»ça a été«

Witz – Mikro – Wissen

»ça a été«

Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg

In der Extended Library der HFBK am Hamburger Eilbekkanal über der Eingangshalle mit dem hohen Hellglasfenster Die schöne Botschaft Willy von Beckeraths fand anlässlich des ersten Todestages von Marianne Schuller die Tagung Lesen und Schreiben – Figuren des Kleinen statt. Zum Treppenhaus ist die Regalwand mit Scheiben durchbrochen. Die Erweiterung der Bibliothek deutet einen Raum an, der über die Geschlossenheit einer kanonischen Bibliothek hinausgeht. Fetting, Feuerbach, Fiebig, aber auch Caspar David Friedrich stehen im Regal. Für ihr Buch Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen verwendete Marianne Schuller ein Detail aus Giovanni Battista Piranesis Carceri d’invenzione. Treppen und Brücken mit winzigen Zeichnungen wimmelnd geschäftiger Arbeiter, die an Maschinenkonstruktionen vorbei in eine Höhe und Tiefe zugleich, in ein Nichts führen.

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Marianne Schuller war der HFBK auf vielfältige Weise nicht zuletzt über Debatten zum Feminismus und einer feministischen Literaturwissenschaft verbunden. Zwischen der Hochschule für bildende Künste im Lerchenfeld 2 und dem Philosophenturm der Universität Hamburg im Von-Melle-Park 6 entfalteten sich ihre Forschungen, Interventionen und ihre Lehre. Auf der Tagung sprachen Weggefährt*innen wie die ehemalige Presse- und Öffentlichkeitsreferentin der HFBK Karin Pretzel und die ehemalige Professorin für Ästhetische Theorie an der HFBK Michaela Ott. Gunnar Schmidt, der 2003 zusammen mit Marianne Schuller das titelgebende Buch Mikrologien. Philosophische und literarische Figuren des Kleinen publiziert hatte, verlas den Vortrag des verhinderten Jürgen Link. Zusammen mit Iris Därmann und Günther Ortmann hat er den Band Marianne Schuller: Bunte Steine Texte 1984-2023 herausgegeben. Karl-Josef Pazzini, Julia Pestalozzi und Ute Gerhard trugen weitere an Marianne Schuller erinnernde Vorträge bei.

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Die Teilhabe, in Momenten gar Teilnahme am Lesen und Schreiben von Marianne Schuller hat wenigstens Studienverläufe, wenn nicht gar Lebensläufe beeinflusst. Karin Pretzel erinnerte bei ihrer Begrüßung an ihre häufiger gebrauchte Formulierung „Ja, Mensch“, indem sie den Titel der Rede von Julia Pestalozzi vorwegnahm. Sie konnte nicht nur mit Ausrufezeichen zwischen Verwunderung und das Menschliche aufrufend vielfältig intoniert werden. Der Ausruf konnte ebenso mit Frage- oder Pausenzeichen, Gedankenstrich danach. Vis-à-vis gesprochen konnte Marianne Schullers „Ja, Mensch“ Leben verändern. Sie schaffte Nähe und Distanz gleichzeitig nach Karin Pretzel, schwebte im Zwischenraum. Für das Tagungsprogramm erinnerte sie an den Schluss des Vor-Worte(s) Nanologie aus Mikrologien:
„Nano- und Mikrochiptechnologie, Mikrobiologie, mikroinvasive Chirurgie, Quantencomputer, Elektronenrastermikroskopie. Winzige Rechner und Roboter werden erdacht, die, versteckt in Geräten und Körpern, Arbeiten verrichten. Diese Zwergenwelt ist alles andere als schwach und gewiss nicht mehr zu schlagen. Im Gegenteil, als ubiquitäre Anwesenheit kommt ihr eine Mächtigkeit zu, die bisweilen paranoisch erlebt wird. (…) Das Kleine in technischer Form ist kein schöner Schmetterling, es ist eine verstreute Großtechnologie.“[1]  

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Die technischen Formen des Kleinen operieren nicht nur mit Wissen z.B. im „Elektronenrastermikroskop()“ bzw. dem Rasterelektronenmikroskop, sie generieren zugleich ein solches in einer Repräsentationslogik, wenn hier nur einmal an die großformatigen Hintergrundbilder von SARS-CoV-2 in den Nachrichtensendungen von 2020 erinnert werden darf.[2] Ganz zu schweigen von den Menschenversuchen Elon Musks mit dem Chip Neuralink. Marianne Schuller und Gunnar Schmidt haben frühzeitig auf die Fragen an die Macht des Kleinen aufmerksam gemacht. Die Rechenprozesse bringen das Kleine zugleich hervor, wie sie mit dem Binarismus von 0 und 1 errechnet werden. Viele haben forschend daran, wie Marianne Schuller zeitweilig mit Vorliebe sagte, angedockt. Die literarischen Figuren des Kleinen aus der Zeit um 1800 wie 1900 geben weiterhin einen Wink auf andauernde Fragen nach dem mächtigen kursierenden Wissen und Wissensformen.

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Bevor auf die einzelnen Vorträge eingegangen werden soll, darf an dieser Stelle an das rahmende Umschlagbild von Moderne. Verluste.[3] mit einem Detail aus Carceri d’invenzione von Piranesi erinnert werden. Die Carceri begründeten quasi Piranesis Ruf in der Moderne. „Er wurde gefeiert als Vorläufer des Expressionismus und Surrealismus und in erster Linie mit seinen »Carceri d‘invenzione« identifiziert, einer Serie wilder, alptraumhafter, mit sadistischen Handlungen gespickter Kerkerszenen“, urteilten Georg Schelbert und Moritz Wullen 2020.[4] Doch zum Frontispiz der Serie geht Felicitas von Beughem detailliert und sich als „Betrachter“ imaginierend auf den bedenkenswerten Kerkerraum ein, der auf das Wissen wie den Wahn ebenso wie den Traum anspielt. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Radierung von 1761 mit 55 x 41,9 cm kleinformatig ausfällt.
„Als Betrachter betreten wir ihn (den Kerker, T.F.) durch einen dunklen Bogen und haben Sicht auf ein Wirrwarr aus Balken, Brücken, gemauerten Rundbögen, Ringen und Ketten. Der Raum scheint sich zum rechten Bildrand in undurchschaubaren Gewölben auszudehnen, sodass es nicht möglich ist, ein Ende zu erkennen, geschweige denn eine klare Raumstruktur.“[5]

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In der Forschung zur Sprache und dem Sprechen ging es Marianne Schuller, wie sich schon in ihrem frühen Text Hörmodelle zu Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti von Ingeborg Bachmann ankündigte, um die „lautliche Qualität von Sprache“[6] und die „Musikalität der Sprache des Imaginären“.[7] Die Reihe der Vorträge eröffnete Iris Därmann, Professorin für Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, nicht zuletzt deshalb einer „Fährte“ Marianne Schullers zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert folgend, mit Kinder versammeln. Benjamins Theorie der Kindheit habe die Sprache erweitert um das, was sich ihr entziehe. Iris Därmann entwickelte an dem Beispiel von Fernand Delignys Zusammenleben mit sogenannten „autistischen“ Kindern in den Chevenen ein Denken des Menschlichen, das nicht dem Gesetz der Sprache unterworfen ist. 2019 hatte Leon Hilton auf my-blackout.com mit Mapping the Wander Lines: The Quiet Revelations of Fernand Deligny die „Fährtenlinien“ der Kinder neuerlich ins Interesse gerückt.

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Die Frage nach der Sprache und dem Kommunikationsvermögen von Kindern, die nicht sprechen, schneidet zugleich den Bereich der Psychiatrie an, den Gilles Deleuze und Félix Guattari mit Tausend Plateaus kritisch bearbeitet haben. Milles Plateaux gehörte seit der Übersetzung ins Deutsche 1992 zu den Theorietexten, die in den Seminaren von Marianne Schuller gelesen wurden und mit denen Haus-, Bachelor-, Masterarbeiten sowie Dissertationen und Habilitationen bei ihr entstanden.[8] – In Lothar Lamberts Die Liebeswüste geht es ebenfalls um die Sprache und eine stumme Frau (Ulrike S.), die aus der Psychiatrie entflohen ist.[9] Anders gesagt: es ließe sich mit Tausend Plateaus eine Kartografie der Fluchtlinien der stummen und unter dem Trenchcoat nackten Frau durch Berlin zeichnen. Fernand Deligny wurde für das Denken der Karte und des Rhizoms für Deleuze und Guattari wichtig, woran Iris Därmann verstärkend anknüpfte:
„Fernand Deligny transkribiert die Linien und Bahnen autistischer Kinder, er macht Karten: er unterscheidet sorgfältig zwischen „planlosen Linien“ und „gewohnten Linien“. Und das gilt nicht nur für das Gehen, es gibt auch Karten von Wahrnehmungen, Karten von Gesten (kochen oder Holz sammeln) mit gewohnten Gesten und planlosen Gesten. Ebenso für die Sprache, wenn es sie gibt. Deligny hat seine Schriftlinien für die Lebenslinien geöffnet.“[10]

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Für Marianne Schuller war in der Lehre wichtig, Theorie-Texte zu lesen, obwohl dieser Zug in ihren Texten heute von jungen Forschenden nicht gleich lesbar werden könnte. Sie zitierte Theorien von Sigmund Freud, soweit die Psychoanalyse als Theorie gedacht werden kann, Jacques Lacan, Jaques Derrida, Roland Barthes, George Didi-Huberman, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Marcel Mauss, Julia Kristeva, Carlo Ginzburg etc. nicht als Wissen, vielmehr knüpfte sie an ausgelegte Fährten der französischen Theoretiker*innen an. Das war im forschenden Schreiben für und mit Marianne Schuller keinesfalls einfach zu praktizieren, vielmehr erforderte es einen Bruch mit der Tradition einer akademischen, Wissen zitierenden Schreibweise. Fast als ein methodologischer Kontrast dazu hörte sich Jürgen Links von Wissen sprühender Vortrag Die kleinen Chocs der Moderne. Statische Normalisierung und literarische Denormalisierung, von Gunnar Schmidt vorgelesen, an.

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Mit der Normalisierung knüpft Link an Michel Foucault an. Jürgen Link und Marianne Schuller waren seit ihrer frühen Zeit in Bochum Weggefährt*innen nicht zuletzt durch die medienkritische und diskurswissenschaftliche Zeitschrift KultuRRevolution, die er seit 1982 herausgibt. Marianne erwähnte sie gelegentlich in ihren Vorlesungen, um eine Hörerinnerung mitzuteilen. Der Normalisierung gilt es entgegenzuwirken. Eine Kulturrevolution verspricht eine Denormalisierung. Im Kontext der Geschichte der Volksrepublik China bekam der Begriff Kulturrevolution für mich in Shanghai wenig später, Mitte der 90er Jahre, einen ganz anderen Klang. Mao’s Kulturrevolution von 1966 bis 1976 hatte einen entschieden totalitären Charakter, der zwischenzeitlich eher schleichend unter Xi eine weitere nationalistische Kulturrevolution totalitärer Einheit gefolgt ist. Link erinnerte in seinem Vortrag nicht zuletzt an die Forschungen von Marianne Schuller und „die massenhaft kleinen Chocs in der Moderne“ bei Benjamin und Baudelaire. Der „Normalismus“ führe seit der Zeit um 1800 zu verdateten Gesellschaften.

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Karl-Josef Pazzini erinnerte in seinem Vortrag Marianne Schuller hört Kafka lachen an das Lachen in den Texten von Franz Kafka. Sie habe die Texte mit Freud als ein Überbleibsel ihres Medizinstudiums gleichsam auf Symptome abgehört. 2016 veröffentlichte sie in RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse den Text Ein «großer Lacher». Kafka. In einem Brief an Felice gehe es 60mal ums Lachen. Nach Pazzini habe Marianne darin etwas von sich wiedererkannt. Es sei ein keine Bedeutung produzierendes Lachen. Einmal abgesehen von Kafka, kam Marianne Schuller verschiedentlich auf das Lachen, das sich einer Kontrolle der Lacher*in entziehe, zurück.  Das Lachen platze aus einem heraus. Das Lachen räume nach Pazzinis Lektüre den Zwang zur Seite, alles verstehen zu müssen. Dem Lachen nachgehört, könne es auf vielfältige Weise entstehen. So könnten Entsetzen und Erschrecken plötzlich auflachen lassen. Zugleich sei das Lachen Lustquelle und Jouissance in einem. Und mit Marianne Schuller gab Karl-Josef Pazzini zu bedenken:  „Wieso soll denn das Hören ein Fernsehen sein?“

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Die für Marianne Schuller nicht zuletzt als Verfahren des Hörens und Sehens wichtige Psychoanalyse spielte zugleich in der Rede „Ja, Mensch!“ – Höre ich sie noch sagen von Julia Pestalozzi auf verwandtschaftlicher Ebene eine diskrete Rolle. Julia Pestalozzi wurde 1934 in Budapest geboren, studierte dort wie in Zürich als auch in London, heiratete Marianne Schullers Verwandten Pestalozzi und wurde eine schwesterliche Zuhörerin wohl nicht zuletzt am Telefon. Sie praktiziert als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Basel. In ihrer persönlichen Rede von den Erinnerungen an die 8 Jahre jüngere Marianne bzw. Manni rief sie nicht zuletzt die generationellen Verstrickungen in der Familie auf.[11] Julia Pestalozzi erwähnte fast schon als Nachwort, dass es in ihrer Familie in Budapest jüdische Verwandte gegeben habe. Der biographischen Redeweise stand Marianne Schuller im Kontext ihrer Literaturforschung ablehnend gegenüber. Mit Julia Pestalozzis Rede indessen, die sie insbesondere an Heidrun Kaupen-Haas als Hinterbliebene adressierte, tat sich indessen ein Riss auf. – Das Verfahren der Psychoanalyse im Lesen, Hören und Schreiben war auch überlebenswichtig gewesen.

Blick über die Außenalster mit den Mundsburg-Türmen und dem Kirchturm von St. Gertrud in der Nähe der HFBK.

Die hohe Intensität der Tagung, die intensive Adressierung der Redebeiträge an Marianne Schuller hatten zweifellos mit der Rede von Julia Pestalozzi dem Sagbaren, dem Angedeuteten und der schwesterlichen Hinwendung einen besonderen Punkt erreicht. Das Tagungsessen an der Alster in einem gehobenen italienischen Restaurant soll schon deshalb erwähnt werden, weil sich unter zunächst wenig Bekannten oder gar Unbekannten ein respektvolles, fast enthusiasmiertes Gespräch entspann. Das geheimnisvolle Spiel von Nähe und Distanz, das sich beizeiten mit Marianne einstellte, stiftete Gegenwart und Abschied. Sollten die Gespräche, die Hinwendungen noch über den Abend und die Tagung hinausgehen? Zumindest versicherten sich die Teilnehmenden untereinander, dass die Stimmung für einen Moment mit der An- wie Abwesenheit von Marianne Schuller zu tun gehabt habe. „Das ist sie auch gewesen.“

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Am Sonntagmorgen rückte Ute Gerhardt Marianne Schuller als Theoretikerin des Witzes und Lachens in Erinnerung, indem sie die Fluchtlinien des Kleinen in Siegfried Kracauers Roman Ginster von 1928 verfolgte. Und sie erinnerte sich an Marianne, die in Bochum auf Tische und Stühle gesprungen war. Zugleich rahmte sie ihren literaturwissenschaftlichen Vortrag mit dem Hinweis auf die aktuelle Debatte der „Kriegstüchtigkeit“. Denn Ginster entziehe sich den Kategorien des Normalen und der Normalität. Dem Protagonisten gehe es darum, sich in seiner witzigen Wendung zum Drücken und Drückeberger dem Krieg zu entziehen. Dafür setze er das Verfahren des Witzes ein. Kracauer habe den Roman anonym veröffentlicht und so schon im Titel formuliert: als habe Ginster ihn selbst geschrieben: Ginster Von ihm selbst geschrieben. Damit habe Kracauer auch die traditionelle Autobiographie verfremdet. So werde in Ginster und mit Ginster durch das Kleine und Verschwinden mit Witz formuliert, wenn es im Musterungsraum um die statistische Vermessung für die Kriegsteilnahme geht und er sich über den Begriff Volk wundert:
„Ginster hatte immer nur Leute kennengelernt. Niemals Völker.“[12]

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Die Originalausgabe von Siegfried Kracauers anonym im Berliner S. Fischer Verlag veröffentlichten Roman schlägt bereits in der Eröffnungssequenz die Themen des Einzelnen und der Masse mit den Verfahren des Witzes an. Der Name sei „ihm aus der Schule geblieben“[13], womit sich eine ganze Reihe von Assoziationen des oft streng riechenden Ginsters ergeben. Häufig kommt er auch als Stechginster vor. Syntagmatisch weckt der Witz Erwartungen, die auf paradoxe Weise nicht eingelöst werden: „Es befriedigte Ginster, daß der Kellner einem Klub die Treue hielt, der niemals kam.“ Ginster beherrscht den Sprachwitz, indem er sich schon eingangs durch Homonyme von der „Masse“ ironisch abhebt. Als er auf einem Platz der Stadt M. auf eine Menschenansammlung stößt, werden deren Köpfe zu „Kopfpflaster“ bzw. Kopfsteinpflaster:
„Der helle Nachmittag lud dazu ein, auf ihren Köpfen spazieren zu gehen, die wie Asphalt glühten. Ginster wurde durch die Vorstellung erschreckt, daß das Kopfpflaster plötzlich auseinanderbrechen könnte.“[14]

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Michaela Ott knüpfte in ihrem Vortrag Minoritär-Werden von Philosophie und Kunst ebenfalls an Gilles Deleuze/Félix Guattari mit Zeichnungen und Wortmutationen der HFBK-Absolventin Nanne Meyer an. In den Zeichnungen der Linien werden Formen angedeutet, während zugleich die Wörter mit Adverbien wie, aber oder wie immer kleiner werden. Michaela Ott erinnerte daran, dass sich im nächsten Jahr der 100. Geburtstag von Gilles Deleuze jähre. Ohne Deleuze wäre sie nicht an der HFBK gelandet, aber auch nicht ohne Marianne. Das von Deleuze eröffnete Denken des Werdens habe sich gegen die Philosophiegeschichte als Geschichte eines Unterdrückers geäußert. Das Minoritärwerden wende sich gegen die Statik der Größe und Klarheit. Deleuze habe sich gegen die Nichtbeachtung der in Frankreich aus Afrika lebenden Schriftsteller gewendet, was für ihre Forschungen wichtig wurde. Damit habe er großen Einfluss auf ihre eigenen Forschungen wie den afrikanischen Film ausgeübt.

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Mit seiner frei vorgetragenen Rede Organisationstheoretische Mikrologien erinnerte Günther Ortmann zunächst an den Salon von Marianne Schuller und Heidrun Kaupen-Haas in der Bornstraße. – Bornstraße ist auch für mich ein Zauberwort. In der Bornstraße 7c wohnten meine Großeltern in der 5. Etage unter dem Flachdach, die ich als Kind oft besuchte. Im Betonteich des Von-Melle-Parks der Universität wollten die Spielzeugschiffe nicht so recht schwimmen. Später Philosophenturm und Marianne. Jüdisches Leben als literarischen Spaziergang für die VHS. – Günther Orthmann hatte im November 2016 zusammen mit Marianne Schuller die transdisziplinäre Tagung »Was ich berühre, zerfällt« „Organisation, Recht, Schrift – Kafka“ im Haus Huth der Daimler und Benz Stiftung in Berlin organisiert. Aus der Tagung ist 2019 der Band Kafka – Organisation, Recht, Schrift hervorgegangen. Durchaus mikrologisch eröffnete Günther Ortmann seinen Beitrag mit dem Comic Yo! Yes? von Chris Raschka.[15] Durch die lautliche Begrüßung „Yo!“ werden zwei Jungen schließlich zu Freunden.

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Ortmann entwickelte aus dem „Yo!“ in freier Rede eine praxeologische Organisationstheorie vom Begrüßen und Danken als Formen des Tausches. Dabei erwähnte er zugleich das an Marianne erinnernde Lachen als ein Geschenk. Denn der Dank sei eine Sache, zu der man nicht verpflichtet ist. Zugleich wird der Dank in unterschiedlichen Kulturen ganz verschieden verbalisiert oder durch Gesten bekundet. Seine Organisationstheorie basiert auf der Rekursivität, zu der Günther Ortmann in der Rede wie im Kafka-Band bemerkte:
„Organisationen lassen sich nach alledem als Veranstaltungen/Einrichtungen selbsterzeugter Gesetzlichkeit auffassen, deren Abgründigkeit latent bleiben muss und von ihnen auch fast immer, auch unter Einsatz organisationaler Mittel, latent gehalten wird. Die Gefahren und die Unheimlichkeit dieser Selbstreferentialität und Rekursivität blitzt nur von Zeit zu Zeit auf“.[16]

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Die Tagung endete mit einem Video aus Fotos, die Claudia Reiche von Marianne Schuller 1989-1991 gemacht hatte. Nach der Projektion kommentierte sie die Fotos kurz:
„Es ist einfach so, dass das Fotografieren mit der Spiegelreflexkamera eine optomechanische Inszenierung von Nachträglichkeit bietet: Sobald der Auslöser gedrückt wird, verschwindet mir das Bild  kurz im Sucher, das heißt, fotografieren, was gewesen sein wird.“
Marianne lächelte, wurde wieder ernst und wir machten noch ein Foto.

© Claudia Reiche

In der Fotografie ist es vor allem die Zeitlichkeit, die Roland Barthes in seinem Buch La chambre claire, ein Buch des Abschieds und der Trauer, mit dem nur unscharf zu übersetzenden »ça a été« formuliert hat.

Torsten Flüh

post scriptum: Eine auf die Beiträge der Tagung bezugnehmende Auf-Zeichnung von Erik Porath:

© Erik Porath

Marianne Schuller
Bunte Steine
Texte 1984-2021.

Herausgegeben von Iris Därmann, Günther Ortmann und Gunnar Schmidt.
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2024.
39,90 EUR


[1] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003, S. 24-25.

[2] Siehe zur Sichtbarkeit von SARS-CoV-2: Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

Siehe auch die frühe Besprechung zu Verschwörungstheorien während der Pandemie: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[3] Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 1997.

[4] Georg Schelbert, Moritz Wullen: Das Piranesi-Prinzip. Einführung, Gruß und Dank. In: dieselben (Hg.): Das Piranesi-Prinzip. Berlin: E. A. Seemann, 2020, S. 4.
Siehe auch die Online-Ausstellung: Das Piranesi-Prinzip. Zum 300. Geburtstag des großen italienischen Meisters. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin.

[5] Felicitas von Beughem: Kat. 13 Kerker (Titelblatt) In: Georg Schelbert, Moritz Wullen: Das … [wie Anm. 4] S. 58.

[6] Marianne Schuller: Hörmodelle. Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti [Ingeborg Bachmann]. In: Marianne Schuller: Bunte Steine. Texte 1984-2021. Herausgegeben von Iris Därmann, Günther Ortmann und Gunnar Schmidt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2024, S. 12.

[7]  Ebenda S. 16.

[8] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve 1990.

[9] Vgl. zur Sprache ebenso wie der Thematisierung des Mediums Film mit dem Schneidetisch im Film in Korrespondenz mit Hörspiel bei Ingeborg Bachmann der „Rasierklingenmann“: Torsten Flüh: Mehr Ruhm! Lothar Lambert zum 80. Geburtstag und seine Filmen Die Liebeswüste, Verbieten Verboten und Fucking City. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Juli 2024.

[10] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend … [wie Anm. 8] S. 277.

[11] Wir wissen nicht, ob sich Marianne Schuller auf die Frage der „Literatur, Autofiktion und Fiktion“, wie sie von Falk Richter mit The Silence auf die Bühne gebracht worden ist, hätte anfreunden können. Doch es gibt einen generationellen Wink hinüber in das Familiäre und die Geschichte. Siehe: Torsten Flüh: Auf dünnem Eis. Zur gefeierten Deutschen Erstaufführung von Falk Richters The Silence an der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Dezember 2023.

[12] Bedenken ließe sich mit dem Namen Ginster die gleichnamige Buschpflanze, die zur Unterfamilie der Schmetterlingsblütler gehört. So wurde bereits 1753 von Carl von Linné der Deutsche Ginster beschrieben und kategorisiert.

[13] (Siegfried Kracauer:) Ginster. Von ihm selbst geschrieben. Berlin: S. Fischer Verlag, 1928, S. 9.

[14] Ebenda S. 9-10.

[15] Chris Raschka: Yo! Yes? United States: Orchad Books, 1993. (YouTube)

[16] Günther Ortmann: Kafka: bootstrapping avant la lettre. In: Günther Orthmann, Marianne Schuller: Kafka – Organisation, Recht, Schrift. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2019, S. 206.

Mehr Ruhm!

Ruhm – Überleben – Kino

Mehr Ruhm!

Lothar Lambert zum 80. Geburtstag und seine Filmen Die Liebeswüste, Verbieten Verboten und Fucking City

Lothar Lamberts 41 Filme waren immer nah am Leben und galten dem Überleben in Berlin. Am 24. Juli feiert er in Berlin seinen 80. Geburtstag. 17 seiner Filme erlebten ihre Weltpremiere auf der Berlinale. 2024 erhielt er auf der Berlinale den Special Teddy Award für sein Lebenswerk. Bis 1. September läuft im ACUDkino, BrotfabrikKino, Bundesplatz-Kino, Klick und zusätzlich bei Hauptrolle Berlin im Zoo Palast die große Lothar Lambert/Dagmar Beiersdorf Retrospektive LoLa DaBei – Ein Sommer mit queerem West-Berliner Undergroundkino. Das kleine Kinomuseum in der Schönleinstraße 33 lädt an Samstagen zum LoLa DaBei Schwerpunkt ein. Bereits am 1. April feierte Dagmar Beiersdorf ihren 80. Geburtstag. Die Berlinerin wirkte als Autorin, Darstellerin, Regieassistentin und Ratgeberin an vielen seiner frühen Filme mit. Anders gesagt: Bei LoLas Filmen war sie dabei.

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Die Filme von Lothar Lambert, die heute unter dem Begriff früher German Mumblecore, zu zählen wären, waren beispielsweise mit Die Liebeswüste (1986) so nah am Leben und der damaligen Filmtechnik, dass aus dem umfangreichen Verlust des Films im Kopierwerk, ein einzigartiger Film mit Resten am Schneidetisch mit Dagmar Beiersdorf, Lothar Lambert, Albert Heins und Ulrike S. entstand. Die legendäre Berlinale Fotografin und Lothars Superstar, Erika Rabau, platzt für ein Shooting in den Schneideraum. In dem Episodenfilm Verbieten Verboten von 1987, der im NDR ausgestrahlt wurde, taucht in einem winzigen Take der Grabstein von Heinrich von Kleist (*1777) am Kleinen Wannsee als Referenz für die Suizid-Episode mit Renate Soleymany als Stadtstreicherin auf. Wie die Kamera (Albert Kittler/Lothar Lambert) die Stadtstreicherin von hinten durch die Stadt verfolgt, nimmt sie die Ästhetik so manches Mobile Mystery Films von heute vorweg.

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Die Episode mit Renate Soleymany als Stadtstreicherin gibt mit dem Titel Selten so gelacht einen Wink auf das Tragikomische als Erzählverfahren in den Filmen von Lothar Lambert. Die Stadtstreicherin zwischen den Geschlechtern mit Hut und Mantel wird mit schwankender Kamera und harten Schnitten zwischen dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten vor dem Schloss Charlottenburg, Mülltonnen, Kleist-Grabstein, Berliner 750-Jahr-Feier und Brücke über der Spree verfolgt. Zur 750-Jahr-Feier entsprach das nicht gerade dem Image von Fest-Berlin. Von der Brücke lacht die Figur schallend und verzweifelt nicht zuletzt über die 750-Jahr-Feier im in Ost und West geteilten Berlin, bis sie sich auf den Weg neben dem Fluss stürzt.Genau das zeichnet die Inventionen und Innovationen von Lothar Lamberts Filmen aus. Mit größter Genauigkeit wird die Existenz einer Stadtstreicherin portraitiert, die 37 Jahre später nichts an ihrer Aktualität verloren hat.

Verbieten Verboten ,1987 (Dorothea Moritz, Dagmar Beiersdorf)

Verbieten verboten mit seinem eingeblendeten Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, filmt sich’s völlig ungeniert. Variation eines deutschen Sprichworts“ knüpfte ästhetisch an Die Liebeswüste mit dem expliziten Motto „Kein Schwanz ist so hart wie das Leben. Berliner Toilettenspruch“ an. Denn es bezog sich auf die schwule Kultur der Kontaktaufnahme zu Männern auf den öffentlichen Herrentoiletten, Klappen oder dem Berliner Café Achteck, die aus dem öffentlichen Raum und der Queer Culture so gut wie verschwunden ist. LoLa und DaBei waren 43 und so sehr in der Berliner Filmszene vernetzt, dass Dieter Schidor und Ingrid Caven als, sagen wir, große Namen gleich in beiden Filmen ebenso beziehungsreich wie schonungslos ohne Gage mitwirkten. Beide Filme wurden am 19. Februar nacheinander im Klick in Anwesenheit von Lothar Lambert, Ulrike S. und Doreen Heins gezeigt und sie unterhielten sich mit dem Filmjournalisten und LoLa-Experten Jan Gympel.

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Der Film entsteht am Schneidetisch, als Slogan für Lothar Lamberts Filmpraxis war bereits im Februar mit Die Magie der Schnitte in NIGHT OUT @ BERLIN besprochen worden.[1] In Die Liebeswüste spielt der Schneidetisch gewissermaßen die Hauptrolle. Vor allem Lambert, Beiersdorf und Heins werden dabei gefilmt, wie sie die Filmreste sichten und kommentieren. Der Film in einem Handlungsstrang ist verloren. Es geht darum, zu sichten, was sich retten lässt. Damit wird unter der Hand zugleich das vorhandene Filmmaterial stärker in den Vordergrund geschoben.  War das stringente Erzählen einer Filmhandlung überhaupt noch möglich? Ging es beim Underground und Mumblecore nicht genau darum, dass nicht mehr mit der Einfalt u.a. der Fernseh-Krimiserien Derrick und Der Alte, in denen Dieter Schidor mitwirkte, erzählt werden konnte? 1982 hatte Rainer Werner Fassbinder Jean Genets tagebuchartigen Roman Querelle de Brest verfilmt.

Die Liebeswüste 1986 (Lothar Lambert, Ulrike S., Albert Heins, Dagmar Beiersdorf)

Die Erzählung im Medium Film war und ist bis heute an gesellschaftliche Narrative geknüpft. Im Kino oder Fernsehprogramm, heute auch Streamingdienst, wird erzählt, was sich an Narrative andocken lässt. Während in den Literatur- und Medienwissenschaften das Erzählen in den 80er Jahren thematisiert und dekonstruiert wird, entsteht also ein Lothar-Lambert-Film der nur noch Erzählelemente von der Suche nach Liebe aufblitzen lässt. Dazu trägt 1986 nicht zuletzt die erste Welle der AIDS-Epidemie in West-Berlin bei, die die Lebensentwürfe und Lebensversicherungen von Männern bombardierte. Plötzlich werden die Schwulen nicht mehr alt, sondern sterben wie Dieter Schidor ein Jahr später jung mit 39. Bei Lothar Lambert durfte der bekannte Schauspieler seine Sehnsüchte und Todesängste ausagieren. Dabei ging er entschieden weiter als auf dem Still. Eine Penetration mit einem Baumstamm wird blutig dargestellt.

Die Liebeswüste, 1986 (Ulrike S., Frederike Menche)

Erhalten geblieben sind trotz des Filmwerkkopierfehlers Szenen mit Ulrike S. als stumme Frau, die unter ihrem Trenchcoat nackt durch Berlin irrt. Sie verkörpert die klassische Figur der Närrin.Das Kinomuseum von Schoppi widmet sich auch den Filmkopierwerke(n).Die Närr*innen der Moderne sitzen indessen nicht mehr an der Seite eines Herrschers, sondern werden in den 80er Jahren in der Psychiatrie weggeschlossen. Ob Lothar Lambert und Dagmar Beiersdorf Gilles Deleuze und Felix Guattaris Buch Mille Plateaux – Capitalisme et Schozophrénie [2] von 1980 gelesen hatten oder die Kapitalismus- und Psychiatriekritik nur vom Hörensagen in die Berliner Szene geschwappt war, lässt sich kaum verifizieren. Immerhin lag für den promovierten Juristen Schidor und den Star Ingrid Caven Paris um die Ecke. Seit Ende der 70er Jahre feierte sie als Chansonsängerin und Diva u.a. im Olympia in einem von Yves Saint-Laurent entworfenen schwarzen Samtkleid Erfolge und war die Witwe von Rainer Werner Fassbinder.

Die Liebeswüste, 1986 (Ulrike S.)

Die Figur der Närrin als aus der Psychiatrie entwichene stumme Frau spielt Ulrike S. brillant und überaus mutig. Am Schluss steht sie vor dem Tor einer Berliner Psychiatrie des Deutschen Roten Kreuzes. Der Befreiungsversuch in die Welt endet, so schlägt es der Schnitt syntagmatisch vor, in der Freiheit der geschlossenen Abteilung. Gut könnte der Film-Rest heute in einem großen Arthouse-Film mit Kristen Stewart etc. umgesetzt werden. Doch dann würde die Katastrophe der Einsamkeit und Liebe unter aufwendigen Kostümen und Bühnenbildern verschüttet werden. In der Eröffnungssequenz steigt die Närrin mit einem alten Fotoalbum unter dem Arm über eine Mauer und Müllkästen. Das Fotoalbum, das sie in allen Szenen mit sich führt, ließe sich in einige Richtungen kontextualisieren. Doch die Nacktheit der Frau unter dem Trenchcoat, wie er sonst vom klassischen Exhibitionisten genutzt wird, gibt sowohl einen Wink auf ihre Schutzlosigkeit wie ihre Existenz am Rande der Gesellschaft, wenn sie gleich zu Anfang mit einer „Dame“ im Pelzmantel kontrastiert wird.

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Lothar Lambert nutzt in Die Liebeswüste den Schneidetisch als gesellschaftlichen Echoraum für den Blick auf die Figur der Närrin und die verzweifelte Suche nach körperlicher Liebe als Erfüllung des Begehrens. In den Mienen und Kommentaren von Dagmar Beiersdorf und Albert Heins werden die vorherrschenden gesellschaftlichen Reaktionen gespiegelt. Wiederholt muss sich Lothar Lambert für Szenen rechtfertigen, warum sie so im Film vorkommen müssen. Das ist eben auch hochkomisch und ironisch, weil die Protagonisten sehr wohl wissen, welch stereotype Narrative sie kolportieren. In der vermeintlichen Liebesszene zwischen Abbas Kepekli und Doreen Heins schaut sie eher gelangweilt direkt in die Kamera, während sich der junge Türke mehr oder weniger lustvoll zum Orgasmus abmüht. Auf diese Weise wird das Genre der Liebes- und Sexszene als Höhepunkt der Zweisamkeit im Kino entstellt. Lambert hatte immer das Glück, dass sich seine Darsteller*innen mutig auf die Szenen einließen. Dagmar Beiersdorf und Albert Heins lieferten treffend die Erwartungshaltungen an das Kino in ihren Kommentaren und Mienen. Das zeigt man doch nicht im Kino! Genau! Mehr noch als durch die Szenen selbst werden auf diese Weise die Konventionen des Kinos und der Narrative offengelegt und fragwürdig.

Die Liebeswüste, 1986 (Abbas Kepekli, Doreen Heins)

Das Komische in den Filmen von Lothar Lambert ist keinesfalls lustig. Es ist in dem Maße wie es aus der glokalen[3], globalen wie lokalen Szene West-Berlins in den 80er Jahren entspringt, zugleich unheimlich. Es bedroht die vorherrschende Ordnung, die zumindest als eine genetisch deutsche imaginiert wurde. Die Mitwirkenden türkischer Herkunft lassen sich auf gesellschaftlichen Reibungen ein. Eine Debatte über den nationalistischen, sexistischen und rassistischen Wolfsgruß mit großem türkischem Engagement war undenkbar, obwohl 1984 die Anwältin Seyran  Ateş während eines juristischen Beratungsgesprächs mit ihrer Klientin lebensgefährlich verletzt wurde. Der mordende türkische Mann war Mitglied der Grauen Wölfe und Auftragskiller für Ehrenmorde. Die bereits erwähnten Namen und der weiteren Darsteller*innen – Jessica Lanée, Hans Marquardt, Friederike Menche, Stefan Menche, Dorothea Moritz, Semra Uysallar – geben einen Wink auf die vielfältige Herkunft. Einerseits wird der Liebesakt als komisch dargestellt, andererseits wird das ostentative Nicht-Mitmachen oder Machenlassen unheimlich. Liebemachen hat nicht zuletzt mit dem Mitmachen als Modus der Spiegelung zu tun. Die Spiegelung wird verwehrt oder wie Slavoj Žižek es einmal für das Kino formuliert hat: Es muss gezeigt werden, was wir begehren sollen.

Die Liebeswüste, 1986 (Dieter Schidor)

Die Liebeswüste und Verbieten Verboten sind kleine Meisterwerke des Kinos, die aus der Situation heraus das Medium und gesellschaftliche Narrative sezieren. Fucking City (1981) in der wiedergesehenen Fassung von Verdammt noch mal Berlin – Fucking City revisited (2016/2017), wie er im Zoo Palast gezeigt wurde, zitiert ebenfalls Szenen aus den beiden Filmen. In Fucking City (1981) hatte Lothar Lambert bereits seine Kritik am Kino filmisch formuliert. In Verbieten Verboten mit dem Epilog „Die Peep Show ist tot, es lebe die Peep Show!“ stehen ein Mann (Dieter Schidor) und eine Frau (Ingrid Caven) vor dem Eingang zum Theater des Westens, ein weiterer sitzt auf den Stufen (Klaus Marner). Sie blicken auf die andere Seite der Kantstraße, wo der Nachkriegsflachblau mit der Peep Show von Baggern abgerissen wird. Die Stadt soll zum 750-Jahr-Jubiläum „sauberer“ werden. Es entspinnt sich ein Dialog über Peep Show und Subventionen. Schidor sagt zur Caven, die auf einem Theaterplakat im Schaukasten zu sehen ist, dass sie wegen der „dummen 750-Jahrfeier“ abgerissen werde, während das Theater „mit Millionensubventionen“ werde, indem „du als Superstarnutte umjubelt wirst“.

Verbieten Verboten, 1987 (Dieter Schidor, Ingrid Caven)

Schärfer ließ sich 1987 keine Kritik an Städtebau und Subventionen, Sexpraktiken und Gesundheitspolitik formulieren. Das improvisierte Gespräch zwischen Schidor und Caven konnte kaum paradoxer enden als mit einer Schachtel Tabletten, die er aus einer Plastiktüte zog: „Die brauch ich als Sicherheit für die Verzweiflung.“ In der letzten Einstellung steht Schidor die Plastiktüte in einer Showgeste schwenkend im Eingang der Peep Show. Der Fatalismus des angekündigten Suizids ließ sich kaum divenhafter inszenieren. Wenige Tage später nahm er die Tabletten aus Angst vor seiner AIDS-Erkrankung. Lothar Lambert hatte Dieter Schidor den großen, letzten Auftritt bereitet. Für das Publikum, sofern es nicht aus queeren Menschen bestand, dürfte Verbieten Verboten etliche Grenzen überschritten haben. Zugleich werden von Ingrid Caven der Ruhm als Superstar und das Begehren kommentiert. Allein schon deshalb, weil sie im legendären Theater des Westens auf der Bühne stand. Lothar Lambert ist wegen seiner im Gespräch schlagfertigen Bescheidenheit vom Ruhm nicht verwöhnt worden, aber einer der größten Regisseure in der Geschichte des Queer Movie. Zum Ruhm in der Literatur hat schon der Schriftsteller Friedrich Kröhnke 2015 in seiner Erzählung Diebsgeschichte beigetragen:
„In losen Variationen sitzen gelegentlich weitere Herrschaften dabei, unter ihnen der Filmregisseur Lothar Lambert, in dessen Filmen Frau Gropp gespielt hat, ferner eine Richterin aus Luxemburg, die ihre Urlaube in Berlin verbringt…“[4]

Happy Birthday, Lothar!

Torsten Flüh  

Die Liebeswüste (1986)
Verbieten Verboten (1987)
So. 11. August 2024 15:30 Uhr
Bundesplatz-Kino

Begegnung mit Lothar Lambert
Überraschungsprogramm
Sa. 3. August 2024, 15:30 Uhr
Sa. 17. August 2024, 15:30 Uhr
Sa. 31. August 2024, 15:30 Uhr
Das kleine Kinomuseum
Schönleinstraße 33

LoLa DaBei
Ein Sommer mit queerem West-Berliner Undergroundkino

Programm bis 1. September 2024


[1] Torsten Flüh: Die Magie der Schnitte. Zu Lothar Lamberts Schnitt des Films Stellenweise superscharf im Klick-Kino. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Februar 2024.

[2] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Mille Plateaux – Capitalisme et Schizophrénie. Paris: Minuit, 1980. Deutsch: Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin, Merve, 1992, S 12.

[3] Zum Glokalismus siehe: Torsten Flüh: Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine. Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2024.

[4] Friedrich Kröhnke: Diebsgeschichte. Salzburg – Wien – Berlin: müry salzmann, 2015, S. 19.

Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine

Global – Insel – Lokal

Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine

Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie

Sie waren noch nie auf Elephantine? – Immerhin gibt es für Nil- und Ägyptenbegeisterte Zimmer, Suiten und Villen in einem Ressort einer schweizerischen Hotelkette auf der Nordspitze der 1.200 Meter langen und an der breitesten Stelle 400 Meter messenden Insel 5 Minuten vom Hauptbahnhof Assuan und 20 Minuten vom Flughafen. Gewiss ein globaler Knotenpunkt des gehobenen Tourismus‘. Das besondere an der Insel ist, dass sie zumindest an der Südspitze bereits vor 5.000 Jahren ein Hotspot des kulturellen Austausches war. Wie unter einem Brennglas der weltweit erhaltenen, aber auch in New York, Berlin, Paris, Rom etc. verstreuten Papyri und Ostraka von Elephantine kommen die Kulturen unter der Leitung von Verena Lepper erstmals in einer Ausstellung ans wohldosierte Licht.

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Verena Lepper und ihr internationales Team haben gewissermaßen die Pyramiden im mikroskopisch Kleinen zusammengesetzt, aus etlichen alten Schriften und Sprachen von Hieroglyphen bis zum Arabischen entziffert und für uns mit der „Glokalisierung“ lesbar gemacht. Wie von Zauberhand wurden nicht nur Papyri zu größeren Textblöcken zusammengesetzt, vielmehr soll diese Ausstellung kognitiv, visuell, taktil und olfaktorisch wahrgenommen werden, um die kulturelle Einzigartigkeit Elephantines in Berlin erfahrbar zu machen. Dank Grundlagenforschung und technologischer Innovation ebenso wie künstlerischer Kreativität werden an einem singulären Punkt der Welt 4.000 Jahre Kulturen und kultureller Wandel mit Elephantine vorgestellt.

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Die Ausstellung verdankt sich nicht nur exzellenter Forschung durch das Ägyptische Museum und die Papyrussammlung im Neuen Museum auf der Museumsinsel, vielmehr noch dem Europäischen Forschungsrat (European Research Council ERC) und dem zehnjährigen Jubiläum der Arabic-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Frau Prof. Dr. Verena Lepper ist Principal Investigator, also leitende Forscherin und Sprachexpertin für Hieroglyphisch, Hieratisch und Aramäisch an der AGYA, was schon allein deshalb erwähnenswert ist, weil ihr männlicher Mitarbeiter bei Treffen wiederholt für „Professor Lepper“ gehalten wurde. Während die große Schliemann-Ausstellung 2022 in den gleichen Räumen wissenschaftlich durchaus kritikwürdig war[1], überzeugt die Elephantine-Ausstellung nun in jeder Hinsicht.

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Die ebenso geheimnisvolle wie schwer zugängliche Erforschung eines Papyrus‘ wird durch die Ausstellung zu einem spannenden Erlebnis. Denn die Besucher*innen werden eingeladen, selbst zu Forscher*innen von der Auffindung von Papyri und Ostraka im Sand über die Materialien vom Papyrus, Leder, Tonscherben und Papier mit unterschiedlichen Tinten bis zur Kombination von Fragmenten gar aus internationalen Sammlungen zu einem längeren Text zu werden. Aus den Schnipseln und Scherben werden plötzlich exemplarische Texte. Oft sind es nur kurze Formulierungen, die indessen auf Lebenspraktiken schließen lassen und Erzählungen in Gang setzen. In einem Pahlavi-Papyrus aus dem 7. Jahrhundert, der aus dem Norden Ägyptens stammt, wird die Lebensqualität auf Elephantine insbesondere mit dem Schlaf formuliert. In dem in Berlin verwahrten Papyrus 8849 heißt es:
„»Meine Frau ist in Elephantine und Du…
Ich habe mich niedergelassen auf Elephantine, wegen
des Vorteils des Schlafens.«“[2]

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Der gute Schlaf auf Elephantine schlägt den Bogen zu den Träumen. Denn die Ausstellung hat viel mit Träumen und Übertragungen zu tun. In der Abteilung „Pluralität und Identität“ findet sich nicht zuletzt ein aus der Berliner Sammlung stammender Papyrus unter der Beschreibung „Hieratisches Traumbuch mit demotischen Einflüssen über die Identität eines Mannes, der auf Elephantine träumt“ aus der ägyptischen Spätzeit der 26. Dynastie 664-524 vor Christus. Die hieratische oder priesterliche Schrift kam als Tuscheschrift seit der 1. Dynastie 3032 vor Christus in Gebrauch. Sie hängt mit den Hieroglyphen eng zusammen, wird allerdings als Kursivschrift bis ins 1. Jahrtausend nach Christus verwendet. In der Spätzeit entwickelt sich aus ihr die demotische oder volkstümliche Schrift. Insofern wird das Traumbuch zum Zeugnis eines Übergangs in der Schriftgeschichte auf Elephantine. Der Traum reicht prophetisch ins Wachen hinein, wenn es heißt:
»Ein Mann, der von sich selbst auf Elephantine träumt, der wird ein langes Leben haben.
Ein Mann, der träumt, … dass er eine Schramme am Kopf hat, der wird sterben.«[3]

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Ein genaueres Wissen der Lebens- und Rechtspraktiken auf Elephantine vor mehr als 1.000 Jahren lässt sich nur mit den materiellen Monumenten von der Tonscherbe, Ostraka, in Schrift, Bild, Plastik und Architektur zusammenstellen. Ostraka sind gewissermaßen nachhaltige Schriftstücke. Denn die Tonscherben von Haushaltsgefäßen wurden für unterschiedliche Zwecke wie Rechnungen oder Schreibübungen beschriftet. Verena Lepper bringt einerseits das kulturhistorische Konzept des „Glokalisierung“ nach Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel in Anschlag für den einzigartigen Ort Elephantine.[5] Globale Praktiken überschneiden sich durch „Handel und Wirtschaft“ z.B. dem Gewürzhandel lokal. Andererseits schlägt sie mit der sinnlichen Erfahrung des Riechens, Fühlens, Sehens einen Bogen in die individuelle Wahrnehmung jede/r/n Einzelnen. Indem wir, die Besucher*innen z.B. den Pfeffer in der Installation der Duftkünstlerin und Wissenschaftlerin Sissel Tolaas riechen, wird unser kulturelles, olfaktorisches Wissen direkt angesprochen. Denn sie sagt:
„4.000 Jahre Kulturgeschichte anhand von Gerüchen zu erforschen, ist ein reizvolles Unterfangen, welches es uns ermöglicht, uns kreativ und mit Freude auf die Themen einzulassen, die uns beschäftigen.
Nichts stinkt, nur das Denken macht es zum Gestank.“[6]

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Die Wahrnehmung funktioniert in der Moderne seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem über den Blick, wie es Michel Foucault mit dem ärztlichen Blick formuliert hat.[7] Geruchs- und Tastsinn sind bei uns als, sagen wir, Enkel der Moderne schlecht bis mangelhaft ausgebildet. Beispielsweise vertrauen wir lieber dem berechneten Verfallsdatum von Lebensmitteln als der Nase, mit der sich gesundheitsgefährdender Verfall eines Lebensmittels riechen ließe. Die Menschen der Kulturen auf Elephantine über 4.000 Jahre dürften andere Praktiken der Wahrnehmung gehabt haben als wir. Der Schlaf hat zumindest nach dem Papyrus 8849 eine gewisse Priorität für Elephantine als Lebens- und Wissensraum. Doch die unterschiedlichen Schriftmonumente geben zumindest einen Wink auf Regeln und Praktiken, die über die Jahrtausende auf der Nil-Insel ausgeübt wurden. In der Abteilung „Medizin und Wissen“ findet sich u.a. ein „Hieratischer Text mit Rezepten und deren Anwendung bei möglichen Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden“ wiederum aus der Spätzeit:
»… Fischschuppen(?) …
… im Wirbelkanal wie …
… aufrichtend …
…-Pflanze … mit Honig …
…-Krankheit …
… Erfahren (seines) Zustandes …
… ihm die Medizin geben …«[8]  

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Das Wissen der Medizin (und Körperhygiene), wie es durch Papyri auf Elephantine in mehreren Grabungen oder gar Raubgrabungen aufgefunden wurde, fand anscheinend beim New Yorker Journalisten, Übersetzer, Unternehmer und Ägyptologen Charles E. Wilbour ein besonderes Interesse, denn die Ägypto- und Papyrologie entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Leidenschaft wohlhabender Abenteurer wie ihn. Ab 1880 verbrachte Wilbour die Winter auf seinem Schiff The Seven Hathors, benannt nach der Göttin Hathor, auf dem Nil. Er ließ im Januar 1882 Frauen für sich auf Elephantine graben und „erntete“ in Liter (pint) gemessene Papyrus-Fragmente.[9] In Assuan kaufte er Papyri von Elephantine, die nach seinem Tod in das Brooklyn Museum in New York gelangten. Das Brooklyn Museum hat gleich mehrere Medizin-Papyri aus der Spätzeit für die Ausstellung ausgeliehen. Die medizinischen Ratschläge bewegen sich in Hieratisch zwischen „17 Sprüchen gegen Ohrenschmerzen“ und „Schutz gegen Beschwerden an Zähnen, Lippen und Zahnfleisch“.[10] Sie werden nun erst im ERC-Projekt „Elephantine: Localizing 4000 Years of Cultural History. Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt“ erforscht und übersetzt.
„Erst danach können Vermutungen über den ursprünglichen Verwendungskontext des Papyrus angestellt werden. Die bislang bekannt gewordenen medizinischen Papyri in Brooklyn aus dem gleichen Materialfund sind der iatromagische Obstetrik-Papyrus (47.218.2), ein Papyrus, der sowohl Rücken- und Afterbeschwerden als auch Frauenbeschwerden enthält (47.218.75+86), ein Papyrus zu Mund- und Zahnbeschwerden (47.218.87) und ein Papyrus mit Frauenproblemen der Geschlechtsorgane (47.218.47).“[11]

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Zur Geschichte von Elephantine und der Schriftmonumente gehört auch, dass sie gleichsam im Wettbewerb gesammelt wurden, worauf Wilbours Brief vom 12. Januar 1882 mit der Mengenangabe einen Wink gibt, doch selten systematisch erschlossen und übersetzt worden sind. Die 157 Papyrusboxen im Brooklyn Museum, die Wilbours Tochter dem Museum 1947 übergeben hatte, und die darin aufbewahrten Papyri waren meistens „weder klassifiziert noch in irgendeiner Weise erfasst“.[12] Das Team um Verena Lepper konnte „diese Kisten sichten, öffnen und für die Digitalisierung des Projekts Vorbereiten“. Auf der Projektseite Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt lassen sich zwischenzeitlich 10745 Objekte mit einer eigens entwickelten Suchmaske von 120 Fragen systematisch in Kontexten erschließen. Die Berliner Ausstellung und das angeschlossene europäische Wissenschaftsprojekt stellen die Papyrus- und Ostraka-Forschung erstmals in einen gesellschaftlichen Kontext, der das Projekt Europa in seiner Pluralität und Identität mitdenkt.

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Die Grabungsgeschichte auf Elephantine lässt sich mit Charles E. Wilbours Brief von 1882 vordatieren. Denn offiziell beginnt sie erst mit den Grabungen von Otto Rubensohn und Friedrich Zucker im Auftrag der Königlichen Museen in Berlin am 30. Januar 1906. Doch bereits in den Nachwirkungen von Napoleons Ägyptenfeldzug gelangten „im frühen 19. Jahrhundert insbesondere aramäische Papyri und andere Handschriften von der Nilinsel Elephantine auf den europäischen Antikenmarkt“.[13] Durch die französische Revolution und Napoleons Feldzug hatten die Archäologie und Ägypten als Ursprung der Zivilisation eine neuartige Relevanz und Faszination erhalten.[14] Schriftzeugnisse versprachen, das Rätsel der Herkunft zu lösen. „Schon im Jahre 1819 kaufte Giovanni Battista Belzoni aramäische und demotische Papyri, die sich heute in Padua befinden“[15], schreibt Verena Lepper. 1907 veröffentlichte Otto Rubensohn die Elephantine-Papyri als Sonderheft der Königlichen Museen, in dessen Vorwort er vor allem die „Verwüstungen“ der Stadt Elephantine hervorhebt und zugleich an Napoleons Expedition anknüpft:
„Ganze Tempel, die noch von Gelehrten der französischen Expedition aufrecht gesehen und gezeichnet worden waren, sind vernichtet worden, ihre Steine in die Gebäude der modernen Stadt Assuan gewandert.“[16]

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Die Ursprungsfrage und das moderne Wissen der Archäologie als deren Beantwortung klingen bei Otto Rubensohn 1907 noch nach. Bei späteren Ausgrabungen wird das Grabungsgebiet zwischen den Berliner Archäologen und dem französischen Orientalisten Charles Clermont-Ganneau geteilt. Keinesfalls überraschend unter der Frage des Ursprungs „führte das Pontificio Istituto Biblico (PIB) in Rom 1918 ebenso eine kurze Grabungskampagne auf der Nilinsel durch, unter der Leitung von A. Strazzulli und S. Ronzevalle“.[17] Denn die Hoffnung auf frühe Zeugnisse der Bibel war groß. Das Bibelinstitut des Vatikans setzte nun Hoffnungen in die neue Wissenschaft. Doch das „Grabungsarchiv“ geriet in Vergessenheit und wurde erst von Verena Lepper und ihrem Team wiederentdeckt. Noch heute nimmt Elephantine eine wichtige Funktion für die „Bibelwissenschaft“ ein, wie Angela Rohrmoser 2010 ausgeführt hat.[18] Vor diesem Hintergrund gewinnt das „multi-kulturelle und multi-religiöse“ Konzept der Ausstellung an zukunftsweisender Bedeutung.

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Das Elephantine-Panorama im Untergeschoss des Neuen Museums mit den Zeugnissen des Alltagslebens, der Jenseitswelt und der Götterwelt des Ägyptischen Museums lädt nicht nur zum Selfi mit dem Smartphone ein, vielmehr wird in den Nebenkammern auch die neueste technologische Entzifferung beispielsweise von Papyrusamuletten vorgeführt. Der Physiker Heinz-Eberhard Mahnke vom Helmholtz-Zentrum Berlin, der Mathematiker Daniel Baum vom Zuse Institut Berlin für Wissenschaftliches Rechnen und Hochleistungsrechnen sowie Verena Lepper haben in einem interdisziplinären Schlüsselprojekt erstmals Papyri entfaltet. Die kleinformatigen, gefalteten Amulette können nun in der Kombination von Tomografie, Materialkunde, verwendeter Tinte und Rechenvorgängen virtuell zu einem lesbaren Text entfaltet werden.
„Sollte die Absorptionstomografie keine Buchstaben oder Schrift nachweisen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ein möglicher Text mit Kohletinte geschrieben wurde, welche die Standardtinte vom Alten Reich bis in unsere Zeit war. In diesem Fall fehlt noch eine Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Tinte und organischem Material, die jedoch intensiv untersucht wird. … Im Vergleich zum virtuellen Entrollen ist die Entfaltung noch nicht etabliert. Daher haben wir die Entfaltung erfolgreich an einem Modell getestet, das aus modernem Papyrus hergestellt, mit Tinte mit hohem Z-Element-Gehalt wie Zinnober (z. B. Hg) und Minium (z. B. Pb) beschrieben und gemäß der »magischen Faltung« gefaltet wurde, die senkrechte Faltlinien enthält.“[19]

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Die Dimension der Magie der Schrift, die nun mit ihrer virtuellen Entfaltung über Religionen hinweg mit Amuletten lesbar wird, lässt sich sowohl am hieroglyvischen „Ankh“ wie am Koptischen „Herr“ mitdenken. Als Praxis der Einfaltung eines Textes und dem Tragen des Schriftdokumentes gegen schlechte Einflüsse werden Amulette offenbar sowohl in den ägyptischen Religionen wie von den frühen Christen in Ägypten, den Kopten, getragen. Die Schrift wird gerade dann als Schutz mächtig, wenn sie nicht für jedermann lesbar, eingefaltet als Unterpfand am Hals getragen wird. In technologischer, museumsdidaktischer und ägyptologischer Hinsicht setzt Elephantine. Insel der Jahrtausende neue Maßstäbe. Ein umfangreiches Begleitprogramm gibt mit wissenschaftlichen Vorträgen und künstlerischen Inventionen detaillierte Einblicke. Zur Ausstellung ist ein standardsetzender Katalog mit vielen Abbildungen im Kadmos Verlag erschienen.

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Torsten Flüh

Elephantine.
Insel der Jahrtausende

James-Simon-Galerie
bis 27. Oktober 2024

Begleitprogramm:
Klein aber fein. Griechische Ostraka aus Elephantine
Vortrag & Führung zu: „Elephantine. Insel der Jahrtausende“ (Sonderausstellung)
18. Juli 2024, 18:00 Uhr
James-Simon-Galerie
Lesung, Gespräch

KATALOG MIT HOCHWERTIGEN, FARBIGEN ABBILDUNGEN)
392 SEITEN
24 X 29.7 CM
ISBN 978-3-86599-579-7
54,80 €

[1] Siehe: Torsten Flüh: Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden. Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juni 2022.

[2] Verena M. Lepper: Elephantine – global und lokal. In; Verena M. Lepper (Hg): Elephantine. Insel der Jahrtausende. (Ägyptisches Museum und Papyrussammlung der Staatlichen Museen zu Berlin). Berlin: Kadmos, 2024, S. 23.

[3] Katalog der ausgestellten Objekte. In: ebenda S. 148-149.

[4] Ebenda S. 326-327.

[5] Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 15.

[6] Sissel Tolaas: Geruch ist Information, Zweck und Kommunikation. In: Ebenda S. 114.

[7] Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Carl Hanser, 1973.

[8] Katalog … [wie Anm. 3] S. 204-205.

[9]  Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 18.

[10] Katalog … [wie Anm. 3] S. 206-211.

[11] Science in Ancient Egypt: Papyrus Brooklyn 47.218.87.

[12] Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 18.

[13] Ebenda S. 16.

[14] Siehe Torsten Flüh: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Februar 2024.

[15] Ebenda.

[16] Otto Rubensohn: Elephantine-Papyri. In: Königliche Museen in Berlin (Hg.): Sonderheft. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1907. S. 1.(Digitalisat)

[17] Verena M. Lepper: Elephantine … [wie Anm. 2] S. 18.

[18] Angela Rohrmoser: Elephantine. In: Deutsche Bibelgesellschaft Juni 2010.

[19] Heinz-Eberhard Mahnke und Verena Lepper: Virtuelles Entfalten von gefalteten Papyri. In: : Verena M. Lepper (Hg.): Elephantine. … (wie Anm. 2] S. 95.

„Im Moment höre ich Hörfunk…“

Hören – Worte – Pflege

„Im Moment höre ich Hörfunk…“

Zu Anna Peins Hörspiel Liebesbriefe ans Personal (2013) bei der Hans Flesch Gesellschaft im La bohème

Die Hans Flesch Gesellschaft, Forum für akustische Kunst, trifft sich turnusmäßig 4 bis 5 Mal im Jahr in der „Hörgalerie“ La bohème, Winsstraße 12, Prenzlauer Berg. Das Treffen am 25. Juni 2024 war Anna Pein und ihrem Hörspiel Liebesbriefe ans Personal gewidmet, das Oliver Sturm als Regisseur mit O-Ton der Hauptfigur Jutta Kiezmann sowie Margit Bendokat als alte Jutta und Kathrin Angerer als die junge Jutta inszeniert hat. Die Figur Jutta kommt somit gleich dreifach zu Gehör. Mitglieder und Freund*innen der Hans Flesch Gesellschaft waren als Hörexpert*innen versammelt. Denn Hans Flesch gehörte 1923 zu den Pionieren des Hör- bzw. Rundfunks in Berlin und dem „Unterhaltungsrundfunkdienst“, aus dem das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin hervorgegangen ist.[1]

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Die Hörfunkschaffenden der Gesellschaft verstehen sich nicht nur als ästhetische Interessenvertretung, vielmehr wollen sie auch politisch bei der Verbreitung vom Hörspiel bis zum Podcast Gehör finden. Anna Pein wurde, woran Oliver Sturm erinnerte, nahezu gegen ihren Willen zur Vorstandsvorsitzenden des Vereins. Um 2010 begann sie die Briefe mit Zeichnungen, die Jutta Kiezmann an sie und andere Pflegekräfte adressiert hatte, zu sammeln, transkribieren und montieren. Die Arbeit am Hörspiel faszinierten die Autorin und ihren Regisseur so sehr, dass Sturm die bewilligte Produktionszeit verdoppelnd überschritt, was im berühmt berüchtigten Apparat der Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerügt wurde. Frei nach den jüngsten Anhörungen im RBB-Untersuchungsausschuss: alle sind hochengagiert und verantwortlich, aber niemand will Verantwortung tragen – und vielleicht ist ein grandioses Hörspiel auch viel wichtiger als der Kostenplan.

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Der Hörfunk und die Öffis stehen unter Druck. Die große Zeit der Hörspiele ist zu Ende gegangen. Podcasts als neues Hörformat stehen hoch im Kurs. Als Radiohörer gestehe ich: Hörspiel ja, Podcast, nein. Im März 2022 wurde Anna Peins Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten in der Akademie der Künste am Hanseatenweg mit bedrückender Aktualität eingespielt.[2] Die Hans Flesch Gesellschaft kümmert sich u.a. darum, dass Hörspiele verfügbar bleiben und werden. Anna Pein und Oliver Sturm haben sich für eine bessere Vergütung der Hörspielautor*innen beim Deutschlandfunk stark gemacht, weil zuvor die regionalen Sender wie WDR oder NDR mehrfach vergüteten. Mit dem Hören und was wir hören, ist es überhaupt eine vertrackte Angelegenheit. Ein Hörspiel erfordert ein konzentriertes Hören. Es ist nicht dazu gemacht, es einfach beim Autofahren vorbeirauschen zu lassen. Zum Hörspielhören im Hörfunk muss man sich vor einen Apparat mit zwei Lautsprechern setzen. Die Audiodatei Liebesbriefe ans Personal wurde im La bohème in Stereo eingespielt.

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In Anna Peins Hörspiel funktioniert das Hören bei Jutta anders. Wenn Stefan sie bittet zuzuhören, löst das bei ihr andere Assoziationsketten aus. Zwischen Poesie und Psychose, zwischen Dichtung und Demenz wollen die Worte nicht passen und passen zugleich viel zu sehr:
„STEFAN
Jutta, hör doch mal. Ich – muß Dir was sagen…
JUTTA älter
Lieber Stefan! Eigentlich gab es heute keine Zwischenfälle, ich gehe erleichtert zu Bett, wenn die Zeit ruft. Im Moment höre ich Hörfunk. Sie bringen ihn bis in den späten Abend hinein. Es ist einfach schön. So manches Mal möchte man in den Rund – Funk – Sender hineinkriechen. Aber ihn nur zu hören ist auch schön…“[3]

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Wie funktioniert Kommunikation? Die Liebesbriefe ans Personal gibt es wirklich. Sie sind ebenso berückend wie verstörendund suchen Kommunikation. Der Produktion der Texte gingen i.d.R. Zeichnungen voraus. Oft nahm Jutta K. in ihren Texten Bezug auf die Zeichnungen, um sie zu beschreiben oder einzuordnen. Ein Teil der Briefe wurde am 8. August 2010 um 02:25 a.m. auf die interplanetarische Ausstellungsplattform von mars-patent.org übertragen. Der zertifizierte, gleichwohl virtuelle Ausstellungsraum der Studien- und Künstler-Freundin Claudia Reiche auf dem Mars wurde vor allem für Originaltexte auf unterschiedlichen Papieren wie Bögen zur „Pflegeplanung“ zum Thema Mars genutzt. Auf einem Querformat verfolgt eine, sagen wir, Figur aus zwei Kreisen bzw. Kugeln eine andere Figur mit einer Art dreizackigen Krone. In die Leer- und Zwischenräume schrieb Jutta Kiezmann:
„Der Mars steht über der Erde und macht den Frauen ein schönes Gedicht. Sie arten nicht aus, guten Glaubens. Unbesehn. Man kann schon sagen, das Leben ist schön. Da stillt kein Trugschluß in seinem Innern, sondern nur Glück. Der größte Planet ist die Sonne: Mit einer Krone bestückt. Die Erde ist klein wie ein Pünktlein, auch in der Ferne, zum Sonnenschein.“ (https://mars-patent.org/projects/letters_by_jutta_k/letters_by_jutta_k.htm )

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Auf Mars-Patent sind 43 Liebesbriefe von berückender Poesie veröffentlicht worden. Sie stehen auch für eine Vorarbeit zum Hörspiel. Anna Pein hatte nach Auskunft von Oliver Sturm zu jener Zeit die Liebesbriefe an allen Wänden ihrer Moabiter Wohnung geheftet. Aus der Überfülle der Briefe und ihrer Vieldeutigkeit destillierte und montierte Pein den Hörspieltext. Sie lebte zu jener Zeit in den Briefen von Jutta Kiezmann, die ihr diese übergeben hatte. Aus so viel Poesie musste sich doch etwas machen lassen?! Zugleich rückte die verfehlende Kommunikation von Stefans „hör doch mal“ und Juttas Antwort „Im Moment höre ich Hörfunk.“ ins Interesse. „So manches Mal möchte man in den Rund – Funk – Sender hineinkriechen. Aber ihn nur zu hören ist auch schön.“ Die Antwort rückt (gefährlich) nah. Jutta hört anders und antwortet mit Formulierungen, die alles und nichts bedeuten könnten. Will sie in Stefan oder den Hörfunk „hineinkriechen“?

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Beim Hören wird die Verfehlung in der Kommunikation meistens erst im Nachhinein auffällig. Hört Jutta nun Stefan zu? Oder hört sie gerade nicht auf ihn, wenn sie „Hörfunk“ hört. Neben anderen Pflegekräften wurde vor allem Stefan Adressat der Briefe, die sich bei den Leser*innen gerade wegen der Verfehlung verfangen konnten. Oft werden die Syntax und die Worte nur leicht verdreht, um die Leser*innen zu irritieren.
„Im Mond des Auges der Schein der Sonne ist schön. Schön wie der Flieder, er blüht. Auf Erden. Die Erde ist fest und dreht sich zugleich. Die Kinder spielen im Sand und schauen zum Mond, Gottes gesand. Das Gesicht in ihm sind Gase, zu ewiger Zeit. Dies ist berechenbar mit einem Teleskop – der Sonne zu. Diese schießt dann ihre Strahlen der Erde hin. Die Erde nimmt sie auf im Erden – Sein. Und hat die Größe wie der Sonnenschein.
Viele Grüße, Deine Jutta“ (Brief 16)

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Bisweilen taucht in den Liebesbrief der Reim eher unvermittelt ohne Zeilenbrüche auf: „Erden – Sein“ und „Sonnenschein“ zum Beispiel. Der Reim vermittelt fast Sinn und Sicherheit. „(S)pielen im Sand“ und „Gottes gesand“. Zugleich produziert er Kollisionen von Sinn und freiem Reimwunsch. Oder auch: „Pünktlein“ und „Sonnenschein“. Planetarische Wissensformationen („Mond“, „Sonne“, „Erde“) und Wissensdisziplinen („Gase“) werden erinnert und verschoben. Eine Anrede fehlt, aber die Grußformel fällt mit „Viele Grüße, Deine Jutta“ vertraulich aus. Wer darf sich gemeint fühlen? Ist überhaupt jemand gemeint? Schon beginnen Subjekt und Objekt zu schwanken. Wer ist das Du für „Deine Jutta“? Und schnell folgt die Frage: Meint sie mich? – Das ist aber nett, liebe Jutta! – Es ist selbst mit der Transkription auf Mars-Patent.org nicht leicht, die Liebesbriefe zu lesen, weil sie zwischen Emphase und wortloser Verschwisterung schweben.
„Lieber Mein!
Ich möchte Dir etwas Konkretes schreiben. Dies ist normal. Es zieht kein Gewitter vorüber, das ich nicht mag. Die Gewitter, sie rollen bis zum nächsten Tag. Man kann sie dennoch nicht greifen, sie lodern in Elektrizität vom Himmel herab. Es kann dabei auch zum Einschlag kommen. Das sind die höheren Bauten der Natur: Es geht schon seinen opolebtischen Gang. Und die Sphäre da oben hat dazu beigetragen.
Man kann die Paare nicht kitten, die an einem vorüberziehen. Und wenn es ginge, zerspringt die Vase neu. So war es auch mit dem zerbrochenen Krug von Wilhelm Tell. Er ist einfach von den Händen der Menschen zu Boden gefallen und zerbrach. Heute steht er noch im Museum. Die Leute beachten die Daten der Zeit. Sie bricht an.“ (Brief 6)

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Jutta Kiezmanns Liebesbriefe sind Briefliteratur, bei der die Leser*innen darüber erstaunen können, wie schnell die zerbrochenen Paarbeziehungen zu „Wilhelm Tell“ und „dem zerbrochenen Krug“ überspringen. Und das Zerbrechen mündet schließlich in der Zeit, die anbricht. Das Zerbrechen wird quasi durchdekliniert, während die Leser*innen und Hörer*innen rufen mögen: Moment! Doch der Brief ist nicht zuletzt mit Ausrufezeichen an „Lieber Mein!“ adressiert. Anna Pein und Oliver Sturm haben die Briefe für das Hörspiel einerseits stärker biographisch gerahmt, als es bislang in diesem Text geschehen ist, weil die Rahmung das Potential der adressierenden Verstrickungen einhegt. Die Briefe sind nicht zuletzt der aktuellen Demenzliteratur in der Literaturforschung zuzuschlagen, wie sie von Monika Leipelt-Tsai mit Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart [4] bedacht worden ist. Als ebenso sprachliches wie gesellschaftliches Problem der Bestimmung von Demenz hat Leipelt-Tsai auf die hohe gesellschaftliche Relevanz der Demenz-Erzählungen nicht zuletzt als „Sorge um sich“ besonders im Alter hingewiesen.[5]

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Die Sorge um sich in der unauflösbaren Verschränkung von Selbst-Erzählungen und Körper bzw. einer Angst vor dem Verfall des Körpers, insbesondere dem Gehirn, der das Wahrnehmen und Artikulieren verändert, durchzieht die Gesellschaften hoch entwickelter Industrienationen. Das Ich in den Liebesbriefen Jutta Ks umgeht die gesellschaftlich tief verbreitete Sorge. Indem sie Liebesbriefe ans Personal schreibt, wird die Sorge quasi auf dieses übertragen, die jede/n Einzelne/n heimsuchen kann. Oliver Sturm hat in seiner akustischen Inszenierung das Problem des Hörens nicht geglättet, sondern durch die polyphone Überlagerung und Aufspaltung der Stimmen verstärkt. Die Hörer*innen werden trotz der starken Rahmung mit einem vielstimmigen Raum konfrontiert, dem sie sich nur aussetzen, aber kaum beherrschen können.

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Obwohl die Rahmung der in einer psychiatrischen Wohngemeinschaft lebenden Jutta K. deutlich ist und die Autorin sich leicht als Altenpflegerin Annegret entschlüsseln lässt, bestätigen Sturm und Pein die Demenzdiagnose im weiteren Sinne nicht, vielmehr wird das medizinische Wissen von Psychose und Alkoholkrankheit als Symptome der Demenz mit der Produktivität und Wortgewandtheit der Bewohnerin konterkariert. Die Altenpflegerinnen Lilly und Dagmar füllen die Erhebungsunterlagen für die Bewohnerin aus, in dem sie „optische() und akustische() Halluzinationen sowie Wortfindungsstörungen“ diagnostizieren.
„LILLY
Als nächstes muß beschrieben werden, was sie nicht kann, zum Beispiel: Konzentrationsstörung, verlangsamtes Denken, in einer psychischen Krise kommt es zu optischen und akustischen Halluzinationen sowie Wortfindungsstörungen.
DAGMAR
TÜ: teilweise Übernahme. VÜ: Vollständige Übernahme. – Hilfebedarf bitte in der Spalte H wie Hilfe ankreuzen.“[6]

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Die Praxis der Altenpflege wird zum Kontrast der durchaus beunruhigenden Liebesbriefe ans Personal. Die hochformalisierte Praxis in der Altenpflege übernimmt in mehrfacher Hinsicht eine gesellschaftliche Schutz- und Sorgefunktion. Indem Anna Pein mit dem Sammeln, Transkribieren, Ausstellen und Montieren der Liebesbriefe die Schutzfunktion überschritten hat, gibt sie mit ihrem Hörspiel die Frage nach der Demenz an die Gesellschaft zurück. Zugleich ist es ihre Praxis, die hohe Belastung der Arbeitssituation mit Bewohner*innen in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung zu bearbeiten. Das Offenhalten der Frage von Dichtung und Demenz, was sie auch immer sein mag, wird mit dem Hörspiel Liebesbriefe ans Personal auf hohem Niveau durchgehalten. Dafür braucht es Mut. Während derartige Einrichtungen und Wohngemeinschaften i.d.R. hinter verschlossenen Türen für die Gesellschaft unsichtbar und unhörbar existieren, kehrt das Verdrängte im Hörspiel zurück.

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Jutta Kiezmanns Briefe wie Anna Peins Liebesbriefe ans Personal stellen mit ihrer dem Genre der Briefliteratur eigenen Geste der Adressierung auf höchst beunruhigende Weise die Frage nach der Kunst und Literatur. Denn eine Bejahung der Briefe als belletristische Literatur überdeckt nur die Beunruhigung, die von ihnen selbst in dem geschützten wie schützenden Raum einer geschlossenen Alterseinrichtung ausgeht. Um Bilder und Worte ringend will Jutta mit den sie umgebenden Menschen kommunizieren. Das gelingt und gelingt auch nicht. Jutta Kiezmann verstarb am 18. Februar 2011 in ihrer Wohngemeinschaft. Sie schreibt nicht mehr. Annegret Anna Pein verstarb am 13. Juni 2024 und hinterlässt eine Vielzahl von unabgeschlossenen Film- und Hörspielprojekten. Liebesbriefe ans Personal ist Juttas und Annas Vermächtnis. Claudia Reiche wird die Briefe von Jutta K. demnächst als Buch herausgeben.

Torsten Flüh

Annegret Pein-Völker
*21.11.1957  †13. Juni 2024
Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung
29. Juni 2024, 12:00 Uhr
Kapelle Stadtfriedhof Pinneberg


[1] Siehe zum 100jährigen Jubiläum des Rundfunk Sinfonieorchesters: Torsten Flüh: Vom Politischen in der Musik. Zu den Donnerstagkonzerten von ultraschall berlin festival für neue musik im Haus des Rundfunks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Januar 2024.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[3] Anna Pein: Liebesbriefe ans Personal. Köln: WDR/Henschel Verlag, 2013, S. 54.

[4] Monika Leipelt-Tsai: Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart. Lusanne: Peter Lang, 2021.

[5] Ebenda S, 13.

[6] Anna Pein: Liebesbriefe … [wie Anm. 3] S. 20.

Eine deutsche Utopie des Islam

Islam – Mission – Vernunft

Eine deutsche Utopie des Islam

Zum 100jährigen Jubiläum der „Berliner Moschee“

Hinter dem Rathaus Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz, einem monumentalen Verwaltungsbau des kaum bekannten A. Remmelmann von 1941 verbirgt sich, wenn man in die Brienner Straße einbiegt, über die Baumkronen hinausragend die erste Moschee in Berlin und sogenannte Berliner Moschee. Fehrbellin und Brienne-le-Chateau wurden als historische Schlachtfelder Preußens in dem Platz- und Straßennamen verewigt. An der Berliner Moschee kristallisieren sich um 1924 Debatten um den Islam als fortschrittliche Religion, gar Religion der Zukunft heraus. Deutsche Christen und Juden konvertieren zum Islam akademisch ausgebildeter Inder aus Lahore, heute Pakistan. Die unter der britischen Kolonialmacht westlich ausgebildeten Akademiker finanzieren in der deutschen Hauptstadt durch ihre Bewegung أحمديه أنجمن اشاعت اسلام لاهور  Ahmadiyya Andschuman Isha’at-i-Islam Lahore (AAIIL) die Mission in Europa.

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Die einzigartigen Debatten um den Islam in Deutschland und Europa ab 1924 werden vor allem durch zwei Publizisten zunächst durch Hugo Marcus (1880-1966) in der Moslemischen Revue als eine Art Vereinsblatt und etwas später durch Leopold Weiss (1900-1992) als Muhammad Asad mit modern-salafistischen Schriften wie Islam at the Crossroads (1934) und The Principles of State and Government in Islam (1961) geführt. Während Muhammad Asad seit dem 22. November 2013 am Haus Hannoversche Straße 1 Ecke Chausseestraße mit einer Berliner Gedenktafel als „Wegbereiter für einen Dialog zwischen den Kulturen“ und als einer der „bedeutendsten muslimischen Autoren seiner Zeit“ geehrt wird, ist Hugo Marcus fast vergessen und wird vom amtierenden Imam im Vortrag zur Geschichte des Moschee nicht erwähnt.

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Hugo Marcus gehörte zu den Gründungsmitgliedern der ersten deutsch-islamischen Gemeinde, wurde deren Geschäftsführer und veröffentliche zwischen 1924 und 1936 regelmäßig in der Moslemischen Revue zu Fragen des Islams. 2019 hat Abraham Rubin im Jewish Quarterly Review seinen konversionskritischen Aufsatz Hugo Hamid Marcus (1880-1966) The Muslim Convert as German Jew veröffentlicht, der die bislang umfangreichste Würdigung darstellt. Rubin untersucht insbesondere die Frage, wie Marcus als deutscher Jude zum Islam konvertieren konnte. Er kommt zu dem Schluss:
„Marcus’s writings seek to Germanize Islam by demonstrating its correspondences with the thought of eighteenth-century German luminaries such as Kant, Lessing, and Goethe. This particular conception of Germanness, associated with a cosmopolitan philosophical tradition, follows a specifically Jewish pattern of identification with German culture. According to historians George Mosse and David Sorkin, the timing of Jewish emancipation shaped the course of acculturation into German culture.‟[1]

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Hugo Marcus wie der zwanzig Jahre jüngere Leopold Weiss finden sich um 1924 in Berlin in einer nicht nur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise der Debatten um Bildung, Religion als Lebenspraxis, Demokratie, Sexualstrafrecht und Moral wieder. In der Berliner Topografie zwischen Studentenbude in der Hannoverschen Straße in der Nähe zur Humboldt Universität, damals Berliner Universität, Sexualwissenschaftlichem Institut von Magnus Hirschfeld im Tiergarten, dem Wissenschaftlich-humanitärem Komitee in Charlottenburg und der Wilmersdorfer Moschee in der Brienner Straße sowie der Moslemischen Revue mit Sitz in der Giesebrechtstraße am Ku’damm schlägt sich ein Netz der Debatten um den Islam aus, das sich nicht einfach als ein liberaler Islam in einer ebenso schwierigen wie hoffnungsvollen Zeit abtun lässt. Vielmehr kursieren in dieser grob umrissenen Topografie Formulierungen, Gespräche, Sehnsüchte, Gedichte, Literaturen, in denen zuvor praktisch undenkbare Narrative von Deutschland und dem Islam für eine kurze Zeit zusammengeführt und zunächst mehr oder weniger lose verknüpft werden.

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Imam Amir Aziz sagt auf Nachfrage bei einem Moscheebesuch im Mai 2024, dass Homosexualität und Islam gar nicht gingen. Allerdings signalisierte er lebenspraktisch-seelsorgerisches Verständnis. Wie konnte sich Hugo Marcus, der sich nach ersten Veröffentlichungen bald Hamid nannte, als nach der Propaganda und den Gesetzen des nationalsozialistischen Regimes, wie den Nürnberger Rassegesetzen (1935) Jude bis 1936 scheinbar unangefochten als Geschäftsführer des Moschee-Vereins halten? Die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen, wie sie im 18. Jahrhundert von Gotthold Ephraim Lessing mit der Ringparabel in Nathan der Weise formuliert worden war, hatten die Nationalsozialisten längst in eine biologistische Rassenideologie verdreht. Unmittelbar nach der Machtergreifung Ende Januar 1933 setzten die Nationalsozialisten mit dem euphemistisch genannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April ihre Rassenideologie gegen Juden im Staatsdienst durch. Jüdische Notare, Staatsanwälte, Richter etc. wurden von einem auf den anderen Tag arbeitslos. Als Juristen hatten sie so gut wie keine Aussicht auf ein Asyl in anderen Ländern.

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In der Moslemischen Revue lässt sich seit der ersten Ausgabe vom April 1924 der von Sadr-ud-Din als erster Imam und Missionar in Berlin initiierte Islambegriff beobachten. Als Zeuge für die Konversion zum Islam wird „Sir Archibald Hamilton“ mit seinem Artikel vom 13. Januar 1924 in der in London erschienenen Zeitung The People zitiert. Bei Hamilton handelt es sich um den aus altem britischem Adel entstammenden Sir Charles Edward Archibald Watkin Hamilton, 5. Baronet of Trebishun, Breconshire und 3. Baronet of Marlborough House, Hampshire (10. Dezember 1876 – 18. März 1939), der am 20. Dezember 1923 zum Islam übergetreten war und sich fortan Sir Abdullah Hamilton nannte. Damit hatte die Ahmadiyyah Missionsbewegung aus Lahore durch Sadr-ud-Din als Imam seit 1922 an ihrer Shah-Jahan-Moschee in Woking südwestlich von London ein namhaftes Mitglied der Church of England zur Konversion aus moralischen und intellektuellen Gründen bewegen können.
„Seit ich das Alter des Verstandes erreicht habe, hat mich die Schönheit und die einfache Reinheit des Islams stets begeistert. Ich konnte nie, obwohl ich als Christ geboren und erzogen war, an die dogmatischen Bestimmungen der Kirche glauben und setzte stets Vernunft und Verstand an die Stelle blinden Glaubens.
Bei fortschreitenden Jahren wünschte ich, mit meinem Schöpfer zum Frieden zu kommen, und ich fand, daß weder die römische noch die englische Kirche für mich von wirklichem Nutzen war.“[2]

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Maulvi Sadr-ud-Din knüpft mit dem Zitat des prominenten Zeugen aus London nicht nur an seinen Missionsdiskurs eines Islam des Verstandes und der Vernunft an, vielmehr setzt er bzw. ein Helfer bei der Übersetzung mit den Begriffen Verstand und Vernunft vom englischen reason zugleich den Tenor für die Verknüpfung mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Deutschland und den Dichtern Goethe und Lessing. Der Islam des Missionars Sadr-ud-Din ist vernünftig und in der Krise zu Beginn des 20. Jahrhundert für die Diskurse der Moderne anschlussfähig. Was heute häufig am fundamentalistischen Islam aus Teheran oder Mekka kritisiert wird, dass die arabische Welt des Islam keine Aufklärung erlebt habe, wird von Sadr-ud-Din in London erprobt und anschließend auf Berlin übertragen. Die islamische Mission aus Lahore geschieht insofern unter genau jenen Vorzeichen, die gemeinhin heute als Manko des Islam kritisiert werden und bis zur Islamophobie reichen. Die Superorität Europas gegenüber Indien und dem Orient wird von niemand geringerem als einem Adeligen der Kolonialmacht eingeräumt und zugunsten des Islam verworfen:
„Daß ich Moslem geworden bin, verdanke ich vornehmlich den Regungen meines Gewissens und ich fühle mich seitdem als ein besserer und aufrichtigerer Mensch.“[3]   

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Wenige Seiten später übernimmt das Gründungsmitglied Dr. Khalid Banning in seinem Text Die Rettung formelhaft die Argumentation von Verstand, nun als „Menschenverstand“ und Vernunft die Definition des Islams und fügt ihr hinzu, dass er „wirklich demokratisch (keine Scheindemokratie), antikapitalistisch ohne Klassen-, Rassen- und sonstige Unterschiede“ sei.[4] Für Banning kommt in Abgrenzung zum Christentum in der Verstand-Argumentation hinzu, dass der Islam eine „höhere Moral“ repräsentiere „ohne (…) ethisch anstößige und unmännliche Momente“ des Christentums.[5] Damit wird dem Islam ein Konzept der Männlichkeit zugeschrieben, das ihn vom Christentum unterscheide. Verstand und Männlichkeit werden nicht zuletzt in der ersten Ausgabe mit dem eröffnenden Foto von Mohammed Taufiq Killenger, Maulvi Sadr-ud-Din und Dr. Khalid Banning mit der Unterschrift: „Der Osten und der Westen im Islam vereinigt“ in Szene gesetzt. Die drei Gründer tragen westliche Anzüge und Krawatten bis auf den indischen Turban Sadr-ud-Dins und sind mit den Armen ineinander verschränkt. Killenger und Banning treten später nicht mehr in der Moslemischen Revue in Erscheinung.

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Im Umfeld der Zeitschriftengründung erscheint 1924 Maulvi Sadr-ud-Dins kleine Schrift von kaum 60 Seiten im Eigenverlag mit der wenigstens bürgerlichen Kontaktadresse Berlin-Charlottenburg Giesebrechtstraße 5III Der islamische Mensch. Die Moslemische Revue unter gleicher Adresse und Der islamische Mensch finden Eingang in die Bibliothek der Berliner Universität, wo sie noch heute im Jakob und Wilhelm Grimm-Zentrum mit deren Siegel zu finden sind. Das heißt zumindest, dass diese frühen Schriften, noch bevor die Moschee im Frühjahr 1925 fertiggestellt und eingeweiht wird, an der Berliner Universität, heute Humboldt Universität zu Berlin, archiviert und wahrgenommen werden. Die kleine Schrift war als Vortrag an der Schule der Weisheit in Darmstadt gehalten worden. Die von Hermann Graf Keyserling und dem Verleger Otto Reichl 1920 gegründete „Lebensschule“ hatte insofern Sadr-ud-Din den honorablen Rahmen für einen ersten Vortrag in Deutschland bereitet, der auf dem Rückumschlag der Moslemischen Revue wiederholt bis in die 30er Jahre für „M. 0.50“ angepriesen wurde.

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Der Vortrag in der Schule der Weisheit findet an einer Scharnierstelle der zeitgenössischen Orient- und Okzident-Debatte statt. Denn Graf Hermann Keyserling hatte 1922 den mehr als 500 Seiten umfassenden Band Schöpferische Erkenntnis mit der „Einführung in die Schule der Weisheit“ mit einem Vortrag veröffentlicht, den er am 15. Januar 1920 in der Kantgesellschaft in Berlin gehalten hatte, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hohe Zuwächse auf über 1.500 Mitglieder verzeichnen konnte: „Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn“. Der Vortrag beginnt mit der bemerkenswerten Formulierung, dass „wer viele Sprachen beherrsche“, wisse, „dass es eigentlich keine übersetzbaren Gedanken“ gebe.[6] Dennoch verkoppelt Keyserling das abendländisch rationale Denken als „wissenschaftlicher Verstand“ mit dem östlichen als „metaphysisches Wissen“ (S. 23). Mit anderen Worten: Die Schule der Weisheit in Darmstadt befindet sich an einer Schnittstelle des zeitgenössischen Gedankenaustausches zwischen Kant, Nietzsche, Lebensreform und Morgenland. Die Einladung Sadr-ud-Dins passte insofern in ihr Konzept. Mit einem Wink auf Friedrich Nietzsche wird der Vortrag unter der Überschrift „Der Islam, die Religion der Tat“ eröffnet.[7] Auf den Tatbegriff wird zurückzukommen sein.

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Die Lebensreformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts rückt mit dem Vortrag an der Schule der Weisheit in Darmstadt, noch bevor er in Berlin verbreitet werden konnte, ins Interesse der islamischen Mission und umgekehrt. Bildung und Lebensreform bieten Anknüpfungspunkte für eine Übersetzung des Koran ins Deutsche und die Bildung einer Gemeinde für die Berliner Moschee. Wie weit Maulvi Sadr-ud-Din zu diesem Zeitpunkt der deutschen Sprache mächtig war oder ihm bereits Hugo Marcus als Mitübersetzer zur Verfügung stand, lässt sich nicht verifizieren. Indessen unterrichtete Marcus nach dem Ersten Weltkrieg, als seine Familie ihr Vermögen und die Unternehmen in Posen verloren hatten, er an der Berliner Universität bei Georg Simmel, Friedrich Paulsen und Max Dessoir studiert hatte, „jungen Muslimen, die vor allem aus Indien nach Europa kamen“, Deutsch. In der von Manfred Backhausen erstellten, umfangreichen Chronik Die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung in Europa wird Hugo Marcus als Mitübersetzer der Koranübersetzung Sadr-ud-Dins von 1939 genannt.[8] Insofern liegt es nahe, dass ebenso ein Muttersprachler bei der Abfassung des Vortrages insbesondere hinsichtlich der anspielungsreichen Lexik wie „Religion der Tat“ oder auch „Der Islam und das Rassenproblem“ mitgearbeitet hat. 1924 führt das bereits zur Formulierung:
„Westeuropäischer Imperialismus und islamische Toleranz.
(…) Worum es dabei geht, das ist der Versuch, die Ostvölker in ewiger Sklaverei zu halten mit dem Endziel, sie bis aufs Blut auszusaugen.“[9] (S. 23)

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Die Lexik, die in Der islamische Mensch verwendet wird, gibt mit „(w)esteuropäischer Imperialismus“ und wie bereits bei Khalid Banning mit „wirklich demokratisch (…), antikapitalistisch“ so auch mit „Die islamische Regierung: Das demokratische Prinzip im Staatsleben und in den Religionseinrichtungen“ einen Wink auf ein zumindest linksliberales Milieu, in dem der „Islam“ bzw. der Koran übersetzt wird. Zugleich wird sie mit der Demokratie-Debatte der Weimarer Republik verkoppelt. Der islamische Mensch situiert sich im Vortrag zwischen Modernität, „Religion der Tat“, „panislamischer Solidarität“, Demokratie, Antikapitalismus und „allzu freien und unstatthaften Verkehr zwischen Männern und Frauen“[10] vor dem Hintergrund nicht ehelich geborener Kinder zu großer Zahl in Deutschland und dessen Großstädten, was zugleich von Magnus Hirschfeld in der Sexualstrafrechtsreform mit dem § 218 StGB thematisiert worden war. Der Begriff Homosexualität oder Liebe unter Männern kommt nicht vor. Vor allem aber geht es Sadr-ud-Din mit einem Beispiel zu indischen Bildungs- und Aufstiegschancen, um eine Beseitigung der imperialen Vorherrschaft.
„Ein englischer junger Examensabsolvent aus Cambridge oder Oxford wird erster Professor an einer indischen Universität und wird dann immer über die alten, erfahrenen und gelehrten indischen Professoren gestellt, zu deren Demütigung.“[11]

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Die Eröffnung der Berliner Moschee findet aus einem weit verzweigten Netz nicht nur der indischen Mission, vielmehr noch der deutschen Debatten zwischen der Berliner Universität und der Schule der Weisheit in Darmstadt statt. Die deutsche Suche nach einer Reform der Lebensweisen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs, dem Untergang einer Weltordnung, trifft ganz und gar nicht zufällig auf den Wunsch nach der Verbreitung des Islams. Unter diesem Aspekt einer Diskursverknüpfung durch die Moslemische Revue ist die Arbeit an der Berliner Moschee bislang nicht betrachtet worden. Hugo Marcus wird zum wichtigsten Beiträger dieser Verknüpfung, während Leopold Weiss sich nicht in der Moslemischen Revue artikuliert, aber 1926 in der Berliner Moschee konvertierte und sich fortan Muhammad Asad nannte. Doch wie geschah die Konversion? Erst 1929 im Januarheft wird die Frage „Wie wird man Moslem“ von der Redaktion geradezu minimalistisch beantwortet.
„Um Moslem zu werden, ist keinerlei Zeremonie erforderlich. Der Islam ist nicht nur eine rationale, weit verbreitete und praktisch nützliche Religion, sondern er steht auch in vollem Einklang mit den natürlichen, menschlichen Anlagen. Jedes Kind wird mit diesen Anlagen geboren. Daher bedarf es bei niemandem einer Umwandlung, um Moslem zu werden. Man kann Moslem sein, ohne es irgend jemandem zu sagen. Es ist nur eine reine Formsache für die Organisation, sich zum Islam zu bekennen. Der Grundsatz des islamischen Glaubens ist: „Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Muhammad ist Sein Gesandter“.“[12]

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In der Moslemischen Revue veröffentlicht Hugo Marcus bis in die 30er Jahre seine Artikel zur deutsch-islamischen Interkulturalität. Das zweite Heft der Zeitschrift wird im Juli 1924 programmatisch mit Mahomets Gesang von Johann Wolfgang Goethe eröffnet und mit einem redaktionellen Beitrag, Goethe über die Moslems, versehen. Hugo Marcus‘ Beitrag Das Wesen der Religion im gleichen Heft gipfelt in der Schlussformulierung, dass „wenn man die Religion als Spitze des praktischen Verhaltens“ ansehe, „der Kult (…) von neuem wichtig, wichtiger noch als das Weltanschauliche“ werde. Er stelle „die religiöse Stimmung praktisch in uns her unabhängig von aller Erkenntnis“. Die Religion sei „Tat des Ich am Ich“.“[13] Einerseits wird für das „Ich“ populärwissenschaftlich die Psychoanalyse in Anschlag gebracht. Andererseits nimmt Marcus in seiner Formulierung mit der „Tat“ seinen Beitrag Nietzsche und der Islam vorweg, der in der Aprilausgabe 1926 erscheinen sollte.
„Goethe und Nietzsche, die beiden überragenden deutschen Geister, haben gleicherweise nach dem Orient geblickt, Goethe im „Westöstlichen Divan“, Nietzsche im „Zaratustra“. So unterschiedlich nun die Grundstimmung ist, die im „Westöstlichen Divan“ und im „Zaratustra“ lebt, so unterschiedlich war die Auffassung dieser beiden allerwichtigsten Deutschen vom Orient.“[14]

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Obwohl Hugo Marcus nicht näher auf Nietzsches „Buch für Alle und Keinen“ Also sprach Zarathustra von 1883 eingeht, bestimmen der Lebens- und der Tatdiskurs zum Islam seine Verknüpfungspraktiken. Das reicht von Das Leben ist des Lebens Sinn (Januar 1925) über Christus, Tolstoi und Marx (Oktober 1924) im Kontrast zu Mohammeds Gestalt im gleichen Heft bis zu Die Religion und der Mensch der Zukunft (Januar 1931) nun von „Hamid Marcus“. Der Islam wird so zu einer religiös grundierten Lebenspraxis für die Zukunft ganz im Sinne der Rede Zarathustras:
„Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes
die That, ein Anderes das Bild der That. Das Rad
des Grundes rollt nicht zwischen ihnen.

Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich.
Gleichwüchsig war er seiner That, als er sie that:
aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie gethan war.

Immer sah er sich nun als Einer That Thäter.
Wahnsinn heisse ich diess: die Ausnahme verkehrte
sich ihm zum Wesen.

Der Strich bannt die Henne; der Streich, den
er führte, bannte seine arme Vernunft — den Wahn¬
sinn nach der That heisse ich diess.

Hört, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn giebt
es noch: und der ist vor der That. Ach, ihr krocht
mir nicht tief genug in diese Seele!“[15]

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Anlässlich des 200. Geburtstages von Gotthold Ephraim Lessing hält Hugo Hamid Marcus im Missionshaus der Wilmersdorfer Moschee am 22. Januar 1929 einen Vortrag, der keinen Eingang in die Moslemische Revue findet, aber in seinem Nachlass erhalten ist.[16] Die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam wird von Lessing parabelartig mit den Verwandtschaftsverhältnissen in Nathan der Weise durchgespielt.[17] Alle sind untereinander verwandt. Dass die drei Ringe der Ringparabel, dann noch einmal die Gleichwertigkeit der Religionen bestätigt, ist nur eine weitere Spiegelung. Warum erschien der prominente Vortrag zu Lessing, der immerhin im Baseler Nachlass nachgewiesen werden konnte, nicht in der Moslemischen Revue? Nach Abraham Rubin verhandelt Marcus in seinem Jubiläumsvortrag zu Lessing die Frage der Intoleranz in Bezug auf Religion, Rasse und Klasse hinsichtlich des Einkommens. Während die religiöse und rassistische Intoleranz die Minderwertigkeit der Minderheit zur Richtschnur mache, werde in sozio-ökonomischer Sicht die Geschäftstüchtigkeit und der wirtschaftliche Erfolg zum Argument der Intoleranz.

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Wichtiger als Lessing und Goethe im Bildungskontext ist für Hugo Marcus Friedrich Nietzsche, mit dem vor allem die Religion als Lebens- und Selbstpraxis beschrieben wird. Fast zeitgleich formuliert er in der Moslemischen Revue 1924 mit Mohammeds Gestalt und in Kurt Hillers, heute würde man sagen queer-politischem Ziel-Jahrbuch 5, Geistige Politik von 1924 mit Die Entlarvung der Tiefe ein „Selbstgefühl“[18] und „natürliche() und unveräusserliche() Menschenrechte(), zu denen er (Mohammed, T.F.) auch den Liebesanspruch zählt“.[19] Was nicht ausformuliert wird mit dem „Liebesanspruch“, lässt sich doch in der Formulierung lesen: „Denn seine Weisheit ist immer auf das gemeinhin Erreichbare gerichtet und realistisch, ungeachtet sie auf einem idealen Hintergrund ruht.“[20] Mohammed wird so zum Pragmatiker anstelle dogmatischer Rechtsgelehrter. Der Islam, wie ihn Marcus formuliert, während er bereits an der Koran-Übersetzung beteiligt ist, steht nicht im Widerspruch zum Selbstgefühl des Ziel-Jahrbuchs.
„Wenn Hungerstillung, das ist individuelle Erhaltung des Selbst, und Liebe, das ist überindividuelle Erhaltung des Selbst, gesichert sind, dann setzt im Seelenleben die stärkste Triebfeder alles Geschehens ein: die Steigerung des Selbst und der Genuß am gesteigerten Selbst: das sogenannte Selbstgefühl.“[21]

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In der Aprilausgabe 1933 erscheint anscheinend der letzte mit „Hamid Marcus“ gezeichnete Beitrag, Der geistige Gehalt der Ramadanzeit, der wiederum in der Tatlogik formuliert wird. „Wenn Gott uns ein Tun befiehlt, so entstrahlt diesem Tun nicht ein Zweck, nein, es entstrahlt ihm gleich ein ganzes Bündel von Zweckmäßigkeiten und Segenswirkungen.“[22] Die Fokussierung auf das Tun und die Tat durch Maulvi Sadr-ud-Din muss im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung in Indien bzw. auf dem indischen multiethnischen, vielsprachigen und multireligiösen Subkontinent gesehen werden. Die historische Hauptstadt des Punjab, Lahore, im Nordwesten Indiens wird 1956 der Islamischen Republik Pakistan zugeschlagen. An der Ausarbeitung der islamischen Verfassung war eben jener Mohammad Asad beteiligt, der dreißig Jahre zuvor in der Berliner Moschee zum Moslem geworden war. Stefan Weidner hat vor allem auf dessen für den modernen Salafismus prototypisches Buch Islam at the Crossroads von 1934 hingewiesen. Durch diese Schrift werde der Islam zu einer „geschlossenen Weltanschauung“ ohne die er nicht hätte „mitspielen können beim großen Spiel der Anschauungen und neuen Weltordnungen“.[23]

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Islam at the Crossroads wird in Delhi im März 1934 ein autobiographisches Vorwort vorangestellt, das den Islam als Lösungsangebot in einer Zeit zahlreicher Probleme ankündigt, die unerwartete Lösung und neue Sichtweisen (angle of vision) erforderten.[24] Am Ende des Vorworts formuliert Mohammad Asad eine ideologische Kampfansage gegen den Westen, die nicht aktueller nachhallen könnte. Das Koranstudium hat nicht etwa zu einem Austausch der Religionen und Kulturen untereinander geführt, vielmehr wird im März 1934, zehn Jahre nach Gründung der an Austausch interessierten Moschee, ein Kulturkampf formuliert:
„This little book (…) does not pretend tob e a dispassionate survey of affairs; it ist he statement of a case, as I see ist: The case of Islam versus Western civilisation. (Hervorhebung durch kursiv im Original) And it is not written for those with whom the Islam is only one of the many, more or less useful accessories of social life, but rather for those in whose hearts still lives a spark of the flame which burned in the Companions of the Prophet – the flame that once made Islam great as a social order and a cultural achievement.”[25]

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Die Ideologisierung der Religion Islam wird im Umfeld der indischen Unabhängigkeitsbewegung zur entscheidenden Strategie. Die Lebenspraxis muss vollkommen auf den Islam ausgerichtet werden. Wo in der Moslemischen Revue im 3. Heft 1924 noch wohlwollende Zitate über den Islam von Mahatma Ghandi abgedruckt wurden, ist 1934 kein Platz mehr für den Islam als „more or less usefull accessories of social life“. Die Debatten um den Islam trafen und verzweigten sich an der Berliner Moschee in den 20er und 30er Jahren. Danach war nichts mehr wie zuvor. Für den September 2024 ist zur Wilmersdorfer Moschee im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim eine Ausstellung vorgesehen. — Und dann gibt es noch die Erzählung eines Freundes über eine Begegnung an der Moschee vom Mai 2024:
„Eine Frau kommt hinter dem Vorhang vor und begrüßt mich freundlich. Ein einzelner Beter kommt und ich traue mich nicht, mehr Fotos zu machen.
Stattdessen will ich die Informationstafel lesen, als mir drei orthodoxe Juden entgegen kommen. Shabbat Shalom. Alle drei sind etwas verwundert, dass ich so auf sie zugehe und bleiben fragend stehen. Ich frage sie, woher sie kommen und was ich für sie tun könne. Sie sind etwas verlegen, aber auch freudig überrascht dann. Sie sind aus Kiew, Ternopil und irgendwonoch.
Als der Imam kommt, sprechen wir zu fünft und sie wollen wissen, ab wann morgens der Muezzin ruft. Als ich ein Foto von ihnen allen machen möchte, verweisen sie auf den Shabbat. Keine Fotos, erst morgen wieder! Das eine Foto lösche ich nicht und denke, der Liebe Gott wird mich wegen meiner Neugier vielleicht verstehen.
Ich rede vom House of One Berlin, was der Imam kennt, die anderen aber nicht. Sie erzählen von ihrer Flucht aus der Ukraine. Ich habe leider eine Verabredung in der Dänischen Gemeinde und breche die Unterhaltung ab. Aber das Zusammentreffen geht mir doch nicht aus dem Kopf. Gott sei Dank.“[26]

Torsten Flüh

Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim


[1] Abraham Rubin: Hugo Hamid Marcus (1880–1966): The Muslim Convert as German Jew. In: THE JEWISH QUARTERLY R EVIEW, Vol. 109, No. 4 (Fall 2019) 598–630, S. 606.
Zur Konversion: Siehe auch: Torsten Flüh: Vom Umkehren, Bekennen und Schmuggeln. Zur aktuellen Reihe Konversionen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Juni 2015.

[2] Sir Archibald Hamilton: Warum wurde ich Moslem? In: Moslemische Revue Herausgeber Maulvi Sadr-ud-Din 1. Jahrgang April 1924 Heft 1, Berlin, 1924, S. 25.

[3] Ebenda.

[4] Khalid Banning: Die Rettung. In: ebenda S. 31.

[5] Ebenda.

[6] Graf Hermann Keserling: Schöpferische Erkenntnis. Darmstadt: Otto Reichl, 1922, S. 3. (Archive.org) Siehe auch: Margit Ruffing: Geschichte und Gegenwart der Kant-Gesellschaft e.V. 2014 (PDF)

[7] Maulvi Sadr-ud-Din: Der islamische Mensch. (Eigenverlag) Berlin, 1924, 3.

[8]  „Einer dieser Mitarbeiter war Dr. Hamid Markus, der in der Danksagung aus politischen Gründen zwar nicht mehr genannt wird, der aber, wie mir Maulana Sadr-ud-Din selbst bestätigt hat, an der sprachlichen Gestaltung des deutschen Texts und des Kommentars maßgeblich beteiligt war …“ In: Manfred Backhausen: Die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung in Europa. (ohne Ort, ohne Jahr – 2006) S. 77-78. (PDF)
Siehe auch: Wolfram Setz: Einleitung. In: Hugo Marcus: Einer sucht den Freund und andere Texte. Ein Lesebuch zusammengestellt von Wolfram Setz. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2022, S. 42.

[9] Maulvi Sadr-ud-Din: Der … [wie Anm. 6] S. 23.

[10] Ebenda S. 37

[11] Ebenda S. 27.

[12] Die Redaktion: Was ist der Islam. In: Maulvi Sadr-ud-Din und Professor S. M. Abdullah (Hg.): Moslemische Revue: Fünfter Jahrgang 1929. Berlin 1929, S. 190-191.

[13] Hugo Marcus: Das Wesen der Religion. In: Moslemische Revue Herausgegeben von Maulvi Sadr-ud-Din 1. Jahrgang Juli 1924. Berlin 1924, S. 84.

[14] Hugo Marcus: Nietzsche und der Islam. In: Moslemische Revue Herausgegeben von Maulvi Sadr-ud-Din und Maulvi F. K. Khan Durrani Dritter Jahrgang 1926 Heft 2 April 1926. Berlin 1926, S. 79.

[15] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Band 1. Chemnitz: Schmeitzner, 1883, S. 49. (Deutsches Text Archiv)

[16] Abraham Rubin: Hugo … [wie Anm. 1] S. 604.

[17] Siehe: Torsten Flüh: Genealogische Operationen mit Witz. Nathan In The Box von und mit Bridge Markland wird bei der Premiere gefeiert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2021.

[18] Hugo Marcus: Die Entlarvung der Tiefe. In: Kurt Hiller (Hg.): Geistige Politik! (Ziel-Jahrbuch 5, 1924) S. 92. Zitiert nach: Hugo Marcus: Einer … [wie Anm. 8] S. 35.

[19] Hugo Marcus: Mohammeds Gestalt. In: Moslemische Revue 1926. Zitiert nach ebenda S. 437.

[20] Ebenda.

[21] Hugo Marcus: Die … [wie Anm. 18]. S. 35.

[22]1937 findet unter dem Nachruf Hudah Johanna Schneider gestorben noch das Kürzel M. H..
Hamid Marcus: Der geistige Gehalt der Ramadanzeit. In: Maulana Sadr-ud-Din, Dr. phil. S. M. Abdullah: Moslemische Revue. 9. Jahrgang, April 1933, Heft 1 und 2. Berlin,1933, 12.

[23] Stefan Weidner: Hin und weg. Warum bekennen sie Europäer zum Islam? Das Beispiel Leopold Weiss alias Muhammad Asad. In: Ulrike Vedder, Elisabeth Wagner (Hg.): Konversionen. Erzählungen der Umkehr und des Wandels. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin: Vorwerk 8, 2017, 130.

[24] Muhammad Asad: Islam at the crossroads. Sixth (revised) edition. Punjab: Arafat Publications Dalhousie, 1947, S. 1. (Archive.org)

[25] Ebenda S. 6.

[26] Veröffentlicht auf Facebook am 11. Mai 2024 von KD L. Ehmke.

Algorithmus-Musik furios auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Musik – Algorithmus – Arbeit

Algorithmus-Musik furios auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Zur gefeierten Inszenierung von Georges Perecs Die Gehaltserhöhung in der Kammer des Deutschen Theaters

Theaterspielen ist Arbeit. In Georges Perecs 2009 beim Theaterverlag Klett-Cotta in Deutsch erschienenem Theaterstück Die Gehaltserhöhung, das 1981 als L’Augmentation in Paris erschienen war, geht es auf den ersten Blick um Arbeit und den gerechten Lohn. Statt Namen spielen Das Angebot, Die Alternative, Die Positive Hypothese, Die Negative Hypothese, Die Wahl und Die Schlussfolgerung ihre Rollen in Schulterpolstern wie im American Football, als ginge es um ihr Leben und die Welt. Die Regisseurin, Anita Vulesica, hat die Figuren Der Abteilungsleiter (Beatrice Frey) und Frau Jolande hinzugefügt. Frau Jolande (Ingo Günther) macht Live-Musik. Sie ist das geheime Zentrum der Inszenierung, eine Art Schaltzentrale, die das Stück am Laufen hält. Einmal singt sie lässig nur ein paar Laute. Dann steigt Theaternebel aus ihrer hochtoupierten rosa Frisur.

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Im Entweder-Oder der hochdramatischen Entscheidungen, wie beim Abteilungsleiter eine Gehaltserhöhung vis-à-vis eingefordert werden könnte, rempeln sich Angebot bis Schlussfolgerung unter Einsatz ihrer ganzen Körper an, hauen sich um, schleifen einander über die Bühne (Choreografie Mirjam Klebel). Die Stimmen überschlagen sich und die Gesichtsmuskulatur wird gut 100 Minuten hochtourig eingesetzt. Abak Safaei-Rad, Evamaria Salcher, Frieder Langenberger, Moritz Grove, Katrija Lehmann und Jonas Hien betreiben American Football-Hochleistungstheaterspiel. Sie geraten ins Schwitzen, holen sich blaue Flecken an Armen und Beinen (Kostüme/Maske Janina Brinkmann), werden von einem ferngesteuerten Papierkorb verfolgt und spielen die Komik aller Entweder-Oders leidenschaftlich durch. Das Publikum hat einen Riesenspaß, ohne dass eine Gehaltserhöhung dabei rauskommt, lacht und applaudiert frenetisch in der Premiere am 25. April.

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Georges Perecs Theatertext aus binären Entscheidungsmöglichkeiten nimmt nicht nur die allgegenwärtige Herrschaft der Algorithmen seit 1981 voraus, vielmehr wurde er bereits seit 1968 von ihm durchgespielt und entwickelt. 1981 lehrte er als Writer in Residence an der University of Queensland in Australien. 1982 verstarb er an Lungenkrebs in einem Vorort von Paris. Seit den 60er Jahren arbeitete er bis 1978 als Archivar am CNRS in Paris mit Datensätzen, so dass die Übertragung von Informationen in digitale Programme zu seinen Aufgaben gehörte. Beispielsweise waren zu jener Zeit noch Lochkarten im Einsatz, die auf andere Datenträger wie Magnetbänder übertragen wurden.[1] Perec schloss sich in den 60er Jahren nicht nur der Schriftstellergruppe Oulipo (L‘Ouvroir de Littérature Potentielle) um Raymond Queneau an, vielmehr war das Umschreiben und Übertragen von Texten (z. B. Lochkarten) in Literatur avantgardistisches Programm der Gruppe.

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Loch oder kein Loch werden in den 60er Jahren zu 1 oder 0 auf Magnetbändern und frühen Computerbildschirmen als Dramen des Entscheidens, um an dieser Stelle das Semesterthema der Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität schon einmal vorwegzunehmen. Georges Perecs Die Gehaltserhöhung passt beispielhaft zum Semesterthema u.a. mit den Fragen: „Welche Rolle spielt der Zufall in Entscheidungsprozessen? Wie verändern sich Entscheidungen in ihren Bedingungen und Grenzen, wenn sie zunehmend an digitale Technologien delegiert werden? Und wie lässt sich schließlich die Verweigerung von Entscheidung als entschiedener Protest und politischer Widerstand begreifen?“[2] Georges Perec setzt in seinem Theatertext mit dem Entweder-Oder, das ultimative Entscheidungsdrama für Nichts in Szene. Per Zufall (oder per Programm) kommt es niemals zum Vis-à-vis mit dem Abteilungsleiter.

© Elke Walkenhorst

Anita Vulesica bricht bereits mit ihrer Rollenbesetzung und den Kostümen den Binarismus nicht nur der Geschlechter von Mann und Frau auf. Bis auf den Abteilungsleiter tragen alle hypermaskuline Schulterpolster unter den Blusen, Hemden und Jacketts. Röcke und Hosen werden auf männliche wie weibliche Schauspieler*innen divers verteilt. Frau Jolande wird von der Taille bis zur Oberweite zur Hyperfrau mit Schulterpolstern. Als Live-Musikerin dreht sie an Knöpfen und verschiebt Regler, als steuere sie die ganze Bühnenmaschinerie. Sie erinnert an DJs im Berghain oder KitKat Club. Zugleich könnte sie ein Roboter sein, der mit seiner KI den Programmablauf beherrscht. Ist sie Mensch oder Maschine wie es Thomas Melle und Stefan Kaegi in Uncanny Valley verhandelten?[3] Wieviel Maschine steckt im Menschen?

© Elke Walkenhorst

Georges Perec ersetzt die Theaterrollen der Charaktere durch, nennen wir es, linguistische Prozessschritte: Angebot, Alternative, Positive Hypothese, Negative Hypothese, Wahl, Schlussfolgerung. Der französische Schauspieler und Regisseur Marcel Cuvelier hat den Text 1970, 1982 und 1992 aufgeführt. Für die Reihe Portrait(s) der Bibliothèque nationale de France schrieb er 2001 zu seiner ersten Lektüre von L’Augenmentation über die Ersetzung der Charaktere durch „propositions“. Der Begriff „propositions“ hat im Französischen einen breiteren Gebrauchsrahmen als Vorschläge im Deutschen. Er kann ebenso mit Lehrsätze, Prämissen, Aussagen, Thesen etc. übersetzt werden.
„Von der ersten Lektüre an jedenfalls habe ich Die Gehaltserhöhung gesehen, ich habe es als Theaterstück erlebt. „Vorschläge“ wurden mir anstelle von Charakteren auferlegt. Ich folgte dem roten Faden dieses Gesprächs mit einem Computer wie einer Handlung. Es amüsierte mich, ja erregte mich sogar, diesen Zwang, der den Schauspielern auferlegt wurde: nicht untereinander, sondern direkt mit dem Publikum zu sprechen, was sie kaum tun, außer in Monologen oder im Varieté. Kurz gesagt, es wäre interaktives Theater, wie wir es noch nicht gesehen haben.“[4]

© Elke Walkenhorst

Der Theatertext lässt sich nicht zuletzt als ein Computertext lesenhören. Marcel Cuvelier sah bereits frühzeitig in ihm eine „conversation avec un ordinateur“ (Unterhaltung mit einem Computer), die zu einem zuvor nicht gekannten „théâtre interactif“ führen könne. Der aktuelle Copilot von Microsoft auf Edge antwortet binnen Bruchteilen einer Sekunde auf die Suchanfrage „Algorithmus“: „ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Damit können sie zur Ausführung in ein Computerprogramm implementiert, aber auch in menschlicher Sprache formuliert werden.“ Georges Perecs witzige Performance gipfelt indessen darin, dass es zu keiner Problemlösung der Gehaltsfrage kommt, weil der Adressat, der Abteilungsleiter, nicht da ist und Frau Jolande (nur) Musik macht, allenfalls Unverständliches – „Da da da dubi da …“ – singt.

© Elke Walkenhorst

Der Abteilungsleiter und Frau Jolande sind von Anita Vulesica und ihrer Dramaturgin Lilly Busch hinzugefügt worden, was einerseits die dem Text eigene Komik verstärkt, anderseits seiner Struktur der Prozessschritte schadet. Zwar wiederholt der Abteilungsleiter formelhaft Antworten, Floskeln auf die Frage der Gehaltserhöhung, so dass er gar nicht antwortet, aber er ist nicht in den Prozess eingebunden. Die Rolle der Frau Jolande dagegen gibt einen Wink auf die Musik als Komposition der sprachlichen Prozesse. Denn die Musik oder Musikalität in den Texten von Georges Perec ist bereits in der Romanistik bmit Jean-Luc Jolies Aufsatz Georges Perec et Paul Auster: Une Musique du Hasard besprochen worden. Er kommt zu dem Schluss, „dass trotz (…) Divergenzen die Verbindung zwischen den Werken von Georges Perec und Paul Auster sowohl ein Hinweis auf die gegenwärtige Mythisierung von Perecs Werk ist (selbst ein Zeichen für die Existenz einer Bewegung aus der zeitgenössischen Ernüchterung) als auch ein einzigartiger Ort der Verzahnung im großen Rätsel der Literatur; als „Musik des Zufalls“, deren erste Takte oder Tonart von Perec selbst gegeben worden wären“.[5]

© Elke Walkenhorst

Zufällig ist der Abteilungsleiter einer namenlosen Firma, die im Verlauf des Textes immer größer wird, weil immer mehr Abteilungen durchlaufen werden müssen, nicht in seinem Büro. Im Prozess der Frage, ob der Abteilungsleiter da ist (Angebot), oder nicht (Alternative), was zu tun wäre, wenn er da ist (Positive Hypothese), oder was zu tun wäre, wenn er nicht da ist (Negative Hypothese), was man dann tun könne (Wahl), oder von vorn beginnen müsse (Schlussfolgerung), wird von Perec in einem strengen Algorithmus durchgespielt. Jolie hatte auf den Band Portrait(s) de Georges Perec mit Paulette Perec als Herausgeberin reagiert, für den Paul Auster emphatische Cartes Postales pour Georges Perec geschrieben hatte.[6] Davon wurden 2 Postkarten im originalen Englisch in The Princeton University Library Chronicle veröffentlicht. Paul Auster lobt in der ersten Postkarte vor allem „the sense of amazement and happiness that washes over us the first time we read a book that changes the world for us, that exposes us to the infinite possibilities of what a book can be“.[7]

© Elke Walkenhorst

Der Abteilungsleiter und Frau Jolande sind von Anita Vulesica und ihrer Dramaturgin Lilly Busch hinzugefügt worden, was einerseits die dem Text eigene Komik verstärkt, anderseits seiner Struktur der Prozessschritte schadet. Zwar wiederholt der Abteilungsleiter formelhaft Antworten, Floskeln auf die Frage der Gehaltserhöhung, so dass er gar nicht antwortet, aber er ist nicht in den Prozess eingebunden. Die Rolle der Frau Jolande dagegen gibt einen Wink auf die Musik als Komposition der sprachlichen Prozesse. Denn die Musik oder Musikalität in den Texten von Georges Perec ist bereits in der Romanistik mit Jean-Luc Jolies Aufsatz Georges Perec et Paul Auster: Une Musique du Hasard besprochen worden. Er kommt zu dem Schluss, „dass trotz (…) Divergenzen die Verbindung zwischen den Werken von Georges Perec und Paul Auster sowohl ein Hinweis auf die gegenwärtige Mythisierung von Perecs Werk ist (selbst ein Zeichen für die Existenz einer Bewegung aus der zeitgenössischen Ernüchterung) als auch ein einzigartiger Ort der Verzahnung im großen Rätsel der Literatur; als „Musik des Zufalls“, deren erste Takte oder Tonart von Perec selbst gegeben worden wären“.[5] 

© Elke Walkenhorst

Die unendlichen Möglichkeiten (infinite possibilities), dessen, was ein Buch sein kann, lassen sich nicht zuletzt als die der Kombinatorik von Graphen, Buchstaben, Formulierungen und Entscheidungen bedenken. Die Komik der Texte entspringt der freien, aber strengen Kombinatorik der Elemente der Sprache. So lässt sich in der englischen Version des Wikipedia-Artikels zu Georges Perec ein animiertes Ambigramm finden. Um 180° gedreht ergibt „andinbasnodaauneepousequipue“ die gleiche Folge der Graphen allerdings ohne Leerschritte der wenig korrekten Formulierung „andin basnoda a une epouse qui pue“ (Andin Basnoda hat eine Frau, die stinkt). In der Drehung wird das a zum e, das n zum u, das d zum p etc. Graphisch kann ein d ebenso als ein p gelesen werden usw. Die potentielle Literatur der Oulipo-Gruppe erstreckte sich auf geradewegs barocke Schrifträtsel wie Ambi- und Lipogramme (La disparation, 1969) mit der kleinsten Einheit der Graphen.[8] Der peinliche Witz der Aussage wird vom graphischen Witz der Drehung übertroffen.

© Elke Walkenhorst

Die Gehaltserhöhung von Georges Perec ist zutiefst in eine Transmedialität der 60er und 70er Jahre verwoben. Computer, Buch, Hörspiel sind für ihn nicht nur Medien zur Verbreitung von Texten und Reflektionen, vielmehr werden die zeitgenössischen Medien theatralisch erforscht. Das Hörspiel wird von Perec wiederholt als Medium ausgelotet. Das gilt für L’Augenmentation wie für Die Maschine, die Perec für den Saarländischen Rundfunk fast zeitgleich produzierte.[9] Im Hörspiel Die Maschine wird Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied mit dem romantischen Vers „Über allen Gipfeln ist Ruh …“ systematisch analysiert und aufgegliedert. Nicht nur die Funktionsweise der Maschine, des Computers, zeigt nicht zuletzt den strukturalen Mechanismus der Poesie, wie sie im Rhythmus etc. aufgebaut ist, vielmehr wird damit 1968 quasi ein deutsches Kulturgut durch zahlreiche Wiederholungen dekonstruiert:
„Meine Damen und Herren, in diesem Hörspiel, in diesem Hörspiel unternehmen wir den Versuch, die Arbeitsweise eines Computers zu simulieren … (6:16) Deformierung der rhythmischen Veränderung der Wörter und der Reihenfolge Über allen Gipfeln/Ist Ruh‘,/In allen Wipfeln/Spürest Du/Kaum einen Hauch;/Die Vögelein schweigen im Walde./Warte nur! Balde/Ruhest du auch…“[10]

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Die Hörspielregie von Wolfgang Schenck legte für Die Maschine 1968 wert darauf, dass das Maschinelle durch eine mehrstimmige, abgehackte Sprechweise und Echos hörbar wurde. Die Zukunft[11] der maschinellen Analyse eines prominenten Gedichts von Johann Wolfgang von Goethe, in dem mehr oder weniger verständliche Zahlenansagen analytische Operationen in schneller Folge angeben, konnten und mussten im Rundfunkmedium Hörspiel nicht verstanden werden. Vor dem Radio hatten die Zuhörer*innen anders als heute bei Audiodateien keine Möglichkeit, den Text zu wiederholen. Vielmehr kam es darauf an, eine Maschinenakustik herzustellen, die sich eines sonst mit Inbrunst vorgetragenen Gedichts möglichst emotionsfrei in Kombination mit Zahlenreihen annahm. Für die kanonischen Goethe-Leser/Hörer der 23 Jahre jungen Bundesrepublik wird Die Maschine ein Chock gewesen.

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Alexa und Cortana etc. sprechen als Maschinen heute so menschlich mit uns, dass spielende Kinder oft fragen, ob sie ein Mensch sei. Auf die Erklärung „Alexa, ich liebe Dich“ spielt Alexa dann einen Jingle ab: „Danke, dass Du mir sagst, dass Du mich liebst …“ Die Maschine hört sich für Kinder heute zum Verwechseln ähnlich mit freundlichen Menschen an. Im Kontext der Inszenierung von Die Gehaltserhöhung muss dies in Erinnerung gerufen werden. Georges Perec hätte tendenziell viele andere Titel und Themen für sein Algorithmus-Drama nehmen können. Doch allein im Titel verfängt sich eine Erwartung auf Problemlösung und, wenn man so will, Sinn. Perec verfährt allerdings mit dieser Erwartung poetisch. Im Kontext seiner Entstehung geht es dem Theatertext weder um ein höheres Gehalt noch um Arbeit oder um irgendeinen Abteilungsleiter, der auch nur hinüberwinken könnte zu neuen Überstundenregelungen eines Finanzministers Lindner, der sich bescheinigen lässt, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird.

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Das Regieteam um Anita Vulesica mit der Bühne von Henrike Engel hat nun gerade die Arbeit und den Abteilungsleiter in Szene gesetzt. Der Schirm, der mehrfach über den runden Schaltraum der Frau Jolande hoch- und runtergezogen wird, kann ebenso gut an ein DJ-Pult wie an das Innenleben eines Computers erinnern. Der Bühnenraum wird zwischen Büro und Diskette zu einem kippenden Steuerungsraum. Die Arbeit der Schauspieler*innen wird stellvertretend für viele Arbeitswelten in comicartiger Überzeichnung vorgeführt. Das ist sehr unterhaltsam, wie heute Comedy überhaupt zum großen Spaßaufklärer geworden ist. Das Erstaunen und Unterhaltsame ist Georges Perec in seinen Texten nicht fremd, wie Paul Auster prominent geschrieben hat. Doch er ist entschieden radikaler, als es Anita Vulesica zulässt.

Torsten Flüh

Georges Perec
Die Gehaltserhöhung
Kammer des Deutschen Theaters
Nächste Aufführungen
16. Juni 2024 19:30 Uhr
21. Juni 2024 20:00 Uhr
04. Juli 2024 20:00 Uhr    


[1] „Sukzessive wurden Lochkarten schon ab den 1960er Jahren durch elektronische Speichermedien wie Magnetbänder und Magnetplatten abgelöst; zur Datenerfassung wurden „modernere“ Datenträger wie z. B. Disketten verwendet sowie Bildschirm-gestützte Erfassungsverfahren mit Datenfernübertragung eingesetzt.“ Zitiert nach: Wikipedia: Lochkarte.

[2] Siehe: Mosse-Lectures: Programm.

[3] Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[4] Übersetzung T.F. „Dès la première lecture, en tout cas, je vis L’Augementation, je la vécus comme une Pièce de théâtre. Des personnages s’imposaient pour moi á la place des « propositions ». Je suivais comme une intrigue le fil de cette conversation avec un ordinateur. Cela m’amusait, m’excitait même, cette contrainte imposée aux acteurs : ne pas dialoguer entre eux, mais directement avec le public, ce qu’ils ne font guère que dans les monologues ou dans les apartés du vaudeville. En somme, ce serait du théâtre interactif, comme on ne le disait pas encore.‟
Marcel Cuvelier: L’ami théâtre. In: Bibliothèque nationale de France (Hg.) : Portrait(s) de Georges Perec. Paris, juin 2001, S. 152.

[5] Jean-Luc Jolie : Georges Perec et Paul Auster : Une Musique du Hasard. In:  Romanic Review; Durham Bd. 95, Ausg. 1/2,  (Jan-Mar 2004): 99-134.

[6] Paul Auster : Cartes Postales pour Georges Perec. In : Bibliothèque nationale de France : Portrait(s) … [wie Anm. 4] S. 163-165.

[7] Paul Auster: Postcards for Georges Perec. In: The Princeton University Library Chronicle, Vol. 63, No. 1-2 (Winter 2002), p. 52 https://doi.org/10.25290/prinunivlibrchro.63.1-2.0052

[8] Siehe zum Graph Kleists Der Griffel Gottes in: Torsten Flüh: Stich für Stich. Zu Kerstin Drechsels Ausstellung Penatenhimmel in der Zwinger Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Mai 2024.

[9] Georges Perec: Die Maschine. Saarländischer Rundfunk/Westdeutscher Rundfunk 1968. (archive.org)

[10] Ebenda. Transkription nach Abhören der Datei.

[11] Nicht von ungefähr erinnern die Lautsprecheransagen an die 1966, also kaum 2 Jahre zuvor erstgesendeten Folgen der Raumpatrouille Orion.

Stich für Stich

Bild – Zusammen – Text

Stich für Stich

Zu Kerstin Drechsels Ausstellung Penatenhimmel in der Zwinger Galerie

Penaten, klar. Bei dem Wort steigt ein Duft in die Nase. Eine etwas zähe Masse wird auf die Kinderhand mit dem roten Fleck aufgetragen. Alles wird wieder gut. Das In-den-Arm-genommen-werden schließt sich sogleich an die Kindheitserinnerung an. Eine der Ehefrauen der Erfinder der heilenden Creme soll auf den Namen der römischen Hausgeister als Marke gekommen sein. Das Versprechen der Marke evoziert eine transgenerationelle Sorge um den Haushalt als Ort der Familie. Seit 1986 gehört die Familienheilcreme zum amerikanischen Weltkonzern Johnson & Johnson. Doch, wo sich um Familie, Haushalt und Gesundheit gesorgt wird, drohen Gefahren. Mit der Kombination von Penaten und Himmel steigert Kerstin Drechsel noch das Versprechen häuslicher Sicherheit.

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Der Penatenhimmel, der sogleich mit dem Kreuzstich großformatig auf weißem Hintergrund in der Zwinger Galerie ins Auge springt, täuscht. Das Zuhause wird gerade während der Europameisterschaft im Männerfußball für viele Frauen zuhause wieder gefährlich werden. Stimmungen und der Konsum von Alkohol wie Substanzen, wird sexualisierte Gewalt freisetzen. Daran erinnerte eine Forscherin auf der Veranstaltung EM der Vielfalt? – Wie vielfältig ist der deutsche Fußball 2024? in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die multimediale Großerzählung Fußball, vor allem Männerfußball, wird stark mit den Feldern Heim, Gemeinschaft und Geschlecht verkoppelt. Kerstin Drechsel erinnert mit dem Kreuzstich in Rot an Stickbilder aus der guten, alten Zeit. Sinnsprüche wurden von Frauen auf Handtücher, Kissen oder Topflappen, gestickt, als könnten sie vor Katastrophen und häuslicher Gewalt schützen.

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Die überdimensionalen Stickbilder von Kerstin Drechsel kombinieren Texte mit der Visualität der weiblichen Tätigkeit des Stickens. Frauen stickten meist überlieferte Bitten oft mit christlichem Hintergrund wie „Herr segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus.“ Oder: „Göttlicher Haussegen. Wo Glaube, da Liebe, Wo Liebe, da Frieden, Wo Friede, da Segen, Wo Segen, da Gott, Wo Gott, keine Noth.“ Die Segensprüche, die seit 1900 eine immer größere Verbreitung fanden und gestickt wurden, konnten zwar gelegentlich abgewandelt werden, aber der Modus der Wiederholung versprach zugleich ihre Wirksamkeit. Die Wirksamkeit der Sprüche wurde gleichsam durch ihre große Verbreitung belegt. Zuerst sehen die Besucher*innen den visuellen Kreuzstich mit seinen Verweisen. Dann beginnen sie, in den Bildern zu lesen.

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Als bildende Künstlerin geht es Drechsel um das Visuelle. Doch das Visuelle lässt sich kaum, von dem Wunsch zu lesen, abkoppeln. Es lässt sich die Frage formulieren, ob das Visuelle immer schon von der Wahrnehmung durchstochen wird. Über das Technische der Entstehung gibt Kerstin Drechsel freimütig Auskunft. Was für Menschen, die den Kreuzstich kennen, das visuelle Wissen vom Sticken sofort aufruft, erweist sich als Siebdruck mit einer digital generierten Kreuzstichschrift. Die Texte wurden in eine Folie gestanzt und mit roter Farbe auf weißen Untergrund einmal oder mehrfach übertragen. Die durch die Druckpraxis eröffnete Serialität und Wiederholbarkeit korrespondiert mit der alten Praxis des Stickens, um sie zugleich zu transformieren. Das visuelle Wissen vom Kleinen, gar Winzigen der Stickpraxis wird plötzlich groß. Riesengroß.

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Obwohl die Kreuzstichschrift das Lesen zugleich erschwert, fällt es doch schwer, nicht zu lesen. Die visuelle Struktur der gestickten Texte, unterscheidet sich von den häufig visuellen Gliederungen und Rahmungen der gestickten Segenssprüche. Sie wurden visuelle geordnet, wie sie zugleich eine Ordnung mit Reimen oder Wiederholungen – „Wo Glaube, da Liebe, Wo Liebe, da …“ – versprachen. Die trügerische Ordnung des Kreuzstichs, der immer auch an das christliche Andreaskreuz in Form des X erinnern konnte, wird in Kerstin Drechsels Stickbildern brüchig. Wo Ordnung auf den ersten Blick versprochen wird, zeigen sich auf den zweiten Brüche und kalkulierte Druckfehler verlaufender Farbe.
„XII

EINTAUCHEN
ICH BIN NUR STIMME
TÖNE KOMMEN
OHNE DASS ICH’S WAHRNEHME
KÖRPERLOS SEIN
UNTEN KITZELT WAS
ODER JEMAND

HI HI“

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Die Nummerierung – „XII“ – der großformatigen Schriftbilder erinnert an Seitenzahlen einer linearen Erzählung, die sich nicht sogleich aus einer gelesenen Passage erschließt. Sollen die Besucher*innen jetzt die „I“ suchen, um mit der Geschichte von vorne zu beginnen? Die Bildhaftigkeit der Tafeln arbeitet eher gegen eine lineares Lesen der Erzählung. Das zurückgenommene, womöglich gar angenehme Kichern des „HI HI“ verwirrt. Verbalisiert bzw. artikuliert werden Körperpartien des Unterleibs und insofern des Geschlechts. Offen bleibt, ob dort „was“ oder „jemand“ „kitzelt“. Penatenhimmel stellt zugleich die Frage eines intimen Zusammenseins und des sexuellen Missbrauchs in Gemeinschaften bis in die Familie. Die Familie/Gemeinschaft ist in den letzten Jahrzehnten stärker als Ort des Missbrauchs debattiert worden. Damit wird zugleich der Bereich der Aufarbeitung: Sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen sexueller Emanzipation angespielt[1], wie ihn die Ausstellung im Schwulen Museum im 2023 thematisiert hat.

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Stich für Stich befragt Drechsel mit der Kreuzstichschrift die Ambiguität von Gemeinschaft und Familie, der Intimität des Lagerfeuers und Herdes wie dem generationellen Übergriff und Kitzel. Familienähnliche Gemeinschaften wie Kirchen- und Glaubensgemeinden, Pfadfindergruppen, Jugendclubs etc. sind durch Erzählungen und Aussagen in den letzten Jahrzehnten in vielen Gesellschaften und Kulturen thematisiert worden. Häufig geschieht die ritualisierte Initiation, die Aufnahme in eine Gemeinschaft durch Formen des sexuellen Missbrauchs, während viele in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollen. Drechsel formuliert in ihren visuellen Arrangements Erzählungen vom Ich:
„XIII

WARUM              QUETSCHT          DACHTE
WEINE                MICH                  ENDLICH
ICH                    NUR                    EIN
WENN                 AUS

ANDERE
SICH

STREITEN

                     ZUHAUSE“

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Die visuell arrangierten Texte auf den Tafeln müssen allererst zusammengelesen werden. Es geht nicht immer linear auf den Tafeln zu. Plötzlich ergibt sich erst aus den senkrechten Spalten eine Formulierung. Drechsel setzt das Arrangement der Buchstaben in grafischer Vielfalt mehrfach als Strategie ein, um das Lesen und Verstehen zu problematisieren. Sie geht allerdings nicht so weit, dass sie die Buchstaben lose auf einer Tafel verstreut. Die dreizehnte und letzte Tafel endet mit „ZUHAUSE“. Doch das Zuhause ist zutiefst ambivalent. Der Berichterstatter fühlt sich an Heinrich von Kleists Text Der Griffel Gottes in den Berliner Abendblättern erinnert. Nach einem Blitzeinschlag müssen die übriggebliebenen Buchstaben einer Grabplatte aus Eisen „zusammen gelesen“ werden.
„Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: s i e i s t g e r i c h t e t ! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.“[2] 

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Lassen sich die grafischen Arrangements der Texte als Literatur betrachten? Die Arrangements erfordern unterschiedliche Lesebewegungen. Sowohl das Zusammenlesen kleinster Einheiten, der Graphen, wie die Verräumlichung der griechisch γραφή graphḗ „Schrift“ als auch die spielerische Drehung auf Tafel „XIV“, wo die Schrift schräg auf und ab aufgetragen worden ist – „G SITZT MIT EINER RIESEN SCHOKOLA DE IM ZIMMER H KOMMT REIN“ –, oszilliert das Grafische zwischen Bild und Schrift. Doch sind die Graphen erst einmal zusammengelesen, brechen präzise Formulierungen hervor, die Gemeinschaft und Missbrauch lesbar werden lassen. Der Putzauftrag kippt mit dem durch Brandflecken ruinierten Teppich. Was ist denn da passiert? Da wurde wohl auf dem Teppich gefeiert?!
„PUTZEN BIS DIE HAUSWIRT SCHAFTS LEITERIN KOMMT NUR DORT PUTZEN WO SIE KONTROLL IERT WIR HÜTE N EIN HAUS WIR RUIN IEREN DEN TEPPICH MIT BRANDFL  ECKEN“

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Die Elastizität und Brüchigkeit der Texte zugleich, aber auch ihre Genauigkeit und Kürze macht die Tafeln literarisch. Erst kontrolliert die Hauswirtschaftsleiterin das Putzen, dann soll ihre Aufsicht umgangen werden und schließlich wurde auf dem Teppich heftig, auch körperlich, gefeiert, könnte eine Leseversion ergeben. Zugleich wird die Brüchigkeit in der Anordnung der Graphen visualisiert. Die Textschnipsel als kleine Form des Literarischen erzählen weniger und zugleich mehr als Kleists Griffel Gottes. Sie rangieren in der Nähe jener Aphorismen, altgriechisch ἀφορίζειν aphorizein als Abgrenzungen, wie sie als Klappentexte auf öffentlichen Toiletten in Schulen und Universitäten etc. zu finden sind. In der Nähe einer Kryptographie sollen sie Informationen übermitteln, die nur bestimmte, ein gemeinschaftliches Wissen Teilende lesen können.

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In der Mitte des Raumes hängt ein Strickobjekt in blauweißem Garn. Das achteckige Objekt hat acht ärmelartige Öffnungen. Die Besucher*innen könnten an dem geradewegs aufgespannten Objekt ihre Hände in den Schlauch stecken. Dann käme es zu einer taktilen Begegnung der Hände im Verborgenen. Das Strickobjekt lädt dazu ein, mit den Händen – „KITZELT WAS“ –, eine Gemeinschaft zu stiften. Das Strickobjekt, ein abstrakter Handwärmer, die kleinformatigen Betonobjekte und Acrylbilder treten in eine Korrespondenz mit den Tafeln und der Kreuzstichschrift. Die Formen der Betonobjekte bleiben amorph. Die Acrylbilder greifen beispielsweise mit einer Putzmaschine Begriffe aus den Texten – „DORT PUTZEN WO“ – auf, um sie auf ganz andere Weise zu visualisieren.

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Die Ausstellung Penatenhimmel wird zu einem Gespinst aus verschiedenen Medien – Schrift, Graph, Strick, Stich, Farben etc. –, um dem Zusammensein und dem Haushalt wie dem Zuhause auf die Schliche zu kommen. Nicht jede Verknüpfungsmöglichkeit erschließt sich auf Anhieb. Aber „PUTZEN“ in Kreuzstichschrift und Großraum-Putzmaschine in Acryl, wie sie in Hallen oder auf dem Bahnhof eingesetzt wird, korrespondieren dann doch plötzlich. Was wie zusammen wirkt, entsteht vielleicht nur aus einem Moment. Doch Kerstin Drechsel hat immer wieder die Thematik des Zusammen[3] und der Ordnungen oder Un- und Umordnung interessiert. Das geschieht nicht zuletzt in Hinblick auf Queerness und queere Praktiken zur Bildung von Communities. Ihre Installation Dritte Haut 2022 in der Zwitschermaschine spielte sich in einem Zwischenbereich von ärztlicher Notversorgung, Urlaub und Missbrauch ab.[4] Ihre Wärmespeichersysteme kreisen 2012 nicht um ein Heizungsgesetz, sondern queere Praktiken des Zusammenseins.[5]     

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Die bunten eher kleinformatigen Gemälde spielen sich zwischen Graphen und Gestalten ab, zwischen Bild und Schrift. Ein einzelner Arm. Ein Körper in einem Schlafsack oder Kokon. Auf einem anderen Bild sind Hosen in der feministischen Farbe Lila verteilt, als tanzten sie oder seien gerade ausgezogen worden. Die Bilder erinnern an Traumbilder. Die Hosen korrespondieren mit dem Text von den „KONFIRMANDENFREIZEITEN“.

„AUF KONFIRMANDENFREIZEITEN
BRINGT GE JUNGS ZUM WEINEN
TRÖSTUNGEN DURCH HAND IN DER HOSE
SEIT WIR ES WISSEN VERSUCHEN WIR
ALLES ZU VERHINDERN

IMMER WIEDER ROTLICHT

STOP“

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Die Text und Bilder entfalten ein soziales Geflecht aus queerem Begehren, dem Ich und dem Wir sowie Formen des Wissens. Paradoxerweise leuchtet nicht gleich polizeiliches Blaulicht auf, sondern „ROTLICHT“ als Alarmsignal. Doch zugleich bleibt das Rotlicht mehrdeutig und könnte auch an ein Rotlichtviertel erinnern. Mit der Kombination christlicher Zitate wie „EIN FESTE BURG“ mit „SAND AUF SAND“ geben die Tafel einen Wink, dass die Gemeinschaft versprechende Burg, wie man sagt, auf Sand gebaut ist. Versprechen, die insbesondere im Horizont des Kreuzstichs wiederholt wurden und werden, erodieren. Es geht darum sich nicht nur in den Penatenhimmel einzulesen, vielmehr noch in seine kaum aufzulösende Ambiguität einzufühlen.

Torsten Flüh

Kerstin Drechsel
Penatenhimmel
bis 15. Juni 2024
ZWINGER Galerie
Mansteinstraße 5
10783 Berlin
Dienstag bis Samstag 12 – 18 Uhr


[1] Siehe Torsten Flüh: Gewalt revolutionärer Emanzipation. Zur verspäteten Ausstellung Aufarbeitung: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen der Emanzipation im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Oktober 2023.

[2] Heinrich von Kleist: Der Griffel Gottes. In: Berliner Abendblätter. 5. October 1810.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Subversive Bilderzählschränke. Zu Kerstin Drechsels Installation E-Werk in der ZWINGER Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 2, 2018 18:32.

[4] Torsten Flüh: Wissensverarbeitung mit Konjunktiv. Über das Pandemiegeschehen und die Nachträglichkeit des Wissens sowie Kerstin Drechsels visuelle Frauenforschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Februar 2022.

[5] Torsten Flüh: Gegen und zusammen. Galerie September mischt Mütter und den Kotti auf. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. November 2013.

Macht Erben glücklich?

Familie – Erbe – Begehren

Macht Erben glücklich?

Zur Debatte „Müssen wir begehren, was der andere hat?“ und der Romanlesung „Der Fang des Tages“ von Gisela Stelly Augstein im Auditorium der Spore-Initiative

In der einstigen Einflugschneise des Flughafens Tempelhof am Eingang des ehemaligen Kirchhofs der Gemeinden Jerusalems- und Neue Kirche hat die Spore-Initiative ein Haus für Kultur- und Lernprogramme an der Hermannstraße bezogen. Innen viel Sichtbeton, außen Klinker. Das Haus ist um einen denkmalgeschützten Leuchtfeuermast der Einflugschneise von 1939 gegliedert.[1] Rückseitig öffnet sich das Haus schon zu einem künftigen Garten mit weiteren Befeuerungsmasten. Die Hermannstraße in Neukölln weist eine hohe Späti-Dichte zwischen Eldorado Pfandhaus, Babylon-Berlin Shisha Bar und Liebe Döner um den U8-Bahnhof Leinestraße auf. Kürzlich titelte die Berliner Zeitung: „U8, die schlimmste U-Bahn Berlins“. Der Stifter Hans Schöpflin gründete 2020 hier die Spore-Initiative. „Come by to garden, cook, explore, paint, collect, play, build, test and learn!” steht an der Scheibe. Hier soll „biokulturelle Vielfalt‟ gelernt werden.

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Im 2023 erschienenen Erbe-Roman Der Fang des Tages von Gisela Stelly Augstein geht es am 2. Mai im Auditorium der Spore-Initiative an der Hermannstraße um die Familie Escher, die in einer Villa am Hundekehlesee im Grunewald wohnt und Leonhard K aus Hamburg. Wolfram Koch liest engagiert aus dem Hamburger Teil des Romans, in dem ein großes Vermögen mit einem Nummernkonto in der Schweiz und eine Mediengruppe vererbt werden. In Deutschland werden bekanntlich große Vermögen vererbt und Stiftungen gegründet. Die Buchvorstellung mit dem Gespräch über die Frage, ob wir begehren müssen, was der andere hat, trifft ein gesellschaftlich relevantes Thema. Gisela Stelly Augstein spricht mit Rüdiger Safranski über die Begehrensfrage, die in den Erbe-Roman hineinspielt. Sie docken mit dem Begehren an den französischen Anglisten und Kulturanthropologen René Girard an. Das Personal des Romans verstrickt sich im Begehren und Neid.

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Die Hermannstraße[2] beginnt und endet am Hermannplatz, der insbesondere mit der Sonnenallee seit dem 7. Oktober 2023 wiederholt in internationalen Medien für Aufsehen sorgte, während die Spore-Initiative wenige hundert Meter entfernt „biokulturelle Vielfalt“ nach einem Artikel von Luisa Maffi im Annual Review of Anthropology vermittelt. Die Mitbegründerin und Direktorin des Magazins Terralingua, definiert biokulturelle Vielfalt als „die Vielfalt des Lebens in all seinen Erscheinungsformen – biologisch, kulturell und sprachlich –, die innerhalb eines komplexen sozio-ökologischen Anpassungssystems miteinander verbunden sind“.[3] Das ist zumindest eine Gegenhaltung zum Mythos der sogenannten Biodeutschen. Der Name der Initiative bezieht sich zudem im Deutschen wie Englischen auf Sporen bzw. Keime, die „im Werden“ begriffen sind, indem sie sich asexuell vermehren. Dabei klingt für den Berichterstatter sogleich Gilles Deleuze‘ und Félix Guattaris Buch Mille plateaux (1980) an, auf dessen Einband der deutschen Ausgabe im Merve Verlag in einer Begriffswolke „Werden Transformationen Ansteckung Milieus Rhizom Outsider“ etc. in unterschiedlicher Größe erschienen.[4]

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Die Anthropologie stellt die Frage nach dem Menschen und wie er wurde, was er ist. Seit geraumer Zeit lässt sich formulieren, dass sie fragt, wie der Mensch im Werden bleibt, während gelegentlich von einem Posthumanismus gesprochen wird. Der Begriff Begehren erschien nicht in der Begriffswolke von Tausend Plateaus. Vielmehr formulierten Deleuze und Guattari mit dem Rhizom im Werden eine Kraft, auf das Begehren einzuwirken: „Das Rhizom (…) wirkt auf das Begehren durch produktive Anstöße von außen ein.“[5] – Nachdem der Verleger und legendäre Piper- wie Suhrkamp/Insel-Lektor Rainer Weiss dem Stifter Hans Schöpflin und der Initiative für die Gelegenheit der Verlagsveranstaltung gedankt und den Roman aus der Edition W anmoderiert hatte, las Wolfram Koch eine erste Passage, die Rüdiger Safranski mit dem Begehren nach René Girard kommentierte. Es ginge um ein „zirkulierendes Begehren, an das das Ich als Subjekt andocke“.[6]   

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Das Erben und das Begehren korrelieren miteinander als Modi der Übertragung. Durch die Vererbung werden in sozialen wie biologischen Konzepten, in Natur und Kultur Objekte/Dinge – Bücher, Kleider, Häuser, Geld, Gene, Wissen etc. – an andere übertragen.[7] Das Begehren überträgt das Begehren des und der Anderen auf ein Ich, ein Subjekt, wodurch u.a. Neid entstehen kann. Wie lassen sich aktuell Übertragungen formulieren? Die feministische Comiczeichnerin Liv Strömquist hat 2021 in einem Interview mit Jaqueline Haddadian im Magazin Stern die mimetische Theorie von René Girard in ihrem Sachcomic Im Spiegelsaal aktualisiert.[8] Strömquist reagierte damit auf Schönheitsideale, wie sie auf der Plattform Instagram mit Microblogs und Fotos oder Videos z.B. mit Selfies von Kim Kardashian propagiert werden. 2021 schätzte Forbes Kim Kardashians Privatvermögen auf 1 Milliarde US-Dollar, die sie mit Medienauftritten und Mode- wie Kosmetikprodukten mit ihrer Schwester Kylie verdient habe. Strömquist fragte sich, warum es so sei, „dass Leute/junge Frauen, die ein Bild von Kylie Jenners Wespenköniginnentaille, ihren Wangenknochen wie aus Elfenbein geschnitzt oder ihrem himmelskörperartigen Hintern sehen“, genauso aussehen wollen.[9]

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In einer kaum noch textbasierten, dafür hashtagsatten visuellen Medienwirklichkeit wie Instagram erhält die Frage nach dem Aussehen und der Nachahmung durch das Begehren eine neuartige Brisanz. Als Antwort schlägt Strömquist Im Spiegelsaal René Girards mimetische Theorie vor. Dadurch erhielt Girards Rede vom Begehren seit den 1970er Jahren eine schlagartige Aktualität. Am Comic-Beispiel einer Caprihose erklärt und visualisiert Liv Strömquist die Funktionsweise des Begehrens mit Girards Formulierung „Der Mensch begehrt, was andere begehren.“ Wenn nur eine Person eine Caprihose trägt, mag das noch keine Folgen „für mich“ haben.
„Aber nach kurzer Zeit verbreitet sich das Begehren und überträgt (Hervorhebung T.F.) sich in Windeseile von Mensch zu Mensch, und plötzlich finden alle Caprihosen super und wollen eine (Caprihose) besitzen und fragen und fangen an zu LEIDEN, wenn sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um an ein Exemplar zu kommen.“[10]     

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Strömquist spitzt ihre Girard-Lektüre so weit zu, dass der „gleiche Mechanismus (…) beispielsweise auch in einer Finanzblase“ greife, wenn alle oder viele auf „Sägespäne“ spekulierten. Es gibt darin allerdings den kleinen Unterschied, dass die „Caprihose“ wie der „himmelskörperartige Hintern“ das Begehren visuell übertragbar machen, während es bei den „Sägespänen“ um Objekte geht, die sprachlich verfasst sind.[11] Doch die Kombination von Text und Grafik durch Strömquist bietet zunächst einmal einen Zugang zu René Girards mimetisch-anthropologischer Theorie, wie er sie u.a. in A Theater of Envy William Shakespeare mit dem Kapitel über die Liebe durch Hörensagen in Viel Lärm um Nichts entfaltet hat:
„The desire that speaks first puts itself on display and, as a result, can become a mimetic model for the desire that has not yet spoken. The displayed desire runs the risk of being copied rather than reciprocated. In order to desire someone who desires us, we must not imitate the offered desire, we must reciprocate it, which is vastly different. Positive reciprocity demands an inner strength that mimetic desire lacks. In order to love truly, one must not selfishly capitalize the desire of one’s partner.”[12]

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Das Hörensagen (Hearsay) spielt als vager Modus der Übertragung eine entscheidende Rolle für das Begehren. So genau will oder muss man gar nicht wissen, was begehrt werden will und soll. Indem das Begehren zuerst spricht, produziert es sich als Model für ein noch nicht ausgesprochenes Begehren. Das Begehren lockt zum Kopieren. Ein flüchtiges Sehenzeigen funktioniert beim Scrollen der 363 Millonen Follower durch das Instagram-Konto Kim Kardashian mit @kimkardashian, @SKIMS … genauso wie das Hörensagen. Vielleicht sagt Strömquist schon zu viel mit „Wespenköniginnentaille“. Es reicht völlig, dass ein tiefer Einschnitt zwischen einem weiblichen Ober- und Unterkörper im Scrollen aufblitzt. Das Begehren spricht in der Formulierung von Girard, damit es kopiert werden kann. Was es sagt, wird nicht formuliert. Girard neigt zu einer moralischen Geste, wenn er schreibt, dass man das Begehren nicht eigennützig kapitalisieren oder verwerten (capitalize) dürfe, um wahrhaftig (truly) zu lieben. Dadurch spielt er indessen schon auf die Figur des Verzichts als eine Überwindung der Logik, der Mechanik des Begehrens an.

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Rüdiger Safranski und Gisela Stelly Augstein kamen in ihrem Gespräch zwischen den Lesungen aus dem Erbe-Roman mehrfach auf die Dynamik des Begehrens zurück. Sie führe zu einer „Steigerung von Konflikten und Krisen“ wie sie mit Lena Grau in Der Fang des Tages vorgespielt würden. Schon Søren Kierkegaard habe geschrieben: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ Doch bereits im ersten Teil wird die Dynamik des Begehrens nach dem Erbe deutlich, während noch die tote Erblasserin Elfriede Escher in der Villa am Hundekehlesee aufgebahrt ist:
„»Nun komm endlich zur Sache, Heiner Lehmann, was willst du uns erzählen?« Helene klopft ungeduldig mit ihrer Hand auf den Tisch.
»Ihr wollt es wirklich von mir wissen? Ich soll es aussprechen?«
»Sprich es aus!«, fordert Katrin, »wir platzen vor Neugier!«
Sie lächelt spöttisch.
»Also gut: Dora und Mila hätten ohne die Vorvererbung demnächst als Erbinnen mit dem Erbschein nach Wien fliegen und ihr Viertel vom Ganzen einfordern können, richtig? Elfriede hat in ihrem Testament verfügt, ihr Bankvermögen gehört ihren vier Kindern zu gleichen Teilen, richtig? Als Erbinnen mit Erbschein können Dora und Mila aber auch Einsicht in alle Konten verlangen, auch in die in Österreich und in die davor in der Schweiz, richtig? Über die Konteneinsicht könnten sie verfolgen, wie sich das große geheime Vermögen des alten Poppe in all den Jahren entwickelt hat, richtig? (…) Versteht ihr? Dora und Mila könnten mit ihrem Erbschein als Erbinnen verfolgen, in welche Seitenarme das viele schöne Geld geflossen ist, und es einfordern, von ihren Brüdern zurückfordern, versteht ihr? Über Grenzen hinweg …«“[13]

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Die eingefädelte Vorvererbung verhindert in dieser Erzählung Heiner Lehmanns den Zugang zum oder auch das Recht auf das Wissen über die Geldflüsse. Obwohl sein Wissen hypothetisch bleibt, vermag die Erzählung das Begehren Helenes und Katrins, mehr wissen zu wollen, anzustacheln. Die Erzählung von den Geldflüssen bleibt vage und ungenau. Doch dieser Wissensmodus vermag es, das Begehren nach mehr Wissen zu steigern. Der zweite Teil des Romans mit dem Zwischentitel „Die Schwarze Witwe“ entwickelt sich nicht zuletzt als ein Covid-Roman, insofern Larissa aus dem ersten Teil mit Verdacht einer Infektion durch SARS-Cov2 in die Charité eingeliefert wird. Doch nun geht es um Otto, dessen Vater ihm auf seinem Sterbebett eine Lebensbeichte als Notar abgelegt hatte. In der Isolation der Pandemie „(e)ingebunkert“ beginnt Otto, die Beichte als Krimi zu schreiben:
„Jetzt, seit dessen Beichte, ist er geradezu versessen, sich zumindest diesen Teil seines Lebens, in den ihn sein Vater kurz hatte blicken lassen, nicht nur in seiner Phantasie zu erobern. Nein, er will daran tatsächlich teilhaben. Und das einzige Mittel, das ihm diese Teilhabe ermöglicht, ist sein Schreiben …“[14]

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Der Erbe-Roman bekommt insofern durch den Ausnahmezustand der Pandemie mit ihrer Todesdrohung eine weitere Wendung. Für Otto geht es einerseits um die Teilhabe am „unbekannten Leben seines Vaters“, nachdem der seine Familie verlassen hatte. Andererseits geht es für ihn zugleich darum, die Zeit der Einbunkerung zu überleben und unausgesprochen mit dem Krimi ein Erbe zu hinterlassen. Er will das Wissen der Beichte seines Vaters, eines Notars, vererben. Das Erbe wird von Otto durch das Schreiben geradewegs in ein Vermächtnis gewendet, indem er die Beichte nicht einfach kopieren, sondern transformieren will:
„Was also, wenn er Einfluss nähme und das fatale Wirken seines Vaters zu einem besseren Ende führte, zumindest in der Fiktion? Was also, wenn er die Mitspieler im Leben seines Vaters zum Reden und das Unrecht seines Vaters zur Sprache brächte? Auf seine eigene Weise eine ganz andere Art von Krimi schriebe und seinen Vater von seiner Schuld erlöste? Seiner Schuld gegenüber Leonard K, dem Ex der Schwarzen Witwe?“[15]

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Dr. Otto Mayer hat sich als Notar gegenüber Leonard K, dem Eigentümer der gleichnamigen im Hamburger Hafen in einem zwölfstöckigen Hochhaus ansässigen Mediengruppe GmbH & Co.KG schuldig gemacht. Die Schauplätze der Villa am Hundekehlesee und die Hamburger City mit ebenso verschwiegenen wie einflussreichen Notaren in Übertragungsverhältnissen vermitteln ein reales Erfahrungswissen shakespeareschen Ausmaßes. Die Shakespeare-Signale eines Theaters des Neides werden von Otto zwischen Hamlet- und Othello-Anspielungen gesetzt.
„»Oh nein, das war deine Mutter! Deine Mutter hat deinen Vater mit falschen Beweisen von Fannys Untreue in den Othello-Wahnsinn getrieben …«
»Mein Vater war kein eifersüchtiger Mann«, widerspricht Amanda kühl, »die Affären meiner Mutter haben ihn nicht interessiert.«
»Die Affären deiner Mutter … ja … aber Fanny … Er hat Fanny geliebt … so wie ich deine Mutter geliebt habe …«“[16]  

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Die Funktion des Notars in Rechtsgeschäften und in der Hierarchie zu seinem Mandanten Leonard K wird als eine tiefe Verstrickung ins Begehren formuliert, die es für den Notar gar nicht geben dürfte, da er in Vertretung des Rechts handelt. Doch der Notar begehrt die Frau seines Mandanten. Die Tragödie des „Othello-Wahnsinn“ Leonard Ks wird von René Girard, der in Stanford lehrte, mit der Komödie Viel Lärm um Nichts korreliert, insofern zwei Helden von der Promiskuität ihrer gegenwärtigen oder zukünftigen Frauen fasziniert werden. Man muss allerdings gegenüber Girard hinzufügen, dass Frauen ebenfalls von der Promiskuität der Männer fasziniert sein können. Begehrt wird das Begehren des anderen in einer gewissen Radikalität, die Girard ein „mimetic self-poisoning” nennt:
In both plays the heroes are mimetically aroused at the thought of many men with whom these women supposedly made love and want to join this imaginary mob. When erotic desire becomes collective, it turns to base lust and starts vearning for the fallenness of its presumably fallen object.”[17]

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In der Zirkulation des Begehrens erweist sich Lena Graus „Diät“ für den sterbenskranken Leonard und zukünftigen Erblasser als „Gift“ in einer nahezu komödiantischen Szene. Die Kinder Leonards treffen in der Küche seiner Hamburger Villa in Anwesenheit des Hausmeisterehepaars Schmidt auf Leonard. Unterschwellig geht es darum, wer was erben will, soll und wird. Doch die Verwandlung der „Diät“ als „Ding“ in ein „Gift“ erhält ihre eigene Komik:
„»Hallöchen, hallöchen, wie nennt man denn das hier?», fragt Mario nun fuchsig, schaut antwortheischend fragend in die Runde und schüttelt das haarige Etwas leicht, sodass es Staubwölkchen von sich gibt. Amanda schreit leise auf, Herr und Frau Schmidt sehen sich verstört an, zwischen Lena Graus Augenbrauen bildet sich eine steile Falte.
Mario hält das pelzige Ding hoch: »Nennt man das hier Diät?«, fragt er, um dann marktschreierisch zu bestätigen: »Also das hier nennt man Diät!Er wirft das grauliche Ding mit Schmiss auf die Marmorplatte, sodass es auseinanderbricht und seine Teile in einer Pilzstaubwolke über den Tisch schlittern. Ein allgemeiner Aufschrei.
»Oh Hilfe, das ist Gift!«, ruft Amanda wie in Panik, »das ist pures Gift! Alle weg vom Tisch! Mario, trag Vater sofort weg vom Tisch, das hier ist pures Gift für ihn.«“[18]   

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Die Kombination und Komposition unterschiedlicher Erzählungen vom Erben durch Gisela Stelly Augstein, die Otto einen Krimi schreiben lässt, wirft die Frage auf, ob es ein gerechtes Erben, ein richtiges Erben ohne Schuld in der Zirkulation des Begehrens geben kann. Oder verpasst das Erbe immer, was vererbt werden soll? Wird nie geerbt, was zu erben gewünscht wird? Im Roman will Dora den Familienschmuck mit dem Diamantenarmband erben, findet aber nur Modeschmuck der Mutter, den sie nicht will. Macht das Begehren, weil es immer zirkuliert, nie besessen werden kann, zwangsläufig unglücklich? Rüdiger Safranski merkte im Gespräch an, dass René Girard im Alter wieder in die römisch-katholische Kirche eingetreten sei, als ob er sich damit vom Begehren befreit habe. Funktioniert ein Verzicht in der Figur des Opfers, wie er von Jesus in der Passion und im Abendmahl – „Mein Leib für Dich gegeben. Mein Blut für Dich vergossen.“ – als Gegenmittel zum Begehren und Beginn einer Gemeinschaft formuliert wird?

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Funktioniert der Verzicht, wie er nicht zuletzt mit einem vertraglichen Erbverzicht festgehalten werden kann? Könnte er mit Liv Strömquist geradezu zu einer feministischen Praxis werden? In der deutschen Gesellschaft, in der immer höhere Kirchenaustritte verzeichnet werden, hat die Praxis des Verzichts immer weniger Attraktivität. Stifter ließen sich noch bis in die Neuzeit Epitaphe in Kirchen setzen, um mit ihrem Geld „ihre“ Kirchengemeinde und deren Fortleben zu finanzieren. In Berlin hatte mit den unterschiedlichen Konfessionen wie der Französischen Kirche der Hugenotten oder der Parochialkirche der Reformierten oder der Bethlehemskirche der böhmischen Glaubensflüchtlinge etc. eine hohe Relevanz. Ab dem späten 18. Jahrhundert schlief die Praxis ein und transformierte sich in den teilweise pompösen Mausoleen und Grabmälern auf den Berliner Kirchhöfen. Heute werden große Vermögen in Stiftungen eingebracht, um im günstigen Fall an der Hermannstraße neue Prozesse anzustoßen.

Torsten Flüh

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PS: Dass die CDU auf ihrem Parteitag im Neuköllner Tagungshotel, wie der Spiegel heute berichtet, am Dienstag einen „Späti“ zur Unterhaltung aufbauen will, darf man als degoutante kulturelle Aneignung des Privatflugzeugpiloten und Konservativismus-Experten Friedrich Merz aus dem Hochsauerland bedenken.

Gisela Stelly Augstein
Der Fang des Tages
Gebunden, ca. 270 Seiten
ISBN 978-3-949671-08-1
24,00 € (D) | 24,70 € (A)

Spore-Initiative
Besuchen und Mitmachen
Hermannstraße 86
12051 Berlin
U-Bahnhof Leinestraße


[1] Die Hermannstraße 84 bis 87 gehören zur Denkmal Gesamtanlage Flughafen Tempelhof in der Denkmaldatenbank.

[2] Zur Hermannstraße siehe auch Galerie im Körnerpark: Torsten Flüh: Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood. Zur Ausstellung After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Mai 2014.

[3] Zitiert nach Eigendarstellung Spore-Initiative: Im Werden: biokulturelle Vielfalt.

[4] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve Verlag, 1990.

[5] Hervorhebung durch Fett-Modus von T.F. Ebenda S. 26.

[6] Zitat nach Notizblock.

[7] Siehe Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013.

[8] Jaqueline Haddadian: Über Schönheit, Liebe und warum wir begehren, was andere begehren. Interview mit Liv Strömquist. In: Stern 14.11.2021, 15:46.

[9] Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Berlin: avant-verlag, 2021, (ohne Seitenzahl).

[10] Ebenda.

[11] Zur Frage, ob sich hier zwischen Quasi-Objekten und Objekten unterscheiden lässt, siehe Objekte im Spiel: Torsten Flüh: Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours. Zum Spielfeld Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration während der Fußball-Europameisterschaft am Gropius Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2024.

[12] „Das Begehren, das zuerst spricht, stellt sich selbst zur Schau und kann dadurch zum mimetischen Modell für das noch nicht ausgesprochene Begehren werden. Das gezeigte Begehren läuft Gefahr, eher kopiert als erwidert zu werden. Um jemanden zu begehren, der uns begehrt, dürfen wir das angebotene Verlangen nicht nachahmen, wir müssen es erwidern, was etwas ganz anderes ist. Positive Reziprozität erfordert eine innere Stärke, die dem mimetischen Begehren fehlt. Um wahrhaftig zu lieben, darf man das Begehren des Partners nicht egoistisch ausnutzen.“
René Girard: A Theater of Envy. William Shakespeare. (Hier: Love by Hearsay. Mimetic Strategies in Much Ado About Nothing) New York Oxford: Oxford University Press, 1991, S. 80-81.

[13] Gisela Stelly Augstein: Der Fang des Tages. Neu-Isenburg: Edition W, 2023, S. 85-87.

[14] Ebenda S. 143.

[15] Ebenda S. 143-144.

[16] Ebenda S. 152-153.

[17] René Girard: A … [wie Anm. 12] S. 291.

[18] Gisela Stelly Augstein: Der … [wie Anm. 13] S. 162-163.

Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours

Spiel – Wettbewerb – Gelände

Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours

Zum Spielfeld Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration während der Fußball-Europameisterschaft am Gropius Bau

Der grünste innerstädtische Parkplatz Berlins an der Niederkirchnerstraße Ecke Stresemannstraße wird für die Dauer der Fußball-Europameisterschaft EURO 2024 bis zum 14. Juli 2024 zu einem Spielfeld anderer Art. Spielen Sie mit. – Das Gelände ist historisch kontaminiert. Mit dem Königlichen Museum für Völkerkunde an gleichem Ort ging es seit 1886 im Kaiserreich um den Wettbewerb des Deutschen Reichs bei der Kolonialisierung außereuropäischer Länder. Die Völkerkunde stand im Dienst eines künstlerisch-kulturellen Wettbewerbs unter den Völkern. Es diente damals an der Königgrätzer Straße Ecke Prinz-Albrecht-Straße dazu, die Überlegenheit des deutschen Volkes und seiner Kunst gegenüber anderen Völkern im Kontrast mit dem benachbarten Deutschen Gewerbemuseum von Martin Gropius, dem Gropius Bau, sichtbar zu machen.

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Heute gibt es nationale Fußballmannschaften, die im europäischen und weltweiten Wettbewerb stehen. Wie lässt sich kreativ mit dem Wettbewerb am Fußball unter männlichen, europäischen Nationalmannschaften umgehen, wenn Deutschland das Gastgeberland ist? Ein Ausscheiden oder der Gewinn der Meisterschaft wird Emotionen bündeln und freisetzen. Der Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, hat sich anlässlich der EURO 2024, gefragt, „(w)elche sportlich-kreativen, vielleicht künstlerisch inspirierten Alternativen“ es geben könne „zu fortschreitender Kommerzialisierung und immer dominanteren Vermarktungsmechanismen“.[1] Was heißt Spiel? Wie lässt sich die Praxis des Wettbewerbs reflektieren? EURO 2024 solle „neue, imaginative und kollaborative Räume eröffnen, die das Spiel und das Spielen selbst in den Fokus rücken“.

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Das einst von den Maya erfundene Fußballspiel droht, nicht erst seitdem deutsche Fußballfans mit Tennisbällen Bundesligaspiele störten, um einen DFL-Investor zu verhindern, in einem globalen Wettbewerb des Transfermarktes und der Meisterschaften wie schon in Saudi-Arabien zum aberwitzigen Kommerz zu werden. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar war erst der Anfang wirtschaftlicher wie politischer Machtspiele um Armbinden und einen بشت Bischt als kulturelle Geste der Vereinnahmung des Weltmeisters und Weltfußballers Lionel Messi. Die Golfstaaten investieren in Fußball und sonstige Sportveranstaltungen, um darin eine Meinungsführerschaft ähnlich den „Hunger Games“ in der dystopischen Serie Die Tribute von Panem zu generieren. Die Tennisbälle zeigten kürzlich ihre Wirkung. Doch nun muss die Deutsche Fußball Liga Gesellschaft mit beschränkter Haftung (DFL) ihren Betrieb anders finanzieren.

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Internationale Fußballclubs wie Bayer 04 oder FC Bayern in Deutschland, aber auch Paris St. Germaine etc. sind heute globale Finanzunternehmen mit Fanclubs in Peking oder Shanghai. Wobei der Firmenclub des Pharmaunternehmens Bayer nicht mit der Clubfirma Bayern zu verwechseln ist. Fußballclubs sind viele kleine und einige sehr große Geldmaschinen. Zur Nationalmannschaft aus internationalen Clubs zusammengestellt wird die GmbH DFL zum Wirtschaftsunternehmen, das die Nation symbolisch vertritt. Das Fußballspiel und seine rituellen Handlungen in erster Linie unter einzelnen Männern mit einem Team persönlicher Berater und Manager sind betriebs- wie volkswirtschaftlich bis zum Einsatz neuester Technologien wie Künstlicher Intelligenz durchdrungen. Die Sehnsucht der Fans orientiert sich paradoxerweise an Mythen des Natürlichen und Bodenständigen. Vor dem Hintergrund dieser globalen Fußball-Ökonomie findet nun EURO 2024 in Deutschland statt.

Florentina Holzinger: Halfpipe, Bent Metal on 2 Cars, 2024.

Matthias Pees und Jenny Schlenzka, die Direktorin des Gropius Baus, wollen das Spiel strategisch stärker für die Kunst und den Kunstbetrieb einsetzen. Das Spiel soll inklusive Kräfte freisetzen. Denn der Kunst- und Kulturbetrieb setzt sonst gern auf exklusive Formate, aus denen sich Prestige für Sponsoren gewinnen lässt. Das „niederschwellig“ zugängliche Spiel für alle Generationen vom Kind bis zur Greis*in gehört für Jenny Schlenzka zum neuen Konzept des gewissermaßen durch Aspekte des Kolonialismus belasteten Gropius Baus. Sie arbeite mit der Künstlerin Kerstin Brätsch „an einem permanentem Spielort für Kinder, der ab September 2024 im Westflügel des Erdgeschosses kostenlos für alle Familien zugänglich sein“ werde. Es solle ein Ort werden, „an dem – (…) – mehr erlaubt als verboten ist, und wo das Zweckfreie und Regellose des Spiels zu einem Modell für die unmittelbare Begegnung mit Kunst“ werde.[2] Radical Playgrounds direkt am Gropius Bau, sieht sie als eine Erweiterung ihres Programms und wohl auch als experimentellen Vorlauf.   

Florentina Holzinger: Halfpipe, Bent Metal on 2 Cars, 2024.

Wie setzen sich internationale Künstler*innen mit dem Format Spiel in Praktiken zwischen einer Halfpipe für Skater*innen von Florentina Holzinger, Spielplätzen und dem historisch kontaminierten Boden auseinander? Praktiken öffnen zunächst einmal Spielräume. Es gibt nicht nur die Praxis des Gewinnen-müssens. Meine Besprechung habe ich mit einer Bildcollage des Ortes zwischen dem bis auf die Grundmauern zerstörten Völkerkundemuseum mit dem ebenfalls zerstörten Gewerbemuseum von Martin Gropius und dem Preußischen Landtag sowie der Erinnerungslinie „Berliner Mauer“ bis 1989 aus Granitpflastersteinen im Asphalt und Gehweg visuell eingeleitet. Der sehr große Parkplatz wird heute durch Platanen, die ca. 40 Jahre alt sind und zu einem Erinnerungshain gehören sollten, versteckt. Spielerische bzw. künstlerisch-kollaborative Praktiken der Ausgrabung werden ebenfalls von Radical Playgrounds an diesem Ort vielfältiger diskursiver Überschneidungen ausprobiert.

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Der Parkplatz als städtischer Raum einer autofreundlichen Stadt wird von Radical Playgrounds überspielt, woran der Architekt Benjamin Foerster-Baldenius von raumlaborberlin als Kurator erinnert.[3] Doch er ist weiterhin da mit seinen historisierenden Gaslaternen, den Granitpollern, dem Pflaster unter den Holzböden, dem Parkscheinautomaten, einer Sicherheitskamera etc. Die Niederkirchnerstraße wird von Bussen zugeparkt, weil neben dem Gropius Bau das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors zur Ausstellung über den polizeilichen Terror der Gestapo[4] während der Herrschaft des Nationalsozialismus (1933-1945) lädt. Das vermeintlich ferne oder gar als überwunden gedachte Grauen staatlich legitimierter Folter lockt mehr als das Kunstmuseum daneben. Die Stresemannstraße gehört zu Berlins vielbefahrenen und daher lauten vierspurigen Straßen. Zwischen Touristenströmen, Wurstbar auf dem einstigen Todesstreifen(!) und Grundmauern der Gestapo-Keller über den „Grundmauern des preußischen Kolonialmuseums“[5] wird nun der Park- zum Spielplatz.

Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024.

Die sich überschneidenden Linien für Spielfelder verschiedener Sportarten wie Badminton, Basketball, Fußball, Petanque, Volleyball sowie einer Laufbahn in den offiziellen Farben Orange, Rot, Rosa, Weiß, Hellblau und Gelb der in London lebenden Künstlerin Céline Condorelli sollen unter dem Titel Play for Today daran erinnern, dass Spielfelder und Spielregeln immer zugleich die Teilnahme nach binären Geschlechtern regeln.[6] Wer am Spiel teilnehmen darf und wer von ihm ausgeschlossen wird, regeln Sportverbände in der Welt hart. Auf dem Rundgang durch den von ihr kuratierten Kunstparcours erinnert die Kuratorin Joanna Warsza daran, dass Frauen in den meisten Sportarten zunächst ausgeschlossen waren.[7] Die Herstellung von Gleichheit, Chancengleichheit im Sport hat Gruppen zu Mannschaften normalisiert. In Berlin als Gründungsort der Turnbewegung durch Friedrich Ludwig Jahn am 13. November 1811 in der Hasenheide vor den Toren Stadt werden die geschlechtlichen Ausschlussmechanismen der körperlichen Betätigungen bzw. der Sportarten besonders sinnfällig.

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Die Körperertüchtigung, die heute Sport genannt wird, zunächst durch Turnen für Männer, die die deutsche Nation begründen wollen und sollen, wird von Friedrich Ludwig Jahn 1810 in seiner zuerst im Lübecker „Exil“ veröffentlichten Schrift Deutsches Volkstum formuliert. Jahn widmet sein nationalangelegtes Buch, während Napoleon in Berlin und den Ländern Deutschlands herrscht, „(e)inem Deutschen Biedermann in Rath und Tath in Handel und Wandel, Ihm, dem Manne, dem Menschen, dem Weisen“[8]. Andere Männer und Frauen werden von vornherein ausgeschlossen. Friedrich Ludwig Jahn konzipiert und konstruiert ab 1811 in der Hasenheide Spielfelder und Spielregeln im Bereich Turnen. Er bildet dadurch Gruppen, die später in Vereinen institutionalisiert werden und sich in einem Turnerbund national organisieren inklusive antisemitischer, nationalistischer und rassistischer Ausschließungen. Für die Olympischen Spiele 1936 wurde der Gedenkort in der Hasenheide ausgebaut, erwies sich aber als Spielfeld des Nationalen für zu klein.   

Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024.

Die Geschlechterregeln der Sportarten im Team- wie Einzelsport des Laufens haben zunächst Frauen ausgeschlossen. An den Linien von Play for Today finden sich Jahreszahlen, „in denen es Frauen erstmals erlaubt wurde, an internationalen Turnieren in der jeweiligen Sportart teilzunehmen. Beim Frauenfußball wurde die Erlaubnis zunächst noch einmal zurückgezogen und erst 1971 wieder erteilt.“[9] Doch der Binarismus der Geschlechter im internationalen Sport führt zugleich zu einem Ausschluss von Trans-Athlet*innen und hält an geschlechtsspezifischen Vorurteilen und der Abwertung von Queerness im Sport fest. Céline Condorelli will dem mit ihrer Installation begegnen, die von einer Reihe von Workshops im Programm begleitet werden wird.

Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024.

Die Frage nach dem Spiel und den Regeln wird von Agnieszka Kurant mit ihren Quasi-Objects thematisiert. Die in New York lebende Künstlerin geht davon aus, dass Spiele „Produkte kollektiver Intelligenz“ sind.[10] Quasi-Objects erhalten in Anschluss an Michel Serres‘ Text Der Parasit ihren Wert erst durch gesellschaftliche Praktiken und Zirkulation.[11] Serres selbst hat den Begriff allerdings nicht eingeführt. In Der Parasit, der zwischen Dezember 1975 und August 1979 geschrieben wurde, kommt er nicht vor. Vielmehr hat ihn Bruno Latour aus dem Text extrahiert, woraufhin Gustav Roßler „Quasi-Objekte“ als „Hybride(), Mischwesen aus Natur und Gesellschaft, aus Sprachlichem und Realem“ definiert hat. Nach Roßler „zirkulieren (sie) in Netzen und überqueren die Grenzen zwischen Sprache, Sozialem und Realem“.[12]

Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024.

Michel Serres lehrte eine radikale Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne. Deshalb ist es fraglich, ob er mit Der Parasit zwischen Objekten und „Quasi-Objekten“ unterschieden hätte. Vielmehr schrieb er, wie er es noch 2010 formulierte, in der Figur der „Odyssee“.[13] Sie reißt Odysseus aus seinem Wissen heraus und schreibt ihn in immer neue Geschichten ein. Als Wissen lässt sich aus Serres‘ Text schwer zitieren, obwohl er von Rousseau bis Marx‘ Kapital usw. Wissenschaftsgeschichte schreibt.
„Der Joker verwandelt sich in einen blanken Dominostein. Es ist ratsam, diesen leeren Raum, der in den vorzeitlichen Savannen auftauchte, diesen Riß inmitten ihrer fließenden Stabilität, zu begreifen. Haben wir in den Augenblicken, da die Geschichte sich plötzlich verzweigt, jemals andere Objekte geschaffen?“[14]

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Was heißt es, Objekte und Spielregeln zu schaffen? Existieren Objekte außerhalb der Regeln? Agniezka Kurant hat mit ihrer dreidimensionalen Arbeit in Anknüpfung an Serres nicht nur ein vieldimensionales Spiel geschaffen, das die Besucher*innen der Radical Playgrounds selbst erfinden können. Sie erinnert daran, dass Steine oder Würfel etc. „ihre performative Kraft“ verlieren, wenn „sie nur bei einer einzelnen Person bleiben“. Vielleicht erfinden Kinder im Vorschulalter am leichtesten damit ein Spiel. Kurant stellt zugleich die Frage nach dem Wissen, wie Serres sie treffend formuliert hat:
„Wenn der Parasit eines Tages erfunden hat, wie man an der Tafel des Wirts Materielles gegen Logisches tauscht und umgekehrt, so hat er an diesem Tage die Wissenschaft und die Theorie erfunden. Was wäre alles Wissen ohne – vor allem – diesen kreuzweisen und asymmetrischen Austausch?“[15]

Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children, 2024.

Gabriela Burkhalter kuratiert The Playground Project – Architecture for Children, denn der Kinderspielplatz hat eine vielfältige Geschichte. Auf den Holzwänden zum Projekt sind die Druckplatten ihres Kataloges in der dritten Auflage von 2023 aufgebracht. Ihr Projekt, das sie seit 2006 in mehreren Städten und Ländern mit verschiedenen Künstler*innen und Themen permanent weiterentwickelt lässt sich unter architekturfuerkinder.ch einsehen. In Berlin arbeitet sie mit Yvan Pestalozzi zusammen, der 1972 die Spiel-Skulptur und Kunstwerk Lozziwurm erfunden hat. Burkhalter hat in Berlin die lokale Geschichte der Kinderspielplätze erforscht und dokumentiert. Sie unterschieden sich u.a. in Ost- und West-Berlin. Auf diese Weise können die Besucher*innen einerseits die Materialien und Konzepte der Spielplätze nachvollziehen und überdenken. Die Ausstellung mit großformatigen, kommentierten Fotografien lässt andererseits auch an die Spielplätze und ihre Zurichtung der eigenen Kindheit denken.

Yvan Pestalozzi: Lozziwurm, 1972.

Mit dem Lozziwurm hat Yvan Pestalozzi ein Spielgerät erfunden, das teilweise weiterhin auf Spielplätzen zu finden ist. Aber es entspricht nicht mehr den europäischen Sicherheitsnormen. Deshalb ist es in Berlin und Europa aus dem öffentlichen Raum verschwunden.  Die Schweizer Firma produziert nach dem Originalmodel aus Polyesterrohren weiterhin. Dass Lozziwurm im Kunstparcours Radical Playgrounds wieder auftaucht und von einem Kind sogleich zum Krabbeln benutzt wird, gibt einen Wink auf das Spielverhalten von Kindern und darauf wie sehr Spielgeräte – Schaukeln, Rutschen, Kletterbögen, Kletternetze etc. – von Regeln und Konzepten durchdrungen sind. Spielplätze und ihre Möblierung ändern sich permanent, wie es Gabriela Burkhalter formuliert:
„Während der 1980er Jahre spiegelte sich in den Ländern des Westens der Rückzug der staatlichen Zuständigkeit und die ökonomische Deregulierung sowie das schwindende Denken in Utopien auch im Spielplatzdesign, während Gesellschaften im kommunistischen Block weiter gemeinschaftliche Aktivitäten pflegten. Die Ausstellung führt durch diese facettenreichen Wechselwirkungen und die zugrundeliegenden Kräfte“.[16]

Yvan Pestalozzi: Lozziwurm, 1972.

Gabriela Burkhalter begann vor 20 Jahren, die bis dahin unbekannte, hoch dynamische Geschichte der Kinderspielplätze zu erforschen und zu dokumentieren. Denn die Ensembles der Spielgeräte, die Formen und Materialien ändern sich weiterhin permanent. Kletterbögen beispielsweise reizen zum Turnen als Körperertüchtigung im Kindesalter. Die in unterschiedlichen Designs zu findenden Schaukeln verknüpfen in der Schwingbewegung Kraft, Mut, Träume von Schwerelosigkeit und Sicherheit. Kinder wünschen sich beim Schaukeln nichts sehnlicher, als dass insbesondere ein vertrauter Erwachsener sie anschubst, damit sie höher fliegen können. Die unterschiedlichen Wippen, die nicht immer ungefährlich sind, weil ein Kind unter die Wippe geraten könnte, trainieren durchaus einen spielerischen Wettbewerb im Abstoßen mit den Beinen. Oft animieren die Übungen an den Spielgeräten Kinder zu endlosen Wiederholungen, wenn sie einmal von der höchsten Rutsche hinuntergesaust sind.

Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children, 2024.

Die Wasserfontäne von Raul Walch lässt sich ebenfalls als ein Element von Spielplätzen und Parks seit der frühen Neuzeit finden. Die künstliche Fontäne und ihre Höhe lassen sich nicht zuletzt als eine allegorische Beherrschungsfantasie der Elemente bedenken. In den Gärten der König*innen und Herrscher*innen von Versailles bis Sanssouci war die künstliche Höhe der Fontäne immer auch ein Beispiel der Macht über die Natur. Erst der Maschinenbauer August Borsig schaffte es mit einer Dampfmaschine an der Havel, den Wasserdruck für die Fontäne im Park von Sanssouci zu erhöhen und sie beeindruckender Höhe zu bringen. Vielleicht nicht ganz zufällig, mit einer kolonialen Geste konstruierte Ludwig Persius 1848 das Maschinenhaus für die Fontäne als „Moschee“. Sein Auftraggeber Friedrich Wilhelm IV. ließ ungefähr zur gleichen Zeit die umstrittene Bibeltext-Montage an der Kuppel des Berliner Schlosses anbringen.[17]   

Raul Walch: A Fountaine of Knowledge, 2024.

Raul Walch erinnert mit seiner Installation A Fountain of Knowledge (Ein Brunnen des Wissens) indessen an sein Verhältnis zu Ute Fritzsch, der heute über 80-jährigen Designerin und Gestalterin von DDR-Spielplätzen. Ute Fritzsch plante und gestaltete Spielplätze und Spielzeug für die DDR und wird von der Stiftung Industrie- und Alltagskultur gewürdigt. Raul Walch hat beispielsweise für seine Installation „eine Variation des Maxi-Baukastens von Ute Fritzsch als modulare Kisseninstallation“ im Bassin eingerichtet.[18] Für die Sommermonate soll A Fountain of Knowledge nicht zuletzt Abkühlung auf dem Spielplatz bieten. Walch hatte bereits auf der Fläche des Potsdamer Platzes, wo es besonders heiß werden kann, eine Fontäne installiert.[19] Hinter der Installation wehte der Wind bei gefühlten 2° C während des Presserundgangs am 25. April das „textile Gewebe“ von Vitjitua Ndjiharine.

Vitjitua Ndhkjiharine: Network Constellations, 2024 .

Die Künstlerin aus Namibia war 2022 Artist in Residence der Dekoloniale Berlin und nimmt mit den bunten Fahnen entlang der einstigen Mauern des Königlichen Museums für Völkerkunde unter dem Parkplatz direkt Bezug auf dessen Sammlung. Die Sammlung des Völkerkundemuseums, die in die ethnologische Sammlung bzw. das Ethnologische Museum im Humboldt Forum umgeschrieben worden ist[20], ging, wie erst kürzlich Bénédicte Savoy für Kamerun als Forschungsergebnis mitgeteilt hat, aus einem verheerenden Raubzug hervor, durch den 40.000 Kulturobjekte nach Berlin und in bundesdeutsche Sammlungen gelangten.[21] Bisher gibt es noch keine abschließende Untersuchung, wie viele Kunst- und Kulturobjekte aus Afrika vor allem im 19. Jahrhundert in Museen in Deutschland gelangt sind. Nicht zuletzt unter Mitwirkung von Missionaren wurden die Objekte in Afrika ihrer Praktiken entrissen und auf dem Kunstmarkt angeboten.

Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/A Mountain of Drawings/Ein Berg von Zeichnungen, 2024.

Vitjitua Ndhkjiharine knüpft mit ihrer ebenso farbenfroh spielerischen, wie präzisen Installation Networked Constellations an die Debatte des Dekolonialisierung und Restitution an. Die Debatte um das Ethnologische Museum im Humboldt Forum und die Restitution wie Teilhabe der ethnischen Nachkommen an den Sammlungen in Europa lässt sich im Konzept Vitjitua Ndhkjiharines nachverfolgen, wenn es heißt, „(u)ralte Textiltechniken verschränken sich mit neuer Technologie“. „Der Vorhang bewegt sich mit dem Wind, die Arbeit ruft nach Restitution von Bedeutung und Gegenständen.“[22] Das Spielerische und das Politische weit über das Tagespolitische hinaus werden von der Künstlerin angespielt.

Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/A Mountain of Drawings/Ein Berg von Zeichnungen, 2024.

Aus einer früheren historischen Schicht hat Edgar Calel aus Guatemala mit seiner Familie für Jun Juyu Juxuj (Ein Berg von Zeichnungen) eine Pyramide aus Strohballen mit Maya-Schriftzeichen auf den Parkplatz gebaut. Während seiner Vorstellung der Pyramide betont er mehrfach, dass es sich um eine kollektive Arbeit seiner Familie handelt. Einerseits wurden in seiner Familie Geschichten von Bergen und Pyramiden erzählt, andererseits sind haben ihn Familienmitglieder zum gemeinschaftlichen Aufbau nach Berlin begleitet. Seine Pyramide nimmt in mehrfacher Weise Bezug auf die Maya-Kaqchikel-Kosmovision, seine Familie und Berlin:
„Unsere Großeltern erzählten uns, dass einige dieser Berge mit Wasser und andere mit Feuer gefüllt seien. Von da an war ich immer neugierig, was sich im Innern der Berge und Hügel befindet. Bei einem Besuch der antiken Maya-Stadt Takalik Abaj fragte ich einen Anwohner nach den Hügeln, die dort zu finden sind. Er erzählte mir, dass sich darin Maya-Pyramiden mit Inschriften zu wichtigen Daten befinden. Einige von ihren wurden teilweise abgebaut und an westliche Museen verschifft – auch an Museen hier in Berlin.“[23]

Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/A Mountain of Drawings/Ein Berg von Zeichnungen, 2024.

Edgar Calel bezieht sich nicht auf Ballspiele in der Maya-Kultur, obwohl EURO 2024 dafür eine Möglichkeit geboten hätte. Anders als viele afrikanische und nordamerikanisch-indigene Kulturen wurde die Maya-Kultur bereits von den Eroberern als eine Hochkultur angesehen. Im Sinne der christlich-europäischen Eroberer musste diese Kultur zerstört werden. Andererseits soll Friedrich II. in Potsdam als Montezuma aufgetreten sein. Edgar Calel hat indessen seiner Installation einen „Interaktionsleitfaden für ein immersives und kontemplatives Erleben der Pyramide“ beigeben.
„Bitte klettern Sie vorsichtig
Erreichen Sie die oberste Ebene mit Achtsamkeit
Nehmen Sie den multifunktionalen Raum mit Freude an
Spielen Sie mit der Struktur des Monuments
Sie können bauen und umbauen
Respektieren Sie den Augenblick
Sicherheit geht vor
Hinterlassen Sie keine Spuren“

The School of Mutants: The Dig, 2024.

Spielen generiert Wissen, ließe sich nicht nur für die Maya-Pyramide sagen. Grabungen und Ausgrabungen sind intensiv mit dem Erzählen von Geschichten verknüpft, wie Helene von Oldenburg und Claudia Reiche mit „Wo es war“ beschrieben haben.[24] Mit The Dig (Die Grabung) zeigen The School of Mutants und Stella Flatten nun auf dem Parkplatz und im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors eine ebenso künstlerische wie forschende Ausgrabung. The School of Mutants sind Horacio Cadzco, Hamedine Kane, Boris Raux & Stéphane Verlet-Bottèro in Zusammenarbeit mit Stella Flatten. Das Künstlerkollektive wurde 2018 in Dakar, Senegal, gegründet, um „die westliche epistemologische Autorität in Frage zu stellen“. Damit geht es an der Schnittstelle von Kunst, Forschung, Ausgrabung und Erzählen zugleich um andere Wissensformen, die an das Königliche Museum für Völkerkunde, wo sie einst ausgeschlossen wurden, herangetragen werden.

The School of Mutants: The Dig, 2024.

Am 27. April wurde Radical Playgrounds der Öffentlichkeit zum Spielen und Forschen übergeben. Schon jetzt lässt sich sagen, dass das hochwertige Begleitprogramm zur EURO 2024 von Joanna Warsza und Benjamin Foerster-Baldenius in Berlin zu einem Publikumsmagneten für Kinder und Erwachsene werden sollte.

The School of Mutants: The Dig, 2024.

Torsten Flüh

Radical Playgrounds
From Competition Collaboration
Ein Kunstparcours am Gropius Bau
bis 14. Juli 2024


[1] Matthias Pees: Einleitung. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds – From Competition to Collaboration. Programmbroschüre. Berlin 2024, S. 2.

[2] Jenny Schlenzka: ebenda S. 4.

[3] Benjamin Foerster-Baldenius: NO PlAY NO CITY – Eine Einführung in die Architektur von Radical Playgrounds. In: ebenda S. 12.

[4] Zur Struktur der Polizei während der Herrschaft des Nationalsozialismus siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[5] Benjamin Foerster-Baldenius: NO …. [wie Anm. 3]

[6] Katalogteil: Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024. In: ebenda S. 20.

[7] Joanna Warsza: Radical Playgrounds. Ein Rundgang. In: ebenda S. 5.

[8] Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Lübeck: Niemann und Comp. 1810, (ohne Seitenzahl).

Siehe zu Jahns Sportgeräten auch: Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[9] Céline Condorelli: Play … [wie Anm. 6]

[10] Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024. In: Ebenda S. 35.

[11] Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1987.

[12] Zitiert nach Endnote 23 in: Anne-Marie Riesner: Imaginationen des Internets in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 1999-2018. Analyse anhand der Akteur-Netzwerk-Theorie. Berlin: Springer Nature, 2022, S. 107.

[13] Siehe Torsten Flüh: Die Odysseen des Michel Serres. Odysseys and Shipwrecks for Michel Serres by the Spree. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. August 2010. (PDF)

[14] Michel Serres: Der … [wie Anm. 11] S. 274.

[15] Ebenda S. 323.

[16] Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds S. 44.

[17] Zur Bibeltext-Montage auf der Kuppel siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[18] Raul Walch: A Fountain of Knowledge. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds, S. 62.

[19] Ebenda siehe Foto S. 63.

[20] Torsten Flüh: Von der Supersammlung zum Debattenraum. Nachgedanken zur Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2021.

[21] Silke Arning: Rückgabe von kolonialem Raubgut an Kamerun verabredet. In: SWR>>Kultur 16.1.2024, 10:02 Uhr.

[22] Vitjitua Ndjiharine: Networked Constellations. In: Berliner Festpiele: Radical Playgrounds S. 41

[23] Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/Ein Berg von Zeichnungen. Ebenda S. 14.

[24] Zur Archäologie und dem Erzählen siehe: Torsten Flüh: Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.

Ringen um Freiheit durch Wort und Bild

Freiheit – Zukunft – Verlag

Ringen um Freiheit durch Wort und Bild

Zum außergewöhnlichen Verlag PalmArtPress und die fantastischen Romane RUA 17 von Volker Kaminski und Der Ideenfabrikant von Wolfsmehl

In der Pfalzburger Straße, Berlin-Wilmersdorf, Nähe Fasanen- und Uhlandstraße, stadtauswärts rechts vom Hohenzollerndamm mit der U3 unterirdisch nach Dahlem zur Freien Universität, herrscht tiefer Berliner Westen mit einer gewissen Schriftsteller*innen-, Akademiker*innen- und Künstler*innendichte, wo Catherine Nicely ihren Literatur- und Kunstverlag PalmArtPress seit 2008 zwischen Buchhandel, Galerie und Salon etabliert hat. In den gerade eingerüsteten Räumen – runterherum unweit der Landesbank Berlin werden Kriegsbaulücken bebaut, geschlossen, wird neu gebaut und saniert – der Hausnummer 69 haben sich am sommerlich temperierten Abend des 13. April, einem Samstag, ca. 50 Personen eingefunden, die von der Verlegerin, Wolfgang Nieblich u.a. oft persönlich begrüßt werden. Catharine Nicely lässt ihre PalmArtPress-Community eintauchen in die jüngst erschienen Zukunftswelten zweier Autoren: Volker Kaminski und Wolfsmehl.

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Wolfsmehl ist ein beziehungsreiches Autorenpseudonym, wie sich in diesen Räumen überhaupt ein literarisches Beziehungsnetz der Mehrdeutigkeiten ausspinnt. Wolfsmehl? Wolfsmehl? Ohne Vorname. Name als Programm und Fingerzeig? Letterntausch m statt k: Wolfskehl. Karl Wolfskehl war ein deutscher Lyriker (1869-1948). George-Kreis. Beziehungsfäden zwischen Worten. So auch im Verlagsnamen der in Ohio geborenen, Deutsch in der Schule, von Deutschland faszinierten literatur- und kunststudierten Verlagsgründerin Catharine Nicely. PalmArtPress, klar! Palme. Steht sogar eine Palme im Galerieraum. Nein, nicht nur! Johann Philipp Palm auch, der Erlanger Buchhändler und Nürnberger Apothekersohn, der 1806 auf Napoleons Dekret hin als Autor einer deutschen Freiheitsschrift erschossen wurde. Motto: IN ADVERSIS VIRTUS. Deutsch: Stärke in der Not oder auch anders mit Männlichkeit und Freiheitsdrang übersetzt. Übersetzungsbewegungen.

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Am Lesepult hängt gerahmt als Motto das gestickte Palm-Wappen: Eule mit ausgebreiteten Flügeln auf Krone, horizontal links und rechts Palmwedel – Stechpalme? – darunter wieder Eulen wie Schilde, Palmenkrone, IN ADVERSIS VIRTUS PALM. Catharine Nicely zählt Johann Philipp Palm zu ihren entfernten Vorfahren. In Ohio mit den Großstädten Cleveland, Cincinnati, Toledo, Akron und Dayton mit der Hauptstadt Columbus gab es viele deutschstämmige Einwanderer. Am Denkmal für Friedrich Ludwig Jahn in der Hasenheide gibt es eine Plakette der „Turngemeinde Cincinnati, Ohio.“ von 1865. Der Turnvater schrieb sich ebenfalls die Freiheit in schwierigen Zeiten auf die Fahnen seiner Turnübungen. In ihrem Verlag kommen für Catharine Nicely seit 2008 ihre unterschiedlichen Lebensbereiche zusammen. Auf Nachfrage, ob die Büchervorstellung zum „Fantastische(n) Realismus“ (Wolfsmehl) mit dem Imbiss, Getränken und Gesprächen für sie eine Art Salon[1] sei, bestätigt die Verlegerin erfreut, dass sie gern Gastgeberin sei.  

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Zu den ersten Veröffentlichungen im Verlag PALMARTPRESS gehörten die beiden Bände Auf Beton I und II von Wolfgang Nieblich, bei denen es um Öffentlichkeit geht. Auf Beton ist Berliner Stadtkunst, Streetart aus dem Moment.[2] Seit 2013 beschriftet der Buchkünstler Nieblich an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Literatur Halterungen für oberirdische Behelfsleitungen, wie sie seit Jahren überall in Berlin wegen Sanierungsarbeiten über längere Zeit aufgestellt wurden, aus Beton. Von Seneca bis Sartre wurden Aphorismen zur Öffentlichkeit auf die vier Horizontalseiten der Halterungsblöcke aus Beton vom Künstler geschrieben. Brutalistische Adhoc-Betonkunst im öffentlichen Stadtraum.[3] Nicely und Nieblich lieben das Medium Buch. Nieblich sitzt gar seit 2005 im Stiftungsrat der Stiftung Zentrum für Bucherhaltung. RUA 17 ist als Hardcover erschienen. Allerdings hat Wolfgang Nieblich trotzdem den Einblattdruck erfunden, von dem es mittlerweile der Zählung nach ca. 150 gibt. Der vierseitige Einblattdruck Nr. 10 ist mit dem Text Im Kaufrausch von Christoph Geiser[4] und einem Bild Dialektik und Ordnung von Nieblich erschienen.[5]  

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Der Singer-Song-Writer Herbert Dauksch-Maus eröffnet mit Who are you? an der Gitarre die Buchvorstellung. Gute Frage: who are you? Herbert ist bereits mehrfach bei Lesungen mit Volker Kaminski aufgetreten. Das Programm ist abgestimmt. Im Roman geht es schließlich um die Frage von Mensch oder Maschine. Was heißt Menschsein für die allgegenwärtigen humanoiden Assistenten?[6] Sind die Maschinen noch Maschinen? Pflegemaschinen in einer überalterten Gesellschaft. Volker Kaminski hat seinen Roman in das Jahr 2084 gelegt, sagt die Verlegerin in ihrer Anmoderation. 2084 ist quasi übermorgen. Die Zukunft steht schon in den Puschen. Wolfmehls Ideenfabrikant spielt ca. 50 Jahre später in den 2130er Jahren. Deine Zukunft ist näher als Du denkst. 2084 spielt auf 1984 von George Orwell an. Sechzigjährige werden sich vielleicht an ein gelindes Erstaunen erinnern, dass das Jahr 1984 weit weniger von einem totalitären System beherrscht wurde und weit weniger spektakulär verlief als die ausgerufene Zeitenwende.

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Volker Kaminski hat seinem Roman ein Glossar zu „Namen, Orten und Dingen in der Zukunftswelt“[7] im Anhang hinzugefügt. Die Zukunft wird immer von einer zukünftigen Sprache geprägt. Wie schnell kann es passieren, dass Leser*innen selbst zu Lebzeiten von neuen Sprachen und Praktiken heimgesucht werden?! Das ist so tiefgreifend und schlimm, dass die christsozial-freiwählerische Regierung im Freistaat Bayern nun trotz oder gerade wegen des ganzen Freien das Gendern in Schulen und Behörden verboten hat. Frei bleiben ohne gendern, was nie und nimmer ein deutsches Wort ist. Selbst dann nicht, wenn die KI des Word-Programms gendern im Deutschen akzeptiert. Also braucht es ein Glossar, mit dem sich nicht zuletzt der Titel entschlüsseln lässt:
„RUA: heruntergekommenes Altstadtviertel, zugewiesener Wohnort für Menschen ab etwa 55, Abkürzung für „Region Unter Assistenz“, überbevölkert; Bewohner der RUA = RUAner.“[8]

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Zur Eröffnung las Kaminski den Anfang des ersten Teils mit dem Titel „Die Assistenten“, in dem die Lebensverhältnisse der „unfreiwillige(n) Hauptfigur“[9] Meister in einer Wohngemeinschaft mit Assistenten und anderen Menschen über 55 geschildert werden. Es wird hin und wieder „ein Glas Favorit getrunken“[10] und „ein blau gekleideter Assistent“ berichtet Meister, dass „(n)ichts Ungewöhnliches“ passiert, „alles normal, fehlerfrei und sicher“ sei. Währenddessen bemerkt Meister „hinter der glatten, wächsernen, leicht transparenten Stirn des Assistenten (…) ein Flackern“.[11] Das „Flackern“ wie die Antwort verraten den Assistenten als humanoide Pflegemaschine, die ihn und die anderen Bewohner „sanft und träge machte“. Die am „SYSTEM“ angeschlossene Pflegemaschine hat gewissermaßen eine sedierende Wirkung, die zum Programm des „SYSTEM(s)“ gehört. In Zeiten eines Pflegenotstandes in vielen Industrienationen und so auch in Deutschland mögen die freundlichen, blauen Assistenten mit ihren fürsorglichen Fähigkeiten zunächst einmal utopische Züge bekommen. Alles normal, fehlerfrei und sicher. Doch zugleich fällt Meister auf, dass er und alle anderen möglicherweise „vergessen“ sollen.
„Nicht zum ersten Mal störte ihn die Arglosigkeit seiner Mitbewohner. Er war zwar gern mit ihnen zusammen, doch manchmal vermisste er ihren Willen zur Erkenntnis. Er hätte sie gerne aufgerüttelt, doch wollte er sie andererseits nicht beunruhigen.“[12]   

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Mit der Eröffnungssequenz wird von Kaminski im Reich des Zusammenlebens von Menschen und Maschinen eine Fährte gelegt, ob es sich hier um eine Utopie oder eine Dystopie handelt, weil Menschen wie Meister, Hölzer, Reeder, Braun und die am stärksten vergessliche Oma Ka nicht nur gepflegt, sondern von den Assistenten des Systems beherrscht und entsorgt werden. Die verkürzten Namen der Protagonist*innen entpersönlichen sie und machen sie ein wenig unheimlich. In der Übergangszone am Strand erinnert vieles an einen kalkulierten schönen Tod: Euthanasie. Obwohl Meister anfangs nichts davon ahnt, stört ihn „die Arglosigkeit seiner Mitbewohner“. Zwischen „Favorit“, Singen, Erinnerungskino und einem „karge(n) Dasein“, in dem „(a)lles (…) zunehmend karger wurde“ (S. 12) spielt sich das Leben in „Haus 1021“ ab. Meister fällt dieser Widerspruch auf. Doch zunächst lacht er mit den Anderen „ausgelassen“. (S. 13) Liest man schon Kaminskis Eröffnungssequenz, wie er sie las, und kennt sowohl das Vergessen von über 70jährigen und ihrem Medienkonsum im Liegen, hat die Zukunft längst begonnen. Kommen dann auch noch Kenntnisse über die Pflegesituation in Berliner Seniorenpflegeheimen hinzu, wird aus dem fantastischen Realismus ein nackter.

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Wird Meister ein Rebell im SYSTEM, Kaminski schreibt es immer in Majuskeln, werden? Entwickelt er einen Freiheitsdrang, um aus dem System auszubrechen? Wird er womöglich gar zum Systemsprenger? Liegt in seinem Arg eine Chance, um das System zu ändern? Zukunftsromane entstehen meistens, wenn nicht ausschließlich wie beim Science-Fiction-Autor Dietmar Dath aus einer vielschichtigen „Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen“, wie es Stefan Willer bereits 2013 formuliert hat.[13] Bei Volker Kaminski lassen sich gut die aktuellen Diskurse zum Pflegenotstand, Pflegerobotern, Künstlicher Intelligenz, Rentenalter, Todeswünschen und -ängsten, gemeinschaftlichen Lebensformen, Massentourismus etc. identifizieren. Meister liest in seinen eigenen Notizen über die sogenannte „PORTA“ und das „CAMP“:
Das CAMP befindet sich in Nordafrika, so erzählt man uns. Ich meine mich an den Schriftzug KARTHAGO an einer Wand zu erinnern. Ein anderer Schriftzug lautete SCHLEMMEN TRINKEN LIEBEN. Weitere Plakate trugen Botschaften wie GREIF ZU, BEREUE NICHTS, SEI DU SELBST. Ein einstündiger Flug mit der Schnell-Transport-Linie (STL) hatte mich dort hingebracht.[14]

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Karthago? Warum Karthago, wenn Katar am Wüstenstrand schon alles inklusive Fußballweltmeisterschaft bietet? Katar und Saudi-Arabien bieten heute so viel, dass selbst Weltfußballer Christiano Ronaldo für al-Nassr FC spielt. Und der kriegt natürlich alles zum Schlemmen und Lieben. Der Strand in Nordafrika ruft heute beim Lesen widersprüchliche Assoziationen bis nach Arabien aus: in Seelenverkäufer steigende Flüchtlinge und vergoldete Steaks essende Promis im Strandrestaurant.
Eines Nachts bin ich Ballerina durch einen dichten schwarzen Wald hinunter zum Strand gefolgt. Ich erinnere mich, dass wir uns der PORTA näherten. In der Dunkelheit schimmerte der Torbogen silbern und erhaben in der Ferne. Ein Eingang tat sich vor uns auf, wir näherten uns, bis unsere Körper von der Schwärze geschluckt wurden und wir bis zur Brust ins Wasser glitten.“[15] 

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In der Eröffnungssequenz von RUA 17 geht es um die Zukunft. Volker Kaminski kristallisiert die Zukunft im „CAMP“. Dabei trägt es Züge von Berghain und Baumschulenweg (Krematorium). Doch die Grenzen zwischen Berghain und Baumschulenweg werden derart verwischt, dass der Bericht aus dem „CAMP“ für Meister ebenso verlockend wie ein Reiseprospekt als auch erschreckend ist. Die systematische Lösung des Überbevölkerungsproblems wie der Überalterung muss bestmöglich verkauft werden. Den „hohe(n) Preis“ wert sein. Die paradiesische CAMP-Beschreibung findet ihre Sprache zwischen petite mort, wie der Orgasmus im Französischen heißt, und dosiertem Drogenkonsum, während vom globalen, überwiegend jungen Berghain-Publikum so viel konsumiert wird, dass es schon gar nicht mehr zum petite mort kommen kann.
Was ist das CAMP? Überwältigung. Duft. Lust. Nichts wünschen wir uns sehnlicher als ein paar Wochen im CAMP zu verbringen. Die Sinne vergehen dir, der Taumel erreicht stündlich seinen Höhepunkt. Berührungen, Stöße, Singen, Saugen, Miauen, wilder Tanz, das Derwisch-Programm, (…) die Hände auf dem nackten Körper, die weißen Handschuhe der Assistentin, die perfekte Anpassung an die Altersgruppen, das Schlangenspiel mit den Mädchen, das Trinkgelage am rauschenden Grottenbrunnen, der perlende Platinwein, der Übergang ins Weißlicht, die personalisierte Dosis Morpheus-Bowle, das Ableben im Hymnensaal, die Veilchen- und Rosenbank, das Ende-so-nah-Erlebnis, das Auffahren ins neue Leben, die grünen Auen.[16]   

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Das lässt sich als Diskurs des Hedonismus im Berghain mit Panoramabar lesen, wo richtig teure, riesige Gemälde im Laserlicht bei 110 Dezibel aufflackern. Echte Biskys schon im Eingangsbereich hängen. Sorry, wer nicht weiß, was Biskys sind: Der Maler Norbert Bisky dürfte bereits mit zukünftigen Gemälden auf Lebzeit ausverkauft sein. Seine bunten Ölgemälde u.a. aus der Club-Szene kursieren zu Höchstpreisen global im Kunstmarkt. Allerdings verkehren im Berghain alle Geschlechtsvarianten fließend, was bei Kaminski leider völlig binär formuliert wird. Und das hat nichts mit queerer Literatur zu tun, sondern diskursiver Zukunftsvernetzung bzw. Vernetzung der Diskurse für eine Zukunft. In den Berliner Clubs mit globalem Publikum wird kaum noch zwischen queer und hetero unterschieden. „No Ageism. No Rassism. No Sexism.“ etc. steht irgendwo gerahmt im KitKat Club. Zur CarneBall Bizarre-KitKatClubnacht liegen hunderte Menschen aller Geschlechter am Swimmingpool, in den Nackte aus der Sauna kommend springen jeden Samstag für 20,- €. Da bleibt das CAMP mit seiner Altersdiskriminierung wie seinem Sexismus hinter zurück.

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Der Hedonismus kann sich in ein Freiheitsproblem verwandeln. Denn im Berghain und KitKat muss er durch strenge Kontrollen bis zur Leibesvisitation am Eingang ermöglicht werden. Mitarbeiter*innen der Clubs kontrollieren während der Partys, dass keine verbotenen Substanzen verkauft werden oder sich Gäste übergriffig verhalten. Wer sich nicht daran hält, wird mit lebenslangem Hausverbot bestraft. Praktizierte Freiheit lässt sich kaum ohne Kontrolle leben.[17] Ein Konsens über die Freiheit muss eingehalten werden, was sich gerade im Grenzbereich zwischen Bouncer bei der Einlasskontrolle und Kontrollgängen in der Berliner Clubszene quasi täglich zeigt. Aus diesem Kontext wird das Freiheitsproblem im Roman RUA 17 ein wenig schlicht mit Todesdrohungen beseitigt, wenn Grandin Bäumer droht:
„„Ich werde mit Ihnen nicht über Freiheit diskutieren!“ Im Aufstehen beugte er sich noch einmal zu ihm hinunter. „Sie werden nicht mehr lange Gelegenheit haben mich zu ärgern, Bäumer, das verspreche ich Ihnen. Diesmal lasse ich den Assistenten freie Hand. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, sind Sie Asche!““[18]

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Die Freiheit und die „freie Hand“ der mit dem System verschalteten Assistenten blenden einen anderen Aspekt der Zukunft aus, der an Berghain und KitKat Club als große Geldmaschinen deutlich wird. Die utopische Freiheit der Clubs generiert hohe Geldsummen bei fast demokratisch niedrigen Eintrittspreisen. Im globalen Vergleich bieten die Technoclubs in Berlin eine einzigartige Kultur der „Freiräume“, so dass sie 2024 zum Immateriellen Kulturerbe der Unesco in Deutschland erklärt worden sind.
„Bei der Technokultur in Berlin handelt es sich nicht nur um eine spezifische Musikstilrichtung, sondern auch um einen gelebten Gegenentwurf zu klassischen Praktiken des Musikhörens. In Deutschland etablierten sich Mitte der 1980er Jahre die Frankfurter und Berliner Clubszene. Aus der in vorherigen Jahren entstandenen DJ-Kultur wurde Techno zum Soundtrack der Aufbruchstimmung nach der Wende. Die entstandenen Freiräume verhalfen zur Etablierung der Techno- und Clubszene, die in Berlin so präsent ist.“[19]

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Die literarische Verknüpfung der Diskurse im Namen der Zukunft ist bei aller Erzähldramaturgie in RUA 17 nicht einfach, weil sie sich immer auch an der Gegenwärtigkeit der Diskurse messen lassen muss. Wolfsmehl schlägt für seine Zukunftserzählung in Der Ideenfabrikant einen anderen Weg ein. Die Kombinatorik der Begriffe führt zu utopischen Formulierungen, wenn es schon zu Anfang heißt:
„Die Pulte türmten sich in die Tiefen der Gedankenhalle. Die Reihen bildeten Jahresringe. Über dem Nordtor, dessen inwendiger Fortlauf das Wirrwarr wie eine Hauptschlagader durchzog, prangte eine schwarze Eisentafel. Die Buchstaben blitzten in goldener Schrift.

Diese Ideenfabrik wurde von Seiner Exzellenz,
dem Weltbotschafter Dr. Webwablü,
am 30. Januar im Jahre 2133
in Betrieb genommen.“[20]

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Die eröffnende Wiederholung des Datums der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg 1933 lässt aufmerken. Wie wird Wolfsmehl damit verfahren, was an dem schwierigen historischen Datum vor 200 Jahren begann? Er wendet die Sprache durch eine schwindelerregende Kombinatorik ins Fantastische. Wenn es gleich nach der Eröffnung heißt:
„Die Manege, ein mit dem Mehl zerriebener Gehirne bedeckter Kreis, trug die Arbeitsplattform des Produktionsleiters Orplid, die auf einem turmhohen Mast ruhte, der durch zahlreiche Sprossen zu erklimmen war und auf dem man im Schnittpunkt Hunderttausender von Augen thronte. Von dieser Höhe aus schrumpften die Antreiber zu Bleistiften, die Arbeiter zu Grashalmen und die Pulte zu Nussschalen.“[21]

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Die Gigantomanie der Architektur eines Albert Speer für Berlin mit einzigartigem Schwerbelastungskörper[22] zum Test der Statik im Urstromtal der Spree wird von Wolfsmehl „mit dem Mehl zerriebener Gehirne“ in Aberwitz und Schrecken gewendet. Damit wendet sich zugleich die Geste der Beschreibung und Berechnung ins Unsinnige. Gerade die sprachlichen Praktiken, die Sinn und Größe herstellen sollen, gipfeln in einer aberwitzigen Hierarchie. Auf diese Weise können im Text Der Ideenfabrikant mit seinen den Namen nach Produktionsleiter, Antreiber und Arbeiter Menschen durchschimmern. Doch zugleich flackert das „AI-powered language model“-Schreibprogramm ChatGPT auf.[23] Lexik, Syntax und Grammatik sind zwischenzeitlich so effizient programmiert, dass sie einen Zukunftsroman binnen Sekunden, allenfalls Minuten schreiben können. Was mit der Figur des Fabrikanten aus dem 19. Jahrhundert noch als menschlich evoziert wird, leistet als Open AI eine Maschine.

Torsten Flüh

Volker Kaminski
RUA 17
Seiten: 330
Hardcover 14 x 21 cm
Umschlag: Wolfgang Nieblich
Sprache: Deutsch
Erschienen: Oktober 2023
ISBN: 978-3-96258-144-2
Preis: 25,- €

Wolfsmehl
Der Ideenfabrikant
Klappenbroschur 10,5 x 14,8 cm
Sprache: Deutsch
Erschienen: Mai 2023
ISBN: 978-3-96258-139-8 
Preis: 15,- €


[1] Zum Salon siehe: Torsten Flüh: Gespräche – Bettina von Arnim. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 79-99.
Und: Torsten Flüh: Neues von den Berliner Salonièren. Zu Private Thursday, Wikimedia-Salon und zur Salonforschung von Hannah Lotte Lund. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juni 2014.

[2] Wolfgang Nieblich: Auf Beton II. Berlin: Palmartpress, 2014. (Verlagsseite)

[3] Zum Brutalismus siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2021.

[4] Zu Christoph Geiser siehe auch: Im Netz der Literaturen. Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juli 2023.

[5] Wolfgang Nieblich: Einblattdruck Nr. 10. Berlin: Palmartpress, ohne Jahr. (Verlagsseite)

[6] Zur Frage der Conditio Humana, des Menschseins oder der Menschlichkeit siehe auch: Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.

[7] Volker Kaminski: RUA 17. Berlin: Palmartpress, 2023, ohne Seitenzahl (S. 4).

[8] Ebenda S. 329.

[9] Ebenda S. 327.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 8.

[12] Ebenda S. 12.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung. Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2013.

[14] Volker Kaminski: RUA … [wie Anm. 7] S. 14-15.

[15] Ebenda S. 14.

[16] Ebenda S. 15.

[17] Zum KitKat Club, der kürzlich sein 30jähriges Jubiläum feierte, als Freiheitsprojekt aus der SM- und Fetischszene von Simon Thaur und Kirsten Krüger wäre noch mehr als zum Berghain.

[18] Die Schreibweise der Anrede in direkter Rede mit Großschreibung, nimmt der Berichterstatter als ungewöhnlich wahr. Oder sollte hier eine widersprüchliche Höflichkeitsform markiert werden. Ebenda S. 267.

[19] unesco Deutsche Unesco-Kommission: Immaterielles Kulturerbe: Technokultur in Berlin. (Aufnahmejahr 2024)

[20] Wolfsmehl: Der Ideenfabrikant. Berlin: Palmartpress, 2023, S. 5.

[21] Ebenda S. 6.

[22] Zum Schwerbelastungskörper siehe: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[23] Siehe Bing Search ChatGPT.