer alles um die Schnittstelle von Sprache und Bild.
„„Fischerknaben“ seien es, beim Bad im Meer, wie der Titel des Gemäldes eines deutschen Malers des 19. Jahrhunderts mitteilt, und Capris ‚blaue Grotte‘ sei der Ort. Seine Zeit setzt das Gemälde in einer Antike, deren Ewigkeit als wiederholbar konstruiert ist. Wiederholbar wie gebräunte, muskulöse Körper der am felsigen Meeresufer spielenden Jugendlichen und die der jungen Männer.“[14]

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Das Szenario bezieht sich auf einen frühen, wieder erkennbaren, gar touristischen Ausflugsort, der Blauen Grotte auf der frühen Urlaubsinsel Capri, der sich schnell als eine Schnittstelle von Kunst, Begehren und Tourismus im 19. Jahrhundert etablierte. Der aufsehenerregende Naturort, den im August 2019 die Medienpersönlichkeiten Heidi Klum und Tom Kaulitz als Szenario für die Darstellung ihrer intimen Beziehung nutzten, einer widerrechtlichen Eindringung in die Grotte, indem sie ein örtliches Schwimmverbot brachen, wird seit dem 19. Jahrhundert als Körperinnenraum imaginiert. Mit den Worten Reiches:
„Eine Wasserspiegelung in einem Bassin am Übergang der Felsengrotte zur dahinter leuchtenden Meeresweite gibt die Hauptgruppe dieser Fischer in perspektivischen Verzerrungen und Ausschnitten als Arrangement aus Beinen, Gesäßen und Oberkörpern zu sehen. Dieser Wasserspiegel, vom Umriss einer Auster, zeigt uns im Vordergrund ein heimliches Bild verschlungener Körperteile, umkränzt von Schaum.“

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Die Blaue Grotte von Capri mit ihren Spiegelungen und der Öffnung oder einem Loch im Fels zum Meer bzw. vom Boot den Einblick in einen verlockend blau leuchtenden Innenraum wird, wie nicht zuletzt von Klum und Kaulitz vorgeführt, als Penetrationsphantasie inszeniert. Das widerrechtliche Eindringen in die Grotte ruft gleichsam, zum Rechts- oder bei Klum und Kaulitz zum Diskursbruch auf. Das aufwendige, vermeintlich naturalistische und natürliche Szenario der vielen Knaben in der Grotte bietet eine Spiegelung an, die einer Imagination entspringt. Es geht um ein komplexes Szenario von Spiegelungen.
„Die so gespiegelte Fünfergruppe besteht aus zwei einander zugewandten Männerpaaren und einem jüngeren bäuchlings Liegenden, dessen Blick zum Unterleib des einzigen gänzlich Nackten dieser Gruppe geht. Die aus der Gruppe aufragende Figur mit roter phrygischer Mütze setzt die Pose des ihm zu Füßen liegenden Jungen halbkreisförmig nach oben fort.“

„Es gab im Vorfeld die Gründung des Arbeitskreises Tabubruch,“

In gewisser Weise haben erst Klum und Kaulitz das Geheimnis der Blauen Grotte in ihrem ständigen Wechsel von Zeigen und Verbergen zur vollen Geltung gebracht und einer vernetzten Weltöffentlichkeit präsentiert. Auf den ebenso heimlichen wie offensichtlich bestellten Fotos der beiden Modells ist alles und nichts zu sehen. Im Gegenlicht des blauen Scheins zeichnen sich die schwimmenden Körper dunkel ab und können ebenso bekleidet wie nackt sein. Das schien eben der hier namenlose Maler im 19. Jahrhundert bereits verstanden zu haben. Aus den Farbschichten und Formen wird das ganze Ensemble aus Erektion, Eindringen und Ejakulation (Schaum) an jungen, minderjährigen Männern gezeigt und verborgen.
„Diese Zentralfigur wendet den Blick der rechts zu ihr stehenden und zu ihr aufblickenden Figur zu, während ihr lang ausgestreckter Arm mit einer starken Gebärde unbestimmten Hindeutens nach links auf fünf spielende Jungen im Wasser weist. Die tiefe Nachmittagssonne wirft den langen Schatten des Armes zurück auf die Brust des so Deutenden und weist zum angeblickten Gegenüber, genauer zu dessen in lockere weiße Wäsche bekleideten Unterleib, wo eine Erektion im Faltenwurf des Stoffs angedeutet ist.“

„dass Betroffene von sexualisierter Gewalt,“

Bilder entstehen nicht zuletzt zum Gebrauch. Der Aspekt des Gebrauchs wird in der Ausstellung weniger deutlich thematisiert, obwohl er mit dem Begriff Missbrauch ständig angeschrieben wird. Das ist ein Manko. Bilder existieren nicht ohne Gebrauch, um es einmal zugespitzt zu formulieren. Sie werden zur Spiegelung, zum Genuss, zur Selbstdarstellung, zur Bewunderung, zur Befriedigung, zur Emanzipation, zur Einübung, zur Disziplinierung, zur Strafe, zur Erniedrigung, zum Gelderwerb etc. gebraucht. Manchmal einzeln, auch widersprüchlich und manchmal alles zugleich. Für das Subjekt seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert dreht sich indessen alles um la jouissance, den Genuss. Niemand anderes als Friedrich II. hat in Anknüpfung an Voltaire dazu um 1840 der jouissance die Weltherrschaft erteilt. Mit dem Gedicht La Jouissance formulierte er sein Befreiungsprogramm(!).[15] Insofern entweichen dem Vesuv im Ölgemälde nicht nur „Dampf und Gase in einer schlanken Wolke“.
„Rechts vom dieser zentralen Gruppe, in einer etwas erhöhten und kleineren Öffnung der Grotte zum Meer hin, haben sich ein junger Mann und ein nackter Junge abgesondert. In der fernen Tiefe des Bildes, hinter ihnen, entweichen Dampf und Gase in einer schlanken Wolke dem Vesuv. Der ebenfalls rot bemützte und mit Hemd und kurzer Hose bekleidete Mann blickt zu den Badenden nach links, dabei mit dem Körper lässig uns zugewandt und beiden Händen in den Taschen. Der graziös vor ihm sitzende Junge blickt uns ruhig und ernst an.“

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Wie sieht sexuelle Gewalt aus? Gezeigt werden auch Filmsequenzen aus Veit Harlans  Anders als du und ich (§ 175) von 1957, dessen Originalfassung in Anknüpfung an Magnus Hirschfeld den Titel Das dritte Geschlecht tragen sollte. Zumindest als der Berichterstatter durch die Ausstellung wanderte, sah er den ihm bekannten Ausschnitt beim Antiquitätenhändler Dr. Boris Winkler (Friedrich Joloff). Die Filmsequenz wird in der Ausstellung nicht näher kommentiert. Hat sie Identifikationspotential oder stößt sie den schwulen Blick ab? Der Film wird wenig eingeordnet. Die Verführungsszene im Hause Winklers mit elektronischer Musik, antiken Statuen(!) und nackten Jünglingen ist ebenso aufwendig wie prekär inszeniert. Einerseits versucht der Naziregisseur Veit Harlan unter Beteiligung seines Sohnes Thomas mit sexualwissenschaftlicher Geste für eine Akzeptanz, gar Emanzipation und Abschaffung des § 175 StGB zu argumentieren. Andererseits geht es mit der Hauptfigur der Mutter in der Starbesetzung von Paula Wessely um die seinerzeit existierenden, sexualstrafrechtlichen Kuppelparagraphen 180 und 182 StGB. Die betreffende Szene schwankt zwischen Avantgardekunst (elektronische Musik), sexueller Freiheitspraxis und der diabolisch ins Licht gesetzten Verführer-Figur Dr. Boris Winkler, der mit dem Titel nicht zuletzt als Akademiker markiert wird. 

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Der Film verhandelt mit den Strafprozess-Sequenzen vor allem eine Schuldfrage. Ist die Mutter der Kuppelei schuldig oder nicht? Wollte sie den Sohn nur vor einem Verführer retten? Für die Verhandlung der Schuldfrage wird gleichsam als entlastendes Material die Verführung zu gleichgeschlechtlichen Handlungen im Sinne des § 175 StGB ins Spiel gebracht. Verhandelt wird insofern vor allem die mütterliche Aufsichtspflicht mit der Botschaft: Mütter passt auf eure Söhne auf! Die Schuld der Mutter an einer fehlgeleiteten sexuellen Orientierung setzte sich als Narrativ der 60er und 70er Jahre tief im Diskurs mütterlicher Verantwortung für die Sexualität des Sohnes fest. Insofern musste die Verführungssequenz im Hause Winklers diabolisch inszeniert werden. Dabei überschneiden sich das Verantwortungs- und das Verführungsnarrativ. Die in Szene gesetzte sexualisierte Gewalt wird zumindest hier zu einer offensichtlich warnenden Konstruktion: Warnung vor dem Intellektuellen und Verführer. Die Verführungsszene ist nicht emanzipatorisch, sondern denunzierend angelegt. Der Identifikation mit dem vermeintlich charismatischen und wortmächtigen Verführer Dr. Winkler wird insofern dramaturgisch entgegen gearbeitet. Faszinieren konnte sie vermutlich trotzdem.

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Die Ausstellung Aufarbeiten im Schwulen Museum, die bis zum 26. Februar 2024 zu sehen ist, appelliert an die Empathie der Community. Denn sie „stellt zur Diskussion wie es möglich war, dass Bewegungen, deren Kernanliegen die Selbstbestimmung von Menschen ist, so anfällig waren für die Rhetoriken der Täter*innen, so unsolidarisch mit den Betroffenen und beklemmend desinteressiert an deren Schicksal“.[16] Die tradierten Narrative und Visualisierungen nicht zuletzt einer griechisch-römischen Antike des 19. Jahrhunderts als Inbegriff humanistischer Bildung – Wilhelm von Humboldt – haben Machtverhältnisse im Dienste sexualisierter Gewalt sanktioniert und institutionalisiert, möchte ich einmal formulieren. Doch die revolutionären Dynamiken erschöpfen sich damit nicht, vielmehr werden sie – wie mit der Blauen Grotte – weiter popularisiert, medialisiert und kapitalisiert.

Torsten Flüh

Aufarbeiten:
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
im Zeichen der Emanzipation

Schwules Museum
Montag, Mittwoch, Freitag: 12–18 Uhr
Donnerstag: 12–20 Uhr
Samstag: 14–19 Uhr
Sonntag:14–18 Uhr
Dienstag: Ruhetag
Lützowstraße 73
10785 Berlin


[1] Die Besprechung vom 3. Juni 2013 entfaltet sich um die Frage der Institutionalisierung und Emanzipationsbewegung: Torsten Flüh: Bilder erzählen. Zur Neu-Eröffnung des Schwulen Museums in der Lützowstraße. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Juni 2013. (als PDF unter Publikationen)

[2] Beispielhaft: Torsten Flüh: Sonntag mit Jean. GENET – Hommage zum 100. Geburtstag im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Dezember 2010. (als PDF unter Publikationen)

[3] Hier mit knüpfe ich mehr oder weniger an Christopher Clarks Revolutionsbeschreibung an. Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[4] Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden und Leipzig 1756.

[5] Ausführlicher siehe: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte. In: Initiative Queer Nations (Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf) (Hrsg.): Jahrbuch Sexualitäten 2019. Göttingen: Wallstein, 2019. S. 43-70.

[6] Joann Joachim Winckelmann: Gedanken … [wie Anm. 4] S. 5.

[7] Konrad Hoffmann: „Was heißt ›Bildtopos‹?“. Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, edited by Thomas Schirren and Gert Ueding, Berlin, Boston: Max Niemeyer Verlag, 2000, p. 237.

[8] Hans-Jürgen Heinrichs: Der pädagogische Eros. Reformpädagogik auf dem Irrweg? In: Forschung und Gesellschaft. 18. März 2010 Deutschlandradio Kultur (PDF).

[9] Bodo Kirchhoff zitiert nach ebenda.

[10] Zitiert nach Ausstellungstext.

[11] Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Zuerst in: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter (als Fortsetzung) 12.-15. Dezember 1810.

[12] Zitiert nach Ausstellungstext.

[13] Ebenda.

[14] Zitiert nach Ausstellunginstallation.

[15] Siehe Torsten Flüh: Geburtstagsparty mit l’esprit. 300. Geburtstag Friedrichs des Großen als Originalklang-Konzert mit Armin Müller-Stahl und Burghart Klaußner. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Januar 2012. (PDF unter Publikationen)

[16] Zitiert nach Ankündigungstext.

Der europäische Bogen der Revolution

Revolution – 1848 – Geschichte

Der europäische Bogen der Revolution

Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

Am 25. September 2023 stellte Christopher Clark eloquent im Gespräch mit Jenny Friedrich-Freska im Humboldt Forum sein neues, bereits auf Platz 9 der Spiegel Bestseller gelistetes Buch Frühling der Revolution als eine nichtlineare Erzählung von den Revolutionen in Europa der Jahre 1848/49 vor. Denn der Ort auf dem  52.517883 Breiten- und 13.393655 Längengrad war mit dem Berliner Schloss, das mit der Fassade des Humboldt Forum bis auf die Große Kartusche als spät hinzugefügten Detail sowie der zwischen 1845 und 1853 aufgesetzten neobarocken Kuppel, ebenfalls am 18. März 1848 ein umkämpfter Schauplatz der Revolution. „Schließlich trat der Monarch (Friedrich Wilhelm IV.) auf einen Balkon über dem Platz, wo er mit frenetischem Jubel empfangen wurde.“[1]

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Im Saal 1 des Humboldt Forums erzählte Christopher Clark ebenso launig wie überrascht vom weiteren Verlauf der Revolution unter dem Schloss-Balkon, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ein blutiges Ende nahm. „Der recht skurrile Versuch des Palasts, diese Falschinformation mithilfe zweier Zivilisten zu korrigieren, die ein breites Leintuch mit der Aufschrift »Ein Missverständnis! Der König will das Beste!« durch die Straßen trugen, hatte, wie zu erwarten, wenig Erfolg.“[2] – Wir wissen nicht, ob es sich bei dem Balkon um eben jenen von Portal IV handelte, der von Roland Korn und Hans Erich Bogatzky als Portal für das Staatsratsgebäude der DDR am Schloßplatz verbaut wurde. Auf jenem Balkon soll Karl Liebknecht am 9. November 1918 die „sozialistische Republik“ ausgerufen haben.

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Die Nichtlinearität der Geschichte gehört zu Christopher Clarks neuartigen Ansatz seiner materialreichen, über tausend Seiten umfassenden Erzählung von der 1848er Revolution. Denn er wehrt sich vor allem gegen die landläufige These, „dass dem Narrativ dieser Aufstände ein erlösender Abschluss fehlte“[3], wie er es in der Schule gehört hatte. Das Paradox des Fehlens „ein(es) erlösende(n) Abschluss(es)“ wird mit dem Balkon von Portal IV als einem vermeintlichen Abschluss der Geschichte augenfällig. Statt Sozialismus beheimatet das Gebäude nun die Privatuniversität European School of Management and Technology (ESMT) und empfiehlt sich als Eventlocation. Dazu passen dann die dem Gott des Weines, Bacchus, gleichenden Atlashermen von Balthasar Permoser, die den Balkon des 2. Stocks tragen.

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Die Fassade des Humboldt Forums erinnert nicht nur an das vielfach erweiterte und umgebaute Schloss in seiner Funktion als Sitz der Herrscherfamilie und Machtzentrum, vielmehr wird in den Durchgängen ebenso an die Revolutionen von 1848, 1918/19 und die Revolution der Bürger*innen der DDR von 1989 vor dem Palast der Republik(!) erinnert, als die Demonstrierenden damit rechnen mussten, dass auf sie geschossen werden könnte. Wie entstehen Revolutionen? Wie kam es zu der europaweiten Revolution von 1848? „Das wohl auffälligste Merkmal“, schreibt Clark in seiner Einleitung, „von 1848 war ihre Gleichzeitigkeit – sie war schon den Zeitgenossen ein Rätsel, und sie ist ein solches für die Historiker geblieben.“[4] – Ob der König zur Menge vom Balkon im 1. oder 2. Stock ohne technische Hilfsmittel sprechen wollte oder sprach, wird nicht mitgeteilt. – Eine große Menge wird kein Wort vom Balkon verstanden haben.

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Christopher Clark versucht das Rätsel der Revolution nicht zu lösen. Aber er bietet in 9 ausführlichen Kapiteln von den „Soziale(n) Fragen“ über „Ordnungskonzepte“, „Konfrontation“ und „Explosion“ ebenso wie „Regimewechsel“ und „Emanzipation“, „Entropie“, „Gegenrevolution“ und „Nach 1848“ eine Vielzahl von Diskussionsbeiträgen an. Die in Deutschland „Soziale Frage“[5] genannten Probleme seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wird bei Clark zu einer Vielzahl „Soziale(r) Fragen“, die auf über einhundert Seiten beschrieben werden. Denn: „Die »soziale Frage«, die Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte, war ein ganzer Komplex realer Probleme, aber sie war zugleich auch eine Art der Wahrnehmung.“[6] Wobei es dabei vor allem um eine neuartige „Politik der Beschreibung“ bis zum Roman Les Mystères de Paris geht.[7] Beschreibungen sind nicht zuletzt ebenso relevant für die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ von 2010/11, an die Clark mit seinem Titel Frühling der Revolution anknüpft und auf deren Rätselhaftigkeit anspielt.
„Die Gleichzeitigkeit  war auch einer der rätselhaftesten Momente der Ereignisse von 2010/11 in den arabischen Ländern, die tiefe lokale Wurzeln hatten, aber eindeutig auch miteinander verknüpft waren.“[8]

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Der große Bogen der Beschreibungen berührt und erwähnt denn auch mehr en passant Bettina von Arnim und ihr anonym veröffentlichtes Buch[9] Dies Buch gehört dem König. von 1843.[10] Der kryptische Titel dieses Buches bedarf einer Transkription, die dahin lauten könnte, dass der König, Friedrich Wilhelm IV., verdammt noch mal dieses Buch lesen solle. Aus dieser Perspektive einer dringlich warnenden Stimme aus dem Umkreis des Berliner Hofs gerät der Auftritt des Königs auf dem Balkon 5 Jahre später in ein anderes Licht. Denn Bettina von Arnim war nicht nur über ihre Schwester Kunigunde von Savigny, geb. Brentano, durch Friedrich Karl von Savigny als Mitglied des Staatsrats über politische Entscheidungen informiert, sie veröffentlichte durch Gespräche mit Dämonen 1852 als ausdrücklichem „zweiten Band“ des „Königsbuchs“ eine Kritik der Revolution von 1848 und ihrer Ergebnisse.[11]
„Ich dachte, wäre das mein Ziel, B e s c h ü t z e r  d e r  U n t e r d r ü c k t e n, das wollt ich so gerne sein; — und wo ich ging und stand sann ich auf diesen Juwel ihn an der Stirne zu tragen. — Und Deine Weisheit ist das reife Blut der Traube, ich muß es trinken, es rieselt durch die Sinne und beherrscht den Geist. — — —“[12]

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Bettina von Arnim veröffentlicht ihre Kritik der Revolution in einer aufwendig verschachtelten Konstruktion, die einen Wink auf das politische Klima, ja, Angst nach 1848 in Berlin gibt. Der zweite Band des „Köngisbuchs“ kommt als märchenhafter Briefroman und Lehre des Islam daher. Hatte sich die Anonymität schon beim ersten Band nicht lange wahren lassen, so wird nun die Kritik an den sozialen Verhältnissen in Berlin mit mehreren literarischen Drehungen so formuliert, dass sich eine Aussage kaum fassen lässt. Die literarischen Operationen lassen eine Kritik nur aufscheinen, wenn das unwahrscheinlich Märchenhafte und Orientalische abgestreift wird.

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Mit der Geste der Aufklärung durch Verfremdung gleich den Lettre Persanes (1721) von Montesquieu schreibt Bettina von Arnim nicht vom preußischen König, sondern zugleich mit Wink auf Goethe als Widmung „Dem Geist des Islam vertreten durch den großmüthigen Abdul-Medschid-Khan Kaiser der Osmanen.“[13] Eine Kritik der Revolution lässt sich für sie nicht deutlicher artikulieren.
„Die Schriftstellerin Bettina von Arnim, die sich auch mit der sozialen Frage beschäftigte, hatte an den Ereignissen in Berlin von 1848 zwar nicht teilgenommen, aber während dieses Jahres, zum Entsetzen ihrer Verwandten, nicht nur einen sondern zwei Salons unterhalten. Den einen besuchten überwiegend konservative und liberale Oberschichtfiguren aus dem Adelsmilieu, in dem ihre Familie verkehrte. (…) Bettina von Arnims Briefe aus den Monaten des Aufruhrs offenbaren ihr unermüdliches Bemühen, zwischen den Lagern zu vermitteln.“[14]

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Für Christopher Clarks Frühling der Revolution nimmt Bettina von Arnim als Berliner Autorin und Salonière gleichsam eine Scharnierfunktion ein. Der extreme politische Druck, der durch den zweiten Teil des „Königbuchs“ spürbar wird, wird von Clark zugunsten des großen Bogens kaum berücksichtigt. Die Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande vor dem Hamburger Tor von Heinrich Grunholzer als systematische und formalisierte Beschreibung der aus Armut in die „Familienhäuser“ gezogenen Menschen, wären indessen „ohne ihre Initiative (…) nicht zustande gekommen“.[15] Dabei endet Bettina von Arnims politik-philosophischer erster Band radikal, wenn der „Kathrinenthurm“ als Symbol einer alten Macht der Kirche in Frankfurt am Main weggeschossen wird, aber Berlin gemeint ist.

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Von Clark wird die Armutsbeschreibung aus dem sogenannten Vogtland vor dem Hamburger Tor als systematische Sammlung von formalisierten Erzählungen – „Als ich eintrat, nahm die Frau schnell die Erdäpfelhäute vom Tische, und eine sechszehnjährige Tochter zog sich verlegen in einen Winkel des Zimmers zurück, da mir der Vater zu erzählen anfing.“[16] – in dem zentralisierten, privaten Armenquartier außerhalb der Stadtmauer, den sogenannten „Familienhäusern“, favorisiert. „Bettina von Arnim will kein faktizitätsgetreues Bild der Wirklichkeit konstruieren, sie will offenkundig machen, dass es nottut, nach einer Realität zu suchen, die es noch nicht  gibt.“[17] Doch die zunächst anonyme Verfasserin hatte vor den Erfahrungen bereits die Stadt beschießen lassen und die revolutionäre Freiheit gefeiert:
„Fr. Rath.      Ach gute Stadt Frankfurt geschieht endlich wieder einmal ein klein Elementespiel in deine Mauern zu deim Sommerplaisir! — Da seh nur unserm Kathrinenthurm sein Zopf brennt! — guck nur wie er seine Stirne kraus zieht. Ja guter Kerl dein Nachtmütz brennt ab. (…) Haha! das ist ein gut Zeichen für uns die wir das Feuer der Freiheit zu conserviren uns der Unsterblichkeit geweiht haben! —“[18]

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Der Frankfurter Zungenschlag klingt in der Schreibweise der Beschreibung Bettina von Arnims als gebürtiger Frankfurterin fast spaßig durch. Im Hochdeutsch des Dichtergatten, Achim von Arnim, und Dichterbruders, Clemens von Brentano, hätte sich der launige Beschuss der Stadt als Folge des „Feuer(s) der Freiheit“ kaum schreiben lassen. Die Zeitungsmitarbeiterin Bettina von Arnim beherrscht die literarische Verstellung wegen der Zensur, die schon für Zeitgenoss*innen schwer auf eine Position festzulegen war. Radikal ist die Geste allein und winkt hinüber zum Frühling von 1848. Dennoch ist es wohl nicht zuletzt ihre gesellschaftliche Position als Witwe, die lange im Hause Friedrich Schleiermachers mit ihren Kindern leben musste, bevor sie 1847 in ein gutshausähnliches Gebäude In den Zelten vor die letzte Stadtmauer zog, zwischen Bürgertum, Adel, Administration und sozialen Aktivist*innen, die sie zu einer Scharnierfigur macht.

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Christopher Clarks europäische Perspektive nicht zuletzt auf Frauen als Akteurinnen und Beobachterinnen der gesellschaftlichen Umbrüche, die sich 1848 quasi entladen, wird mit der Frage nach den „Ordnungskonzepte(n)“ durch den Abschnitt „Eine Welt der Männer“[19] erhellend. Darin widmet er sich der Pariser Journalistin Claire Démar, die 1833 jene Macht in Frage stellte, die heute weithin als Patriarchat bekannt ist. Zwar hatten bereits d’Alembert und Diderot das „PATRIARCHAT“ in ihrer Encylopédie berücksichtigt, aber nur hinsichtlich seiner kirchenrechtlichen Verwendung: „PATRIARCHAT, étendue de pays soumise à la jurisdiction d’un patriarche.“[20] Also, als ein Gebiet oder Land, das der Gerichtsbarkeit eines Patriarchen unterliegt. Hinsichtlich einer Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter beschreibt erst Claire Démar „die Macht des Vaters“ als entscheidende „Form() der Ungleichheit“ für alle anderen:
„Die Macht des Vaters sei, so Démar, ihrem Ausmaß und ihrer Tiefe einzigartig, weil sie in die Prozesse verwoben sei, durch die Menschen in der Kindheit und Jugend sozialisiert und diszipliniert werden. Es sei die Macht, durch die Väter ihre Söhne deformierten, indem sie deren »geschundene Gliedmaßen« schlügen, um sie zur Unterordnung zu zwingen.“[21]   

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Der Abschnitt zu den Machtverhältnissen der Geschlechter macht besonders deutlich, dass die brennenden Fragen nach Ordnungskonzepten bis auf den heutigen Tag trotz aller Revolutionen nicht einfach gelöst worden sind. Die Geschlechterfrage inklusive „der sexuellen Beziehungen“[22] wird im Vorfeld der Revolution bereits seit 1833 in Paris von der „radikale(n) Journalistin und Schneiderin Suzanne Voilquin“ und ihrer Freundin Claire Démar zur Debatte gestellt. Die neuartigen industriellen Verhältnisse wirken sich zumindest in Paris auf andere Ordnungskonzepte zwischen den Geschlechtern aus. Nicht zuletzt war dem Berichterstatter kürzlich bei Hector Berlioz‘ Les Troyens die Konzipierung der Frauenrollen aufgefallen.[23] Voilquin und Démar gehörten zu jener Stimmung, in der der Komponist seit den 1830er Jahren in Paris lebte.
„Démars Stimme war außergewöhnlich aggressiv, aber keineswegs isoliert. Ihre enge Freundin Voilquin war eine der Herausgeberinnen einer Publikation, die unter dem Namen La Femme nouvelle, L’Apostolat des femmes und La Tribune des Femmes bekannt war und in der Autorinnen, ausnahmslos Frauen und größtenteils Arbeiterinnen, lediglich mit dem Vornamen unterschrieben, um die patriarchalen Implikationen des Familiennamens zu vermeiden.“[24]

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Das Geschlecht in Hinsicht auf eine Konstruktion von Rasse spielt durch die Emanzipation als Brückenwert ebenso eine Rolle bei der Forderung nach der Befreiung von Sklaven. Die Vision „einer Welt ohne Patriarchat“[25] betrifft nicht nur die Frauen, vielmehr regieren ebenso hierarchisch-patriarchale Verhältnisse in der Sklaverei. „Für Claire Démar und Flora Tristan waren Frauen die Sklavinnen der Männer. (…) Für Joseph de Maistre waren Revolutionäre keine Freiheitskämpfer, sondern Sklaven der Geschichte.“[26] Mit anderen Worten: Die Begriffe des Sklaven und der Sklaverei kursieren im Vorfeld der Revolution von 1848 relativ elastisch. Wer sich nicht emanzipiert, in der Umkehrung des Narratives, bleibt Sklave oder Sklavin ohne Entscheidungsfreiheit. Die Abschaffung der Sklaverei wird wiederholt gefordert und z.B. in England und Frankreich unterschiedlich erfolgreich umgesetzt.
„Die französische Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei erlangte nie die gesellschaftliche Tiefe ihres britischen Pendants. (…) Es gab in Frankreich regelmäßige Versuche, größere Unterstützung für die Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei zu gewinnen, doch die Reaktion war enttäuschend: Eine Petition in Paris und Lyon im Jahr 1844 bekam nicht einmal 9000 Unterschriften.“[27]

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Christopher Clark spitzt die Widersprüche in der Revolution 1848/49 zu. Nicht jede und jeder, die von der Sklaverei schreibt und sie verurteilt, tritt engagiert genug auf, um sie abzuschaffen. Die Grenzen der Geschlechter in der dem Deutschen eigenen Mehrdeutigkeit von Herkunft, biologischem Geschlecht oder Rasse einzureißen, schafft zugleich eine Verunsicherung bei der eigenen Verortung, mit einem anderen Wort: der Identität. Trotzdem wird 1848 nicht zuletzt durch neuartige, institutionalisierte Versammlungen zu einem Scheidepunkt für die Sklaverei.
„Im Februar 1848 brachte eine Revolution die entschlossensten Fürsprecher der Abschaffung in die Nähe der Hebel politischer Macht. Die Metapher und die Sache, die Bereitschaft zu diskutieren und die Macht zu handeln wurden auf einmal vereint, und das mit weitreichenden Konsequenzen.“[28]

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Während der Buchvorstellung im Saal 1 im Humboldt Forum kamen Susanne Kitschun für den Friedhof der Märzgefallenen und Hartmut Dorgerloh als Generalintendant des Humboldt Forums und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, so der offizielle Titel der Stiftung, zum Podiumsgespräch hinzu. Trotzdem spricht Dorgerloh lieber vom Humboldt Forum als einem Raum für Debatten, denn vom Schloss. Die europaweiten Revolutionen von 1848/49 gaben paradoxerweise vor allem den Nationalisierungsbewegungen einen Schub. Träume und Albträume des Vaterlands werden drumherum aktiviert und formuliert. Dorgerloh sieht indessen das Humboldt Forum nicht nur als europäischen, sondern mit dem Ethnologischen Museum als einen internationalen Debattenraum. Christopher Clarks Europa der Revolution von 1848 führt auch für Susanne Kitschun dazu, die Aufgaben des Trägervereins Paul Singer e.V. stärker in einer europäischen Perspektive zu sehen. Die Unabgeschlossenheit der Revolution und der Geschichte regt uns, nach Clark, zu einem anderen Blick auf 1848 an:
„In dem Maße, wie wir aufhören, Geschöpfe der Hochmoderne zu sein, werden neue Affinitäten möglich. Es ist daher besonders spannend, ja sogar lehrreich, über die Menschen und Situationen von 1848 nachzudenken: (…)“[29]

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Christopher Clark erweist sich mit Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt wiederum als ein kenntnisreicher Historiker und begnadeter Erzähler. Seine Quellen wie nicht zuletzt Claire Démar tragen weiter, als es sich selbst die Autorin hätte träumen lassen. Vielleicht muss man sogar sagen, dass die radikale Kritik des Patriarchats nach einigem Tumult mittelbar in die wiederum patriarchal formulierten Nationalismen der Vaterländer bis zum Ungarn eines Victor Orbán oder Polen eines Jarosław Kaczński mündeten. Doch die Nichtlinearität der Geschichtserzählung erlaubt es Clark nicht zuletzt, nonchalant Widersprüche aufeinanderstoßen zu lassen und einen großen Bogen bisweilen zum Nachteil der Details zu beschreiben. — Als Schlussbild lässt er ein Foto von einem „Protestmarsch der Gelbwesten (Gilets jaunes) gegen die französische Regierung im Mai 2018 in Toulouse“ abdrucken.[30]

Torsten Flüh

Christopher Clark:
Frühling der Revolution.
Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt.
München: DVA, 2023.
48,00 €
Hardcover mit Schutzumschlag, 1.168 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
mit 42 s/w-Abbildungen und 5 Karten
ISBN: 978-3-421-04829-5


[1] Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München: DVA, 2023, S. 442.
Zum Problem des Berichtens von der Revolution siehe auch: Torsten Flüh: Revolution berichten. Jörg Armbruster und Laila Soliman: Der Arabische Frühling – Wunschtraum oder Albtraum? (Mosse-Lecture) In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Januar 2013. (Als PDF unter Publikationen)

[2] Ebenda S. 444.

[3] Ebenda S. 13.

[4] Ebenda S. 16.

[5] Gerd Schneider, Christiane Toyka-Seid: Soziale Frage. In: Das junge Politik-Lexikon. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2023. (online)

[6] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Ebenda S. 28 ff.

[8] Ebenda S. 16.

[9] Ebenda S. 38.

[10] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies Buch gehört dem König. Berlin: Gedruckt bei Trowisch und Sohn, ohne Jahr. (Digitalisat)

[11] Bettina von Arnim: Gespräche mit Dämonen. Berlin: Arnim’s Verlag, 1852. (Digitalisat)

[12] Ebenda S. 15.

[13] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 1) (Digitalisat).

[14] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 604.

[15] Pia Schmid:  Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande (1843). In: Barbara Becker-Cantarino: Bettina von Arnim Handbuch. Berlin: De Gruyter, 2019, S. 411.

[16] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies … [wie Anm. 10] S. 537-538.

[17] Barbara Becker-Cantarino mit Ursula Liebertz-Grün: Die Buch gehört dem König. In: Barbara Becker-Cantarino: Bettina … [wie Anm. 15] S.

[18] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies … [wie Anm. 10] S. 532-533. (Digitalisat)

[19] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 135-155.

[20] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: PATRIARCHAT. In : Paris Tome 12, p 175, 1751.

[21] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 135.

[22] Ebenda S. 137.

[23] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[24] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 139.

[25] Ebenda S. 136.

[26] Ebenda S. 222.

[27] Ebenda S. 230.

[28] Ebenda S. 232.

[29] Ebenda S. 1024.

[30] Ebenda S. 1025.

Verliebt ins Display

Smartphone – Körper – Spiegel

Verliebt ins Display

Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater

Kurz bevor der Schlussapplaus im Chamäleon in den Hackeschen Höfen aufbrandet, bilden die Körper der Artist*innen senkrecht ein Smartphonedisplay. The Mirror heißt die neue Show der australischen New Circus Kompanie Gravity & Other Myths, mit der das Team des Chamäleon Theaters seit Jahren zusammenarbeitet. Tatsächlich haben die Zuschauer’innen nach der Show das Gefühl, dass es sich bei der Schwerkraft nur um einen Mythos handele und sie ebenso auf die Bühne springen könnten, um sich selbst durch die Luft zu wirbeln. Darcy Grant hat für seine Show als Regisseur die Augen aufgehalten: Fast alle vom Kleinkind bis zur Neunzigjährigen starren heute auf ein – ihr(!) – Smartphonedisplay.

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Jacques Rancière formuliert in seinem Buch Aisthesis die These, dass gerade die populären Künste wie Varieté oder heute New Circus seismographisch gesellschaftliche Umbrüche vorwegnähmen. The Mirror lässt sich parallel zur Artistik und den Songs mit Megan Drury als fragmentarische Mediengeschichte und Transformation des Showbusiness‘ lesen. Denn niemand anderes als Deutschlands erfolgreichste Schlagersängerin, Helene Fischer, kooperiert mittlerweile mit der Übermutter des New Circus‘, dem Cirque du soleil. Doch ihre Show ist nicht so nah an den medialen Umbrüchen und Verwerfungen der Alltagspraktiken am Smartphone dran, wie es Darcy Grant mit Gravity & Other Myths gelingt.

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Zunächst steht vor dem Vorhang auf der Bühne ein größerer Kassettenrekorder mit Radiofunktion aus den analogen Urzeiten der 70er oder 80er Jahre. Radio wurde nicht im Internet gestreamt, sondern mittels Wellen vor allem über UKW – Ultrakurzwelle – gesendet, was nicht immer störungsfrei verlief. Manchmal mischten sich störende Stimmen in die Wellen ein. Die wellenbedingten Stimmen ließen an Geister denken. In der elektronischen Musik wurden die Wellen des Radios und der Tonbandgeräte für künstlerische Transformationen genutzt.[1] Megan Drury im Bademantel wird auf der Bühne des Chamäleon von diesen Geisterstimmen irgendwie heimgesucht. Visuell wird durch das Verschieben von schwarzen Vorhängen auf der Bühne von den Artist*innen durch Formationen, die auf geradezu gespenstische Weise plötzlich entstehen und verschwinden, eine Geisterstimmung andeutungsweise erzeugt.

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Der New Circus bietet mit The Mirror Assoziationsfelder an, die ebenso plötzlich und vor allem schnell aufblitzen, wie sie verschwinden. Dramaturgisch wechselt Darcy Grant zwischen Schnelligkeit, Ausdauer und Überraschung. Das Tempo der Aktionen und ihre Abfolge bestimmen, was die Artist*innen mit ihren Körpern machen. Ihre große Kunst besteht darin, immer alles zu zeigen und gleichzeitig zu verbergen. Insofern ist die Episode mit den schwarzen Vorhängen, die auf der Bühne hin- und hergezogen werden, prototypisch. Immer wird genau austariert, was gezeigt und was verborgen wird. Für die Artistik des New Circus könnte dieses Prinzip der Vorhänge geradezu stilbildend sein. Zugleich wecken die Vorhänge im Publikum den Wunsch, hinter sie zu schauen. Am Trapez oder auf dem Hochseil soll vor allem ein mögliches Halteseil nicht zu sehen sein, damit die Exzeptionalität der Aktion entstehen kann.

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Schon für die Artistik und den Lichttanz der Wende zum 20. Jahrhundert formuliert Jacques Rancière eine Verwandlung der Materie in Geist. The Mirror thematisiert als New Circus und Paraphrase auf aktuelle Smartphone-Praktiken die Verwandlung der Körper und der Subjekte in eine hastige Eskalation der Datenströme. Von und nach immer und überall. Die neue Kunst von The Mirror schafft es anders als bei Rancière nicht mehr, „eine Gesellschaft vorweg(zu)nehmen“. Vielmehr inszeniert sie heute Soziopathen auf dem Display.
„Die neue Kunst ist jene Kunst, die eine Gesellschaft vorwegnehmen will, in der der Geist völlig Materie geworden ist, während die Materie sich gänzlich in Geist verwandelt hat. „Die Bühne in Freiheit, Fiktionen preisgegeben, dem Spiel eines Schleiers nebst Attitüden und Gesten entströmt“, dieses „hochreine Ereignis“ ist viel mehr als eine Zusammenkunft von Ästheten. Sie ist die Bühne einer neuen Welt, in der die Kunst und die Wissenschaft übereinstimmen und das sinnliche Milieu des Daseins und die Form der Gemeinschaft ein und demselben Prinzip gehorchen.“[2]

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Die Artist*innen von Gravity & Other Myths erzeugen eine Exzeptionalität ohne Netz und doppelten Boden aus dem Tempo und dem Timing ihrer Aktionen. Ihre Kunst kreist um das Spiegelbildliche des Smartphones zwischen Narziss-Mythos und Leere. Es ist kaum noch ein Telefon, aber ganz bestimmt protothetisch nach dem deutschen Begriff ein Handy. Das neue Tool für das Ich ist nur vermeintlich handlich und greifbar, während kaum jemand wissen kann, was mit seinen/ihren Daten, Pics und Videos passieren wird. Die Artist*innen müssen auf einander vertrauen, indem das Zufällige und Exzeptionelle durch pure Körperbeherrschung vorgeführt wird. Insofern scheint mit den Artist*innen in The Mirror ein Soziales auf, das mit dem Medium Smartphone gefährdet ist. Spielt das Ich mit dem Smatphonedisplay oder verspielt das Display das Ich?

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An diesem Punkt wurde die Premiere von The Mirror in einer weiterentwickelten Form und mit neuen Artist*innen am 7. September im Chamäleon zu einem aufschlussreichen Ereignis. Denn beim Spiegel wie dem Smartphone als Spiegelmedium geht es immer darum, etwas zu zeigen, um anderes nicht sichtbar werden zu lassen. Es geht immer um eine Konkurrenz, einen Krieg des Sichtbarwerdens. Aufmerksamkeitsfenster. Mit den Worten der Co-Produzenten vom Chamäleon:
„(…) The Mirror (bleibt) eine raffinierte Körperkunst-Performance, die sich spielerisch bis philosophisch mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, mit medialer Selbstinszenierung, mit Körperwahrnehmung und zerbrechlicher Selbstliebe. Wie viel wollen, wie viel sollen wir zeigen, scheinen sich die Performer:innen zu fragen, wenn sie sich dem Publikum offenbaren, mit Bewegungen, Gesten, Blicken; wenn sie von der Handkamera auch bis in den Backstage-Bereich verfolgt werden. Immer den Spiegel im Blick, das Tor zum Ich, zur Seele oder zum Abgrund.“[3]

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Zwischen Apps wie TicToc, Weibo, WhatsApp, Facebook und X etc. auf dem Smartphone spielen immer ein Sichtbarwerden, ein Sichtbarwerdenwollen und Verschwinden eine Rolle. Was als exzeptionell erscheint, wurde bereits millionenfach eingeübt. Dieses Paradox, das sich von der Artistik her entwickeln lässt, durchzieht die Praktiken des Smartphones, die in The Mirror andeutungsweise kritisch vorgeführt werden. Auf großen, senkrechten LED-Wänden werden die Sängerin und die Körperkünstler*innen projiziert. Die smartphoneartigen LED-Wände werden verschoben, zu Hintergründen und Live-Screens. Das artistische Smartphone-Rendezvous auf der Bühne erscheint synchron auf dem Display. Zur Pause sieht das Publikum die Artist*iinnen Backstage. – Ob die Synchronizität tatsächlich auf dem Display stattfindet oder auf ein nur eingespieltes Video umgeschaltet wurde, verschwindet für das Publikum hinter einem Fragezeichen, falls es überhaupt gestellt wird.

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Die en passant abgespielte LiveCam-Sequenz aus dem Umkleideraum gibt zugleich einen Wink auf den lustvollen Voyeurismus der Zuschauer*innen, die immerschon wissen wollten, was in der Pause im Umkleideraum passiert. Sichtbarwerdenwollen und Voyeurismus bedingen einander und stiften Schnittpunkte. Wobei der Voyeurismus am Smartphone mit den entsprechenden Apps, positiv formuliert, vor allem Sicherheit durch Distanz verschaffen soll. Negativ formuliert, entspringt der Voyeurismus einer panischen Angst, nicht den imaginierten Ansprüchen gerecht werden zu können. Voyeurismus verwandelt Ängste in Lust und Kontrollphantasien. Videos und Pics vom Smartphone-Speicher werden zu Kampfmitteln.    

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Der Begriff Artistik und sein Gebrauch im Deutschen wurde schnell mit dem Zirkus als „Zirkuskunst“ verknüpft.[4] Weiterhin wird er für „außerordentliche körperliche Geschicklichkeit“ und ein „großes Maß an formaler Beherrschung“ verwendet. Zugleich wird seine Herkunft ungenau aus dem Französischen angegeben. Dabei ist es wenigstens erwähnenswert, dass wohl ARTISTE von D’Alembert und Diderot in der Encyclopédie berücksichtigt wurde, aber eine Artistik nicht genauer formuliert wird. Die Fähigkeiten, die den artiste auszeichnen, werden insbesondere hinsichtlich der Mechanik und der Intelligenz formuliert. Im Unterschied zur deutschen Artistik wird der artiste nicht im Zirkuszelt, sondern der Wissenschaft und Praxis im Labor angesiedelt:
„ARTISTE, s. m. nom que l’on donne aux ouvriers qui excellent dans ceux d’entre les arts méchaniques qui supposent l’intelligence ; & même à ceux, qui, dans certaines Sciences, moitié pratiques, moitié speculatives, en entendent très-bien la partie pratique, ainsi on dit d’un Chimiste, qui sait exécuter adroitement les procédés que d’autres ont inventés, que c’est un bon artiste ; avec cette différence que le mot artiste est toûjours un éloge dans le premier cas, & que dans le second, c’est presque un reproche de ne posséder que la partie subalterne de sa profession.“[5]
(KÜNSTLER, s. m. Bezeichnung für Arbeiter, die sich in den mechanischen Künsten auszeichnen, die Intelligenz voraussetzen. Und selbst denen, die in bestimmten Wissenschaften, die halb praktisch, halb spekulativ sind, den praktischen Teil sehr gut verstehen, wird von einem Chemiker, der weiß, wie man die von anderen erfundenen Prozesse geschickt ausführt, gesagt, dass er ein guter Künstler ist; mit dem Unterschied, dass das Wort Künstler im ersten Fall immer ein Lob ist und dass es im zweiten Fall fast ein Vorwurf ist, nur den untergeordneten Teil seines Berufs zu besitzen.)

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Die Ambiguität der Gebrauchsweisen des artiste‘ im 18. Jahrhundert gibt einen Wink auf das Problem von Praxis und Mechanik im Horizont der Aufklärung bezüglich der Intelligenz. Denn der Begriff des Artisten oder Künstlers kann nach D’Alembert und Diderot zugleich abwertend gebraucht werden. Der Artist soll sein praktisches Handeln mit Intelligenz verstehen und nicht nur auf geschickte Weise nachahmen. Im Falle der Nachahmung kippt der Begriff sogleich vom Respekt in Spott. Im Deutschen schimmert diese Ambiguität weiterhin durch. Beiläufig werden damit die Künste oder artes neu formuliert. Sie sollen sich nun stärker an einer vernunftorientierten, empirischen Wissenschaft ausrichten. Insofern wird der Begriff des Künstlers und damit auch der Artistik nicht nur als mechanische Zirkuskunst anders formuliert. Die populäre Körperkunst der Artistik wird kulturell nicht zuletzt vor diesem Hintergrund geringer geschätzt.

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Die Elastizität der nur durch Lieder kommentierten Artistik ermöglicht unterschiedliche Sichtweisen von The Mirror. Unter dem Begriff des Spielgels werden unterdessen Praktiken der Mediennutzung im 21. Jahrhundert angerissen, wenn nicht verhandelt. Die Materialität der Spiegel hat sich seit dem 18. Jahrhundert grundlegend verändert. Selbst seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich viel verändert, wenn Megan Drury Sweet Dreams (1983) von den Eurythmics singt. „Some of them want to get used by you, Some of them want to abuse you”, klingt in Zeiten von Cybergrooming mit wiederholt tödlichem Ausgang anders als vor 40 Jahren. Die Anbahnung von sexuellen Kontakten mit Minderjährigen durch ein drehbuchartiges Handeln und Texten im Chat kann heute jede und jeder durchschauen. Die Aufklärung über Cybergrooming des Bundeskriminalamtes kann jede/r sofort bei Google finden.[6] Dennoch gehört es weiterhin zur geübten Praxis nicht nur am PC zuhause, sondern am unentbehrlichen Smartphone.

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Das Smartphone ist mit der Spiegelfunktion zu einer Ich-Prothese geworden. Niemand will es missen. Von der Bezahl- und Bank-Funktion bis zur Verabredung zum Sex findet alles am Display statt. Das lässt sich auf der Bühne insbesondere in den LifeCam-Sequenzen beobachten. Megan Drury wird von den Artist*innen ständig in neue Positionen versetzt. Schnell blitzt dabei die Erinnerung an Berichte auf, wie Smartphone Nutzer*innen verunglückten, weil sie ein besonders spektakuläres Live drehen wollten. Das Display in der Hand taugt zum Suizid. Die Artist*innen – Emily Gare, Lewis Rankin und Maya Tregonning, Hamish McCourty, Jack Manson, Jordan Hart, Josh Strachan und Megan Giesbrecht sowie die Tänzerin und Luftakrobatin Isabel Estrella – erzeugen mit Schnelligkeit, Kalkül und Körperkunst all diese Spiegeleffekt.

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Unversehens werden im Strudel der Körperbilder der Artist*innen die Geschlechter durcheinander gewirbelt. Vom Bodybuilding-Körper bis zum eher fülligen werden mit der Artistik die Kategorien der Körpermaße widerlegt, um die Schwerkraft zu widerlegen. Doch nicht die Schwerkraft wird widerlegt, sondern vielmehr durch andere Gesetzmäßigkeiten als Mythos apostrophiert. Im Spiegel, dem entscheidenden Einrichtungsgegenstand der Fitnessstudios, werden Körper und Geschlecht ständig überprüft und geformt. In der Artistik stört der Spiegel eher, weil es um eine permanente Bewegung geht. Im Spiegel wird nicht die Bewegung, sondern die Effekte der Bewegungen an Sixpack, Bizeps und Oberschenkelmuskulatur überprüft, bewertet, genossen oder verworfen. Stärke wird in der Dreierpyramide durch die Ausdauer beim Tragen der beiden anderen Körper und ein sichtbares Zittern vorgeführt.

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Vier Zweierpyramiden und ein darüber gespannter Körper bilden schließlich ein senkrecht aufgestelltes Orthogon, das ein Display andeuten könnte. Wir wissen nicht, ob die Körper ein Display bilden sollten. Im nächsten Augenblick war die artistische Figur schon wieder verschwunden, weil die Körper auseinander sprangen.

Torsten Flüh

Chamäleon
The Mirror
Hackesche Höfe
bis 7. Januar 2024
täglich außer montags.


[1] Zum Radio, Tonbandgerät und Wellen siehe auch: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[2] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen, 2013, S. 147.

[3] Chamäleon: Pressemappe: The Mirror. Berlin, S. 5.

[4] DWDS: Artistik.

[5] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 1751 — 1772 : ARTISTE.

[6] BKA: Cybergrooming.

Tongeschlechter und das Geschlecht der Musiker*innen

Tonsystem – Persien – Stimmung

Tongeschlechter und das Geschlecht der Musiker*innen

Zur Uraufführung von „My Persia“ von Wolfgang von Schweinitz und dem Triumph des Mābhānoo Ensembles beim Musikfest Berlin

Fast am Ende des Musikfestes Berlin spielte der Jahrestag der Proteste im Iran seit dem 16. September 2022 eine prominente Rolle. Der Kammermusiksaal war für das Konzert des Mābhānoo Ensembles nahezu ausverkauft. Vor dem Konzert waren im Foyer Paare in traditionellen persischen Gewändern und viele Exil-Iraner und -Iranerinnen zu sehen. Die Stimmung im Saal war angespannt. Als das Frauenensemble mit Ostād Majid Derakhshāni den Saal betrat und die Instrumente Oud, Kamāntsche, Daf, Tār und Qānun zu stimmen begann, rief ein Mann aus einer der obersten Reihen etwas auf Farsi in den Saal. Applaus kam aus einigen Ecken des Saals. Die Frau neben dem Mann versuchte, ihn zu beruhigen. In einer Pause musste der Mann den Saal verlassen.

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Am Tag zuvor war die Uraufführung von Wolfgang von Schweinitz‘ Plainsound Duo „My Persia“ op. 66 für Violine und Kontrabass mit Viertelton-Skondatur weitaus ruhiger verlaufen, obwohl es sich um eine noch nie gehörte Revolution in der westlichen wie der persischen Musik gehandelt hatte. Helge Slaato (Violine) und Frank Reinecke (Kontrabass) spielten das Stück in einer bitonalen Harmonik in traditionell persischen Spielweisen. Wolfgang von Schweinitz hat seine Komposition äußerst detailliert ausgearbeitet. Die Musik für die Tār wird auf Violine und Kontrabass transformiert. Den Komponisten interessierte bei dieser Transformation persischer Musik auf europäische Streichinstrumente die musiktheoretische Operation.

© Fabian Schellhorn

Wolfgang von Schweinitz‘ Persien verdankt sich seiner musiktheoretisch durchdachten Kompositionen, die dahingehen, dass der „Tonraum innerhalb einer Oktave weit feinere Abstufungen enthält, als uns die Klaviatur denken lässt“.[1] Der beigelegte „geänderte Ablauf“ gibt einen genaueren Einblick nicht nur in die Abfolge des Präludium und der 4 Sätze von My Persia, das Präludium ist auch genauer aufgeteilt: „Präludium – Kereshme – Darāmand Nr. 1 – Darāmand Nr. 2 – Naghme – Kereshme – Gushe-ye Tork – Chāhāmezrāb – Forud – Hasin – Forud – Hseyni – Kereshme – Āvāz – Kereshme“. Der Berichterstatter hat kaum eine Vorstellung, was „Kereshme“, das im Präludium vier Mal wiederholt wird, heißen könnte. Er könnte nicht einmal „Kereshme“ von „Forud“ oder „Hasin“ unterscheiden. Indessen würde er nach den beiden Persienkonzerten denken, dass es fast immer eine Art „Präludium“ auf der Tār gibt, wenn sie in einem Konzert gespielt wird. Der Übergang vom Stimmen des Instruments zum improvisierten Spielen erscheint ihm fließend.

© Fabian Schellhorn

My Persia mit seinen sehr feinen Abstufungen hat eine Spieldauer von ca. 37 Minuten mit kurzen Unterbrechungen zwischen den Sätzen. Die derart feinen Abstufungen von der Tār auf Violine und Kontrabass übertragen, bedürften eines eingeübten Gehörs. Da diese mit der Uraufführung allerdings zum ersten Mal überhaupt erklangen, blieben sie in gewisser Weise geheimnisvoll. Vielleicht erinnerten die Kompositionen am ehesten an Halim El-Dabh, dessen 100. Geburtstag 2021 durch MaerzMusik und Savvy Contemporary gefeiert wurde.[2] Obwohl Halim El-Dabh als einer der Pioniere der elektronischen Musik gilt, bewegten sich seine Musikforschungen zum Zār/ زار–Ritual in der klassischen Musikpraxis Persiens. Die Faszination des anderen Tonsystems für Wolfgang von Schweinitz, der am California Institute of the Arts bei seinem Kollegen Houman Pourmehdi persische Musiktheorie studierte, lässt sich nachvollziehen.

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Die persische Musiktheorie interessiert Wolfgang von Schweinitz nicht zuletzt deshalb, weil es sich „(t)echnisch gesehen (…) in der persischen Klassik um die pythagoreische Stimmung wie in der altgriechischen Musik“ handele, bei der „der Tonvorrat (…) auf reinen Quinten aufgebaut“ sei.[3] Damit bewegt sich von Schweinitz zugleich in einer „mikrotonalen Kompositionstechnik“.[4] Das Auftragswerk der Berliner Festspiele/Musikfest Berlin und der musica viva des Bayerischen Rundfunks bezeichnet von Schweinitz auch als ein „Riesenexperiment“. Es bedarf einer gewissen Liebe und Offenheit sich in das Stück hineinzuhören und hineinzudenken. Die Übertragungen aus der persischen Klassik als Praxis seiner Komposition beschreibt der Komponist genauer:
„Ich habe eine Aufnahme des gesamten Radifs von Shahnazi. Außerdem konnte ich zurückgreifen auf eine Transkription seiner Improvisation über das Tongeschlecht „Šur“, das an d-Moll erinnert aber eben in Vierteltönen. Der erste Satz ist ein ausgearbeitetes Arrangement davon. Das Spiel der Tār habe ich auf Kontrabass und Geige verteilt, beide zusammen habe ich mir als eine Art „Riesen-Tār“ gedacht.“[5]

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Die intensive Auseinandersetzung mit der persischen Klassik ist vor dem Hintergrund des islamistischen Regimes in Teheran von kulturpolitischer Tragweite. Musik gilt im fundamentalistischen Islam als unrein. Insofern bildet die Ausübung der klassischen, persischen Musik mit dem Saiteninstrument Tār in Persien seit dem 19. Jahrhundert eine kulturpolitische Opposition zum streng islamischen Regime. Für Wolfgang von Schweinitz ist seine Komposition eine „Emanzipation“ von der temperierten Stimmung in der europäischen Musik seit dem 17. Jahrhundert. So ist von Johann Sebastian Bach aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Das wohltemperierte Klavier als Sammlung von Präludien und Fugen bekannt. Temperierung heißt insofern eine Reinigung und Normalisierung des Tonraums. Wolfgang von Schweinitz befragt insoweit die vorherrschende Stimmungstradition.
„Es ist meine europäische Auseinandersetzung mit persischem Material und zugleich mein Beitrag zur Entwicklung einer nicht temperierten europäischen Vierteltonmusik.“[6]   

© Fabian Schellhorn

Im zweiten Teil des Abends spielten Majeed Qadianie auf der Tār und Setār sowie Niloufar Mohseni auf der Tombak Improvisationen über ausgewählte Dastgāhs des Radifs der klassischen persischen Kunstmusik. Im Unterschied zur ausgearbeiteten Komposition nach einem Notensystem entsteht die Improvisation aus der Praxis heraus. Die Modi (dastgāhs  دستگاه) des Spielens nach einer Abfolge oder Melodie (radif ردیف ) wird in der persischen Klassik traditionell mündlich weitergegeben. Der Unterschied zu von Schweinitz‘ Kompositionsverfahren, das auf einer „Aufnahme“ und einer „Transkription“ basiert, wird schnell deutlich. In der mündlichen Überlieferung der Musikpraxis schleichen sich immer auch, sagen wir, Spielräume jenseits einer Partitur ein. Anders gesagt: eine Kluft zwischen dem Schriftsystem der Partitur und der oral-praktischen Weitergabe hat durchaus Effekte auf die Musik. Für Majeed Qadianie hängt die Improvisation von den „Gefühlen der Zuhörer*innen (…), vom Licht im Saal, Faktoren wie diesen (ab)“.
„Wie im indischen Raga-System ist es in der persischen Musik so, dass die Dastgāhs bestimmten Tageszeiten zugeordnet sind, das werde ich auf jeden Fall beachten. Man wählt also für ein Abendkonzert eher eine melancholische Skala und nicht eine kräftige, die man eher am Vormittag spielen würde.“[7]

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Die Improvisation in der klassischen persischen Musik hängt von Stimmungen ab, die mit den Dastgāhs kombiniert werden und korrespondieren. Das Musikgeschehen wird quasi systematisch erweitert. Zwar kann man sagen, dass bei jedem Konzert in einem Musiksaal, vielleicht umso mehr dem Kammermusiksaal Gefühle und Konzentration der Zuhörer*innen immer eine Rolle spielen, aber nach Majeed Qadianie wird die Improvisation zu einer fein abgestimmten Kombinatorik, die das Musikereignis nicht nur rahmt, vielmehr wird sie zu einer atmosphärischen Abstimmung. Die Tombak ist in dieser Kombination nicht nur ein begleitendes Rhythmusinstrument, vielmehr entlockte Niloufar Mohseni ihr einen regelrechten Klangreichtum, der auf die Improvisation reagiert. Majeed Qadianie und Niloufar Mohseni kommunizierten miteinander über ihre Instrumente, was sehr reizvoll war.

© Fabian Schellhorn

Der zweite Persien-Abend beim Musikfest war wiederum mit dem Mābhānoo Ensemble unter der Leitung von Majid Derakhshāni anders gelagert. Meine Berliner Freund*innen Reza und Afsar verfolgen die Auftritte des Ensembles bereits seit geraumer Zeit auf YouTube. Am 16. September nahmen sie allerdings an einer Demonstration teil. Die bereits in der, wenn man es so sagen kann, Renaissance der persischen Klassik angelegte politische Tragweite, ist bei Majid Derakhshāni und dem Ensemble gänzlich aufgebrochen. Majid Derakshāni kombiniert die Instrumentalmusik mit klassischen Gedichten von Rumi und Hāfez sowie dem zeitgenössischen Dichter Gholāmreza Ghodsi (1925-1989). Es handelt sich hierbei also weniger um Improvisationen, sondern um Liedkompositionen und Arrangements. Zuvor hatte Majid Deragshāni mit Roshanak Rafāni Improvisationen auf Tār, Daf und Tombak gespielt. Am 27. September wird das Konzert im Prinzregententheater München im Rahmen der Konzertreihe musica viva des Bayrischen Rundfunks wiederholt.

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Ein Manko des Auftritts im Kammermusiksaal war, dass es keine Übersetzung der Gedichte gab, so dass der Berichterstatter zwar die Lieder hörte, sie allerdings nur nach der jeweiligen Stimmung erahnen konnte. Obwohl Majid Derakhshāni den Ehrentitel eines Ostād (Meister) in der klassischen persischen Musik trägt, erinnerten den Berichterstatter einige Elemente an den modernen Chanson bis zu Anklängen an Jacques Brel. Dass Majid Derakshani mit Mābhānoo ein Frauenensemble geformt hat, löste im Iran offenbar heftige Debatten aus. Wegen der Zusammenarbeit mit den Musikerinnen, die im Iran nicht öffentlich auftreten dürfen, wurde ihm ein Einreise- und Berufsverbot erteilt, so dass er mittlerweile in Hamburg leben muss. Der Musiker und Komponist begründet seine Zusammenarbeit mit der Geschichte der iranischen Musiktradition.
„Wir wissen (…) heute, dass es vor etwa 100 Jahren viele professionelle und virtuose Instrumentalistinnen und Sängerinnen gab. Doch sie trauten sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil es für Frauen als unmoralisch galt zu musizieren. … Das Singen ist für Frauen im Iran grundsätzlich verboten – es sei denn, die Frauenstimme verschwindet im Chor oder wird von einer Männerstimme übertönt. Deshalb gibt es im Iran keine öffentliche Bühne für Sängerinnen.“[8]

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Das Ensemble trat durch die Musikvideos Jane Ashegh und Hamcho khorshid vor 9 Jahren z. B. auf YouTube an die Öffentlichkeit. Die Frage des Geschlechts und seiner Zurichtung spielt im islamischen Iran eine entscheidende Rolle. Aus den Tiefen seiner Erinnerung weiß der Berichterstatter allerdings, dass es in den 70er Jahren bei den Berliner Philharmonikern heftige Widerstände gab, als Herbert von Karajan eine Musikerin ins Orchester aufnehmen wollte. Das Geschlecht spielte in europäischen Symphonieorchestern jahrhundertelang eine Rolle. Eine Geschichte zum Geschlecht der Orchestermusiker*innen in Europa ist bislang nicht erforscht und geschrieben worden. Erst letztes Jahr thematisierte Yannick Nézet-Séguin mit dem Philadelphia Orchestra überhaupt die Frage des Geschlechts in seiner der deutschen Sprache eigenen Mehrdeutigkeit beim Musikfest Berlin.[9] Der Auftritt von Majid Derakhshāni und dem Mābhānoo Ensemble beim Musikfest Berlin wurde zu einem Triumph.

Torsten Flüh


[1] Musikfest Berlin: Abendprogramm 15.9.2023: Persien I West-östliche Begegnung. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[2] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[3] Stefan Franzen: „Mir geht es um die Emanzipation der Konsonanzen“. Wolfgang von Schweinitz im Gespräch. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 7.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda S. 8.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Stefan Franzen: Wie ein Teppich mit kleinen Webfehlern. Majeed Qadianie und Frank Reinecke im Gespräch. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Bahar Roshanai: Zwischentöne. Bahar Roshanai im Gespräch mit Majid Derakhshāni. In: Musikfest Berlin Abendprogramm 16.9.2023: Persien II Māhbānoo Ensemble. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 11.

[9] Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Erzählen – Klanggemälde – Musikpreis

Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin

Darf der Berichterstatter drei ebenso unterschiedliche wie herausragende Orchester beim Musikfest Berlin in einer Besprechung nacheinander würdigen? Ihm ist nicht ganz wohl dabei. Doch die Komprimierung führt zugleich dazu, dieses von Winrich Hopp mit den Berliner Philharmonikern und den Berliner Festspielen zusammengestellte Festival mit seiner Abfolge großer und größter Orchester und Dirigent*innen ins rechte Licht zu rücken. Beim Musikfest Berlin stellen sich Jahr für Jahr die weltbesten Orchester zu Beginn ihrer Tournee durch Europa und Großbritannien ein. Das Berliner Musikpublikum bekommt das seit Jahren eher etwas träge mit. Kurt es noch spätsommerlich auf Mallorca oder in Heringsdorf und Świnoujście an der Ostsee? Glücklicherweise wird das Festival medial von Deutschlandfunk Kultur begleitet und fast lückenlos aufgezeichnet.

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Große Dirigent*innen sind weiterhin fast immer männlich. Das Programm des Konzerthausorchesters Berlin mit seiner neuen Chefdirigentin Joana Mallwitz hat der Berichterstatter am 12. September versäumt, pardon. Ansonsten wurden bereits Ivan Fischers Dirigat mit dem Concertgebouw Orchestra, Sir Simon Rattles mit dem London Symphony Orchestra[1] und das aufsehenerregende, fast zufällige Debut von Dinis Sousa mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique[2] besprochen. Am 3. September dirigierte nun Sir George Benjamin das einzigartige Ensemble Modern Orchestra beim Start seiner Tournee anlässlich der 30jährigen Zusammenarbeit. Benjamin hatte erst kürzlich als Komponist und Dirigent den hochdotierten Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten. Am 5. September folgte Andris Nelsons als Stardirigent und am 11. September leitete Vladimir Jurowski das Bayrische Staatsorchester anlässlich seines 500jährigen Jubiläums – in Berlin.

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Die Ernst von Siemens Musikstiftung feiert 2023 ihr 50jähriges Jubiläum.[3] Die 1972 durch den kinderlosen Industriellen und Mäzen Ernst von Siemens gegründete Musikstiftung gehört neben der Kunststiftung zu den wichtigsten deutschen Musikförderungsinstitutionen. Der Ernst von Siemens-Musikpreis wurde am 7. Juni 1974 von seinem Stifter an Benjamin Britten überreicht. In der Stiftungsurkunde vom 20. Dezember 1972 ist als Zweck unter 2c formuliert: „die Verleihung von Preisen an produzierende oder reproduzierende Musikkünstler oder Musikwissenschaftler, die auf ihrem Gebiet besondere Leistungen vollbringen, insoweit dadurch ihr künstlerisches Schaffen gefördert und wertvolle Kunstwerke der Allgemeinheit zugeführt werden.“[4] Nach Benjamin Britten, Herbert von Karajan, 1979 Pierre Boulez[5], Karlheinz Stockhausen[6], Hans Werner Henze[7], die Bratschistin Tabea Zimmermann[8] oder Rebecca Saunders 2019[9] und Olga Neuwirth 2021[10] hat nun George Benjamin[11] den Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten.

© Fabian Schellhorn

Sir George Benjamin hatte mit dem Ensemble Modern Orchestra ein besonderes Konzertprogramm ausgewählt, in dem die Uraufführung von Francesco Filideis Cantico delle Creature und seine Liedkomposition A Mind of Winter (1981) mit Anna Prohaska als Solistin zwei Höhepunkte setzten. Das sehr jung besetzte Ensemble Modern Orchestra brillierte indessen ebenso mit Spira (2019) von Unsuk Chin, Cloudline (2021) von Elisabeth Ogonek, die ihre Komposition „ein Klanggemälde für Orchester“ nennt, und glut (2014-18) von Dieter Ammann. Damit war eine erstaunliche Bandbreite an zeitgenössischen Kompositionspraktiken zwischen „Konzert“, erzählendem Gestus und „Klanggemälde“ angelegt. Benjamin lässt sich vielleicht als ein Klangforscher der Stimmungen beschreiben. Die Stimmung wird auditiv durch eine große Besetzung zwischen Flöten, Oboen bis zur Tuba, einem umfangreichen Schlagwerk und nicht weniger groß besetzten Streichern zwischen Violine und Kontrabass produziert. Unsuk Chin erzeugt mit einer derartig großen Besetzung aus leisen, zarten Tönen bis in eine breite Polyphonie eine kreisende Bewegung, die sich visuell als aufsteigende Spirale denken lässt. Nach einer größtmöglichen Klangausdehnung bewegt sich die Spirale wieder zurück und verklingt in den Violinen.

© Fabian Schellhorn

Die Spielweisen in der zeitgenössischen Musik erforschen oft das Klangspektrum jenseits der klassischen Stimmungen. Das praktische Regelwerk der Stimmung wird überschritten. Instrumente werden auf immer wieder andere Klangspektren durch Praktiken erforscht. Darin haben sich das Ensemble Modern und das Ensemble Modern Orchestra ein einzigartiges Feld der Klangerzeugung erarbeitet. Von den Orchestermitgliedern wird eine hohe Präzision und Flexibilität ebenso wie eine außergewöhnliche Ensemblesensibilität verlangt. Kein Themen- oder Melodiengerüst trägt das Orchester. George Benjamin hat nicht nur 30 Jahre mit dem Ensemble Modern diese Orchesterklangbereiche erforscht, vielmehr hat er sie mit den Musiker*innen und Komponist*innen praktisch entwickelt. Diese Musikpraxis wurde im Konzert nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass Unsuk Chin, Francesco Filidei und Dieter Ammann bei der Aufführung anwesend waren und sich beim Dirigenten wie dem Ensemble bedankten.

© Fabian Schellhorn

Francesco Filidei entfaltet mit seiner Komposition des Cantico delle Creature, der in der Übersetzung als Sonnengesang des Franz von Assisi bekannt ist, aus einem leisen Pfeifen des Windes ein Welthörspiel zur Ehre Gottes. Der tiefreligiöse Gesang auf alle Lebewesen bzw. die Schöpfung lässt diese wiederholt zu Ton kommen, wenn Filidei in seiner Besetzung prominent 2 Schwirrbögen für ein ansteigendes Pfeifen des Windes oder einer Art Lebensströmen einsetzt. „Cowbells, Ocean Drum, Lockpfeifen (Nachtigall, Wachtel, Drossel)“[12] etc. geben nicht nur vom Namen her, vielmehr noch durch ihre Klangbreite einen Wink auf die Vielfalt der Klangereignisse, die in dem lyrischen Sopran von Anna Prohaska sehr hoch als Lob intoniert werden.
„Laudato si, mi signore, per sor‘ aqua,
la quale è multo utile et humile et pretiosa et casta.
Laudatio si, mi signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la notte,
et ello è bello et iocundo et robustoso et forte.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.“[13]     

© Fabian Schellhorn

Anna Prohaska zelebriert mit ihrer lyrischen Sopranstimme Filideis Cantico ebenso wie George Benjamins A Mind of Winter mit dem Gedicht von Wallace Stevens. Ihre Projekte für die zeitgenössische Musik machen Anna Prohaska zu einer Ausnahmesängerin. Sie erweitert ständig ihr Repertoire in neue Bereiche, ob mit den Bachkantaten unter der Leitung von Sir Simon Rattle 2022[14] oder dem Projekt Endor 2021[15] immer wird das Lied mit ihrer Stimme neu ausgelotet. Bedenkenlos könnte man Anna Prohaska für den Ernst von Siemens-Musikpreis vorschlagen. Nach einer Art Vorspiel mit gregorianischen Anklängen in Filideis Cantico delle Creature stimmt Prohaska den Gesang an. Stimme und Polyphonie des Gesangs bilden ein vielschichtiges und voluminöses Klangereignis. Der religiöse Gesang wird durch die Polyphonie eher in eine zeitgenössische Wahrnehmung von Natur und Umwelt transformiert. Anthropozän und Klimawandel geben heute einen Wink darauf, dass wir mit den Ressourcen respektvoller umgehen sollten.
„Laudatio si, mi signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flora et herba.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.)“[16]

© Fabian Schellhorn

George Benjamin hat für A Mind of Winter das Gedicht The Snow Man von Wallace Stevens umbenannt und 1981 mit der Widmung „For my mother, on her birthday“ versehen. Die Umbenennung erlaubt nicht zuletzt die geschlechtliche Befreiung des Gedichtes. Welches Geschlecht das lyrische „one“ im ersten Vers des Gedichtes hat, bleibt offen, wenn es nicht durch den Titel The Snow Man bestimmt wird. Benjamins Gespür für Stimmungen wird nicht zuletzt im Titelwechsel deutlich. Das Gespür für die frostige Winterstimmung beginnt „aus einer mit „Silence“ überschriebenen Generalpause, um dann „icy and misterious“ fortzufahren.[17] Anna Prohaska versteht es, die Stimmung fast gänzlich ohne Vibrato mit ihrer Stimme entstehen zu lassen.
„One must have a mind of winter
To regard the frost and the boughs
Of the pine-trees crusted with snow;
(Man muss Winter im Sinn haben,
um auf den Frost und die mit Schnee
verkrusteten Äste der Kiefern zu achten,)”[18]    

© Fabian Schellhorn

Das Ensemble Modern Orchester und die Solistin wurden vom Publikum begeistert gefeiert. Es bedarf weniger eines ausgedehnten Musikwissens als ein Gespür für das Engagement und die Sensibilität des Orchesters. Das wurde einmal mehr dadurch bestätigt, dass neben dem Berichterstatter zwei jüngere Menschen aus Italien saßen, mit denen er ins Gespräch kam. Sie verstünden nicht viel von klassischer oder zeitgenössischer Musik, aber sie hätten bemerkt, wie begeistert und konzentriert diese jungen Musiker*innen gespielt hätten. Dass sie mit Anna Prohaska einen Weltstar ihres Faches auf den internationalen Opernbühnen gehört hätten, könnten sie nicht beurteilen. Aber das sei sehr intensiv gewesen. Das kennten sie gar nicht. Und der junge Mann fragte, wo er denn noch in Deutschland in ein Konzert gehen solle. Herkunft und Hintergrund des Paares blieben im Dunkel. Aber sie hatten etwas entscheidendes mitbekommen, das das Konzert so einzigartig machte. Das Zusammenspiel von Dirigent, Solistin und Orchester war von gegenseitigem Respekt und Freude an der Musik geprägt.

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Andris Nelsons tourte mit dem Boston Symphony Orchestra, kurz BSO, vom 25. August bis 8. September zwischen Royal Albert Hall in London und der Philharmonie de Paris durch Europa. Am 5. September gastierte er beim Musikfest Berlin mit dem Orchester. Das Programm wechselte mehrfach während der Tournee, wiederholt bildete George Gershwins Piano Concerto in F mit Jean-Yves Thibaudet den Mittelteil. In London und Berlin eröffnete Andris Nelsons mit Julia Adolphes Makeshift Castle (2022) den Abend. Die Komposition ist ein Auftragswerk des BSO und des Gewandhausorchesters Leipzig, denen Andris Nelsons als Chefdirigent und Gewandhauskapellmeister vorsteht. In Berlin beendete mit dem zweiten Teil Igor Strawinskys Ballettmusik Petruschka von 1911 den Abend. Petruschka erforderte einen Kommentar der Berliner Festspiele, der äußerst berechtigt erscheint:
„Wir weisen darauf hin, dass in Strawinskys Partitur Petruschka mit den Figuren des M* und des Z*** im Originaltext rassistische Stereotype und Figurennamen enthalten sind. Diese historischen Bezeichnungen waren bereits im Zeitkontext mit abwertenden Konnotationen verbunden und sind Teil einer rassistisch-romantisierenden Erinnerungskultur, die bis heute zur Abgrenzung und Abwertung von Schwarzen Menschen und europäischen Sinti*zze und Rom*nja beiträgt.
Die Berliner Festspiele haben sich den Grundsätzen der Antidiskriminierung und Diversität verpflichtet. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die historischen Begriffe nur noch in der abgekürzten Version (M*, Z***) zu verwenden.“[19]

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Einerseits gehören die Ballettmusiken wie Petrouchka – Scènes burlesques en quatre tableaux (1911) und Sacre du printempsTableaux de la Russie païenne en deux parties (1913)[20] von Igor Strawinsky zum Repertoire der Klassischen Moderne, andererseits bricht mit ihnen die Geschlechterfrage der Moderne in der Musik auf. Auf der Suche nach dem Geschlecht in der im Deutschen angelegten Mehrdeutigkeit von Ursprung, Herkunft, Rasse, Nation und Identität wie nicht zuletzt dem Russischen in der Moderne zertrümmert Strawinsky in der Musik tradierte Muster und schafft zugleich neue ein- wie ausschließende Abgrenzungen. Musikalisch spielt dafür eine Aufwertung wenn nicht Neudefinition der Perkussionsinstrumente im Orchester die entscheidende Rolle. In Petruschka beginnt das erste Bild mit Strawinskys Russischem Tanz. Doch was ist an dem Tanz aus einer Jahrmarktsmusik heraus russisch? Petruschka ist nicht nur ein „ewig unglückliche(r) Held() aller Jahrmärkte in allen Ländern“[21], wie Strawinsky es formulierte, oder ein russischer Melancholiker, vielmehr wird er selbst mit dem Russischen Tanz als Russe eingeführt – und häufig mit den Matroschka-Puppen, die sich gleich einer Zwiebel bis zu einer kleinsten Puppe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entpacken lassen, verwechselt.

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Das Russische in den Ballettmusiken Igor Strawinskys war nicht zuletzt dem Branding der Ballets russes Serge Diaghilevs in Paris geschuldet. Gleichzeitig vollzog der Komponist einen radikalen Bruch mit dem Russischen und trieb das Orchester mit Sacre du printemps an das Ende der Melodie und des Melodischen als Folklore. Diese Bewegung kündigt sich in Petruschka bereits an, in der es zwar dreizehn Szenen gibt, die sich unterdessen in der Musik schwer abtrennen lassen. In der Visualisierung als Ballett lassen sich die Szenen genau unterscheiden, in der Aufführung von Andris Nelsons mit dem BSO verliert sich schnell der Faden in der Abfolge der Szenen bis „Petruschkas Geist erscheint“. Insofern sind die Szenen „Der M*“ und „Z*** und ein genusssüchtiger Kaufmann“, womit eine Prostitutionsszene umschrieben wird, durchaus rassistisch angelegt. Allerdings fällt es schwer, dies in der Musik zu hören, weil Strawinsky eben keine folkloristischen Modell benutzt. In der Hinsicht könnte die Frage nach dem Russischen bei Strawinsky durchaus intensiver bearbeitet werden.

© Fabian Schellhorn

Julia Adolphes Makeshift Castle mit den beiden Sätzen Sandstone und Wooden Embers verfolgt einen Gestus der Erzählung in der Musik. Dahingehend korrespondiert sie mit der erzählenden Geste des Concerto in F von George Gershwin, das 1925 in den drei Sätzen „Allegro“, „Adagio – Andante con moto“ und „Allegro con brio“ die Lebenspraktiken der Stadt New York als Inbegriff der modernen Großstadt des 20. Jahrhunderts in Musik verwandelt. Die Hektik, Schnelligkeit und Wechselhaftigkeit des Großstadtlebens, wie es mit dem „Allegro furios“ zwischen Klavier mit Jean-Yves Thibaudet und Orchester zum Klingen gebracht wird, reißt derart mit, dass das Publikum am 5. September zum Beifallssturm ermuntert wurde. In der Großstadt des 20. Jahrhundert wird das Individuum mitgerissen. Im Unterschied dazu wecken die „gegensätzliche(n) Zustände von Beständigkeit und Vergänglichkeit, von Beharrlichkeit und Auflösung, von Entschlossenheit und Hingabe“, wie es Julia Adolphe formuliert, mit Sandstone (Sandstein) und Wooden Embers (Hölzerne Glut) nicht zuletzt im Schlagwerk von Tomtoms, Großer Trommel, Glockenspiel, Klangstäben und Holzblock ein fast meditatives Hinhören.

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Dass das Bayrische Staatsorchester unter der Leitung von Vladimir Jurowski sein 500jähriges Jubiläum am 11. September mit einer Laudatio von Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, gebürtig aus Ulm, in der Berliner Philharmonie hochoffiziell feierte, hat fast einen Zug von Ironie. Gleichzeitig gibt es einen Wink auf die Verflochtenheit der Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Denn Claudia Roth setzt als Ministerin das Förderprogramm „Exzellente Orchesterlandschaft“ fort.[22] In ihrer Rede wandte sie sich mehrfach vom Rednerpult den Orchestermitgliedern direkt zu, um zu betonen, wie wichtig die Orchesterarbeit sei. Im Jahr 1523 stellte Herzog Wilhelm IV. von Bayern aus dem Haus Wittelsbach den Sänger-Komponisten Ludwig Senfl in München an seinem Renaissance-Hof im Neuen Hof, dem Ursprung der Münchner Residenz an. Darauf führt das Bayrische Staatsorchester seinen Ursprung zurück.

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Das Berliner Jubiläumskonzert wurde symbolträchtig von dem in Moskau geborenen Dirigenten Vladimir Jurowski, der sein Studium in Berlin und Dresden fortsetzte, mit der Symphonie Nr. 3 „White Interment“ (2003) der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevà eröffnet, was seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges 22. Februar 2022 eine starke Geste ist. Polevà komponiert mit dem großen Orchester von 144 Mitgliedern satte Klangcluster, die melodisch angelegt sind. Aus einem Klangteppich steigen rhythmische Schläge empor, die an Herzschläge erinnern können und zumindest teilweise durch Zupfen der Harfe erzeugt werden. Polevà komponierte mit White Interment (Weißes Begräbnis) eine Trauermusik, die 2003 einen Wink auf postsowjetische Verwerfungen in der Ukraine geben kann. Die breitangelegte, getragene Symphonie mit den Tempi „Andante assai – Meno mosso – Più mosso – Andante assai bildet fast eine geschlossene Kreisform. Vladimir Jurowski dirigierte das Bayrische Staatsorchester detailreich und ernst. Das Publikum applaudierte intensiv und der Dirigent bat die Komponistin ans Pult.

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Mit der Trauermusik von Victoria Vita Polèva war auch für das zweite Stück des Abends, Alban Bergs Konzert für Violine und Orchester, „Dem Andenken eines Engels“, eine Stimmung vorgegeben. Den Anlass für Bergs Konzert gab der Tod der 18jährigen Manon Gropius an Kinderlähmung am 22. April 1935 in Wien. Sie war die Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Die Epidemie der Kinderlähmung oder Poliomyelitis war insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft tödlich.[23] Vilde Frang spielte die Solovioline, wofür sie stürmisch gefeiert wurde. Auf diese Weise war das Konzert von einer Trauermusik und einer das Requiem mit dem Zitat des Bachchorals Es ist genug paraphrasierenden Komposition geprägt. Doch im Konzertsaal spielt dann gerade durch den Anlass des Jubiläums und der Exzellenz des Orchesters eine Art freudige Begeisterung in den traurigen Hintergrund hinein.

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Eine freudige Begeisterung strukturiert nicht zuletzt Richard Strauss‘ Eine Alpensinfonie genanntes Großwerk. Zwischen 1899 und 1915 komponiert, fällt die Komposition in eine Zeit des Reisens und der Entdeckungen malerischer Landschaften unter zunehmend schnellerer Eisenbahnverbindungen. Von den Kaiserbädern auf Usedom wie Heringsdorf an der Ostsee bis in die Chiemgauer Alpen z.B., wo Ernst von Siemens‘ Vater 1911 in Ruhpolding ein großzügiges Jagdhaus als Urlaubsziel errichten ließ [24], nahm der frühe Tourismus des Bürgertums einen kräftigen Aufschwung. Hatte im 18. Jahrhundert die Grand Tour des Bürgertums und des Adels in Italien noch ein Bildungsprogramm mit dem Reisen verknüpft, so entdeckt das Bürgertum des Kaiserreichs um 1900 den Reiz der schnellen Ortswechsel im Rhythmus des Jahreszeiten bei gleichzeitig größtmöglichem Komfort. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz so überraschend, dass Eine Alpensinfonie schließlich unweit des Siemens-Stammsitzes in der Schönberger Straße am Anhalter Bahnhof in der alten Berliner Philharmonie an der Bernburger Straße am 28. Oktober 1915 mit der Dresdner Königlichen Kapelle uraufgeführt wurde. Man darf annehmen, dass das Orchester aus Dresden mit dem Zug über den Anhalter oder den Dresdner Bahnhof angereist war. (Der Siemens-Stammsitz lag insofern fernverkehrsmäßig günstig an zwei Kopfbahnhöfen.)

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Doch zurück zur freudigen Begeisterung, die in einem Auf-und-Abstiegs-Motiv von Richard Strauss als eine individuelle Erkundung eines Alpengipfels strukturierend bis in einzelne Wassertropfen in der Klarinette beim Abstieg nach einem Gewitter intoniert wird. Geradewegs zyklisch wird ein Tag in den Alpen von der „Nacht“ und dem „Sonnenaufgang“ bis zum „Sonnenuntergang – Ausklang“ und „Nacht“ auskomponiert. Die alpine Landschaft mit einer psychovisuellen „Erscheinung“ sowie „Gefahrvolle(n) Augenblicke(n)“, einer „Vision“ und einer „Elegie“ wird zu einer Erlebnislandschaft mit allem drum und dran. Mehr konnten sich selbst die Angehörigen der Berliner Industriellenfamilie von Siemens in den Alpen nicht wünschen. In mehreren Klangebenen überschneiden sich in der mehr oder weniger individuellen und einmaligen Alpensinfonie Ausflugserlebnis und Naturereignis. Nicht ohne Ironie wird das alpine Programm mit „Auf dem Gipfel“ und einer trotz heftigem Gewitter nicht wirklich gefährlichen Alpenwanderung vielschichtig und ereignisreich mit dem größtmöglichen Klangkörper bis zur Orgel auskomponiert. Die Pastorale schimmert nur noch hervor, längst ist alles zum imperialen Effekt zwischen alter Philharmonie und riesigem Anwesen der Familie Siemens in Potsdam geworden.  

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Vladimir Jurowski dirigiert Eine Alpensinfonie genau zwischen dem Bogen der kaiserlichen Reichshauptstadt Berlin und dem Jagdhaus, sagen wir, bei Ruhpolding in den Chiemgauer Alpen mit dem Schnellzug im Hintergrund. Den Schnellzug hat Richard Strauss nicht in den Tagesablauf einkomponiert. – Ankunft per Schnellzug. – Nacht – Sonnenaufgang … – Doch Eine Alpensinfonie mit ihrem Erlebnispotential funktioniert genauso wie die durchaus kostspieligen Schnellzüge von und nach Berlin. Eine Alpensinfonie endet so leise, dass man ein ansetzendes Schnarchen des erlebnisgestättigten Wanderers erwarten könnte. Doch Richard Strauss hat mit dem leisen Schluss bestimmt schon den ansetzenden, brausenden Applaus mit einkalkuliert. Ein wenig fühlt man sich als Hörer bei Richard Strauss immer an der Nase geführt. Ein triumphaler Konzertschluss! Mit dem Vorspiel zum 3. Aufzug der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner als Zugabe unterstrich der Dirigent die Exzellenz des Orchesters, aber verschwendete sie auch.

Torsten Flüh 

Musikfest Berlin 2023
bis 18. 9. 2023

Konzerte zum Nachhören:
Deutschlandfunk Kultur
Ensemble Modern Orchestra
Aufzeichnung vom 3. September 2023

Bayrisches Staatsorchester
Aufzeichnung vom 11. September 2023


[1] Torsten Flüh: Furiose Gedankenmusik. Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. September 2023.

[2] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[3] Zeitreise: 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung. (Website)

[4] Ebenda year 1973.

[5] Zu Pierre Boulez und Daniel Barenboim als seinen Schüler siehe: Torsten Flüh: Verspätete Ankunft der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[6] Zu Karlheinz Stockhausen siehe: Torsten Flüh: Spiritualität und elektronische Geisterkunst. Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[7] Zu Hans Werner Henze siehe: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. November 2019.

[8] Zu Tabea Zimmermann siehe: Torsten Flüh: Von dem Gesang der Bratsche. Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. September 2020.

[9] Zu Rebecca Saunders siehe: Exakte Explosionen. Zur Deutschen Erstaufführung von Rebecca Saunders to an utterance beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Oktober 2021.

[10] Zu Olga Neuwirth siehe: Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.

[11] Zu George Benjamin siehe: Torsten Flüh:  Aufgespürte Stimmungen. Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[12] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 Ensemble Modern Orchestra/Sir George Benjamin II. Chin/Ogonek/Filidei/Benjamin/Ammann. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[13] Ebenda S. 18-19.

[14] Torsten Flüh: Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis. Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle (und Anna Prohaska). In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Mai 2022.

[15] Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.

[16] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 … [wie Anm. 12] S. 20-21.

[17] Dirk Wieschollek: Feier der Elemente. In: ebenda S. 13.

[18] Ebenda S. 16-17.

[19] Musikfest Berlin: Programm 5.9.2023 Boston Symphony Orchestra/Andris Nelsons. Adolphe/Gershwin/Strawinsky. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 3.

[20] Siehe zu Le Sacre du Printemps: Das Enden der Melodie. Sir Simon Rattle treibt die Berliner Philharmoniker zu einem schonungslosen Le Sacre du Printemps. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Juni 2017. (als PDF unter Publikationen)

[21] Ebenda S. 12.

[22] Bundesregierung: Bund stärkt vielfältige Orchesterkultur. Pressemitteilung 5. September 2023.

[23] Siehe zur Kinderlähmung: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[24] Erik Lindner: Ernst von Siemens. In: Siemens Historical Institute (Hg.): Lebenswege. München: Siemens, 2015, S. 10.

Die Geschichte mit dem Dreh

Geschichte – Chronologie – Maschine

Die Geschichte mit dem Dreh

Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin

Im Kulturwerk des Hauses Unter den Linden 8 der Staatsbibliothek zu Berlin werden neuerdings deren Schätze aus ihrem sonst schwer zugänglichen Bestand gezeigt. Astrit Schmidt-Burkhardt stellt mit Die Chronologiemaschine einen ebenso aufsehenerregenden wie wirkmächtigen Schatz und sein Umfeld vor. Im 18. Jahrhundert wurde er zwischen Wissenschaft und Zeitvertreib so prominent, dass Denis Diderot der „Chronologique (machine.)“ im 3. Band der Erstausgabe der Encyclopédie 1753 eine ausführliche Beschreibung widmete. Der Originaleintrag im Band ist in der Ausstellung aus dem Bestand der Staatsbibliothek aufgeschlagen. In dessen letzten Absatz wird der Name ihres „auteur“ mit „M. Barbeu du Bourg, docteur en Medecine, & professeur de Pharmacie dans l’université de Paris“ verraten.

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Jacques Barbeu-Dubourg hat seine Maschine für den praktischen Gebrauch konstruiert. Sie lässt sich bequem transportieren, gar unter den Arm nehmen, aufklappen und dann mit zwei Kurbeln nach links oder rechts drehen. Durch das Aufklappen entsteht eine Art Rahmen, in dem sich die Weltgeschichte nach dem europäischen Wissensstand des 18. Jahrhunderts vor- oder zurückspulen lässt. Durch die praktische Verwendung, die an das Wischen mit dem Finger auf dem Smartphone erinnert, litten die aus Papier angefertigten Maschinen allerdings so sehr, das aktuell nur noch ein restaurierungsbedürftiges Originalexemplar in der Bibliothek der Princeton University bekannt ist. Die Ausstellungsbesucher*innen müssen dennoch nicht auf die Chronologiemaschine verzichten. Die Kuratorin hat eine nach dem Original anfertigen lassen, die man sofort ausprobieren wollte, wäre sie nicht in einer Vitrine eingeschlossen.

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Mit der Chronologiemaschine  von Barbeu-Dubourg lassen sich eine ganze Reihe von Verwendungen bedenken. Sie lädt ein zu Zeitreisen durch die Geschichte. Sie gibt den Anwender*innen das Gefühl, mit den Kurbeln gleich Gott die Geschichte in der Hand zu haben. Und sie unterscheidet sich als Carte chronographique, wie Barbeu-Dubourg sie selbst nannte, grundsätzlich von einem Buch, in dem sich nur blättern und lesen lässt. Schmidt-Burkhardt sieht in der Maschine gar das Medium Film angelegt. Sie spricht von „Visual History“ angesichts ihres Schatzes, den sie zufällig fand und der in einem eher begrenzten Kreis internationaler Fachleute diskutiert wird. „Visualisierte Vergangenheit, (…), überführt Geschichtsschreibung in Geschichtsbilder.“[1] Die Handlichkeit der Maschine, die den Blick auf die Geschichte dreht, verändert alles. Zugleich verspricht sie nach dem amtlichen Titel für die Pariser Zensurbehörde vom 28. Mai 1753 einen chronographischen und universellen Zugriff auf die Geschichte: Chronographie universelle & details qui en dépendent pour la Chronologie & les Génealogies.[2] (Universelle Chronographie & abhängige Details für die Chronologie & die Genealogien.)

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Gleich einem medienhistorischen Scharnier treffen in der Chronologiemaschine unterschiedliche Geschichtsformate des 18. Jahrhunderts aufeinander. Für die Zensurbehörde des Königs von Frankreich sind die Genealogien eine Legitimation seiner bereits durch die Aufklärung schwankenden Herrschaft. Die in der Encyclopédie umfangreich diskutierte Wissensform der Chronologie, der uhrwerkgleichen, aber linearen Abfolge von Zeitpunkten, setzt unterdessen bereits an dem Narrativ der dynastischen Genealogie als Abfolge von Geburten in einer Herrscherfamilie an. Die Genealogien (les Génealogies) sind im Titel für den königlichen Zensor wichtig. Tatsächlich hat das Denken der Genealogie insbesondere im europäischen Adel bis heute überlebt. Im Deutschen bilden sie Geschlechter, ohne dass sie in der Gender Debatte größere Aufmerksamkeit genössen.

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Wie wird die Chronologie in der Encyclopédie formuliert? Das Uhrwerk als Maschinenmodell der Aufklärung par excellence wird zunächst nicht erwähnt. Vielmehr wird eröffnend Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) von d’Alambert und Diderot zitiert: „In tempore, (…), quoad ordinem successionis, in spatio quoad ordinem situs locantur universa.“[3] In der Zeit sind in Bezug auf die Reihenfolge der Abfolge, im Raum in Bezug auf die Reihenfolge der Orte, alle Dinge lokalisiert. Das physikalische Zeitmodell, das sich von der uhrwerkgleichen Astronomie in ihrem Modus der Wiederholung unterscheidet, bahnt im 18. Jahrhundert mit der Chronologie ein neuartiges Denken der Zeit. Ließe sich die Reihenfolge der Zeitpunkte genau aneinanderreihen, dann hätte man sie mit einem Blick erfasst. Gegenüber den genealogisch angelegten Zeiten der Bibel seit Adam und Eva, in denen sich immer wieder durch unterschiedliche Autoren Verwandtschaftsverhältnisse überschneiden oder unklar bleiben, entsteht mit der Chronologie im 18. Jahrhundert ein neuartiges Zeitmodell.

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Graphisch wird die Chronologie bei Jacques Barbeu-Dubourg zu einem Zeitstrahl, auf dem jeder Zeitpunkt wie auf einem Metermaß verzeichnet werden kann. Er klebte die „fünfunddreißig einzelnen Kupferdrucke im Folioformat“ mit Leim aneinander, so dass er „ein rund 16,5 Meter langes Papierband“[4] erhielt, das sich auf- und abrollen lässt. Ob und welche Rolle dabei die Kenntnis von chinesischen Bildrollen oder die Thora spielten, ist nicht bekannt. Doch seit dem 17. Jahrhundert waren chinesische Bildrollen nach Europa gelangt, um viel Aufsehen an Höfen, unter Forschern und Sammlern zu erregen. Barbeu-Dubourgs Carte chronographique ist als Bildrolle vor allem anders strukturiert. Der Zeitstrahl verläuft von links nach rechts gleich der griechisch-lateinischen Lesepraxis. Während zum Beispiel im Arabischen und Chinesischen von rechts nach links gelesen wird.

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Am oberen Rand der Kupferstiche verläuft gleich einem Lineal z.B. auf der Tafel 25[5] der Zeitstrahl, der in einen Rhythmus von zehn Jahren und wiederum wechselnd in Jahre eingeteilt ist. Ein Jahr wird mit sechs Strichen in zwölf Monate visuell rhythmisiert. Auf diese Weise vermisst Jacques Barbeu-Dubourg die Zeit kurztaktig, um Namen und Ereignisse einzutragen. Gegenüber der Bindung der Tafeln als Buch, Mappenwerk oder Leporello wie es durch die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt als Leihgabe in der Ausstellung überliefert ist[6], wird durch das unterbrechungslose Abrollen der vermessenen Zeit aller erst ein Kontinuum der Zeit visualisiert bzw. wahrnehmbar. Beim Leporello als Format der Karte bedarf es einer Art von in die Seiten geklebter Merkzettel, um Namen, Zeitpunkt und Ereignis aufzufinden.[7]

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Die maschinelle Rollmechanik als Chronologie der Maschine erspart Merkzettel und das Blättern. Auf dem Plakat für die Ausstellung im Kulturwerk hat Schmidt-Burkhardt denn auch genau diesen rhythmisierten Zeitstrahl als „(e)ine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts“ abbilden lassen.[8] Zugleich wird die durchaus paradoxe Geschichtlichkeit der Karte zwischen neuzeitlicher Chronologie und biblischer Genealogie augenfällig. Vor dem Beginn des Zeitstrahls steht „DIEU“ und am Anfang unter „Adam“ „Eve“. Nach der Genesis, Schöpfungsgeschichte des Alten Testament schnitt Gott im Garten Eden Eva aus einer Rippe Adams.[9] Im Erzählmodus des Genesis braucht es keiner zeitlichen Festlegung dieses ursprünglichen Ereignisses, vielmehr wurde im Judentum, Christentum und Islam seither der genealogische Vorsprung des Mannes tradiert und transformiert.

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Das Paradox von Chronologie nach Newton und Genealogie nach der Genesis im Buch Moses lässt sich mit den epochalen Entwürfen eines Kenotaphs für Isaac Newton des Revolutionsarchitekten Étienne-Louis Boullée von 1784 bedenken.[10] Boullée visualisiert in seinem Entwurf ein Weltgebäude ohne Gott. Statt des christlichen Gottes im Himmel wird Newton im Mittelpunkt der nicht zuletzt chronologischen Zeitläufe aufgebahrt. Boullée hatte mit seinem Entwurf die sprengende Kraft Newtons, die sich in der Enzyklopädie ankündigte, verstanden. Jacques Barbeu-Dubourg und die Enzyklopädisten versuchen unter dem Auge der Zensur mit der Chronologie etwas zu vereinen, dessen Unvereinbarkeit bereits aufgebrochen war. Insofern weist der kartografische Zeitstrahl in eine Zukunft über die vermessene Zeit hinaus.

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Das Revolutionäre der Chronologiemaschine wird letztlich mit einem Begleitbuch abgefedert, das die Kuratorin nur in der finnischen Nationalbibliothek aufspüren konnte: Introduction abrégee al l’Histoire des différents peuples anciens et modernes; Contenant les principaux événements de chaque siécles, & quelques traits de la vie des Personnages illustres, depuis la création du monde jusqu’à présent. Pour servir principalement d’explication à la Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg (Paris 1757).[11] Um die Chronologiemaschine Barbeau-Dubourg werden unterschiedliche Medien zur Wissensgenerierung eingesetzt. Das gibt auch einen Wink auf die Fiktion der Chronologie, wie sie als Zeitmodell in der Mitte des 18. Jahrhunderts debattiert wird. Die Bildgeschichte der Maschine mit verschiedenen bildhaften Elementen, verlangt möglicherweise nur aus Gewohnheit nach einer Erzählung.  

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Die nachträgliche, gekürzte Einführung in die Geschichte als Ergänzung zur visuellen Maschine gibt einen Wink auf ein Wissensproblem der Visual History. Das visuelle Wissen durch Bilder bleibt zumindest elastisch und erfordert eine Einführung (Introduction) gleich einer Gebrauchsanweisung, um nicht zuletzt im Gespräch ausgetauscht zu werden. Bis zur Hebung des Schatzes durch Schmidt-Burkhardt konnte die finnische Nationalbibliothek die Introduction nicht zuordnen. Nach der Hebung konnte das Buch nicht mehr für die Ausstellung im Kulturwerk ausgeliehen werden, weil die Sicherheitsmaßnahmen nicht zu finanzieren waren. Ein Foto des Titels muss nun in der Ausstellung ausreichen. Wissen und Wertschätzung sind mit bestimmten Praktiken verknüpft.

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Zahlreiche Exponate der Ausstellung kommen aus Privatsammlungen. Deshalb sind sie als Schätze dem Blick der Öffentlichkeit i.d.R. entzogen. Astrit Schmidt-Burkhardt hat mit der Ausstellung und dem Buch Die Chronologiemaschine nicht nur ein medienhistorisches Novum ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, sie hat mit ihrer langjährigen und hartnäckigen Forschungsarbeit von Bildtheorie, Medien-, Kunst- und Wissensgeschichte ebenso verborgene Schätze von einigem Wert gehoben. Im Kulturwerk sind nun viele Schätze in einem Kontext zu sehen, der aller erst ihre Wertschätzung für Forschung und Publikum einsetzen lässt. Mit der Ausstellung wird nicht zuletzt das 270. Jubiläum der Pariser Chronologiemaschine in Berlin gefeiert.

Torsten Flüh

Stabi Kulturwerk
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts
bis 8. Oktober 2023
Unter den Linden 8
10117 Berlin

Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne.
Berlin: Lukas Verlag, 2022
256 Seiten, 280 Abb., 240 x 310 mm,
Festeinband. durchgängig vierfarbig.
48,- €   


[1] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne. Berlin: Lukas Verlag, 2022, S. 11.

[2] Ebenda S. 22.

[3] D’Alembert, Diderot: Chronologie. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Tome 3. Paris, 1753. (Wikisource)

[4] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 20.

[5] Ebenda S. 29 und in der Totalen gut auf Abbildung 77, S. 71 zu erkennen, ebenso S. 88 bis 91.

[6] Das Leporello ebenda S. 157 bis 230.

[7] Ebenda z.B. 162.

[8] Staatsbibliothek zu Berlin: Ausstellung: Die Chronologiemaschine – Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts. (Termin)

[9] „21 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 1. Moses 2, Vers 21-22. In: Lutherbibel 2017.

[10] Siehe: Archiinform: Newton Kenotaph. Letzte Aktualisierung: 9.8.2023.

[11] Gekürzte Einführung in die Geschichte verschiedener alter und moderner Völker; Enthält die wichtigsten Ereignisse jedes Jahrhunderts und einige Merkmale des Lebens berühmter Persönlichkeiten, von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart. Dient hauptsächlich der Erläuterung der Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg. Zitiert nach Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 9.

Grandioses Großwerk durchglüht

Industrielle Revolution – Antike – Grand Opéra

Grandioses Großwerk durchglüht

Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin

Sir John Eliot Gardiner (80), dem die Einstudierung und Aufführung der ungekürzten Fassung der Grand Opéra Les Troyens von Hector Berlioz durch den Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique sowie mehreren hochkarätigen Solist*innen zu verdanken ist, fiel gleichsam der Revolte eines Sängers auf den Altären von Troja und Karthago zum Opfer. Nach der Aufführung beim Festival Berlioz in La Côte-Saint-André, Auvergne-Rhône-Alpes, dem Geburtsort des Komponisten, sei der Sänger des Priam und Narbal, William Thomas (Bass), zur falschen Seite von der Bühne abgegangen, woraufhin es hinter der Bühne zu einem Disput gekommen sei, an dessen Ende Gardiner den Sänger des Königs von Troja und des Ministers der Königin von Karthago geohrfeigt habe. Fortan übernahm Gardiners Assistent Dinis Sousa bei den Salzburger Festspielen und beim Musikfest Berlin sowie bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall das Dirigat.

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Hector Berlioz schrieb das Libretto zu seiner Oper Les Troyens nach dem Epos Aeneis des römischen Dichters Vergil selbst. Es geht um den Gründungmythos Roms und des römischen Reiches durch den Trojaner Aeneas (Michael Spyres). Insofern Vergil mit Aeneis Motive und Mythen der früheren Illias und Odyssee wiederholt und transformiert, handelt es sich um eine Wiederholung, die von Berlioz ins Format der Grand Opéra im Paris der Industrialisierung transformiert wird. Gefühle und Wissen, Gesetze und Verrat, Erfüllung von Konventionen und Eigensinn, Zukunftswissen und Zufall, Volk und Prosperität spielen bei Berlioz eine strukturierende Rolle. Im aufblühenden Karthago schimmern die Versprechen der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Dido (Paula Murrihy) und Aeneas geben sich als Höhepunkt der unendlichen Ekstase hin: „Nuit d’ivresse/et d’exstase infinie!“, der „Nacht der Glut und des sel’gen Verlangens!“

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Die Grand Opéra Les Troyens in Gänze halbszenisch aufzuführen, war seit Jahren der große Wunsch von Sir John Eliot Gardiner. Die doppelte Tragödie des Untergangs von Troja mit dem Suizid der Cassandra (Alice Coote) wie den Trojanerinnen und des Suizids der Königin von Karthago, Dido bzw. französisch Didon (Paula Murrihy), setzt das antike Format von den Gesetzen der Götter, der Prophezeiung und den Gefühlen der Menschen gleich zweimal ebenso aufwendig wie eindrücklich in Szene. Gardiners, sagen wir, Leitungspraxis ist seit Jahren umstritten. Die Gesetze eines globalen Gleichheitsdiskurses und nicht allein die nun herbeizitierten Ärzte, Medikamente und hohen Temperaturen in La Côte-Saint-André haben Gardiner zumindest tragisch mitgespielt. Die Hochkultur der europäischen Klassik bebt mit Les Troyens und einem Gesetzeswandel.

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Die Aufführung von Les Troyens beim Musikfest Berlin war mit erheblichem Aufwand und einem Comic von Mikael Ross als Plakat und Programm angekündigt und beworben worden. Les Troyens sprengt Dimensionen mit „über sechseinhalbtausend Takte(n) Partitur“[1]. Der Comic bietet nicht nur Bilder von der antiken Sage der Trojaner, nach der Cassandra, Tochter des Königs von Troja, Priamus, franz. Priam, die die Zerstörung Trojas vorhersagt und nicht gehört wird, vielmehr ziehen die Trojaner witzig in Hans Sharouns Philharmonie ein. Dort wird Cassandra ausgebuht. Doch dann wird die Aufführung zu einem Triumph. Der zeitgenössische Comic verknüpft Literatur- und Opernwissen mit den aktuellen Themen einer so großen, weil vielzähligen konzertanten, halbszenischen Opernaufführung.

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Die Erwartungen an eine ungekürzte Aufführung von Les Troyens waren groß. Dennoch war das Haus nicht ausverkauft, was als Verhalten des Klassik- und Opernpublikums kaum nachzuvollziehen ist. Es sei allerdings die Indiskretion erlaubt, dass Sir Simon Rattle und seine Frau Magdalena Kožená der Aufführung beiwohnten. Das war mehr als eine Überraschung, weil die Aufführung um 17:00 Uhr begann und nach 22:00 Uhr endete. Einerseits ist bekannt, dass Sir Simon Rattle selbst ein Interesse für Hector Berlioz hegt und die Grande Symphonie funèbre et triomphale mit den Berliner Philharmonikern zum 50. Jubiläum der Philharmonie 2013 prominent aufgeführt hat.[2] Andererseits wird Dinis Sousa seine Neugier geweckt haben. Dinis Sousa wurde vom Publikum, den Solist*innen, dem Chor und Orchester gefeiert, soviel kann vorweggenommen werden.

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2019 stand die Opéra comique Benvenuto Cellini von Hector Berlioz mit Sir John Eliot Gardiner dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique im Programm des Musikfestes Berlin und gab mit einem Streikchor einen Wink auf die Industrialisierung sowie politische Debatten der 1830er Jahre in Frankreich und Paris.[3] Berlioz begann nach längerem Zögern im April 1856 die Komposition von Les Troyens, nachdem von Mai bis Oktober 1855 in Paris die Exposition Universelle des produits de l’Agriculture, de l’Industrie et des Beaux-Arts stattgefunden hatte und das bekannte Dimensionen sprengende Palais de l’Industrie am Champs-Élysee gebaut worden war. Berlioz hatte zur Weltausstellung im Oktober und November zwei Konzerte beigesteuert. Benvenuto Cellini war schon 1838 in der Pariser Oper mit dem proletarischen Streikchor uraufgeführt worden. In die Spannung von Industrialisierung, Investitionen, Kapitalismus, neuen Großbauten und wirtschaftlicher Blüte, die zugleich ganz Paris und seine Bevölkerung davonrissen, ziehen die Trojaner ins Exil nach Karthago.

© Fabian Schellhorn

Die Zukunft lässt sich in Paris um 1855 schwer vorhersagen. Seit 1838 hat die Geschwindigkeit der Veränderungen zugenommen, als Hector Berlioz mit Cassandra eine Frau, die hellsichtig geworden ist und deren Warnungen nicht gehört werden, zur Hauptfigur des ersten Teils seiner Oper macht. Gegenüber dem Epos wird die Funktion Cassandras viel stärker herausgearbeitet. Das Zukunftswissen spielt in der Oper als Gesetz der Götter eine brutale und strukturierende Rolle, während im zeitgenössischen Paris niemand weiß, ob er/sie morgen unermesslich reich oder bankrott sein wird. Industrialisierung und Finanzkapitalismus machen vor allem Paris zum neuen Dreh- und Angelpunkt der Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Anders gesagt: Das „Vergilische() Herzweh“[4], dass Hector Berlioz in seiner Autobiographie zum Auslöser für die Komposition der Grande Opéra macht und mit der Michael Stegemann in Hectors Schatten argumentiert, kann zugleich in der Industrialisierung liegen, in der alles Versprechen, aber nichts mehr sicher ist.

© Fabian Schellhorn

Im Unterschied zu den prägenden Vergil-Lektüren der Kindheit im ländlichen La Côte-Saint-André kann Berlioz, der mit Rufnamen so heißt wie der älteste Sohn des trojanischen Königs Priamos, Hector, welcher von Achilleus getötet und dreimal um die Stadt Troja geschleift wird, in Paris nicht mehr davon laufen. Er muss seine Erzählung verarbeiten oder die Figur Hector verschieben. Der schreckliche Tod Hectors wird vom Librettisten und Komponisten nicht erwähnt, vielmehr erscheint er Cassandra als um die Zukunft wissender Geist. Die Opernhandlung beginnt mit dem Tod Achills. Opfer will Hector nicht sein.
„SOLDAT
Wisst ihr wohl, wessen Kriegszelt an diesem Ort stolz sich erhob?
TROJANISCHES VOLK
Nein, sag es uns. Hier stand …
SOLDAT
Das des Achills.
TROJANISCHES VOLK weicht entsetzt zurück
Zeus!
SOLDAT
Verweilt, tapfere Männer,
Achill ist tot,
und dort könnt ihr sein Grab erblicken.
Schaut es an.“[5] 

© Fabian Schellhorn

Diese initiale, gleichsam mikrologische Beobachtung des Beginns der fünfaktigen Oper gibt einen Wink auf Berlioz‘ Übertragungsverfahren. Er überträgt nicht nur Vergils Aeneis vom Lateinischen ins Französische, vielmehr noch vom Epischen ins Dramatische, das mit einer neuartigen Subjektposition des Dichtererzählers bei Vergil bereits angelegt war. „Während sich in den Proömien von Ilias und Odyssee kein Verb in der ersten Person Singular findet und der Erzähler der Argonautika erst am Anfang  des zweiten Verses „ich will erinnern“ sagt, folgt bei Vergil schon in Vers 1 unmittelbar auf die knappe Themenangabe Arma uirumque („Waffen und Mann) das selbstbewußte cano („singe ich“).“[6] Das neuzeitliche Auftauchen des Subjekts im Libretto der Oper verändert alles. Kassandra sieht in der Eröffnungssequenz Hector als Wissenden. Im Französischen wird diese entscheidende Übertragung durch Cassandre mit einer Wiederholung noch stärker betont:
„J’ai vu l’ombre d’Hector
parcourier nos remparts
comme un veilleur de nuit.
J’ai vu ses noirs regards
interroger au loin
le détroit de Sigée …
Malheur !“[7] 

© Fabian Schellhorn

Das Sehen als Form des subjetbezogenen Zukunftswissens wird für Cassandre bzw. Kassandra zur Tragödie. Denn sie sieht etwas Anderes, das weder ihr Geliebter Choröbus (Lionel Lhote) noch die Trojaner sehen können oder sehen wollen. Das Trojanische Pferd wird vom Volk in die Stadt gezogen. Der warnende Priester Laokoon wird von Schlangen aus dem Meer verschlungen. Durch die Subjektivierung des Sehens und Wissens von Kassandra und Choröbus schafft Hector Berlioz einen neuartigen dramatischen Konflikt, der ebenso neuzeitlich ist, wie er den Konventionen der Oper entspricht. Die Übertragungen funktionieren auf eine Art und Weise, die aus dem lateinischen Text neuartige Erzählungen entstehen lässt. Der Berichterstatter muss zugeben, dass er nicht vergilfest ist und die Aeneis nicht vollständig kennt. Choröbus kommt im Buch II des Epos in der Schreibweise Coroebus als Geliebter vor, indessen lassen sich die unterschiedlichen Formen des Wissens wie sie im Duett artikuliert werden, nicht finden.[8] Vielmehr meldet sich der Epiker, Vergil in Vers 402 prominent mit einem Ausruf zu Wort, der beide Wissensformen in Frage stellt, bevor sich Coroebus, dem Tode nah, in den Zug der Kämpfenden wirft:
„Heu nihil inuitis fas quemquam fidere diuis!“
(Leider kann man lange Zeit niemandem vertrauen!)

Es ist die Gesangsform des widerstreitenden Duetts, mit der exemplarisch das unterschiedliche Wissen der Subjekte Cassandra und Choröbus inszeniert und verhandelt wird. Die verfehlende oder tragische Liebe des Subjekts, die im Duett von Kassandra und Choröbus besungen wird, trägt Züge der Romantik und ihres Liebesdiskurses. Für den ersten und zweiten Akt der Oper mit dem Schauplatz Troja wird dieser Liebesdiskurs als Problem des subjektiven Wissens strukturierend. Kassandra drängt Choröbus aus ihrem Vorwissen zur Flucht. Doch der „Liebeswahn“ als Form seines Wissens lässt ihn bei ihr bleiben.
„KASSANDRA
Willst du so blind wie sie
darauf bestehen,
zu opfern dich für deinen Liebeswahn?
CHORÖBUS
Ich weiche nicht von dir!“[9]

© Fabian Schellhorn

Hector Berlioz schrieb sein Libretto für das Publikum seiner Epoche in Paris. Dadurch verschiebt sich nicht zuletzt die antike Erzählung. Obwohl er sich an Vergils Handlung orientiert, werden die Sehnsüchte, Diskurse und Ängste der Mitte des 19. Jahrhunderts verhandelt. Es geht weniger um ein Bildungswissen der Antike, als darum im Format der Bildung narrativ und musikalisch den Nerv der Zeit zu treffen. In Karthago stärker als in Troja bis zum Schluss des 2. Aktes kommen die Sehnsüchte nicht zuletzt nach einem gerechten und prosperierenden Staat zum Zuge. Didon bzw. Dido als Königin von Karthago gibt den geflüchteten Trojanern nicht nur Asyl, vielmehr noch ehrt sie ganz nach dem Programm der Weltausstellungen Landwirtschaft, Industrie und die Schönen Künste, die in „constructeurs, matelots, laboureurs“ (Konstrukteure, Matrosen, Arbeiter) übersetzt werden.
„DIDO
Es ward euch zu gefallen
dieser herrliche Tag,
den im Herzen stets bergt,
auf dass er kröne euer Friedenswerk,
auserkoren vor allen.
Naht euch, Männer des Baus,
ihr des Meers, ihr des Felds!
Diese Hand reicht euch dar
die würdige Belohnung
für jenes Wirken, welches Kraft
und Wohlergehn den Staaten verleiht.“[10]

© Fabian Schellhorn

Mit mehreren Pantomimen und Balletten entfaltet Berlioz einen musikalischen Horizont des Staates bzw. eine universelle Staatspraxis, in der das Trojanische wie das Karthagische Volk nicht nur als Chor zu Wort kommt. Märsche und Hymnen ordnen ganz im Sinne eines prosperierenden Staates nicht zuletzt die Arbeiter der Industrie. Gegenüber Benvenuto Cellini gibt es keinen Streikchor. Vielmehr werden die Arbeiter in militärischen Märschen diszipliniert. Vor dem Hintergrund der Barrikadenkämpfe vom 22. bis zum 26. Juli 1848 in Paris, der wechselnden Putschversuche in den folgenden Jahren, liefert Berlioz mit Dido als Königin ein befriedendes Staatsmodell, während im Hintergrund das Gesetz der Götter unerbittlich für Aeneas an der Bestimmung, nach Italien zu reisen, festhält. Das unausweichliche Gesetz der Götter, so sehr es die Liebe zwischen Dido und Aeneas ermöglicht und zerreißt, verspricht eine Stabilität, die es in Paris schwerlich gibt.

© Fabian Schellhorn

Die Ordnung der Natur wird vom Dichter Iopas (Laurence Kilsby) auf Befehl der Königin nicht zuletzt als eine des Staates besungen. In das antike Gewand gekleidet soll Iopas „in der schlichten Hirtenart“ singen. Im Refrain des Liedes wird die römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, Ceres, besungen. Das Hirtenlied, das man auch eine Pastorale nennen könnte, erfüllt nicht nur eine Forderung der Grand Opéra, vielmehr führt es die Ordnung als Natürliches auf. Es naturalisiert gewissermaßen die Ordnung. Das Lied ist von Berlioz besonders schön und eindrücklich komponiert und wurde von dem jungen Tenor Laurence Kilsby bravourös gesungen. Während eine antike Erzählung aufgeführt wird, schimmert doch überall ein Ringen um Ordnung und Gesetze durch, an denen es mangelt:
„O Ceres voll Huld,
wenn begrünt die Flur
zur Feier des Lenzes
du lässest erglänzen,
schallt dir Lob und Preis.“[11]  

© Fabian Schellhorn

Der Suizid der Frauen, also Cassandras, der Trojanerinnen und der Dido ist einerseits im Epos angelegt, andererseits stellt er im Kontext des 19. Jahrhunderts in Paris und der Industrialisierung die Frage nach dem Frauenbild. Cassandra und Dido sind weibliche Herrschaftsfiguren. Während Cassandra durch ihr Zukunftswissen herrscht und machtlos bleibt, quasi nur als Medium von den Göttern missbraucht wird, um die Härte des Gesetzes vorzuführen, ist Dido vielschichtiger zwischen treuer Witwe, Mutterfigur, Schwester und Liebender angelegt. Klaus Heinrich Kohrs hat auf die „Spiegelungen der beiden „personnages dominateurs““ hingewiesen.[12] Seit 1830 kursiert durch Eugène Delacroix in Paris und Frankreich das Bild der Marianne als Nationalfigur mit dem Gemälde La Liberté guidant le peuple. Marianne führt das Volk mit der Trikolore in die Freiheit. Sie trägt eine in der Antike den Männern vorbehaltene Bonnet phrygien oder phrygische Mütze und löst die dynastische Nationalfigur der Francia oder Gallia ab. Es gibt insofern ein gewisses Spannungsfeld des Frauenbildes, in dem Frauen in einem Suizid über sich selbst und ihr Leben bestimmen. Kohrs hört und liest bei Didon gar eine „äußerste() Willenskraft“:
„„Von einer konvulsivischen Energie ergriffen, besteigt Didon mit schnellem Schritt den Scheiterhaufen“, notiert Berlioz in der Partitur.“[13]

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Das Frauenbild der Grand Opéra, das von Berlioz über die Musik auch mit einem psychologischen Wissen von sich selbst ausgestattet wird, spitzt zumindest jenes des Epos zu. Auffällig sind die männlichen Attribute, mit denen die vorbildlichen Frauenfiguren versehen werden. Es geht ihnen um Ehre und Kontrolle über ihr Leben. Anders formuliert: mit dem Suizid, nehmen sie sich das Leben und beenden es nicht nur.[14] Die letztlich auf der Opernbühne pantomimische Geste der Selbsttötung behauptet unter der Herrschaft der Weissagung eine Autonomie des Subjekt, die gerade für Frauen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert fragwürdig oder utopisch ist. Aeneas als prototypischer Mann wird von den Gesetzen der Götter getrieben und unterwirft sich seiner Bestimmung, nach Italien ins Exil zu gehen und Rom zu gründen, während die beiden Frauenfiguren Cassandre und Didon ihre Autonomie behaupten. Wie lässt sich dieses verschlungene Geschlechterverhältnis lösen?

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Das Geschlechterverhältnis als eines neuartiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse für Männer und Frauen spielt eine Rolle für Hector Berlioz. Als Mann und als Namensvetter des antiken Hector muss er Übertragungsprobleme bearbeiten. Insofern die phrygische Mütze der Marianne antikengeschichtlich ursprünglich ein Stierhoden gewesen sein soll und La Liberté damit einen Machtverlust der Männer verspricht, wird von Berlioz mit Cassandre, Didon und Hectors Gattin Andromaque das Geschlechterverhältnis verhandelt. Der Librettist und Komponist findet sich immer wieder verstrickt in den Epos. Kohrs sieht in der Pantomime eine erfolgreiche Übertragung.
„… des toten Hector Gattin Andromaque mit ihrem Sohn Astyanax, deren Pantomime zu einer ergreifenden langen Klarinettenmelodie zum Musterfall einer Seelenbewegung wird. Die Musik im Verein mit der Pantomime repräsentiert hier den inneren Vorgang eines schmerzlichen Ausbruchs der Selbstdisziplin und deren schließliche Wiedergewinnung, die Voraussetzung für das Auferstehen aus dem Schmerz ist.“[15]

© Fabian Schellhorn

Die Pantomime indessen wird seit Ende des 18. Jahrhunderts als Gefühlsmedium entwickelt. Sie ist heutzutage fast völlig als Medium verschwunden. Pantomimen und Lebende Bilder entwickeln seit der Zeit um 1800 eine neuartige Sichtbarkeit von Gefühlen insbesondere mit Antikenbildern z.B. der Lady Hamilton. Doch die Lebenden Bilder werden nicht von Musik begleitet oder gar durch sie zum Sprechen gebracht. Das Weinen der Andromaque, das in der Pantomime auf das Volk übertragen wird, gehört geradewegs zum Repertoire der Pantomimen und Lebenden Bilder. Weit wichtiger als die Sichtbar- und Hörbarmachung der „Seelenbewegung“ wird, dass Berlioz die Kunst der Pantomime so weiterentwickelt, dass ein psychologisches Schauspiel aller erst wahrgenommen werden kann. Die nicht zuletzt mit den Frauenfiguren aufgeworfene Geschlechterproblematik wird quasi durch Berlioz‘ Musik aufgenommen und in eine „Seelenbewegung“ transformiert. Der Gefühlsprozess oder auch die musikalische Gefühlsgeschichte befriedet gleichsam die Geschlechterfrage, indem Hector(!) Andromaque vorspielt, wie sie sich verhalten soll.

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Durch eine erweiterte Lektüre gewinnt Hector Berlioz Grand Opéra Les Troyens eine Vielschichtigkeit, die sich beim Hören und Zuschauen in der Philharmonie an mancher Stelle wie ein Blitz einstellte. Dafür braucht es eine Genauigkeit und Klarheit in der Aufführungspraxis durch exzellente Musiker*innen, Chorist*innen und Solist*innen, die von einem brillanten Dirigat geführt werden. Deshalb wurde der Abend durch Dinis Sousa zu einem Triumph. Ob sich der Dirigent Gedanken um die vielfältige Verflochtenheit der Komposition wie des Librettisten und Komponisten gemacht hat, wissen wir nicht. Sie ließen sich auf ihn übertragen, aber das muss nicht sein. Vielmehr wurde die Verflochtenheit der Grand Opera durch die komplette Aufführung gerade in jenen Passagen, von denen Opernkenner häufig sagen, dass sie als Längen und Wiederholungen verzichtbar seien, man die Partitur also kürzen könne, zu aller erst hörbar. Und das ist ein unschätzbares Verdienst des Projektes, das auf tragische Weise mit Sir John Eliot Gardiner verbunden sein wird. Wie ein Epos für alle Zeit.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023


[1] Michael Stegemann: Hectors Schatten. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2023. Berlioz: Les Troyens, Berlin 2023, S. 15.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013. (PDF unter Publikationen)

[3]  Siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[4] Michael Stegemann: Hectors … [wie Anm. 1] S. 13.

[5] Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Libretto. Berlioz: Les Troyens, (Deutsche Übertragung : Simon Werle) Berlin 2023, S. 4-5.

[6] Niklas Holzberg: Die Stimme der Einfühlung. Vergil als empathischer Epiker. In: Berliner Festspiele: Musikfest … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 6.

[8] Siehe: Publius Vergilius Maro: Aeneis. (Wikisource)

[9] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 10.

[10] Ebenda S. 31.

[11] Ebenda S. 45.

[12] Klaus Heinrich Kohrs: Eine Oper der Frauen: Cassandre und Didon. In. Berliner Festspiele: … Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 25.

[14] Siehe dazu auch: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2017. (PDF unter Publikationen)

[15] Klaus Heinrich Kohrs: Eine … [wie Anm. 12] S. 24-25.

Furiose Gedankenmusik

Lied – Leben – Nichts

Furiose Gedankenmusik

Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin

Das Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin fast schon traditionell mit dem Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam unter der Leitung von Iván Fischer – 2022 hatte Klaus Mäkelä das Orchester durch die 6. Symphonie von Gustav Mahler geleitet – fiel in diesem Jahr mit dessen 7. Sinfonie weniger spektakulär aus. Stattdessen überraschte das ziemlich junge London Symphony Orchestra am Montag unter der Leitung von Sir Simon Rattle mit der 9. Sinfonie von Mahler in einer selten, vielleicht sogar noch nie gehörten Intensität und Zerrissenheit. Das Musikfest Berlin ermöglicht genau diese Hörvergleiche auf höchstem musikalischem Niveau. Die äußerste Konzentration wird nicht nur vom Orchester, sondern ebenso vom Publikum gefordert und mit Glück zum geteilten, unvergesslichen Ereignis.

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Ganz zu Anfang hatten Iván Fischer und das Concertgebouw die Reihe der Musikfest-Konzerte mit Jörg Widmanns Orchesterliedmontage Das heiße Herz eröffnet. Die Komposition nimmt unterschiedliche Lied- und Kompositionsschemata auf, um mit Gedichten von Klabund[1] bis Clemens von Brentano eine Art Welttheater des Liebens für Orchester und Bariton (Michael Nagy) zu entfalten. Das heiße Herz lässt sich in seiner eigensinnigen Form in mancherlei Beziehung zu den Kompositionsweisen von Gustav Mahler setzen. Die Texte aus der Zeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert kombinieren verschiedene Sprechweisen über die Liebe – Sprachen der Liebe. In der Orchesterversion des Concertgebouw wird die Montage waghalsig gegenüber dem Liedzyklus auf 5 statt 8 Lieder ausgedünnt.[2] Text und Ton treten in eine andere Konstellation.

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Die Form Liedzyklus wird von Jörg Widmann mit der Auswahl der Texte in Gedichtform neuartig montiert und komponiert. Die Fallhöhe des ersten Liedes Der arme Kaspar von Klabund mit der Tempobeschreibung „Zögernd, instabil“ gibt einen Wink auf das Kompositionsverfahren wie den Kaspar. Alfred Henschke, der sich den Künstlernamen Klabund zugelegt hatte, veröffentlichte 1922 den Gedichtband Das heiße Herz mit Balladen, Mythen und Gedichten bei Erich Reiss in Berlin. Die „Ballade“ Der arme Kaspar eröffnet in knapper Form den Gedichtband. Während die Ballade als tänzerische Gedicht- wie Liedform i.d.R. eine längere Erzählung umfasst, fällt Klabunds Ballade in diesem Band äußerst knapp aus. Auf Seite 7 passt unter Der arme Kaspar gar noch die erste Strophe der Ballade Laotse.[3] Wobei die Abfolge von Kaspar und großer Namen wie Laotse, Hiob, Mohammed, Montezuma etc. als weitere Balladentitel zumindest eine eigenwillige Auswahl ankündigt. 

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Die Ballade von lateinisch ballare für tanzen wird von Klabund insbesondere durch die kurze Reimform mit den wiederholten Fragen nach woher, wohin, wo, wann zu einer tänzerischen Bewegung. Auf äußerst knappem Raum wird das sich bewegende Ich in einen Strudel der Fragen hineingezogen, die mit der Wiederholung der Fragen nach dem Wohin und Woher endet: „Ich geh – wohin? Ich kam – woher?“ Die Fragen des ebenso instabilen wie armen Kaspar reichen in ihrer Knappheit bis ins „All“, indem Klabund die Begriffe anders verwendet und mit „Viel schwer.“ auf „Viel leicht.“ durch die Schreibweise das Sein des Ich in einen Taumel versetzt. Was durch die Schreib-Lese-Operationen zugleich ins Komische und Satirische kippt, erweist sich in seiner typographischen Mikrologie der Getrenntschreibung als großes Welttheater.

© Fabian Schellhorn

Jörg Widmann zeigt sich mit seiner Titelwahl wie Montage von Gedichten als ein ebenso genauer wie kluger Leser und Komponist. Wird doch die Figur des Kaspar in der Literaturgeschichte als eher komische und lachhafte verortet. Alfred Henschke bzw. Klabund als Künstlername aus Klabautermann und Vagabund verriet ebenfalls eher scherzhafte Züge. Und inwieweit das lyrische Ich der Ballade Der arme Kaspar mit einer Selbstwahrnehmung des Dichters korrespondiert, der sich nicht zuletzt durch seine Liebe lächerlich macht – „Ich steh und fall,/Ich werde sein.“ –, lässt sich nicht festlegen. Schließlich gehört Klabund zu jener Generation deutschsprachiger Dichter, deren Tuberkuloseinfektion nicht nur ihr Leben und Lieben – Das heiße Herz – vorzeitig beendete, sondern im Denken früh beeinflusste.[4]

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Was heißt Romantik für den Liedzyklus von Jörg Widmann, wenn er damit zitiert wird, dass seine „Liebe zur Romantik, die in zahlreichen Anspielungen auf Robert Schumann und Gustav Mahler greifbar“ werde?[5] Romantik wird leicht mit einem Sonnenuntergang am Meeresstrand, roten, lockenden Lippen und roten Rosen verknüpft. Damit räumt Jörg Widmann durch die Montage von Heinrich Heines Das Fräulein stand am Meer pointiert auf. Denn Heine kontert dem Programm der Romantik in ihrer Gefühls- und Liebesprogrammatik mit der naturwissenschaftlichen Vorhersehbarkeit von Sonnenunter- und Sonnenaufgang. – „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt von hinten zurück.“ – In der orchestralen Komposition wechselt ein (romantischer) Walzer als Versprechen von Zweisamkeit in eine Art chaotische Jahrmarktsmusik. Musikalisch wird gerade nicht die Regelhaftigkeit komponiert, vielmehr der Effekt einer Zertrümmerung des Romantischen.

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Jörg Widmann verschiebt mit seiner Komposition das landläufige Wissen um die Romantik und Liebe. Das vermeintliche Epochenwissen von der Romantik mit ihrer Liebesthematik wird von Anfang an mit Klabund auf die Probe gestellt. Es geht vielmehr in die Richtung eines systemischen Selbstzweifels. Denn das (romantische) Ich ringt darum, sich durch die Liebe bestätigt zu finden. Diese Bestätigung wird ihm oft verwehrt. Ob in Des Knaben Wunderhorn oder Clemens Brentanos Litanei Einsam will ich untergehn steht das Ich radikal in Frage zwischen Gottverlassenheit und Untergang als „Herz in deinem Herzen“. Dass das Bariton-Ich in der Orchesterversion oft vom Orchester übertönt wird und in ihm untergeht, lässt sich auch als ein weiterer Wink auf die Brüchigkeit des Subjekt in der Romantik hören und bedenken. Widmann schichtet in seiner Komposition mehr die Ebenen von Text, Stimme und Orchester, als dass er sie instrumentiert.

© Fabian Schellhorn

Der Liedzyklus, der auf eine, wie es im Programm heißt, Auswahl gekürzt worden war, bleibt offen. Jörg Widmann war jedenfalls anwesend und wurde wie der Solist und der Dirigent vom Publikum gefeiert. Die Textverständlichkeit und ihre Schwächung durch das Orchester schienen zu Widmanns Kalkül zu gehören. Das Genre des Orchesterliedes wurde insofern Gegenstand der Befragung durch die Komposition und Instrumentation. Das hört sich bei Widmann und der Interpretation durch Iván Fischer und dem Concertgebouw Orchestra facettenreich und transparent an. Die Nähe und die Differenz zu Gustav Mahler wurde indessen mit der 7. Sinfonie spürbar. Diente die Kürzung nur, um die Überlänge von ca. 80 Minuter der Siebenten nicht auf den ganzen Orchesterabend auszudehnen? Von Romantik wird man selbst beim Andante amoroso als Tempo des 4. Satzes schwerlich sprechen können. Was könnte an diesen Brüchen amourös und landläufig romantisch  sein? Oder soll die „Nachtmusik“ des 2. und 4. Satzes eher an „Nachtstücke“ eines E.T.A. Hoffmann oder eines Robert Schumann erinnern?

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Der 1. Satz Langsam (Adagio) – Allegro risoluto, ma non troppo lässt an eine wilde Filmmusik mit Reitern denken. Es bäumt sich in der 7. Sinfonie von Mahler wiederholt eine Art Ritt oder ein Getriebenwerden auf. Dadaa Dadadadaa. Geht es um angriffslustige Männlichkeit mit den fanfarenartigen Motivfetzen? Sind die verfolgungsartigen Nachtmusiken mit den für den Liedgesang verwendeten Instrumenten Gitarre und Mandoline ebenso wie als solistisch behandelte Erinnerungen an Liebeslieder? Die 7. Sinfonie führt eine Art Schattendasein im Repertoire wie das „Schattenhaft“ des 3. Satzes. Und dann gibt es da die Herdenglocken im Scherzo, die anders als Apotheose im 5. Satz wiederkehren. Wie lässt sich die 7. Sinfonie dirigieren, interpretieren und hören?

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Der Berichterstatter rang mit den Motivfetzen als Gedankenfetzen des 1. Satzes. Sir Georg Solti soll geschrieben haben, dass ihm die Siebente „wie das Werk eines Verrückten“ vorgekommen sei.[6] Die Fanfarenmotive stehen zumindest im äußersten Wiederspruch zum wiederholten Abbruch der Ankündigung eines Aufbruchs. Die anklingenden Fanfaren zeitigen den Filmmusikeffekt, der nicht ein- oder aufgelöst wird. Vielleicht gibt es keinen Aufbruch eines Mannes mehr als einer Frau einzulösen. Es ist lediglich und womöglich gar eine kasparhafte Geste des Aufbruchs, die zu nichts führt. Die Siebente führt zu nichts – und das ließe sich pointiert herausarbeiten. Das Rondo-Finale des 5. Satzes erreicht mit den scheppernden Herdenglocken keine Apotheose, vielmehr bleibt das Glockengeläut hohl und leer. – Übrigens erklingt in der 9. Sinfonie noch einmal ein Glockengeläut, aber nicht mit Herden- oder Kuhlocken, sondern mit Glockenspiel und 3 tiefen Glocken an, eher schatten- oder schemenhaft.

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Was passiert also, wenn der Berichterstatter während der Aufführung der Frage nachgeht, was er hört? Er schreibt sich mit dem Musikfest-Bleistift Worte mit Fragezeichen ins Programmheft. „Schlaflosigkeit“ „Glockengeläut am Schluss Chaos?“ „Frage der Männlichkeit“ Wie deutlich sollen die Liedbegleitungsinstrumente Mandoline und Gitarre zu hören sein? Gesungen wird nicht. Ließe sich das stärker hörbar machen? Ist die Serenade nur noch eine Erinnerung an erotische Abenteuer eines Mannes? „Alles wieder gut?“ Oder gerade nicht. „Gedankenmusik“ – Iván Fischer dirigiert das Concertgebouw Orchestra vom Blatt. Die Frage von Chaos, vielleicht Verzweiflung, oder abschließender Konklusion durch ein „Es ist alles wieder gut, nach all der Verwirrung und Hektik“ wird von Fischer mit seinem Dirigat nicht entschieden. Laut ist keine Lösung, aber das Publikum applaudiert. So gab es beim Eröffnungskonzert zwei Schwachpunkte: die mutwillige Kürzung von Jörg Widmanns Das heiße Herz und eine gute, aber uninspirierte 7. Sinfonie.

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Möglicherweise lassen sich die Interpretationen der Sinfonien von Gustav Mahler, vor allem die 5., 6., 7., 8., Das Lied von der Erde [7], 9. darin einteilen, wie stark der dumpfe Hammerschlag in der Sechsten beachtet wird oder nicht. Claudio Abbados Aufführung von Das Lied von der Erde als Requiem für einen Atheisten zum 100. Todestag des Komponisten 2011 bleibt ein Referenzerlebnis. Dann wird es entweder weiter seicht oder radikal. Hört, ja, liest man Gustav Mahler von der 9. Sinfonie, also vom Ende her, lässt sich die Radikalität in seiner Gedankenmusik nicht überhören. Denken die Gedanken mich oder denke ich mich? Bin ich Subjekt oder Objekt? Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden lässt sich ein instabiler Text von Heinrich von Kleist mit ungewisser Herkunft und fragwürdigem Adressaten nennen. Mit einer Anekdote aus der Französischen Revolution konterkariert Kleist in dem Text den Verstand des Subjekts und macht es abhängig vom „Zucken einer Oberlippe“:
„Vielleicht, daß es – auf diese Art – zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“[8]

© Fabian Schellhorn

Mahler befragt mit seiner 9. Sinfonie nicht zuletzt im 2. Satz mit Etwas täppisch und sehr derb die Geschäftigkeit des Lebens im Angesicht des Todes voller Ironie. Im Adagio gibt es nur noch Gedankenfetzen, die sich unvermittelt und in gewisser Weise belanglos vor dem Nichts oder auch aus dem Nichts einstellen. Weder Motive noch Gedanken werden kontextualisiert oder ausgeführt. Um die Sinfonie, die keine mehr ist, nicht zerfasern zu lassen, braucht es Intensität, äußerste Konzentration. An diesem Punkt setzt Sir Simon Rattle mit dem, man kann es gar nicht oft genug sagen, sehr jungen London Symphony Orchestra einen neuen Standard. Die Orchestermusiker*innen sind dem Dirigenten für die Erfahrung dieser Intensität offenbar dankbar. Vielleicht bleibt nichts als diese Intensität, die im Gegensatz zur Geschäftigkeit sich hetzender Gedanken steht.

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Sir Simon Rattle dirigiert nicht vom Blatt, sondern aus seinem Körper. Die großen Symphonieorchester wie die Berliner Philharmoniker[9] oder das Concertgebouw haben ein eigenes, gewissermaßen instutionalisiertes Musik- und Praxiswissen generiert, das in ihnen zirkuliert und auch einschränken kann. In Klangkörpern, wie man sagt, bildet sich Wissen heraus und kursiert in ihnen. Beim London Symphony Orchestra ließ sich mit der 9. Sinfonie von Gustav Mahler hören und beobachten, wie ein solches Klangkörperwissen insbesondere durch die Praxis entsteht, indem der Dirigent sein Mahler-Wissen an es heranträgt. Intensität und Konzentration sind alles und können zu einer Entdeckungsreise werden. Umso mehr störte den Berichterstatter sein gewiss freundlicher, aber mit seinem linken Bein zuckender Sitznachbar, dessen Gegenrhythmus auf die Rücklehne übertragen wurde. – Dennoch konnte das LSO unter Sir Simon Rattle so sehr überzeugen, dass das Publikum nach einem längeren Moment der Stille in Ovationen ausbrach.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023 


[1] Zu Klabund siehe: Torsten Flüh: Vom literarischen Kosmopoliten. Zu Alfred Henschke genannt Klabund – Ick baumle mit de Beene im Theater im Palais und seinem Roman Pjotr – Roman eines Zaren. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Januar 2023.

[2] Siehe: Jörg Widmann: Das heiße Herz. Mainz: Schott Music, 2018. (Website)

[3] Klabund: Das heiße Herz. Berlin: Erich Reiss, 1922, S. 7. (Internet Archive)

[4] Siehe: Torsten Flüh: Von … [wie Anm. 1].

[5] Olaf Wilhelmer: Liebesfreud, Liebesleid, Liebeslied. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin Eröffnungskonzert: Royal Concertgebouw Orchestra/Iván Fischer 26.08.2023.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Zum Lied von der Erde siehe: Torsten Flüh: Requiem für einen Atheisten. Claudio Abbado dirigiert Das Lied von der Erde und spricht über Politik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Mai 2011. (PDF unter Publikationen)

[8] Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. (zuerst veröffentlicht postum 1878 Wikisource)

[9] Zur 8. Symphonie von Gustav Mahler siehe auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Klangwolke.
Berliner Philharmoniker spielen unter Sir Simon Rattle die 8. Symphonie von Gustav Mahler. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2011. (PDF unter Publikationen