Schlaf und Verstand als politisches Problem

Schlaf – Verstand – Wissen

Schlaf und Verstand als politisches Problem

Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen

Der Schlaf wird aktuell immer stärker zum Scheidepunkt von Wissen, Wissenschaft und Literatur. Als Begriff wird der Schlaf aktuell politisch, wenn die tagesschau vom 15. Januar 2024 um 18:41 Uhr titelt: „Sternfahrer rauben vielen Berlinern den Schlaf.“[1] Das ist ein hochpolitisches Wording, wenn die Bauernproteste in Berlin und Brandenburg den Städtern den Schlaf rauben. Schlafräuber. Schlafwandler. Schlafmützen. Schlafforscher. Schlafvermesser. Schlafentzieher. Das wären nur einige Kombinationen, die politisch den Schlaf behelligen oder bis zur Folter verunmöglichen. Der Schlaf als Feld des Wissens wird umkämpft. Hartmut Böhme hielt am 11. Januar im Auditorium des Wilhelm-und-Jacob-Grimm-Zentrums der Humboldt Universität zu Berlin seinen Vortrag: Schlaf der Vernunft: Zur politischen Deutung von Müdigkeit, Schlaf, Schlafwandeln, Traum und Erwachen.

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Ulrike Vedder erinnerte in ihrer Anmoderation des Vortrags sowohl an Hannah Ahlheims Vortrag Die Vermessung des Schlafs und das Zeitregime der Moderne als vorangegangene Mosse-Lecture wie auch die Vermessung bestätigende Wissenschaftsnachricht, dass Zügelpinguine nur wenige Sekunden schliefen.[2] Mit immer neuen Methoden wird der Schlaf vermessen und bewertet. So auch mit digitalen Sportuhren, die den „durchschnittlichen täglichen Nachtschlaf“ messen und nach seiner Kontinuität wie Tiefe bewerten. Der Nutzen wird dann in „Längere Lebenserwartung“, „Gesundheit des Herzens“, „Gesundheit des Stoffwechsels“, „Gesundheit von Muskeln und Knochen“, „Gewicht und Körperzusammensetzung“ sowie „Mentales Wohlbefinden“ per Punktesystem verrechnet und in einen „Aktivitätsnutzen“ übersetzt: „Was für eine großartige Woche! Du hast wirklich … Dein Geist wird wacher sein und dein Körper wird besser aussehen und sich besser anfühlen.“[3]

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Ulrike Vedder schlug mit Franz Kafka den Bogen zum Schlaf von ungewöhnlicher Dauer und der Schlaflosigkeit in seinen Tagebüchern. Bereits am 19. Januar 1911 notiert Kafka „»im letzten Jahr bin ich nicht mehr als 5 Minuten lang aufgewacht«“[4], was Reiner Stach in seinem biographischen Buch Kafka von Tag zu Tag wichtig genug war, um die bedenkenswerte Formulierung zu zitieren. Hatte Kafka also das ganze Jahr 1910 nur geschlafen? Der Dauerschlaf findet am 2. Oktober 1911 sein Pendant in dem Tagebucheintrag „Schlaflose Nacht“. Kafka beobachtet sich, seinen Schlaf bzw. Schlaflosigkeit genau und wird von Träumen heimgesucht:
„Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl, gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen fünf so, daß ich zwar schlafe, daß aber bald starke Träume mich gleichzeitig wachhalten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß.“[5]

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Die Gleichzeitigkeit von Träumen und Schlaflosigkeit bzw. 1910 von Dauerschlaf und einem nicht Erwachen können, gibt zu denken. Gegenüber dem Zitat bei Stach ist die Formulierung vom 19. Januar komplexer und widersprüchlicher, wenn es nach einem Gedankenstrich heißt: „– jeden Tag entweder mich von der Erde wegwünschen müssen oder aber, ohne daß ich darin auch die mäßigste Hoffnung sehen dürfte, von vorn als kleines Kind anfangen müssen.“ Der sechsundzwanzigjährige Kafka kann das Wachen und das Träumen ebenso wie den Schlaf und die Schlaflosigkeit schwer bzw. nur in einem Paradox formulieren: „Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß.“

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Franz Kafka lässt auch am nächsten Tag das Einschlafen als Grenzerfahrung nicht los. Nicht nur das Erwachen wird als Schwierigkeit formuliert, vielmehr ist es schon das Einschlafen, an dem ihn die Träume hindern. Träume, die ihn vor dem Schlaf noch im Einschlafen am Schlafen hindern. Als sei es ein Vorwissen der Träume, die den Schlaf durchkreuzen, bleibt der Schlaf dem Wissen unzugänglich. Die Träume, „die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen“, lassen Kafka „nicht schlafen“. Das Verhältnis von Schlaf, Wachsein und Träumen wird als ein ebenso hinderlich vertracktes wie am Wissen vom Schlaf scheiterndes beschrieben.
 „Die gleiche Nacht, nur noch schwerer eingeschlafen. Beim Einschlafen ein vertikal gehender Schmerz im Kopf über der Nasenwurzel, wie von einer zu scharf gepreßten Stirnfalte. Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schultern gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat. Wieder war es die Kraft meiner Träume, die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ.“[6]

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Hartmut Böhme wandte sich mit seinem Vortrag der Kulturgeschichte des Schlafes zu, indem er eröffnend aus Blaise Pascals 1669 postum erschienenen Gedanken über die Religion (Pensées sur la religion et autres sujets) zitierte. – Hier muss eingefügt werden, dass die Künstliche Intelligenz der Microsoft-Suchmaschine Bing auf die Suchanfrage „Blaise Pascal niemals erfassen, wenn wir wachen“ antwortet: „Ich bin mir nicht sicher, was Sie mit dieser Aussage meinen. Es scheint, dass es sich um ein Zitat von Blaise Pascal handelt, aber ich verstehe nicht, was es bedeutet. Könnten Sie bitte mehr Kontext oder Informationen bereitstellen, damit ich Ihnen besser helfen kann? 😊“ Allerdings listet Bing immerhin an erster Position die Gedanken. – In der Frühaufklärung wird Blaise Pascal mit der Frage nach dem Wachen zum Kritiker:
„Ferner hat niemand außer dem Glauben eine Sicherheit, ob er wacht oder schläft, indem man während des Schlafs nicht weniger fest glaubt zu wachen, als wenn man wirklich wacht. Man glaubt die Räume, die Gestalten, die Bewegungen zu sehn, man merkt, wie die Zeit verläuft, man mißt sie, kurz man handelt ganz wie wach. Also da die Hälfte des Lebens nach unserm eignen Zugeständniß im Schlaf vergeht, wo wir, obgleich es uns so scheint, doch keine Idee des Wahren haben, indem dann alle unsre Empfindungen Täuschungen sind, wer weiß, ob jener andre Theil des Lebens, wo wir zu wachen meinen, nicht ein vom ersten nur etwas verschiedener Schlaf ist, aus dem wir erwachen, wenn wir zu schlafen meinen, wie man oft träumt, daß man träume und so Traum auf Traum häuft?“[7]

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Insofern als es mit der Philosophie der Aufklärung selbst um eine Literatur des Erwachens und Berechnens, vielleicht gar des Berechnens als Erwachen, ja, heute gar des Rechnens einer KI als Wachen geht, nimmt der Mathematiker Blaise Pascal aus Clermont-Ferrand im von seinen Freunden zusammengestellten Abschnitt „Auffallende Widersprüche, die sich in der Natur des Menschen finden, in Betreff der Wahrheit, des Glücks und mehrerer anderer Dinge“ eine bedenkenswerte Haltung ein. Er hatte, um ein wenig vom Vortrag Hartmut Böhmes abzuweichen, 1652 eine Rechenmaschine mit Zahnrädern erfunden, die heute als Pascaline benannt wird. Rudolf Taschner nannte sie 2012 in einem Vortrag Die denkende Maschine.[8] Die Frage des Wachens und Träumens schneidet das Denken, das durch eine Maschine vorgenommen werden kann. Denn Pascal, der Konstrukteur, gibt zu bedenken, dass man im Traum wie im Wachen handelt und misst: „Man glaubt die Räume, die Gestalten, die Bewegungen zu sehn, man merkt, wie die Zeit verläuft, man mißt sie, kurz man handelt ganz wie wach.“ Trotz des Messens und der Rechenmaschine kann das Pascalsche „man“ sich, können wir uns des Wachens nicht versichern.

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Hartmut Böhme entwickelte mit seiner kulturgeschichtlichen Fragestellung nach dem Politischen des Schlafes nicht zuletzt mit Christopher Clarks Buch The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914 eine literaturhistorische Kritik.[9] Denn Clark oder sein Verlag hätte lediglich den Begriff Sleepwalker bzw. Schlafwandler ohne Erkenntnisgewinn benutzt, ohne dessen Implikationen zu Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930) oder Hermann Brochs Die Schlafwandler (1930) als Romane zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch nur zu erwähnen. Die Figuren bei Musil und Broch würden von einer historischen Dynamik überrollt. Das Wissen der Literatur vom Schlafen und Schlafwandeln sei ungenutzt geblieben. Der Wink mit dem Begriff aus der Literatur bleibe inhaltlich folgenlos. Daraufhin entbrannte später ein Dissens mit Lothar Müller, dass weder Clark noch seinem Verlag der für Literaturkenner griffige Titel zur Last gelegt werden könne. Christopher Clark entfaltet allerdings in seiner Einleitung ein Problem der Überfülle des historischen Wissens als einem „Überangebot an Quellen“[10] und „immer noch beträchtliche(n) Wissenslücken“.[11] Er schreibt, mit anderen Worten, einem linearen Wissen von Geschichte entgegen. Der Wissensmodus der Schlafwandler bleibt dagegen schwankend: schlafend und willenlos begeben sie sich in Gefahr oder verursachen (politische) Katastrophen.[12]

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Der Erkenntnisgewinn durch die Schlafwandler wäre dann, das ständig postulierte Wissen in den Quellen vom Anderen, generell in Frage zu stellen. Stattdessen bringt das Ereignis des Attentats von Sarajewo in seiner unzugänglichen Ereignishaftigkeit den Weltkrieg zum Ausbruch. „Die serbischen Organisationen, die mit dem Attentat zu tun hatten, waren extrem verschwiegen und hinterließen so gut wie keine Spuren.“[13] Wer kannte denn in Europa und der Welt ein Volk der Serben? „Während der Kieler Woche an Bord seiner Yacht Meteor erfährt der Kaiser vom Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand durch serbische Nationalisten. Die Regierungen in Wien und Berlin drängen den Kaiser seine alljährliche Nordlandreise unbedingt, wie geplant, anzutreten“, heißt es in Peter Schamonis Dokumentarfilm Majestät brauchen Sonne – Wilhelm II. (1999).[14] Christopher Clark weist in seiner Geschichte auf die „Elemente des Zufalls“[15] hin, die zum Ausbruch des Weltkrieges geführt hätten. Mit anderen Worten: die Figur des Schlafwandlers beschreibt ein performatives Wissen zwischen Verstand, Schlaf und Wachen. Retrospektiv mag der Schlafwandler einen Weg zurückgelegt haben, von dem er aber nicht wusste, dass er ihn beschreitet.

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Ausführlich ging Hartmut Böhme auf die Emblematik von Francisco de Goyas Radierung/Aquatinta El sueño de la razón produce monstruos (1799) ein.[16] Die Emblematik in ihrer Kombinatorik von Bild und Text wird durch die spanische Inschrift am Tisch oder auf einem Tischtuch insofern uneinholbar mehrdeutig, weil el sueño mit Schlaf, Traum, Schlummer, Wunschdenken ins Deutsche übersetzt werden kann. Während im Deutschen Schlaf und Traum, wenn auch mit gewissen Schwierigkeiten wie bei Kafka unterschieden werden können, fallen sie mit el sueño in eins. Syntagmatisch machen der Schlaf der Vernunft und der Traum der Vernunft indessen sehr wohl einen Unterschied. Wäre die Vernunft oder der Verstand, was sich beides mit la razón übersetzen ließe, nur ein Traum, dann könnte der Verstand eben zugleich Monster produzieren. Wenn aber der Schlaf der Vernunft, also ein abgeschalteter Verstand Monster in Form von Katzen, Fledermäusen und Eulen produzierte, dann könnte der Verstand immerhin eine Rettung vor Monstern versprechen. Zugleich bleibt die emblematische Zoologie mehrdeutig.

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Eulen und Fledermäuse verbreiten in der Ikonographie nicht nur Schrecken, wozu ein zeitgenössisch-populäres Bildwissen verleiten könnte. Eulen werden seit der griechischen Antike und ihrer Wiederkehr als Symbol des Wissens schlechthin verwendet. Im Turm des Herzogspalasts von Dijon, Palais des ducs de Bourgogne, der heute als Aussichtsturm über die Stadt genutzt wird, ist eine Fledermaus über die Tür zur Bibliothek eingearbeitet. Im südlichen Europa, Frankreich und Spanien zumindest, sind nicht nur Eulen, sondern auch Fledermäuse ein Bild für Wissen und Wissenschaft. Die in der Aquatinta-Radierung wie im Traum an den Schreibtisch als Raum des Wissens und den Schlafenden herannahenden Fledermäuse und Eulen erhalten zwar monströse Züge, aber sie sind zugleich mit dem Verstand und einem positiven Wissen in ihrer Bildgeschichte verknüpft. Die vermeintlich vor dem Schlaf warnende Inschrift am Schreibtisch – El sueño de la razón produce monstruos – erweist sich als mehrdeutig. Wir wissen nicht, ob Francisco de Goya in seiner politisch intendierten Radierung in der aufwendigen Aquatinta-Technik von der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Bildproduktion wusste.

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Dass der Traum den Träumenden in eine Welt identitätsloser Wesen der anbrechenden Moderne stürze, wie Harmut Böhme zu Goyas Radierung ausführte, bleibt durchaus fraglich. Vielmehr lässt sich über mehrere Versionen und Stufen der Radierung bis hin zur Verwerfung der Bild-Text-Kombination, die Böhme nachverfolgte, ein Problem der eindeutigen Darstellung von Schlaf und Verstand formulieren. Selbst das vermeintlich so eindeutige Bild der Aquatinta-Radierung Desastres de la Guerra aus der politischen Serie schwankt. Ob es sich um einen Toten oder Schlafenden, einen Soldaten oder Zivilisten, der am Boden liegt, handelt, lässt sich schwer entscheiden. Es könnte sich dem Gesicht nach um einen jüngeren Menschen handeln. Die herannahenden oder auch aus dem liegenden Körper sich herausschälenden, geflügelten Wesen changieren zwischen Eulen und Fledermäusen. Krähen, die Aas fressen, sind es keinesfalls. Wir wissen nicht, ob der oder die Liegende schläft, träumt oder tot ist. Im Kontext der Serie fällt indessen auf, dass die geflügelten Mischwesen nicht eindeutig von außen, sondern aus einem Raum zwischen Innen und Außen in der Radierung kommen. Die kunsthistorische Beschreibung „[A bat-like creature sucking at the chest of the corpse]“ nimmt bereits eine Vereinheitlichung vor, die visuelle nicht gegeben ist.

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Auf einer Federzeichnung der Versionen lässt sich ein Ringen Goyas um Wahrheit und Verstand ablesen. Eine Federzeichnung, so komplex sie auch sein mag, ist weit schneller hingezeichnet, als eine Aquatinta-Radierung ausgearbeitet. Am unteren Rand der Version von 1797 formuliert Goya seine „Absicht“, die mit der Bildunterschrift „El Autor soñando.“ wiederum in einem bedenkenswerten Produktionsmodus des Bildes ankündigt wird. Denn der „Autor träumt. Seine einzige Absicht ist es, schädliche Gemeinheiten zu verbannen und mit diesem Werk der Laune das solide Zeugnis der Wahrheit zu verewigen“. Wenn mit dem Autor die Figur am Tisch mit dem Kopf auf der Tischplatte bezeichnet sein soll, dann wird die vermeintlich autonome Figur einer Autorschaft, doch von den Flugwesen und einer Katze mit aufgerissenen Augen einigermaßen heimgesucht. Sollte mit dem Autor Goya von sich selbst geschrieben haben, um sich gegen „schädliche Gemeinheiten“ zu positionieren, dann ist das Wunschdenken – soñando – doch ziemlich vage und gefährdet, weil er ein vieldeutiges Bild schafft.

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Die Ambiguität der Bilder und Schriften bzw. der Ikonografie der Träume gibt nicht zuletzt einen Wink auf das von Hartmut Böhme ebenfalls als kulturgeschichtlich entscheidend angeführte Buch Die Traumdeutung von Sigmund Freud aus dem Jahr 1900. Vom Verlag und/oder Freud war das Buch bei seiner Veröffentlichung auf das verheißungsvolle neue Jahrhundert vordatiert worden. Böhme weist daraufhin, dass das für das Wissen von den Träumen und den Menschen vielversprechende Buch von beträchtlichem Umfang mit ca. 700 Seiten, die Leser*innen in einer gewissen Bestürzung zurücklasse, weil man am Ende dann doch so gut wie nichts über den Traum als „Wächter“ oder „Behüter des Schlafes“ wisse. Die Geste, ein geradezu enzyklopädisches Wissen über den Traum mit dem Buch vorzulegen, hat in den seither vergangenen über 124 Jahren ganze Bibliotheken gefüllt. Böhme formulierte es ein wenig anders. Und selbst Franz Kafka dürfte 1911 bei seiner Schlaflosigkeit, seinen Träumen und seiner „Selbsterkenntnis“ von dem Buch wie den und ihm folgenden Schriften, Bildern und Gesprächen nicht isoliert gewesen sein.   

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Harmut Böhme führte in seiner Mosse-Lecture noch eine Reihe von Beispielen zur Darstellung und Formulierung des Schlafes und der Träume bei Füssli, Lord Byron, Mary Shelley, Plutarch, Foucault und Adorno in Bild und Text an. Über das Politische des Schlafes war er sich selbst ein wenig unsicher. Auf die Suchanfrage „Füssli Schlaf“ antwortet das Ich von Bing: „Ich vermute, dass Sie sich auf das Gemälde „Der Nachtmahr“ von Johann Heinrich Füssli beziehen. Es ist ein bekanntes Kunstwerk aus der Romantik-Ära, das eine schlafende Frau zeigt, die von einem dämonischen Wesen heimgesucht wird. Das Gemälde ist auch als „Füssli Schlaf“ bekannt.“ Also ich finde, dass das ein wenig dürftig ist, Bing. Schließlich lässt sich, wie von Böhme vorgeschlagen, die Dreierkonstellation von schlafend-liegender Frau, menschenähnlichem Wesen auf dem Unterkörper der Frau und hinter einem Vorhang zuschauenden Pferdekopf nicht nur romantisch, sondern als Vergewaltigungsfantasie eines Mannes lesen. Im Schlaf schaut ein Subjekt einer Frau im Schlaf zu, das von einem Subjekt beobachtet wird. Doch an der Grenze des Schlafes wissen wir nicht, was sich der Schlafenden zeigt.

Torsten Flüh

Nächste Mosse-Lecture
Do. 25. Januar 2024, 19H c.t.
Samantha Harvey (Bath)
mit Stefan Willer
Brain on Fire:
Insomnia and Sleepwriting

Auditorium
Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum
Geschwister-Scholl-Str. 1-3
10117 Berlin

Hartmut Böhmes Lecture
Schlaf der Vernunft
auf YouTube


[1] Tagesschau: Sternfahrer rauben vielen Berliner den Schlaf. 15. Januar 2024, Stand 18:41 Uhr.

[2] Veronika Simon und Ulrike Till: Fast 10.000 Nickerchen am Tag. In: tagesschau, wissen, Forschung vom 02.12.2023 12:35 Uhr.

[3] Polar Flow-Programm.

[4] Reiner Stach: Kafka von Tag zu Tag. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018, S. 116.

[5] Projekt Gutenberg: Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923. Jahr: 1911.

[6] Ebenda 3. Oktober 1911.

[7] Blaise Pascal: Auffallende Widersprüche, die sich in der Natur des Menschen finden, in Betreff der Wahrheit, des Glücks und mehrer anderer Dinge. In: Gedanken über die Religion. Auf Zeno.org.

[8] Rudolf Taschner: Blaise Pascal: Die denkende Maschine. YouTube 21. November 2021.

[9] Christopher Clark: The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914. London: Pinguin, 2012.

[10] Christopher Clark: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: DVA, 2013, S. 9.

[11] Ebenda S. 12.

[12] Siehe zur nicht-linearen Geschichte: Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[13] Christopher Clark: Die … [wie Anm. 10] S. 12.

[14] Peter Schamoni: Majestät brauchen Sonne – Wilhelm II. (D/NL 1999). ca. 1:11:40 bis 1:12:04

[15] Christopher Clark: Die … [wie Anm. 10] S. 20.

[16] Zur Bildproduktion in Aquatinta siehe: Torsten Flüh: Trauma und Bildfindungen der Teilung, Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2019.

Kunst zwischen Zandschow, Idyll, Malawi und Mexico City

Rede – Kunst – Lyrik

Kunst zwischen Zandschow, Idyll, Malawi und Mexico City

Zur Kleist-Preis-Verleihung an Thomas Kunst durch Feridun Zaimoglu im Deutschen Theater Berlin

Die Vertrauensperson der Jury des Kleist-Preises Feridun Zaimoglu gehört zu den bekanntesten Kielern. Meine Mutter (90) will ihn schon mehrfach beim Bäcker an der Ecke Lutherstraße und Kirchhofallee, wo er gegenüber dem Südfriedhof wohnt, erkannt haben. Feridun Zaimoglu hat den Lyriker Thomas Kunst als „sprachbesessensten und herzverrücktesten Dichter unserer Zeit“ für den Kleist-Preis 2023 ausgewählt. Und führt uns mit dem Anfang seiner Laudatio sogleich in die ostthrakische Stadtidylle oder auch Stadt Idyll, was sich beim Hören nicht so leicht festlegen lässt, im Dreiländereck von Griechenland, Bulgarien und Türkei.[1] Am Vormittag des 26. Novembers 2023 steht noch unter dem blauen Himmel vor dem Deutschen Theater Thomas Kunst mit den Seinen.

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Thomas Kunst antwortete auf die Reise nach Ostthrakien in seiner Preisrede gleich mit Mexico City.[2] Die Handlung im lyrischen Roman Zandschower Klinken (2021) spielt sich bei ihm zwischen Zandschow, Norddeutschland, Levenshaug, Cartagena und Sansibar ab. Das hat vermutlich die Lektorin des Suhrkamp Verlages dazu veranlasst, den Roman im Klappentext „eine Utopie in unserer globalisierten Gegenwart“ zu nennen. Lyrisch sind der Roman und das Schreiben von Kunst schon deshalb, weil dabei Platten zwischen The Space Between von Joanna Brouk und Piano And String Quartet von Morton Feldman aufgelegt wurden.[3] Das Schreiben wird zum Komponieren. Doch bei der Preisverleihung eröffnete zunächst David Meyer mit dem Impromptu As-Du, op. 90 Nr. 4 von Franz Schubert die Zeremonie.

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Wo liegt Zandschow? Ist Zandschow eine Utopie oder eine Dystopie? Letzter Satz: „Ich verspreche mir dann endlich ein Nebengeräusch von ihm, auch wenn es nicht alle Haare in das Tütchen geschafft haben sollten.“[4] Und worauf gibt die wiederholte Formulierung „aber in umgekehrter Reihenfolge“ einen Wink?[5] „Zandschow. Zandschow. Den Namen dieses Dorfes hat er schon irgendwo gelesen, irgendwo gehört.“[6] Google Maps kennt Zandschow nicht. Weder in Norddeutschland noch bei Bitterfeld – „ChemCoast“[7] Die Autobahnabfahrten Zandschow und „Höverlake“ sind Dichtung und kommen bei Google Maps nicht vor. Selbst die Suchmaschine Bing von Microsoft kennt statt „Höverlake“ nur „Hoevelaken“ in Gelderland der Niederlande. Thomas Kunst hat mit seinem Roman Zandschower Klinken eine eigene literarische Topographie geschrieben.
„Es kann nicht so lange her sein, seit die amtierende Regierung den Beschluss gefasst hat, für einen Zeitraum von zwölf Monaten, auf der A7, zwischen den Abfahrten Zandschow und Höverlake, sämtliche Unfälle zu untersagen.“[8]

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Im Wechsel zwischen Texten von Thomas Kunst und Heinrich von Kleist lasen Maren Eggert und Manuel Harder als Ensemblemitglieder des Deutschen Theaters. Anne Fleig, Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, dankte in ihrer Rede der neuen Intendantin Iris Laufenberg und dem Dramaturgen Bernd Isele für den Rahmen der Preisverleihung als „Geste der Wertschätzung“. Sie erinnerte daran, dass es um Gesten der Wertschätzung für „Gedichte“ und, wie mit den Zandschower Klinken hinzuzufügen wäre, gedichtartigen Romanen gehe, die nach dem 7. Oktober 2023 jegliche Selbstverständlichkeit verloren hätten. Im von Maren Eggert gelesenen Text Der Umbau des Bades von Thomas Kunst kommt nicht zuletzt eine Mutter im Rollstuhl vor. Daraufhin las Manuel Harder einen Auszug aus Heinrich von Kleists Der Findling.

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Bei Kunst wie bei Kleist geht es immer auch um die Fragwürdigkeit des Wissens – Zandschow – und der Wissenschaft, wie sie von Kleist in dem später als Ausschnitt verlesenen Brief vom 9. April 1801 geschrieben wird. Flieht Kleist vor der Wissenschaft oder Wilhelmine? „Es war im Grunde nichts, als ein innerlicher Ekel vor aller wissenschaftlichen Arbeit.“[9] Die Wissen produzierende Arbeit wird von Kleist in seinen Texten, ob Abschiedsbrief oder Erzählung, wiederholt in Zweifel gezogen, wie es Marianne Schuller einmal zu Der Findling formuliert hat:
„Nicolo gibt seine Eltern an, die Vorsteher des Krankenhauses bezeichnen ihn mit einem rätselhaften Lächeln als Gottes Sohn. Damit ist ›Findling‹ nicht nur ein Objekt, dessen Ursprung ungewiß ist, sondern das, was das Wissen des Ursprungs wie den Ursprung des Wissens selbst in Frage stellt.“[10]  

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Die musikalische Rahmung der Lesungen, des Grußworts, der Laudatio und der Preisrede mit Kompositionen von Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Alessandro Marcello und Frédéric Chopin könnte die Romantik als Epochen- und Gefühlswissen nahelegen. Doch der von David Meyer gespielte wenig bekannte 2. Satz aus der Klaviersonate G-Dur, op. 14 Nr. 2 in Andante, Allabreve von Ludwig van Beethoven mit seinen Variationen und kurzgestoßenen Akkorden besticht vor allem durch seine Eigensinnigkeit. Vermeintlich an das verspielte Rokoko erinnernd wird im 2. Satz eine Spannung in den Variationen erzeugt, als solle erzählt werden. Doch was mit Assoziationen an ein tastendes Voranschreiten bis zum sich fassenden Marsch komponiert wird, lässt sich nicht sagen. Während die Romantik beispielsweise bei Chopin zum Erzählen bis in Regentropfen neigt und auch Schubert zur Geste des Erzählens anstimmt, stehen Beethovens Klaviersonanten in ihrer Schärfe und Kombinatorik den Texten Heinrich von Kleists näher. Sie befragen immer auch das Musikwissen, indem sie gegen Regeln als Komponierwissen verstoßen.[11]   

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In der zweiten Lesephase von Maren Eggert und Manuel Harder mit Ich werde solange mit dir am Strand spazieren und Ich lebe mit einer Spinne zusammen, SIE von Thomas Kunst sowie einem Auszug des Kleist-Briefs an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801 lässt sich insbesondere dem Ich nachdenken. In seinem Brief exponiert Kleist das Ich in besonderer Weise. Das Ich wird eines des Abschieds und der Gegenwart durch ein Bild als Stellvertreter des Ichs. „Ich nehme Abschied von Dir! — Ach, (…) — Küsse das Bild auf der Stirn, da küsse ich es jetzt auch.“ Die Zäsuren werden mit Gedankenstrichen im Brief vielfach angezeigt. Das Ich, das gerade wegen seiner Innigkeit im Text, nicht mit Heinrich von Kleist zu verwechseln ist, will in mancherlei Arabesken erzählen, warum es von der Verlobten Abschied nehmen muss oder will. Doch die Erzählung will nicht gelingen. Widersprüchlich, chaotisch bleibt, ob und wie Kleist abreisen kann und wird.
„Ja ich habe mir sogar Adressen an französische Gelehrte müssen mitgeben lassen, u. so komme ich denn wieder in jenen Kreis von kalten, trocknen, einseitigen Menschen, in deren Gesellschaft ich mich nie wohl befand. — Ach liebe Freundinn, ehemals dachte ich mit so großer Entzückung an eine Reise — jetzt nicht. Ich versprach mir sonst so viel davon — jetzt nicht. Ich ahnde nichts gutes — Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht Dich noch einmal zu sehen, u. war schon im Begrif Dir selbst zu Fuße das Bild zu bringen.“[12]

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Der Bildertausch spielt eine wichtige Rolle in der Brieferzählung an Wilhelmine. Doch er misslingt auch bei allen Erwartungen. Vermeintlich geht es mit dem Bild Kleists, das er hatte malen lassen und von dem er hofft, Wilhelmine möge es „ähnlicher finden“ – „Mögtest Du es ähnlicher finden, als ich.“ –, um jenes als einzig überliefert geltendes Bild des Dichters von „Peter Friedel“. Doch der Ursprung ist ungewiss. Das Kleist-Museum zeigt auf seiner Website lediglich eine Miniatur von einem „unbekannte(n) Künstler“, die sich nicht auf 1801, sondern auf 1831 bis 1837 datieren lässt.[13] Schon im Brief geht das Bild ohne Einfassung im Futteral, das zu Wilhelmines Bild gehört, welches als verloren gilt, auf die Post. Das Ich, das sich nicht dem Bild ähnlich findet und Abschied nimmt, wartet in Berlin noch auf das Futteral? – Was lesen wir, wenn wir den Brief lesen? Und wieviel hat ihm die Literaturwissenschaft mit einiger Verspätung hinzugefügt?
„(Schicke mir doch das Bild-Futteral sogleich zurück, denn es gehört zu Deinem Bilde.)“[14]  

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Feridun Zaimoglu hat in seinem Roman Siebentürmeviertel (2015) von einem Erzähler als „Maschine der Geschichte“ geschrieben. „Sie nennen mich: Maschine der Geschichte. Gerät der Gottesmacht.“[15] Er liest seine Laudatio am 26. November in einer eigenartig rhapsodischen Weise oder in einem Flow, dem er sich nicht zuletzt mit der Zugreise von Villach nach Ostthrakien hingibt. „Ja sicher, es gelte 6 Passkontrollen zu überstehen, Kroatien raus, Serbien rein, Serbien raus, Bulgarien rein, Bulgarien raus, Türkei rein. Die Grenzposten. Sie seien angenehme Menschen. Man dürfe sie nur nicht für dumm verkaufen…“[16] Während des Lesens kommt er nach kaum mehr als 3 Minuten zu dem Schluss, dass er „eindeutig unter dem Einfluss der Gedichte von Thomas Kunst“ stehe. Der Begriff Gedicht, war bereits mehrfach vorgekommen, während sich das Vorgelesene wie eine Romanerzählung anhörte. Gedichte erzählen anders, ließe sich wohl sagen. Thomas Kunst hat mit seiner Praxis der Gedichte diese selbst wie den Roman verschoben. So beginnt der Gedichtband Kolonien und Manschettenknöpfe (2017) mit Disziplin der Idioten Wasserkerne:
„WIE KAMEN WIR NUR DARAUF, IN MALAWI,
An den Ufern des Chilva-Sees, sämtliche
Pferde zu beschädigen, uns war nach abgeflauter
Zufriedenheit zumute, in der unteren Etage
Eines Kugelschreibers wurde die handfeste Stimmung
Auf den Feldern enthüllt, dem Elend war nicht
Die geringste Regierbarkeit anzusehen, getrocknete
Fische und Raphiapalmen, Makumba und
Matemba, Kolonien an Körpertemperatur
Unter den Manschettenknöpfen, die Beine in
Den Flanken eines minuziösen Kontinents, mit den“[17]   

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Wie verschiebt Thomas Kunst das Gedicht als literarische Gattung? Im Roman Zandschower Klinken wird jede erste Zeile eines Blockabsatzes in Majuskeln geschrieben. Innerhalb der Absätze im Blocksatz fließt der Text. Oder auch nicht. Im Gedichtband Kolonien und Manschettenknöpfe wird jede erste Zeile einer Strophe in Majuskeln abgedruckt. In den gedruckten Gedichten lässt sich ebenso beobachten, dass keine Punkte als Zeichen für einen abgeschlossenen Satz verwendet werden. Der Punkt kommt erst am Ende des Gedichts. Stattdessen beginnt jede Verszeile mit einem Großbuchstaben. Das ist zumindest so ungewöhnlich, dass Zaimoglus Lobrede zum „Bruch mit dem Üblichen und Immergleichen“ berechtigt erscheint. Gleichzeitig werden die Lesegewohnheiten in der deutschen Sprache brüchig. Das hat Folgen für das Verständnis und die Gedichte.
„Pferde zu beschädigen, uns war nach abgeflauter
Zufriedenheit zumute, in der unteren Etage.“

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Die Maschine des Erzählens wird angeworfen und beginnt zu ruckeln. Unsere gewöhnliche Lesepraxis ist darauf trainiert, dass wir ständig eine Geschichte verstehen wollen und sollen, die durch die Zeilenbrüche ins Stocken gerät. Leseverstehen beispielsweise ist eine Komponente von vier Prüfungsbereichen im (Fremd)Sprachunterricht. Hörverstehen hängt ebenfalls nicht nur von den Vokabeln und der Syntax ab. Die Gedichtform mit ihren Zeilenbrüchen zerbricht die trainierte Syntax und stellt eine andere her, die einen „Eigensinn“, wie es Zaimoglu nennt, produziert. Er setze „sich damit über eingebildete Grenzen hinweg“. Im Gedicht wie im Roman geht es Kunst darum, die aus Wissen verfassten Grenzen zu durchbrechen und zu erweitern. Es gibt immer eine Prüfungsinstanz beim Lesen. Anders gesagt: Lesen Sie das eröffnende Gedicht noch einmal mit den Zeilenbrüchen:
„Zufriedenheit zumute, in der unteren Etage
Eines Kugelschreibers wurde die handfeste Stimmung“.

In seiner Preisrede mit dem Titel Alles oder. montiert Thomas Kunst in die Erzählung von Mexico City einen Wink auf seine Kleist-Lektüre: „Was das alles mit Kleist zu tun hat. Viel. Ob ich in meinem Leben schon mal was von ihm gelesen habe. Einiges.“[18] Der Kleist-Leser Kunst liest offenbar anders als es in der Literaturwissenschaft oft getan wird. Er bettet in dem Gedicht Prosa von Welt mit Namen Kleist anders in ein Wissen von Literatur ein und knüpft später an „Kohlhaas“ an. In der langen Tradition der Kleist-Preis-Reden gehört Kunsts schon jetzt zu den außergewöhnlichen. Sie pendelt zwischen Prosa, Gedichten, Briefen und Zitaten. Kohlhaas wird in eine Konstellation gebracht mit dem Austritt Chlebnikows aus der Kommunistischen Partei der Bolschewiki. Kohlhaas und die Kommunistische Partei oder auch Kohlhaas als „erster Trotzkist“.[19] Vor allem aber dichtet Kunst ein neues „Standardwerk“ zu Kleist:
„Ich begriff für mich, daß es notwendiger und wichtiger war, noch vor Goethe und Schiller, Kleist zu lieben. Clint Eastwood und Sylvester Stallone haben ein Standardwerk herausgegeben: Muskuläre Melancholie. Über die Einheit von Verlust und Vergeltung in den Novellen des Heinrich von Kleist. Das denkt man gar nicht, oder. Ich sollte den Kontakt zu beiden suchen.“

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Nicht zuletzt das erdichtete „Standardwerk“ mit Clint Eastwood und Sylvester Stallone als Herausgeber gibt einen Wink auf Kunsts Dichtungsweise. Indem er zwei muskulöse Hollywoodstars vom Gestus des Titels her ein literaturwissenschaftliches „Standardwerk“ herausgeben lässt, wird das Wissen der Literaturwissenschaft ironisch paraphrasiert. Denn das „Standardwerk“ soll als verbindliches oder kanonisches Wissen zu Kleists Novellen gelesen werden. Die nachgeschobenen floskelhaften Sätze als Wirklichkeitsmetaphern sind ebenso witzig wie entstellend. Im Hörverstehen der Preisrede sollten und könnten wir glauben, dass es das Standardwerk wirklich gibt. Um den Eindruck der Wirklichkeit zu verdichten, zitiert Kunst, der sich vom „Aktualitätszwang“ laut Feridun Zaimoglu „(n)iemals … verführen“ lässt, vertraute Kommunikationsweisen.
„Ich werde Mails an Clint und Sylvester schreiben, weil die beiden sich besser mit den Novellen der Gewalt und der Rache auskennen als viele andere von uns. Wie ich an ihre Adressen gekommen bin. Das laßt mal meine Sorge gewesen sein.“

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Alles oder. feiert das Gedicht und die Dichtung nicht zuletzt mit der Montage mehrerer Zitate aus Texten anderer Autoren wie am Schluss dem Dichter Ulrich Zieger mit seinem Gedicht Öffentlicher auftritt, dem Kunst seinen Preis widmet. Auf diese Weise lässt sich sagen, dass Kunst vor allem mit Textmaterial und dessen Komposition respektive Kombination schreibt. Namen, Ortsnamen und das mit ihnen verknüpfte Wissen spielen eine entscheidende Rolle in seinem Dichten, das sich nicht einfaches verstehen oder fassen lässt. Personennamen wie Kohlhaas oder Clint Eastwood setzen zumindest jetzt eigene Geschichten und Bilder in Gang. Ob wir überhaupt ein Bild vom Dichter Heinrich von Kleist in unserer bildversessenen Zeit haben, wissen wir nicht, wenn das einzige Jugendbildnis gut 20 Jahre nach seinem Tod angefertigt worden ist. Wir wissen nicht, ob es nur den Brief vom Bildertausch gibt, Briefliteratur, das Bild nach dem Brief gemalt wurde oder das Bild zuvor gemalt worden war. Die Forschung zum und am Bild lässt den Ursprung offen. Ob es uns gefällt oder nicht. – Währenddessen kursiert im Wissensmedium Internet das Bild weiter.

Torsten Flüh

Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
Kleist-Preis 2023
Feridun Zaimoglu verlieh den Kleist-Preis 2023 an Thomas Kunst

Thomas Kunst
Zandschower Klinken
Fester Einband mit Schutzumschlag, 254 Seiten,
978-3-518-42992-1
Suhrkamp Hauptprogramm
Suhrkamp Verlag, 3. Auflage
22,00 € (D), 22,70 € (A), 31,50 Fr. (CH)


[1] Feridun Zaimoglu: Laudation. (Zum Nachhören) In: Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft: Kleist-Preis: Kleist-Preis 2023: Preisveranstaltung.
Zu Feridun Zaimoglu siehe auch: Torsten Flüh: Das Leben eine Schnäppchenjagd. Feridun Zaimoglus Discount Diaspora-Oper an der Neuköllner Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. März 2011.

[2] Thomas Kunst: Preisrede. (Zum Nachhören) Ebenda.

[3] Thomas Kunst: Zandschower Klinken. Klappentext und Anmerkungen. Suhrkamp Berlin: Suhrkamp, 2021, S. 251.

[4] Ebenda S. 249.

[5] Ebenda S. 12, 13, 14, 15, 24 …

[6] Ebenda S. 14.

[7] Ebenda S. 18.

[8] Ebenda.

[9] Heinrich von Kleist: An Wilhelmine v. Zenge, 9. April 1801. Zitiert nach: kleist-digital.

[10] Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen. Basel; Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 58.

[11] Zu den Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven siehe: Torsten Flüh: Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig. Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. August 2020.

Und ders.: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.
Und ders.: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[12] Heinrich von Kleist: An … (wie Anm.9).

[13] Siehe Kleist-Museum: Heinrich von Kleist.

[14] Heinrich von Kleist: An … (wie Anm. 9)

[15] Siehe: Torsten Flüh: Die Flaschenpflückerin und die Maschine der Geschichte. Zur Verleihung des Berliner Literaturpreises an Feridun Zaimoglu. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2016.

[16] Transkribiert nach Feridun Zaimoglu: Laudatio … (wie Anm. 1).

[17] Thomas Kunst: Kolonien und Manschettenknöpfe. Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2017, S. 11.

[18] Thomas Kunst: Preisrede. (Zum Nachhören) In: Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft: Kleist-Preis: Kleist-Preis 2023: Preisveranstaltung.

[19] Siehe: Torsten Flüh über Friedrich Kröhnkes Spinnentempel in: Torsten Flüh: Im Netz der Literaturen. Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juli 2023.

Auf dünnem Eis

Generation – Reden – Übertragung

Auf dünnem Eis

Zur gefeierten Deutschen Erstaufführung von Falk Richters The Silence an der Schaubühne

Am 19. November feierte The Silence seine Deutsche Erstaufführung an der Schaubühne am Lehniner Platz mit Dimitrij Schaad als Falk Richter in der Regie von Falk Richter. Der Erfolg ist nicht zuletzt Doris Waltraud Richter als sie selbst zu verdanken, weil der Berichterstatter in den Videoeinspielungen zunächst dachte, dass es eine tolle Schauspielerin sei, die Falk Richter im Wohnzimmer in Buchholz in der Nordheide als seine Mutter interviewe. Frau Richter wird ebenso hintergrundfüllend beim täglichen Kraulen im Freibad eingespielt. Was die Frau, die wenig spricht, die oft geschwiegen hat, für eine Energie im hohen Alter von schätzungsweise über dem 80. Lebensjahr hat! Ziemlich gegen Schluss sagt diese Frau, die kaum eine Schulbildung wegen des 2. Weltkrieges genossen hat, sie hätte vielleicht Ärztin werden wollen.

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Falk Richter verhandelt in seinem Stück über das Schweigen in seiner Familie generationelle Übertragungen, die sich im eigenen Verhalten fortsetzen und das Ich  bilden. Denn: „Die Zeit ist nicht linear.“ Die Frage der Akzeptanz als queerer Sohn durch die Eltern ist dabei ebenso wichtig, wie das politische Verhalten der Schweigenden, wenn es oft in der Formulierung einer schweigenden Mehrheit benannt wird. Falk Richter hadert mit seiner Familie, dem Vater, der Mutter und der älteren Schwester auf ebenso witzige wie tiefgründige Weise. Dramaturgisch ist die Frage nach der „Literatur, Autofiktion, Fiktion und keine Realität“ berührend und bravourös durchgearbeitet. Immer wieder gibt es noch einen Turn. Wenn z. B. der Schauspieler Schaad als Ich-Autor bemerkt, dass es mit dem Schweigen bei ihm als 1985 in der Sowjetunion Geborenen und Deutschen doch noch viel schlimmer sei.

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Die blitzschnellen Wendungen im Theatertext und seiner Performance sind gewiss eine eigene Kunst Falk Richters in seinen Stücken und Inszenierungen. Timing. Die Figur des Vaters wird von ihm wie schon im Januar 2020 mit In My Room im Gorki Theater in unterschiedlichen Konstellationen durchgespielt. 2016 trat er mit Fear an der Schaubühne[1] eine politische Debatte und einen Gerichtsprozess über die Freiheit der Kunst auf dem Theater los. Eine gewisse Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, prozessierte gegen den Theatertext. 2017 inszenierte er Elfriede Jelineks Theatertext zu Donald Trump, Am Königsweg[2], als schmerzhaft aktuelle Ödipus-Show am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Twists durchziehen Falk Richters Texte und Inszenierungen. Zugleich legen sie das Stethoskop an die aktuellen Debatten der deutschen und europäischen Gesellschaft. Zuletzt hat er in Straßburg und Kopenhagen gearbeitet und inszeniert. Mit Dimitri Schaad, der im Januar 2023 den Hamburger Ulrich-Wildgruber-Preis für seine außergewöhnliche darstellerische Arbeit erhielt, hat er mehrfach zusammengearbeitet.

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Auf der Bühne (Katrin Hoffmann) breitet sich eine Landschaft mit weißen Gartensteinen, getünchten Backsteinmauern und einer vom Wind schief gewachsenen Birke, wie man sie aus Norddeutschland kennt, aus. Eine Art Indianerzelt, vorne rechts ein Schreibpult, an dem der Schauspieler als Autor schreibt. Die Landschaft mit der Projektionsfläche für die Videos (Lion Bischof) aus Buchholz in der Nordheide mit gehobenem Eigenheim und Carport, Wohnzimmer, Schwimmbad und Wiesenlandschaft mit Baum, an dem Falk Richter lehnt, um die Mutter zu fragen, was sie in ihrem Leben gern hätte werden wollen, visualisiert zugleich ein Innenleben. Es ist ein beredtes Schweigen, das aus dem Eigenheim mit Hecken spricht. Sehr deutsch und durchaus von gewisser Repräsentanz. Deutscher Mittelstand. Unverwechselbar. Buchholz in der Nordheide liegt nicht nur in der Nähe von Hamburg, vielmehr lässt es sich zwischen Flensburg und dem Tegernsee mit einer gewissen Stilsicherheit überall finden.

© Gianmarco Bresadola

Das Individuelle und das Generationelle korrespondieren wenigstens miteinander. Das Generationelle erschöpft sich nicht in der Generation als Altersgruppe wie die der Mutter, vielmehr hat es eine oft schwer abzugrenzende Geschichtlichkeit. Ganz genau lässt sich die Zugehörigkeit zu einer Generation, wie sie aktuell von der Generation Z oder Letzten Generation gesellschaftlich bestimmt wird, nicht eingrenzen. Generation Golf, Generation Z, Boomer etc. sind generationelle Schlagworte und Kampfbegriffe. Man könnte in Deutschland auch von einer Generation Tschernobyl und Generation AIDS sprechen. COVID, Sars-Cov-2 hat es bedenkenswerterweise noch nicht zur Generationalität gebracht. Eine Generation lässt sich schwer verallgemeinern.[3] Die Traumatisierung durch fast 3 Jahre COVID-Pandemie, also leben in Angst und Schrecken, war nun wirklich nicht ohne. Kommt auch bei Falk Richter nicht vor. Irgendwie weggerutscht. Oder zu frisch? Nie geht das Individuelle ganz im Generationellen auf und viceversa.
„In meiner Familie wurde unentwegt geredet, und doch war all das Reden wie ein GROSSES SCHWEIGEN und dieses Schweigen konnte unerträglich laut werden. Ich saß oftmals da, müde, kraftlos und sagte nichts mehr, da alles, was ich erzählte, alles, was ich war, an diesem Ort falsch erschien, und ich verschwand, war körperlos nicht mehr lebendig, wie ausgeschaltet.“[4]   

© Gianmarco Bresadola

Falk Richter unternimmt eine Art Forschungsreise in das „GROSSE SCHWEIGEN“, weil es ihn mit dem Gefühl des „falsch“-seins verletzt hat. Es bleibt unklar, ob seine Mutter wirklich weiß, was ihr Sohn macht und in welcher Liga – „Schaubühne, Bayern München der deutschen Theater“ – er spielt. Sie erklärt sich das „GROSSE SCHWEIGEN“ am ehesten noch als ihre Normalität, in der sie lebte und lebt. Falk Richter zeigt dafür im Video ein deutliches Unverständnis. Im Lebensabend oder wie man das Alter über 80 nennen will, wenn es einem denn vergönnt ist, so alt zu werden, mag es erscheinen, dass man nicht anders hätte leben können und wollen. Zumindest Falk Richters Mutter, aber ganz bestimmt nicht nur bei ihr, wird eine Ratlosigkeit darüber formuliert, wie es denn hätte anders sein können. Ein Protest war bei den 1933 und später Geborenen nicht vorgesehen. Vereinzelt gab es ihn. Aber dann störte er in der Normalität.
„Ein Beispiel: das Auftauchen der Kriegskinder. Ihr Schicksal wurde 60 Jahre nach Kriegsende erstmals von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Vorher hatten sie im gesellschaftlichen Bewusstsein keinen Platz. (…) Eine Redakteurin fragte mich, als wir über den Kongress sprachen, ob es sich hier nicht um ein Modethema handeln könne, und mir entfuhr der Satz: »Wer beschäftigt sich schon freiwillig mit so einer Scheißzeit!«“[5]  

© Gianmarco Bresadola

Das Private wird von Falk Richter als politisches formuliert und analysiert. Genau in dieser Form des Eigenheims im bundesdeutschen Mittelstand. Dieses Private reicht bis in das Sexuelle und die sexuellen Praktiken. Der Auftrag der familialen Reproduktion wurde gleichsam als Befehl akzeptiert und ausgeführt. Wie weit reichte er? Sagen wir ein junger Soldat G. wird in Festungshaft gesetzt wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen und darf sich „im Feld“ unter signifikanten Kriegsverletzungen bewähren.[6] Doch G. wählt nach dem Krieg keine andere Lebensform als die heterosexuelle, macht als Literaturmensch eine Verlagskarriere mit der Schiller-Gesellschaft, zeugt Töchter und unterstützt das Calligrammes von Fritz Picard in Paris.[7] Er wird politisch aktiv in der CDU und tanzt mit seiner Gattin auf dem Bundespresseball in Bonn am Rhein stolz an der Seite von Helmut Kohl. Er sucht Kontakt zu jüngeren Männern. Als Landrat in den neuen Bundesländern beendet er seine politische Karriere.
„Die »schweigende Mehrheit«, das ist ein bequemes Konstrukt, in dem viele der Demokratie abträgliche Phänomene versteckt sind, wie: die Erfahrung der Undurchschaubarkeit politischer Prozesse, die soziale Kontrolle, die politisches Engagement schon in seinen Anfängen negativ bewertet, die erlernte Hilflosigkeit, mit der sich abzufinden viele Menschen früh gelernt […].“[8]

© Gianmarco Bresadola

Wahrscheinlich wurde nie lauter geschwiegen als in der Ära Kohl 1982-1998. Insofern ist die generationelle Erzählung G.s nicht nur als Selbsterzählung exemplarisch. Die Normalität besteht eben in der Erfüllung einer Norm, so obsolet sie auch geworden sein mag. Kohl, möchte ich formulieren, speiste seine dreimalige Wiederwahl aus einem Schweigegebot, dessen breiten Konsens er sich vergewissern konnte. Alte und älteste Netzwerke wie Burschenschaften konnten sich nach `68 konsolidieren, ohne auch nur in Frage gestellt zu werden. Es ist nicht zuletzt jene Zeit der Eigenheime, die Falk Richter anspricht, wenn er in einer Videosequenz von seiner ersten Liebe für einer Jungen erzählt, die bei den Eltern nur auf Unverständnis, Ablehnung, ja, Abwehr stößt. Warum? Nach `68 und der Sozialliberalen Koalition gab Kohl die Devise aus: Ihr müsst Euch nicht ändern! Schweigt weiter! Pennt weiter. – Dafür erhielt er seine Mehrheiten. Plötzlich wurde `89 sogar noch G. gebraucht. Die Mehrdeutigkeit des gebotenen Schweigens formuliert ebenso Falk Richter:
„»>To silence someone< beschreibt im Englischen den Prozess, jemanden zum Schweigen zu bringen, es ist ein aktiver Vorgang: Nicht-Sprechen, das Schweigen muss aktiv hergestellt werden. >To silence someone< ist ein gewaltsames Unterdrücken einer unliebsamen Stimme. Jemandes Geschichte soll nicht erzählt werden, jemandes Zeugenschaft soll nicht gehört werden, jemandes Erinnerung soll ausgelöscht werden.«“[9]  

© Gianmarco Bresadola

Falk Richter beherrscht es, als Autor und Regisseur Kernfragen der politischen und wissenschaftlichen Debatten en passant so zu formulieren und servieren, dass die geschulten Zuhörer*innen allenfalls getriggert werden und alle anderen einfach nicht hinhören müssen. Die Frage nach der Unterscheidung von „Literatur, Autofiktion, Fiktion“ und „Realität“ bleibt vage. Ganz ohne „Fakten“ erodiert wie in den Narrativen von Donald Trump jegliche Belastbarkeit von Wissensformationen. Die Rettung vor den unablässigen Lügen des Präsidenten Trump bestand nicht allein in den „Fakten“ beispielsweise zum Ursprung des Sars-CoV-2 bei Menschen durch Zoonose, was tatsächlich bis auf den heutigen Tag nicht einwandfrei bewiesen werden konnte, sondern in der klaren Formulierung eines harten Nichtwissenkönnens. Denn Trump wollte „unbedingt eine Frage beantworten, weil er es als Demonstration seines Wissens und seiner Macht praktiziert, (einfache) Antworten auf komplexe Fragen zu geben“.[10]
„Egal, wie sehr ich mich darum bemühe, an den Fakten entlangzuschreiben, ehrlich und wahrhaftig zu sein? Ist all das hier eben doch nur … Literatur, Autofiktion, Fiktion und keine Realität?“

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Die Realität ist ein unzulängliches Argument. Denn die Realität der Eltern Richter war die Reproduktion. Gerade die COVID-Pandemie hat vorgeführt, dass eine nicht geringe Zahl von Menschen einer gegensätzlichen Realität folgen können, die als Verschwörungstheorien prominent wurden. Sagen wir ruhig, dass sich Millionen nicht impfen ließen, weil sie eine andere Realität wahrnahmen, in einer anderen Realität leben. Fakten und Argumente selbst nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation mit Beatmung änderten überhaupt nichts an der Realität dieser Menschen. Sie wollen sich weiterhin nicht impfen lassen, weil … Deep State etc. Trump hat nie zugegeben, dass er eine Infektion als Präsident hatte. Es wird weiterhin gern mit Fakten und Realität im Unterschied zu Literatur, Autofiktion und Fiktion argumentiert, gesprochen. Doch das dünne Eis der Fakten und Realität für eine deutsche und europäische Gesellschaft hat Risse bekommen, das ist während der Pandemie offenbar geworden. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Ebenso werden Putins Angriffsdrohung auf die westliche Zivilisation, der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine, die UN-Charta wurde gebrochen, der Hamas Terror an israelischen Zivilisten und die Politik der Auslöschung des Staates Israel als Repräsentanten westlicher Werte geleugnet. Realität? Welche?

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Falk Richters The Silence mit Dimitrij Schaad ist queer theater, owohl es über weite Strecken gar nicht so scheint. Eine Dramaturgie des Queeren ist einerseits immer noch nicht selbstverständlich. Andererseits hätte Falk Richter vielleicht gar nicht an die Debatte der Kriegskinder und der Geschädigten anknüpfen können, wenn er nicht selbst eine queere Haltung eingenommen hätte. Schwule Orientierung ist immer noch einer Rechtfertigung gegenüber der Norm unterworfen. Warum anders – und nicht nach der Norm? Nach der Norm lebt es sich doch bisweilen bequemer und sicher. Man wird auf der Straße nicht angepöbelt oder gleich auf der Sonnenallee zusammengeschlagen, weil ein Palästinenser einen Iraker für schwul hält. In den Debatten der Community wird es bestimmt Stimmen geben, die den Autor und Regisseur viel zu sehr einen Cis-Mann finden. Also einem biologischen Mann, der sich als Mann artikuliert. Das hieße dann in etwa, dass er nicht queer genug agiert. Doch Richter und Schaad ebenso wie Schaad als Richter mit Plattensammlung, also Vinyl – eURYTHMICs – Sweet dreams … – legen es auch darauf an, dass sich nicht nur queere Aktivist*innen mit dem Thema beschäftigen können. – Ein großartiger, abwechslungsreicher und berührender Theaterabend sozusagen beim Bayern München.

Torsten Flüh

schaubühne
The Silence
von Falk Richter
Regie: Falk Richter
weitere Aufführungen   
17. Januar 2024 (Ausverkauft)
18. Jaunar 2024 (Ausverkauft)


[1] Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016.  

[2] Ders.: Oedipus‘ Tragedyshow. Falk Richter inszeniert Elfriede Jelineks Am Königsweg in der Uraufführung als Tragedyshow. NIGHT OUT @ BERLIN 1. November2017.

[3] Siehe zur Frage der Generation auch: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[4] Falk Richter: The Silence. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The Silence. (Programmheft) Berlin, November 2023, S. (ohne Seitenzahl) S. 14.

[5] Sabine Bode: Kriegsspuren: Die deutsche Krankheit German Angst. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … S. 9.

[6] Die hier kolportierte Erzählung, oral history, aus den 80er Jahre gibt einen Wink auf die Praktiken der Verfolgung in der Wehrmacht in Korrespondenz mit der Polizei: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[7] Siehe: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In. NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2023.

[8] René Reichel: Die dunkle Seite des Schweigens. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … [wie Anm. 4] S. 4-5.

[9] Falk Richter: The Silence. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … [wie Anm. 4] (ohne Seitenzahl) S. 26.

[10] Siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werde. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

Stark abrasiert

Soldat – Ordnung – Krieg

Stark abrasiert

Zu Bridge Marklands bemerkenswertem woyzeck in the box

In der Box sitzt der Hauptmann mit dem Handtuch um den Hals und lässt sich über die Zeit quatschend vom Soldat Woyzeck mit dem Messer die Stoppeln abrasieren, als sei es King Cut auf der Gerichtstraße oder Salon Al Amir auf der Sonnenallee. Ein Soldat rasiert seinen Hauptmann, der ihm seine Lebenszeit vorrechnet. Er soll langsamer rasieren, weil die genaue Zeiteinteilung, wie sie sich in den 1830er Jahren aus den neuen Fabriken, Maschinenbauanstalten und Eisengießereien in das Leben fräst, den modernen Menschen strukturiert und diszipliniert. Was sollte der Hauptmann auch mit den 10 Minuten anfangen, die ihm von Woyzeck geschenkt würden. Das Leben des Hauptmanns wäre buchstäblich aus dem Takt geraten. Das Uhrenticken aus Madonnas Song Hung Up unterstreicht die Angst des Hauptmanns um sich selbst.

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Der moderne Mensch hängt vom Timing nach dem Uhrenticken ab.[1] Woyzeck ist Soldat und ein Exemplar dieses um 1800 neuartigen Menschen. Wer wird in Deutschland Soldat?! Wer ist „Goldstaub“? Heute gibt es Friseure in Deutschland und Berlin, die als Soldaten gegen den IS, Islamischen Staat, gekämpft haben. Sie sind traumatisiert, wie es womöglich Woyzeck war. Aber wer macht sich über die Traumatisierung von Soldaten Gedanken? Als Georg Büchner sein Drama Woyzeck schrieb, entwickelten sich gerade die Kenntnisse von psychischen Verletzungen und Erkrankungen. Ein Trauma, das ein eigenes Timing gegen die neue Zeiteinteilung entwickeln könnte, das immer wieder zu ungünstigen Zeiten zum Zuge kommt, ließ sich kaum denken. Woyzeck ist, wie man sagt, mundfaul und rasiert hastig. Welche Uhr tickt in Woyzeck? – Und welche in Dir, liebe Leser*in?

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Bridge Markland hat mit ihrem classic in the box-Format als One Woman-Show mit Puppen ein eigenes Genre und Werk geschaffen: leonce und lena – in the box, ratten – in the box, Pension Schöller – in the box, nathan – in the box. Seit dem 24. November gibt es jetzt woyzeck in the box innerhalb von 75 Minuten. Das ist ganz große Kunst im Einzelformat der box, die höchst aufwendig und hochprofessionell produziert wird. Durch die ständigen Kostüm-, Rollen- und Geschlechterwechsel ist das Format drag und queer. Die Geschlechter werden im Konzept, Spiel und in Co-Regie von Bridge Markland mit dem Dramaturgen und Co-Regisseur Nils Foerster herausgearbeitet. Eva Garland hat wiederum bestechend prägnante wie charakterstarke Puppen und Kostüme gefertigt. Mehrere Schauspieler*innen haben die Rollen eingesprochen. Die Kombination aus Puppen, Popmusik und Playbacktechnik macht Marklands Klassikinszenierungen einzigartig. Die Puppen beginnen zu leben und zu erzählen.

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In Georg Büchners Woyzeck geht es um den Soldaten als Existenzform und das Konzept Mann in der Moderne, was Markland als queere Künstler*in unvergleichlich spielerisch vorführt. Im Wechsel der Geschlechter z.B. zwischen Woyzeck und Marie werden diese als Konstruktionen aus Einzelanfertigung und Sprache vorgeführt. Soldaten in Uniform werden in ihrer Erscheinung oft begehrt. Woyzeck ist ein einfacher Soldat, Infanterie, in der Hierarchie der Armee. Soldaten wünschen sich wie Woyzeck eine Familie, die sie kaum ernähren können, Frieden, Harmonie und Treue von der Frau. Zugleich führen Soldaten wie nun z.B. russische in der Ukraine oder anderswo andere durch Vergewaltigungen von Frauen Krieg. In der Schaubühne wurde das mit ukrainischen Schauspielern im Format Dokumentartheater im September 2022 zum Thema. Die Figur des Soldaten ist komplexer, als gemeinhin gedacht wird.

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Die Figur des Woyzeck als Soldaten hat über die mehr als 100jährige Aufführungsgeschichte mancherlei Wandlungen z.B. durch Klaus Kinski erfahren. Bei Bridge Markland ist Woyzeck nicht nur eine tumbe Figur, sondern auch ein Rebell, was das Collagieren mit Popmusik wie dem Dance-Pop von Hung Up, aber auch der Neuen Deutschen Härte von Eifersucht der Band Rammstein oder dem Post-Punk von Z.N.S. von Einstürzende Neubauten herausstreicht. Mit dem melancholisch-chansonesken Am ersten Sonntag nach dem Weltuntergang von Element of Crime aus dem Jahr 1994 wird die von Rammstein verstärkte Eifersucht – „Es kocht die Eifersucht“ – Woyzecks nicht zuletzt wegen der zu entrichtenden GEMA-Gebühren zehntelsekundengenau verstärkt.
„Woyzeck: Eine Sünde so dick und so breit – es stinkt, daß man die Engelchen zum Himmel hinausräuchern könnt‘!
(Element of Crime) Grausam ist der Haifisch und grausam warst auch Du.“

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Der Frauenmörder Woyzeck tötet Marie aus Eifersucht. Das hat mit seinem Bild von Frauen zu tun, das heute ein anderes sein sollte. Doch obwohl junge Männer heute durch die MeToo-Debatte sensibilisiert sein sollten, kam es im Hamburger Stadtpark am 19. September 2020 zur Vergewaltigung einer 15jährigen Frau durch 9 bzw. 10 junge Männer, die ihre Männlichkeit oder „Natur“ ausleben wollten.[2] Männlichkeitsphantasien traumatisieren und töten immer noch Frauen. Woyzecks Frauenbild ist kaputt, weil es in der Welt der Soldaten eine Treue verlangt, die nie mit der Soldatenexistenz und den Kriegen kompatibel war und immer eine Macht des Mannes gegenüber Frauen ausübte. Was machen Krieg, Gewalt und Hierarchien mit den Menschen? Wie weit lässt sich der Mensch beispielsweise heute mit syrischem Captagon zum Monster machen? Und was passiert mit den Menschen, wenn der Krieg selbst monströs wird?

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Kriege werden vermeintlich strategisch und durchdacht geführt. Einerseits gibt es spätestens seit dem Überfall der Russischen Armee durch Putins Befehl auf die Ukraine eine Unzahl von Experten, die in den Medien kluge Vorhersagen machen. Andererseits dauert der ukrainische Verteidigungskrieg nun schon länger, als gedacht. Sogar die einst schärfste Waffe Putins, der Söldnerunternehmer Jewgeni Prigoschin, wurde von ihm wie Ikarus am Himmel abgeschossen. Einerseits war der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit allen zu erwartenden Konsequenzen ausgearbeitet und geplant. Die Hamas konnte nicht erwarten, dass sie mit dem Mord- und Entführungskommando an Frauen und Kindern Israel zur Kapitulation zwingen könnte. Sie speiste die Verluste der Menschenleben in Gaza in ihre Planungen ein! Der Austausch von Geisel gegen palästinensische Straftäter*innen in israelischen Gefängnissen, war von Anfang an als Strategie der medialen Verwischung von Grenzen eingeplant. Trotzdem läuft den Hamas-Oberen in Katar die Planung aus dem Ruder. Um 1830 hatten Europa und Georg Büchner die Feldzüge Napoleons im Spannungsfeld von Nation und Chaos, Ordnung und Zufall, Revolution und Code Civil erlebt.[3]

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Soldaten haben seit Napoleons Feldzügen eine Identität, weil diese nicht nur für eine Nation, sondern nach dem Titel Empereur des Française[4] (Kaiser der Franzosen) für das Volk als dessen Verkörperung kämpften. Das veränderte des Soldaten Leben und dessen Kampfbereitschaft. Seit 1804, dem Jahr der Kaiserselbstkrönung, kämpften die Infanterie-Regimenter hinter den Standarten mit der Aufschrift VALEUR ET DISCIPLINE und der Einteilungsnummer auf der einen und EMPEREUR DES FRANÇAISE und der Nummer auf der anderen Seite.[5] Was sollte dieser Wert (valeur) sein? Das hatten gleich mehrere Enzyklopädisten, unter ihnen Jean-Jacques Rousseau 1751 für die Erstausgabe der Encyclopédie mit dem Artikel VALEUR formuliert:
„Voulez-vous rendre une nation valeureuse, que toute action de valeur y soit récompensée. Mais quelle doit être cette récompense ? L’éloge & la célébrité. Faites construire des chars de triomphe pour ceux qui auront triomphé, un grand cirque pour que les spectateurs, les rivaux & les applaudissemens soient nombreux ; gardez-vous sur-tout de payer avec de l’or ce que l’honneur seul peut & doit acquitter.”
(Willst du eine Nation stolz machen, so soll jede wertvolle Tat belohnt werden. Aber was soll diese Belohnung sein? Lob und Berühmtheit. Baue Triumphwagen für die, die gesiegt haben, einen großen Zirkus, damit Zuschauer, Rivalen und Beifall zahlreich sind; hüten Sie sich vor allem davor, mit Gold für das zu bezahlen, was nur die Ehre bezahlen kann und soll. T.F.)[6]

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Die Frage nach dem Wert, VALEUR, wie er mit dem Motto verteidigt und versprochen wird, verändert sprachlich viel. Denn der Soldat wird nunmehr nicht nur zum Soldempfänger, vielmehr kämpft er für den Wert der Nation, die aus der Revolution hervorgegangen war. Ein revolutionärer Befreiungsgestus wird transformiert. Nachdem Napoleon am 27. Oktober 1806 durch das Brandenburger Tor in die Hauptstadt Preußens einmarschiert war, brauchte König Friedrich Wilhelm III. noch fast sieben Jahre, um im Gegenzug bei Karl Friedrich Schinkel einen Orden für jeden Soldaten, der am Befreiungskrieg 1813 teilnahm, in Auftrag zu geben. Das Eiserne Kreuz als Kriegsteilnehmerorden veränderte schlagartig die Kampfmoral der preußischen Soldaten. Gleichzeitig löste er das Finanzierungsproblem des Staates. Die Frauen gaben Gold(!) für Eisen. Mit dem Eisernen Kreuz war die Nation materialisiert worden. Die Produktion in der Königlich Preußischen Eisengießerei an der Invalidenstraße kam allerdings nicht mit dem seriellen Guss des Ordens hinterher. Doch dadurch wurde er nur mehr wert. Bekanntlich wurde das Eiserne Kreuz im 1. und 2. Weltkrieg massenweise hergestellt, vergeben und missbraucht, was eine gewisse Entwertung zu Folge hatte. 

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Wir wissen nicht, wie stark Woyzeck in Georg Büchners Schreiben mit Danton‘s Tod verwoben ist.[7] Vermutlich schrieb er kurz zuvor das Revolutionsdrama unter Verarbeitung etlicher, übermittelter Reden. Doch damit hatte sich Büchner nicht zuletzt in die Brüche der Französischen Revolution eingearbeitet. Der Soldat Woyzeck befindet sich an einer dieser Bruchstellen. Zugleich wird er zum Objekt einer neuartigen Wissenschaft vom Menschen, insbesondere der Humanmedizin. Die Arztszenen sind spektakulär. Der Arzt verlangt für die Forschung am Menschen noch mehr Disziplin, als bereits mit den Bannern – VALEUR ET DISCIPLINE – versprochen und gefordert worden war. Der freie Wille als großes Versprechen der Revolution wird vom Doktor der Disziplin unterworfen, die soweit geht, dass Woyzeck nicht pinkeln darf, wenn er es muss bzw. die „Natur“ es von ihm fordert. Bridge Markland kontrastiert Woyzecks Berufung auf die Natur ironisch mit Ludwig van Beethovens akustischer Konzeption von Natur in seiner Symphonie Nr. 6, der sogenannten Pastorale, von 1807/1808. Freiheits- und Naturbegriff schwanken. 1800 wird heute mit dem Beginn der Industrialisierung als Schwelle des Anthropozän angesetzt.   

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In Büchners Woyzeck bleibt der Soldat bedenkenswert heimatlos und ohne Orientierung. Büchner knüpfte mit seinem Drama an die historischen Narrative von Johann Christian Woyzeck an, der 1824 in Leipzig auf dem Marktplatz durch das Schwert hingerichtet worden war.[8] Johann Christian wird als eine heimatlose umherirrende Figur beschrieben. So lässt sich der junge Leipziger als 26jähriger 1806 in Stralsund als Soldat anwerben. 1821 ersticht er in Leipzig die Witwe Woost. Johann Christian Woyzeck entspricht dem alten Modell des heimatlosen Soldaten, der aus wirtschaftlicher Not in eine mehr oder weniger gut organisierte Armee eintritt. In Bezug auf den Krieg in der Ukraine lässt sich zumindest sagen, dass die Soldatinnen und Soldaten der Ukraine vor allem deshalb im Widerstand gegen die zahlenmäßig überlegene russische Armee erfolgreich sind, weil sie sich als Verteidiger*innen ihrer Nation sehen.
„Woyzeck: Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat – Da setzt seinesgleichen auf die Moral! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Wenn wir in den Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.“

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Im dichten Dramentext Georg Büchners überschneiden sich mehrere Ebnen, die von Bridge Markland und Nils Foerster im zehntelsekundenschnellen Tempo durchgespielt und verstärkt werden. Einerseits gibt es die Ebene des Soldaten, wie sie sich unter den Bedingungen der Bundeswehr als Berufsarmee kaum noch denken lassen, wenn die Wehrbeauftragte Eva Högl von an der Bundeswehr Interessierten am 10. November 2023 als „Goldstaub“ spricht.[9] Allerdings existieren sehr wohl gleichzeitig z.B. in der Hamas Bedingungen weiter, die den Tod einkalkulieren. „Moral“ und völkerrechtliche Regeln werden zu einer Frage des Geldes erklärt. Andererseits schimmert mit dem Geld und der Armut eine soziale Frage durch, die die Verhältnisse zwischen Fürsten, Klerikern und dem Volk anschneidet. Wenig später wird sich Woyzeck als Angehörigen der „gemeine Leut“ bezeichnen. Weiterhin wird die „Uhr“ von Woyzeck selbst als eine Art Herrschaftsinstrument formuliert. Mit einer Uhr lassen sich Befehle erteilen. Die Uhr, ob Armbanduhr, Fabrikuhr oder Kirchturmuhr, wird zur Ordnungsmacht der Moderne.
„Woyzeck: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, aber wenn ich ein Herr wär und hätt‘ ein‘ Hut und eine Uhr und könnt‘ vornehm reden, ich wollt‘ schon tugendhaft sein. Aber ich bin ein armer Kerl!“ 

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Woyzeck ist als Drama Fragment geblieben. Markland und Foerster lassen das Drama am Teich enden, wenn Woyzeck in höchster Verwirrung nach dem Mord an Marie ist. Durch das Spiel mit den Puppen und den Kostümwechseln sowie den Popmusikeinspielungen rückt der Text stärker in den Vordergrund. Mit der Popmusik wird eine Art soziales Echo eingespielt. Das Echo reagiert auf Worte und Begriffe mit der aktuellen Popkultur. Durch die Wechsel bleibt das Publikum nicht an Schauspieler*innen hängen. Bridge Markland beherrscht mit ihrer Verwandlungskunst das Schauspiel so perfekt, dass das Publikum gar nicht erst an einer besonders verehrten Schauspielerin hängen bleibt. Auf diese Weise werden Ebenen des Büchnerschen Textes allererst freigelegt, hörbar. Das vermeintlich so trostlose Fragment ohne richtigen Schluss wird gar witzig.

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Witz könnte man sagen, entsteht dann, wenn plötzlich Texte kollidieren. Plötzlich wird im Publikum gelacht. Das muss gar nicht lustig sein. Das ist nicht Comedy, wie sie im Fernsehen mit Timing, Pausen und einem Nicken praktiziert wird. Comedy ist immer vorgeschrieben. Die Lacher sind erwartbar. Witz entspringt unerwarteten Kollisionen. Dass Woyzecks Eifersucht mit Rammsteins „Es kocht die Eifersucht“ quasi überboten wird, kann ein Witzmoment sein. Die Eifersucht eines „deutschen“ Mannes wird nicht nur zufällig von Till Lindemann formuliert. Und die Eifersucht hat zugleich etwas mit einem Selbstbild zu tun. Gerade dann, wenn sich der Eifersüchtige als defizitär wahrnimmt. Aber das alles weiß niemand im Moment des Witzes, muss aber kurz lachen, bevor der Text ihn davonreißt. Das ist eine besondere Kunst, die Bridge Markland und Nils Foerster mit woyzeck in the box auf eine weitere Höhe gebracht haben.

Torsten Flüh

Bridge Markland
woyzeck in the box
weitere Termine:
Brotfabrik
Caligariplatz 1
13086 Berlin
31. Januar 2024 – 20:00 Uhr
1 Februar 2024 – 20:00 Uhr


[1] Zum neuartigen Zeitregime siehe auch: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[2] Christoph Heinemann und Elke Spanner: Was geschah im Stadtpark? In: Die Zeit vom 30. November 2023, S. 8.

[3] Zum Konzept der Nation und farbige Soldaten Napoleons in Berlin siehe: Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[4] Die französische Revolution mit ihrem Begriff der Nation als Sammlung aller Franzosen schimmert im Titel durch. Er geht aus dem revolutionären Konsulat auf den Kaiser über, um auf diese Weise die Revolution und ihre Legitimation zu transformieren. Der Kaisertitel Napoleons ist eine geschickte Operation, die die Armee verändert, ohne dass das offensichtlich wäre. Siehe Wikipédia: Empereur des Français.

[5] Siehe: The Empire of France: Infantry 1804 Pattern.

[6] Jaucourt, Rousseau, d’Argenville, Pezay; L’Encyclopédie, 1re éd. 1751 (Tome 16, p. 819). (Wikisource)

[7] Zu Danton‘s Tod siehe: Torsten Flüh: Genießen und Geschichte. Claus Peymanns Danton’s Tod von Georg Büchner am Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2012.

[8] Siehe Wikipedia: Johann Christian Woyzeck.

[9] Presse- und Informationsamt: Parlament: Wehrbeauftragte: „Wer mit der Bundeswehr liebäugelt, ist Goldstaub“ – Interview, 10.11.2023.

Verstörend statt bezaubernd

Bruch – Material – Bild

Verstörend statt bezaubernd

Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie

Der Berliner Geschichtsbildmaler Anton von Werner und Kaiser Wilhelm II. erwarteten auf Empfehlung des international berühmten norwegischen Landschaftsmalers Adelsteen Normann am 5. November 1892 im Ehrensaal der Rotunde im Haus des Architektenvereins in der Wilhelmstraße 92/93 malerische Fjordansichten des noch unbekannten Edvard Munch. – Wenn Sie schon einmal von der Glienicker Brücke rechts hinunter die Schwanenallee zum Neuen Garten gegangen sind, dann haben Sie neuerdings Kaiser Wilhelms Norwegen mit dem Bootshaus Kongnæs im Drachenstil rekonstruiert gesehen. Das Norwegen der Fjorde und Drachenstil-Villen, wie sich Normann gerade eine am Sognefjord hatte bauen lassen, gaben Wilhelm II. Orientierung und beflügelten seine Fantasie.

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Das Kaiserreich liebte den um 1870 in Schweden konstruierten fornnordisk, Altnordischen Stil, ein nordischer Historismus, wie er im Drachenstil und noch 1911 in der norwegischen Friedhofskapelle aus Holz in Stahnsdorf zum Zuge kommen sollte. Adelsteen Normann wurde 1917 nach seinem Tod an der Spanischen Grippe unweit der altnordischen Stabkirche auf dem Friedhof Stahnsdorf beigesetzt. Der Industrie- und Imperialismus-Kaiser Wilhelm II. fuhr seit 1889 mit seiner Staatsyacht Hohenzollern jeden Sommer in die Fjorde, wo das Idyll nicht durch die bereits in Berlin fortgeschrittene Industrialisierung gestört wurde. 1891/92 ließ er die „Ventehalle“ am Jungfernsee nach Plänen des norwegischen Drachenstil-Architekten Holm Hansen Munthe errichten. In dieses imaginäre Norwegen platzten 55 Bilder von Edvard Munch, die wie Schlünde von Drachen in neuartiger Materialität des Farbauftrags einen Bruch in der Geschichte der Malerei rissen.

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Der Bruch Edvard Munchs mit der Geschichte der Malerei, wie er am 5. November 1892 in Berlin öffentlich wurde, ließ sich nicht mehr reparieren. Er riss Gräben in den Verein Berliner Künstler. Der Bruch wurde als „eine Verletzung der Gastfreundschaft“ debattiert[1], wie die Kuratorin der Ausstellung, Stefanie Heckmann, im Katalog schreibt. „Viele Mitglieder des Vereins und das Publikum waren schockiert von den Bildern, die unter anderem als roh, skizzenhaft und unfertig empfunden wurden.“[2] Anton von Werner setzte durch, dass die anstößige, die organisierten Maler beleidigende, gleichwohl revolutionäre Ausstellung am 12. November 1892 geschlossen werden musste. Der Streit um die Moderne hatte in Berlin begonnen. Edvard Munch und Berlin als aufstrebender Ort von Kunstdebatten und -handel waren mit einem Schlag bekannt geworden. Berlin wurde bis 1933 mit rund 60 Gruppen- und Einzelausstellungen zum Dreh- und Angelpunkt der Munch-Rezeption.

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Am Schluss präsentiert die von Stefanie Heckmann kuratierte Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie, die noch bis 22. Januar 2024 unter strikten Zeitfensterregeln des MUNCH-Museums in Oslo zu sehen ist, den sogenannten „Reinhardt-Fries“ aus dem Bestand der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Denn die Berlinische Galerie besitzt selbst keine Gemälde von Edvard Munch. Die Neue Nationalgalerie, das Kupferstichkabinett, die Stiftung Stadtmuseum Berlin, zahlreiche Leihgeber*innen und vor allem das MUNCH in Oslo bestreiten den größten Teil der Exponate. Aus dem eigenen Bestand kann die Berlinische Galerie mit Walter Leistikows Fjordlandschaft (um 1897), Hans Hermanns Blühende Bäume (1894) und Ludwig Hofmanns Die rosa Wolke (um 1903) drei Gemälde von in Berlin um 1900 arbeitenden Malern beitragen. Die Ausstellung stellt u.a. über den großformatigen Sommerabend in den Lofoten (1891) von Adelsteen Normann aus der Nationalgalerie Berlin Kontraste und Kontexte zu Edvard Munchs Gemälden her.

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Die Berlinische Galerie wurde 1975 als Verein von in Berlin engagierten und kunstinteressierten Bürger*innen gegründet. Sie ist seit 1994 ein Museum des Landes Berlin. Gelegentlich wird sie in der reichhaltigen Berliner Museumslandschaft übersehen, so wie jüngst ein Freund sich per Taxi in die Spandauer Straße chauffieren ließ, weil er meinte, die Berlinische Galerie habe dort ihren Sitz. Tatsächlich liegt sie seit 2004 unweit des Jüdischen Museums in der Alten Jacobstraße 124-128 im umgebauten, dem kalten Krieg geschuldeten, ehemaligen Fensterscheibenlager der Stadt Berlin. Insofern ist der von Jörg Fricke umgestaltete Industriebau zum Museum mit seinen rund 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zugleich ein Berliner Geschichtsbau. Die einst kunstinteressierten Sammler*innen der 70er Jahre und später konnten nie einen Munch erwerben. Walter Leistikow, Ludwig Hofmann und Hans Hermann waren erreichbarer. Mit der Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in Kooperation mit dem Munchmuseet Oslo ist dem Haus unter der Leitung von Thomas Köhler ein Coup geglückt. Die Ausstellung soll nun 2026 in Oslo gezeigt werden.

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Stefanie Heckmanns Ausstellungskonzept verspricht zwar mit dem „Zauber des Nordens“, indem sie an eine Formulierung von Stefan Zweig von 1925 anknüpft[3] eine Art Norwegenreise, aber wie schon bei den Fjorden steht das Berlin des Kaiserreichs und später der Weimarer Republik im Mittelpunkt. Berlin, genauer „Gustav Türkes Weinhandlung und Probierstube Unter den Linden, Ecke Neue Wilhelmstraẞe“[4] wurde nach August Strindbergs dichterischer, möglicherweise alkoholisierter Wahrnehmung „Zum schwarzen Ferkel“. Da die skandinavische Boheme in der Weinhandlung oft recht freizügig verkehrte – Strindberg, Frauen und Männer sollen auf dem Tisch getanzt haben -, könnte ebenso der Begriff der unschicklichen, sexualisierten Ferkelei[5] zur Benennung des Treffpunktes und Kunstdebattenraumes beigetragen haben. „Über der Tür hing ein Weinschlauch, den er (Strindberg, T.F.) im Dunkeln für ein Ferkel gehalten hatte.“ Nach Heckmann handelte es sich bei dem „Kreis um Munch, der sich in Berlin von etwa November 1892 bis September/ Oktober 1894 – nicht nur im Schwarzen Ferkel – traf,“ um „keine feste Gruppe“.[6]

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Das Schwarze Ferkel wurde in der nordischen Kunst-, Literatur- und Munchgeschichte mehr oder weniger ein geflügeltes Wort der initialen Berlin-Erlebnisse. Am 20. Januar 1893, etwas mehr als 2 Monate nach seiner kolossal im Verein und mehr noch in den in Berlin erscheinenden Zeitungen debattierten Ausstellung im Architektenhaus, schrieb Edvard Munch als eine Art Star der Moderne an seine Schwester Inger: „Wir Skandinavier – [August] Strindberg, Gunnar Heiberg, [Holger] Drachmann und ich und ein gewisser [Adolf] Paul sind fast immer zusammen und sitzen in einer kleinen Weinstube beieinander.“[7]  Es kamen der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski und seine Frau Dagny Juel Przybyszewska zu den Skandinaviern im Schwarzen Ferkel hinzu. 1893 malte Munch Dagny in tiefem Nachtblau mit Muff und hellem Gesicht mit feinem Lächeln.[8] Przybyszewski und Strindberg wurden gezeichnet und letzterer im Medium Druckgrafik mit verwirbelter Haarpracht zur Modernitätsikone.

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Der heute kaum mehr bekannte Schriftsteller Przybyszewski, der zunächst Medizin mit Schwerpunkt Neurologie in Berlin studiert hatte, verknüpfte die Malerei Munchs auf bahnbrechende Weise mit der neuartigen Psychologie. Der Berliner Debatten-Kosmos erlaubte es plötzlich, über Bilder oder Gemälde anders zu schreiben, als es beispielsweise in der „Zeitungskritik“ üblich war. Der kunstinteressierte Medizinstudent traf auf den Maler Edvard Munch. „Kurz zuvor hatte Przybyszewski, nachdem er aus der medizinischen Fakultät in Berlin ausgeschlossen worden war, die Schrift Zur Psychologie des Individuums I über zwei „Rauschkünstler“, den französisch-polnischen Komponisten Frédéric Chopin und den Philosophen Friedrich Nietzsche, veröffentlicht.“[9] Damit war die Bahn bereitet, die sich auf den Maler übertragen ließ. Mit der Psychologie ließ sich zugleich über die verpönte Sexualität sprechen und schreiben. Schon 1885 war es mit dem Gerichtsprozess um den u.a. Aktmaler Gustav Graef zu einem aufsehenerregenden, in den Berliner Zeitungen verhandelten Prozess um Sexualität und Kunst gekommen.

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Die Funktion, die Stanisław Przybyszewski mit der neuartigen Rede der Psychologie für die Wahrnehmung, sozusagen aus dem Schwarzen Ferkel heraus, der Arbeiten Edvard Munchs einnimmt, lässt sich vermutlich kaum überschätzen. Nach dem Bruch legte sich über die Malerei eine neuartige Rede über das Innere, das Individuum, das nunmehr, noch bevor der Maler Munch es gewusst hätte, zum Dogma der Moderne werden sollte. Die Wahrnehmung wurde gewissermaßen umgestülpt, wie es der Maler hätte nicht sagen können. Statt das Äußere der „erhabenen“ Fjordlandschaften zur Gefühlswelt im Innern werden zu lassen, wird nun mit einer neuartigen Psychologie das Innere nach außen gekehrt. Der gerade erst 29jährige, eher eigenbrötlerische, kaum redegewandte Maler, der geradezu rauschhaft produzierte, geboren am 12. Dezember 1863, erhält durch Przybyszewskis experimentelle Verwendung der Psychologie eine Sprache für seine Bilder. Denn an der Sprache hatte es bei der Beschreibung der Ausstellung und ihrem Abbruch gehapert.

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Die Einleitung von Stefanie Heckmann legt ihren Fokus auf Munchs Ausstellungen in Berlin als eine Art Erfolgsgeschichte der Moderne bis 1933. Berücksichtigt und rekonstruiert wird dabei das persönliche Umfeld des Malers. Doch das Kunst-Debatten-Umfeld bleibt ein wenig vage. In Berlin kristallisiert sich um 1890 eine Naturalismus-Debatte in der Malerei wie der Literatur und dem Theater heraus. 1892 hatte Gerhard Hauptmann sein Drama Die Weber veröffentlicht, das 1894 am Deutschen Theater uraufgeführt werden sollte. Am 14. März 1889 war August Strindbergs naturalistische Tragödie Fröken Julie in Kopenhagen uraufgeführt worden. Gut drei Jahre später am 3. April 1892 wurde im Residenztheater in der Stralauer Vorstadt in der Nähe der Jannowitzbrücke Fräulein Julie vom Verein Freie Bühne erstmals in Deutschland aufgeführt, was zu einem derartigen Skandal geführt hatte, dass es in Berlin bis 1904 die einzige Aufführung blieb. In dieser aufgeheizten Debatte zum Naturalismus bespricht der Berliner Kritiker Adolf Rosenberg die Bilder in der Ausstellung als „Exzesse des Naturalismus, wie sie in Berlin noch niemals zur Ausstellung gelangt sind“.[10]

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Welche Gemälde wurden 1892 gezeigt? Die Titel der Gemälde, die Edvard Munch am 5. November 1892 ausstellte, sind nur rudimentär überliefert. Einige wurden anscheinend im Laufe der Zeit umbenannt. Sabine Meister kommt in ihrem Essay für den Katalog auf gerade einmal 4 identifizierte Titel: „Mit 55 Gemälden, darunter Das kranke Kind, 1885, Nacht in Saint-Cloud, 1890, Kuss und Verzweiflung, beide 1892, bespielte Munch nun also die Rotunde im Erdgeschoss.“[11] Die Schwierigkeit der Rekonstruktion dessen, was die Maler und das Publikum bei der Eröffnung zu sehen bekamen, führt in der Ausstellung der Berlinischen Galerie dazu, dass kaum ein Gemälde von damals mit Bestimmtheit gezeigt werden kann trotz der umfangreichen Leihgaben aus Oslo. Der berühmte Schrei, zuerst Verzweiflung, der gezeigt wurde, musste quasi als norwegischer Staatsschatz in Oslo bleiben. Doch schon Monika Krisch hatte herausgearbeitet, dass sich bereits die umfangreiche Berichterstattung in den Zeitungen mit dem Begriff Gemälde schwertat.
„Als frappierendste Wirkung der beiden Ausstellungen im Architektenhaus und im Equitable-Palast beschreiben fast alle Kritiker ihren Eindruck, daß es sich bei den Exponaten gar nicht um vollendete Gemälde handele, sondern bloß um „große Skizzen“, in „bisher unerhörter Flüchtigkeit hingewischte Farbenskizzen“, „flüchtige Farbennotizen“, willkürliche Farbenexperimente“, „impressionistische Studien“, „Studienmaterial“. Die Bilder dieser Kollektion seien „bis zur Unkenntlichkeit in den Anfängen belassen“ und letztendlich nur „Fragmente“.“[12]

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Der wichtige Beitrag für die Munch-Kunstkritik der Zeitungsstadt Berlin von Monika Krisch wird leider für die Ausstellung und die Essays nicht weiterentwickelt. Um 1892 entwickelt sich das Zeitungsviertel zwischen Friedrichstraße und Jerusalemer Straße sowie Zimmer- und Kochstraße zu einem internationalen Medienzentrum. Rudolf Mosse wird einer der reichsten Männer Berlins durch Zeitungen als Geschäftsmodell.[13] Aus dem Zeitungsviertel gehen Debatten hervor. Krisch hat eine Vielzahl von Kritiken der Zeitungen gesammelt, gelesen und ausgewertet. Adolf Rosenberg mag einer der Meinungsführer gewesen sein, der in den Arbeiten Munchs den Naturalismus auch verkennt. Doch die „Zeitungskritik“ in Berlin war 1892 von einer Vielfalt geprägt, die eine Debatte über Munch überhaupt möglich machte. So kommt der Kritiker des Deutschen Reichs-Anzeigers mit einer gewisser Verzögerung am 30. Dezember 1892 zum Schluss:
„Solche Kunst kann unmöglich das durch gefällige Linien und sanfte Vermittlung der Farben verwöhnte Auge beim ersten Anblick gewinnen, aber bei längerem Betrachten überzeugt sie umsomehr von ihrer Wahrhaftigkeit.“[14] 

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Die Debatte um die Munch-Ausstellung geht weit über den Maler hinaus, weil sie als eine Debatte um das Bild, und was es sein soll, geführt wird. Sie reißt bereits die Frage des Bilderatlasses als Wissensformat, wie er von Aby Warburg entwickelt wird, an.[15] Das Bild wird als Wissensträger formuliert. Adolf Rosenbergs Kritik vom 9. November 1892 im Berliner Tageblatt, gegründet von Rudolf Mosse, in der Rubrik Theater Kunst Wissenschaft bricht die Debatte an den Bildern los. Was ist ein Bild? An den Begriff Bild sind um 1892 solche wie Gemälde, Bildnisse, Abbildung, Schönheit, Sittlichkeit, Genre etc. geknüpft. Doch Munch verweigert das Bild im Modus einer Abbildung. Im Hintergrund spielt nicht zuletzt eine kaum zu Ende gehende Debatte um die Fotografie und die neuartigen Vervielfältigungsmöglichkeiten der Zeitungen und Druckmaschinen eine Rolle. Wo soll sich da ein Maler verorten? Die Zeitungen sind noch bildlos. Aber erste illustrierte Zeitschriften werden im Zeitungsviertel verlegt und gedruckt. Doch Rosenberg beharrt auf das Bild:
„In den Munch’schen Bildern handelt es sich nämlich um Exzesse des Naturalismus, wie sie in Berlin noch niemals zur Ausstellung gelangt sind. Was der Norweger in Bezug auf Formlosigkeit, Brutalität der Malerei, Rohheit und Gemeinheit der Empfindung geleistet hat, stellt alle Sünden der französischen und schottischen Impressionisten wie der Münchner Naturalisten tief in den Schatten. Es sind Bildnisse …, die in der liederlichsten Art hingeschmiert sind, so dass es bisweilen schwer [fällt], eine menschliche Form daraus zu erkennen oder überhaupt nur die Natur eines dargestellten Gegenstandes zu bestimmen. Selbst die beredtesten Verteidiger des naturalistischen Kunstprinzips sind vor solchen rohen Anstreicharbeiten in die bitterste Verlegenheit geraten.“[16]

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Bemerkenswerterweise mischt sich in Rosenbergs Rede vom Bild das Gefühl, wenn er u.a. von „Gemeinheit der Empfindungen“ spricht. Das, was Rosenberg von einem Bild erwartet, sind angenehme Gefühle im Rahmen der moralischen Regeln. Die Verletzung des Gefühls berührt das narzisstische Bild vom Menschen, wenn Rosenberg keine „menschliche Form“ erkennen kann und will. Er kritisiert nicht nur die „Munch’schen Bilder()“ vielmehr verwirft er sie mit einem Wissen vom Menschen und der Natur, das von Munch zutiefst verunsichert wird. Gleichzeitig wird in Berlin durch die rasante Industrialisierung und die einhergehenden sozialen Verwerfungen das Bild vom Menschen erschüttert. Die Industrialisierung bringt zugleich eine Wiederholung und Serialisierung von Formen und Bildern mit sich, die bei Munch vom Kritiker der Berliner Börsen-Zeitung am 10. November 1892 in Anschlag gebracht wird.
„… Munch ist gar vielseitig, gleich gewandt im Genre, wie in der Landschaft; Wiese, Wald und Strand, der hohe Norden und der tiefe Süden, Boudoir, Straßen- und Ballszenen – ihm ist Alles toute la même chose, d. h. er stippt den Pinsel oder vielmehr die Fingerspitze in die Farbe und schmiert darauf los. In einer halben Stunde hat er voraussichtlich so ein Ding fertig, und nach der Menge der Meisterwerke zu urtheilen, ist er im Stande, mit beiden Händen gleichzeitig zu malen.“[17]

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Die Kritik in der Berliner Neueste Nachrichten am 31. November 1892 gibt einen Wink auf das Problem der Titel und der Materialität. Denn statt eines Bildes erkennen die Kritiker vor allem „Farbe“, „Anstreicharbeiten“, einen „Oelkleks“ und „Weißtüpfelung“ etc. Statt der Hand eines Malers mit dem Pinsel wird die „Fingerspitze“ zum Malen vorgestellt. Statt einen Titel des Bildes zu nennen, wird es zur „Nr. 53“. Mit dem Wissen der Kunst wird all das spöttisch benannt, was heutzutage wie die „Verwischung jeglicher Konturen“ zur Beschreibung einer Malpraxis dient. 
„… es mag im Prinzip des Munchschen Verismus liegen, durch Verwischung jeglicher Konturen (wie auf dem seltsamen Bild Nr. 53, das, von der Nähe besehen ein einziger Oelkleks, eine Straße in Paris mit dem Weltstadttreiben der Passanten und Fuhrwerke vorstellen soll) das kaleidoskopische Gewühl einer Menschenmasse oder durch Weißtüpfelung den eigenthümlichen Luftschimmer eines Frühlingstages malerisch wiederzugeben: jedem harmlosen Beschauer, der deshalb kein Pendant der Säuberlichkeit zu sein braucht, erscheinen derartige Dinge als kindische Spielereien oder, falls er ein bisschen kritischer Natur ist, als starke Zumuthungen.“[18]

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Mit den Kritiken wird nicht zuletzt eine Krise des Subjekts um 1890 formuliert. Weder lässt sich an den Bildern ein ausgebildetes Malersubjekt erkennen, noch wird eine „Erregung“ sichtbar, die ein spielendes Subjekt auszeichnen müsste. Vielmehr wird „Eduard Munch“ als „Kleiner Moritz“ mit einem Kind verglichen. Die Kritiken formulieren nicht zuletzt Ängste der Auflösung, wenn „Köpfe ganz in Eins verfließen“, wie in der Berliner Zeitung vom 9. November. Sowohl die Subjekte am Spieltisch wie das Subjekt der Betrachtung lösen sich zu einem „Sonst aber nichts!“ auf. Der klangvolle Titel „Spielende in Monte Carlo“, woher er auch immer kommen mag, konfrontiert den Betrachter mit Deformierungen – und einem Nichts.
„Für die Art seiner Kunstübung ist besonders charakteristisch das Bild ,Spielende in Monte Carlo‘. Da Eduard Munch die Köpfe selten durcharbeitet, kann man seinen Spielern auch keine Erregung ansehen: sie können ebenso gut um Pfeffernüsse spielen und doch nicht anders aussehen. Rechts sitzt ein Mann mit brünetten, breiten Gesichtszügen, der direkt aus dem Schreibheft des Kleinen Moritz herstammt. Links aber stehen zwei Männer, deren Köpfe ganz in Eins verfließen – von dem einen Mann sieht man eine Augenbraue, von dem andern eine Augenwimper. Sonst aber nichts!“[19]

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In der Ausstellung in der Berlinischen Galerie lassen sich beispielsweise an Der Tod und der Frühling (1893) oder auch am Portrait von Walther Rathenau (1907) Arbeitsweisen mit Farbe erkennen, für die Munch in den Kritiken als (Nicht-)Maler gescholten wurde. Im unteren schwarzen Feld von Der Tod und der Frühling wird der Farbauftrag mit einem Gegenstand abgekratzt. Sollte etwas unkenntlich gemacht werden? Wird eine Aggression gegen das Bild ausgeübt? Verzweiflung der Trauer? – Wir wissen es nicht! – Auf dem Portrait von Walther Rathenau werden ebenfalls Wischspuren mehr als Malweisen erkennbar. – Ist das noch oder schon Malerei? – Nach den Kriterien der Kritiker 15 Jahre zuvor bleibt es „unfertig“. Das Unfertige wurde gleichsam zur Signatur der Moderne wie es die Mosse-Lectures im Wintersemester 2017/2018 mit der Vorlesungsreihe non finito, unfinished, unfertig thematisiert haben.[20] Ob sich auf der Wand neben der Figur in lässiger Körperhaltung Rathenaus Schatten oder ein Gespenst oder eine Frauengestalt abzeichnet, lässt sich nicht entscheiden. Munch zeichnet ebenso Harry Graf Kessler. In Berlin entdeckt Munch die Druckgrafik als Medium, ebenso die Fotografie und er entwickelt das serielle Format „Lebensfries“ als ein visuelles Wissen vom Leben.

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Die Bilderserie „Lebensfries“ soll vom Leben in Sequenzen als eine Art Erfahrungswissen erzählen. Janina Nentwig nennt ihren Essay Das Leben erklären – Edvard Munchs Lebensfries in der Berliner Secession 1902.[21] Mit dem „Lebensfries“ entwickelt der Maler ein Format, das von ihm variiert und wiederholt wird. Der sogenannte Reinhardt-Fries, der für einen Veranstaltungsraum im Deutschen Theater von Max Reinhardt in Auftrag gegeben wurde, bildet im Ausstellungsrundgang einen Abschluss. „Mondschein auf dem Meer“, „Begierde“, „Sommernacht“, „Frauen bei der Obsternte“, „Sonnenblume“, „Zwei junge Frauen in Rot und Weiß“, „Kuss am Strand“, „Bäume am Meer“, „Zwei Menschen. Die Einsame.“, „Tanz am Strand“, „Junge Frauen am Strand“ und „Melancholie“ bilden in unterschiedlichen Begriffen aus Natur und Gefühlsleben („Begierde“ und „Melancholie“) eine Abfolge von Szenen aus dem Leben. Der Schwellenraum des Strandes kommt visuell mehr oder weniger deutlich in jedem Bild als Schauplatz zum Einsatz. Am Strand, auf der Schwelle zum Meer, vielleicht auch zwischen Leben und Tod, zeichnen sich Bäume abund eine Figur sitzt vornüber gebeugt auf einem Stein, während die Sonne als roter Ball untergeht.

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Torsten Flüh

Edvard Munch
Zauber des Nordens

Berlinische Galerie
Alte Jacobstraße 124-128
10969 Berlin
bis 22. Januar 2024 nur mit Zeitfenster

Hg. Stefanie Heckmann, Thomas Köhler, Janina Nentwig
Edvard Munch
Zauber des Nordens
Beiträge von P. Behrmann, C. Feilchenfeldt, S. Heckmann, T. Köhler, S. Meister, J. Nentwig, A. Schalhorn, D. Scholz, L. Toft-Eriksen
304 Seiten, 246 Abbildungen in Farbe
21,7 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4217-4
49,90 €


[1] Zur Holzkirche auf dem Stahnsdorfer Friedhof siehe: Torsten Flüh: Wenn Nosferatu kommt. Zur Kulturnacht auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf mit der norwegischen Holzkirche. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. August 2014.
Stefanie Heckmann: Zauber des Nordens. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard Munch – Zauber des Nordens. Berlin: Berlinische Galerie/Hirmer, 2023, S. 19.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda S. 17.

[4] Ebenda S. 21.

[5] Seit 1880 gibt es lässt sich in der Gebrauchshäufigkeit der „Ferkelei“ ein leichter Anstieg ausmachen. DWDS: Wortverlaufskurve seit 1600: Ferkelei. Siehe für die Gebrauchsweise auch Wiktionary: Ferkelei.

[6] Stefanie Heckmann: Zauber … [wie Anm. 1] S. 21.

[7] Zitiert nach ebenda.

[8] Ebenda S. 22.

[9] Ebenda S. 23.

[10] Biografie S. 268.

[11] Sabine Meister: Affäre, Skandal, Fiasko? Munchs Debüt in Berlin – ein Blick hinter die Kulissen. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard … [wie Anm. 1] S. 166

[12] Monika Krisch: Die Munch-Affäre – Rehabilitierung der Zeitungskritik. Mahlow bei Berlin: TENEA, 1997, S. 57.

[13] Zu Rudolf Mosse und der Familie Mosse siehe: Torsten Flüh: George L. Mosses Erinnerung an den Klippen Europas und 50 Jahre Stonewall. Zur Konferenz Mosse’s Europe im Deutschen Historischen Museum und in der W. Michael Blumenthal Akademie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2019.

[14] Deutscher Reichs-Anzeiger, 30. 12. 1892 zitiert nach ebenda S. 73.

[15] Zum Bild und Bilderatlas siehe: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[16] Adolf Rosenberg zitiert nach Monika Krisch S. 60.

[17] Berliner Börsen-Zeitung 10.11.1892 zitiert nach Krisch S. 60.

[18] (Munch schuf „Rue Lafayette“ mit einer Reihe anderer Bilder, bei denen er sich impressionistischer Stilmittel bediente, während eines Frankreichaufenthaltes im Frühjahr 1891.) Berliner Neueste Nachrichten, 31. 11. 1892 zitiert nach Krisch S. 61.

[19] Berliner Zeitung, 9. 11. 1892 zitiert nach Krisch S. 66.

[20] Zum Unfertigen siehe die Besprechungen zum Semesterthema:
Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. November 2017. (PDF unter Publikationen)
ders.:  Unendliche Erhebungen.  Georges Didi-Huberman spricht über Endless Uprisings. The Image as a Medium of Desire in seiner Mosse-Lecture. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Dezember 2017. (PDF unter Publikationen)

[21] Janina Nentwig: Das Leben erklären – Edvard Munchs Lebensfries in der Berliner Secession 1902. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard … [wie Anm. 1] S. 174-190.

Anne Frank und die Literaturfrage

Tagebuch – Literatur – Dokument

Anne Frank und die Literaturfrage

Zu Thomas Sparrs Buch »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank

Vor dem Portal zum Gebäude der Staatsbibliothek Unter den Linden 8 wurden am 8. Oktober 2022 neun sogenannte „Stolpersteine“ als Gedenktafeln mit Namen ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gehweg eingelassen. Die Namen und die dazugehörigen Lebensdaten nach über 80 Jahren zu erinnern, ist wichtig. Die zwischen 1877 und 1901 Geborenen verloren nach den rassistischen „Nürnberger Gesetzen“ 1935 ihren Arbeitsplatz im nach langjährigen Renovierungsarbeiten wieder erstrahlenden historischen Gebäude der Staatsbibliothek zu Berlin: Emmy Friedlaender, Ernst Daniel Goldschmidt, Walter Gottschalk, Ernst Reinhard Wolfgang Honigmann, Robert Lachmann, Annelise Modrze, Hermann Pick, Arthur Spanier, Kurt Wieruszowski. Nach dem Talmud heißt es: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“[1]

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Der Name Anne Frank wurde und wird seit der Herausgabe ihres Tagebuchs kurz nach Ende des 2. Weltkriegs und des nationalsozialistischen Rassismus-Regimes 1947 in Niederländisch millionen-, wenn nicht milliardenfach in Büchern, Übersetzungen, Theaterstücken, Hörstücken, Prozessakten, Drehbüchern, Reportagen, Theaterkritiken, Zeitungsartikeln etc. gedruckt. Google listet in 0,52 Sekunden „ungefähr 263.000.000 Ergebnisse“ auf. Die als „Tagebuch“ bekannten Aufzeichnungen machten den Namen ihrer Autorin weltweit bekannt. Am 23. Oktober stellte Thomas Sparr im Wilhelm von Humboldt-Saal der Staatsbibliothek sein Buch vor, das er Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank nennt. Seine Biographie erzählt die vielfältigen Geschichten, die sich um die Herausgabe und Titelgebung der Aufzeichnungen als Tagebuch international ereigneten und durch vielfältige Übertragungen ranken.

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Die Biographie des Tagebuchs und das Kursieren des Namens Anne Frank sind mit Thomas Sparrs Buch nicht abgeschlossen. Vielmehr entbrannte kürzlich in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus eine kurze, aber heftige Diskussion um die Umbenennung der städtischen Kindertagesstätte „Anne Frank“ in der ca. 10.000 Einwohner zählenden Stadt Tangermünde an der Elbe im Landkreis Stendal in „Weltentdecker“.[2] Der Name Anne Frank wurde, wie Thomas Sparr schreibt, bereits 1958 mit dem DEFA-Film Ein Tagebuch für Anne Frank in der DDR „dafür verwandt, eine Kontinuität in Westdeutschland zu zeigen, deren Elite sich aus der des Dritten Reichs rekrutierte. Anne Frank wurde zur Kronzeugin dieses politischen Irrwegs.“[3] Der Übersetzungstitel von Het Achterhuis (1947) in Das Tagebuch der Anne Frank (1950) wurde insofern schon frühzeitig variiert und instrumentalisiert. Das Schild mit drei spielenden Kindern der Kindertagesstätte „Anne Frank“ könnte in seiner Bildsprache aus den 60er oder 70er Jahren stammen.[4]

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Am 23. Oktober hatte der Verein der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e.V. mit seinem Vorsitzenden, dem ehemaligen Kultursenator André Schmitz, zur glanzvollen Buchpremiere in den Wilhelm von Humboldt-Saal eingeladen. Die Begrüßung fiel äußerst persönlich aus. André Schmitz und Thomas Sparr kennen sich seit Jahren, wie der Vorsitzende in seiner Begrüßung mitteilte. Die Freunde der SBB und Achim Bonte als Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz seit dem Pandemiejahr 2021 bringen mehr Leben ins sogenannte Haupthaus. Im Beethoven-Jahr 2020 war im gleichen Saal die Ausstellung „Diesen Kuß der ganzen Welt!“ Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin pro „Zeitfenster“ gezeigt worden.[5] Der humanistische Gruß Beethovens sollte auch im Gespräch von Achim Bonte mit Thomas Sparr über Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank nachklingen.

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Thomas Sparr ist nicht zuletzt als Verlagslektor wie Literaturwissenschaftler und heute als Editor-at-Large im Suhrkamp Verlag ein Kenner des Verlagswesens. Das macht ihn zum erzählerisch versierten Biographen des Buches. Er kennt die Verlage und den Buchhandel. Die Frankfurter Buchmesse mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Salman Rushdie am Tag zuvor, den 22. Oktober, hatte er besucht. Wie während des Podiumsgesprächs und einem aus dem Stehgreif organisierten Baruch Adonai des in Buenos Aires geborenen und in Berlin lebenden Tenors Rolando Guy erlebbar wurde, ist der Autor ein ebenso begnadeter wie kenntnisreicher Erzähler und Organisator. In seiner Biographie lässt er vor allem Quellen aus den Archiven sprechen. Die zum Teil sprachlos machenden Formulierungen aus Briefen, Artikeln, Akten et. arrangiert und kommentiert er fast lakonisch. So zur Lizenzausgabe des Tagebuchs in der DDR:
„Bis 1990 erschienen acht Auflagen im Union Verlag, es gab einen Teilabdruck in der Ostberliner BZ und zahlreiche Theateraufführungen. Schulen (und Kitas, T.F.) wurden nach Anne Frank benannt, Jugendbrigaden, Otto Frank erhielt zahlreiche Briefe aus der DDR – und beantwortete, seiner Art gemäß, jeden einzelnen.“[6]

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Die Biographie als Genre und Flüchtigkeitswissen im Buchtitel erhält von Sparr eine Einordnung in ihrer Nichtlinearität. Wie unlängst von Christopher Clark für Frühling der Revolution und den Revolutionsbegriff praktiziert[7], insistiert Sparr darauf, dass „(d)ie Biographie eines Buches (…) die Linearität“ nicht kenne.[8] Der Untertitel, Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank, lässt sich auch flüchtig als eine neue Biographie zur berühmten Autorin lesen. Auf dem Büchertisch nicht nur kleiner Buchhandlungen, vielmehr noch im „KulturKaufhaus“ und auf den Screens vom Smartphone bis zum Desktop funktionieren möglicherweise der bildhaft-karierte Einband und das bekannte Foto des schreibenden, in das Objektiv zaghaft lächelnden Mädchengesichts als Auslöser und Versprechen auf eine Biographie noch besser. Noch eine Biographie?
„Die Biographie eines Buches kennt noch weniger Kausalitäten, die wir dem Leben oft unterstellen. Die Wirkungsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank ist auch von Zufällen bestimmt, schafft mitunter eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die sich erst im Nachhinein erschließt.“[9]

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Die Begriffe Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte reichen für die Biographie nicht hin. Dafür gibt es zu viele Brüche, Ereignisse und Zufälle, die Anne Frank mit den Schriftstücken als Tagebuch verkoppelt haben. Von Anfang an geht es um die Frage von Literatur und Dokument. Der Literaturbegriff hat sich seit 1947 stärker gewandelt, als sich das die ersten Leser*innen hätten träumen lassen. Steht zu Beginn nicht zuletzt in den deutschen Verlagen die Frage im Raum, ob ein mit 15 Jahren qualvoll im Konzentrationslager Bergen-Belsen verstorbenes Mädchen literarisch habe schreiben können, so ist für Thomas Sparr auch im Gespräch mit Achim Bonte klar, dass es sich um Literatur einer jungen Schriftstellerin handele. In den späten 40er und 50er Jahren war das anders: Dokument oder Literatur? Imagination oder Tatsachen?

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Vielleicht lag es unter den Bedingungen der Normalität daran, dass Sprache als Natur des Menschen aufgefasst wurde. Die Linguistik sollte sich erst noch entfalten. Doch Anne Frank beginnt ihre Aufzeichnungen am 12. Juni 1942 mit einer Formulierung, die das Ringen um eine Sprache mit und für sich selbst nicht treffender beschreiben könnte. Sie personalisiert das ihr zum Geburtstag geschenkte Poesiealbuch als ein Du, dem sie „alles anvertrauen“ wolle, „wie (sie) es noch bei niemandem gekonnt habe“. Das Anvertrauen ringt darum, Worte zu finden. Die Schreiberin adressiert sich an ein imaginäres Du, um sich selbst in ihrer Zerbrechlichkeit „eine große Stütze“ zu sein. Mehr lässt sich kaum über die Literarizität der Selbsterzählung sagen:
„Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“[10]  

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Sparrs Literaturbegriff unterscheidet sich von dem hier angeschriebenen, wenn er das „Märchen“ als Literarisierung der „Aufzeichnungen“ herausstellt[11], oder in den Überarbeitungen und Neuformulierungen durch Anne Frank eine literarische Arbeit am Text wahrnimmt, wie er erst durch die vom Amsterdamer Rijkinstituut voor Oorlogsdocumentatie „weltweit verbindliche Ausgabe“ seit 1988 lesbar geworden ist, gelten lassen will. 1991 erschien mit der „Version d“ nach Mirjam Pressler die verbindliche Ausgabe in Deutsch.[12] Literatur in ihrer Pluralität beginnt mit der Artikulation und Aufzeichnung. Anne Frank machte sich genaue Gedanken über den Prozess des Schreibens in der Form des Tagebuchs, wenn sie am 28. September 1942, nunmehr im Versteck in der Prinsengracht 263 in Amsterdam[13], als Nachtrag zur Eröffnung hinzufügt:
Ich habe bis jetzt eine große Stütze an dir gehabt. Auch an Kitty, der ich jetzt regelmäßig scheibe. Diese Art, Tagebuch zu schreiben, finde ich viel schöner, und ich kann die Stunde fast nicht abwarten, wenn ich Zeit habe, in dich zu schreiben.
Ich bin, so froh dass ich dich mitgenommen habe!
[14] 

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Der Begriff Tagebuch wird von Anne Frank erst in einer Wiederholung mit einer Verspätung gebraucht. Das Wiederholen und Durcharbeiten von Sprache wird allerdings noch vor der Flucht ins Versteck ab Juli 1942 von der Tagebuchschreiberin am 15. Juni 1942 praktiziert, wenn sie „(ü)ber die Jungen“ ihrer Schulklasse „viel, aber auch wenig sagen“ kann. Das vom Hörensagen Aufgeschnappte wird von ihr durchgespielt und eingeordnet. Denn es geht um die Sprache der Jungen, insbesondere das „Schweinischsein“, womit sexualisierte Worte und ihr Gebrauch gegenüber den Klassenkameradinnen gemeint sind.[15] Das „Schweinischsein“ in der Übersetzung von Mirjam Pressler und wohl schon im niederländischen Original ist eine Wortfindung. Das Adjektiv schweinisch für unanständig, in sexueller Beziehung anstößig wird in der Substantivierung als ebenso verbotene wie reizvolle Rede-, Handlungs- und Lebensweise benannt.[16] Für Anne sind mindestens vier Jungen „schweinisch“, Leo Blom, Herman Koopmann, Jopie de Beer und Sally Springer.
„Leo Blom ist der Busenfreund von Jopie de Beer und auch vom Schweinischsein angesteckt.“

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Die unanständigen Jungen werden von Anne in ihrem Tagebuch vor den anständigen Harry Schaap und Werner Joseph erwähnt, die nur „nett“ oder sogar „langweilig“ sind. „Harry Schaap ist der anständigste Junge aus unserer Klasse“. Das „Schweinischsein“ lässt sich mit den Eltern und sonst auch niemandem noch draußen besprechen. Schon gar nicht, wenn es für Anne nicht nur abschreckend, sondern geradezu reizvoll ist. Geradezu scharfsinnig ist Annes Beobachtung, dass sich das „Schweinischsein“ durch Ansteckung im Modus der Wiederholung übertragen lässt. Die sexuell-sprachliche Ebene der Selbstfindung im „Tagebuch“ als Problem und Reiz hatte Annes Vater Otto Frank bei der ersten Version der Herausgabe zu Auslassungen und Bereinigungen gezwungen. Seit und erst 1988 wurde die für die adoleszente Selbsterzählung unerlässliche Ebene des Tagebuchs wieder hergestellt.
„Sally Springer ist ein schrecklich schweinischer Junge, und es geht das Gerücht um, dass er gepaart hat. Trotzdem finde ich ihn toll, denn er ist sehr witzig.“[17]    

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Das „Tagebuch als eigene Gattung“, wie es Sparr schreibt, diente nicht allein Anne Frank als eine Form der Selbsterzählung aus der Generation der 1929 in Deutschland Geborenen. Doch die moralische Ambivalenz der Beschreibung von Sally Springer etc. dürfte selbst noch kurz nach dem Krieg und der Verbrechen an den Juden in Deutschland und Europa singulär zur Sprache gebracht sein. „1950“ als Untertitel des Abschnitts „Anne Frank in Deutschland“ markierte mit dem Buch Jugend unterm Schicksal aus dem Hamburger Christian Wegner Verlag die Unvergleichbarkeit des vermeintlich Ähnlichen. Denn einige Wochen vor Erscheinen des Tagebuchs der Anne Frank kamen Angehörige der Generation zu Wort, die „als Opfer, Opfer der Gewaltsamkeit des Krieges, der Vertreibung“ von sich sprachen und schrieben.[18] Für Sparr sticht indessen Annes in der 1950 divergierende Tagebuchliteratur hervor.
„Die deutsche Generation des Jahrgangs 1929 war um Welten geschieden vom Tagebuch der Anne Frank, seiner Ausdruckskraft, Differenziertheit, seinem Erfahrungsgehalt, seinem Ethos. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, darum kann es nicht gehen. Sondern wir werden gewahr, dass das Tagebuch als eine Gattung 1950 das der Opfer war. Täter, junge und alte, führten weit seltener Tagebuch.“[19]

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In seinem Epilog kommt Thomas Sparr auf die Frage der Literatur zurück, nachdem er weltweit die unterschiedlichen Rezeptionen und „Debatten über das Tagebuch der Anne Frank“, nicht zuletzt als Theaterstück im Broadway-Format berücksichtigt und bearbeitet hat. Ein wenig kurios und doch vielsagend, wie der Name Anne Frank zirkuliert und unterschiedliche Bedeutungen annehmen konnte, ist der „»Anne-Frank-Tag«“, mit dem „(j)unge Japanerinnen (ihre erste Periode) bezeichnen“. (S. 187) Obwohl die Lektüre des Tagebuchs in den verschiedenen Versionen ganze Generationen von Leser*innen in Deutschland geprägt hat, „wurden die entscheidenden Debatten (…) nicht in Deutschland geführt, sondern in den USA, und zumeist von Jüdinnen und Juden“.[20] Die Fülle der Debatten und die Wahrnehmung als nahezu verbindliches „Dokument des Holocaust“ waren und wurden „problematisch“, wie es der Historiker Nicolas Berg herausgearbeitet habe. Sparr schließt vielmehr in Rekurs auf eine Ausstellung im Holocaust Memorial Museum von 2003 – Anne Frank the Writer. An unfinished Story – mit dem Wunsch, Anne Frank „als Schriftstellerin“ zu entdecken.

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Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank liegt nun dankenswerterweise zwar als Buch vor, aber sie ist nicht beendet, worauf immer wieder neue Ereignisse um das Tagebuch und den Namen seiner Autorin einen Wink geben. Einerseits war und ist das Buch als materielle Form von Erzählungen immer umkämpft und von der Vernichtung wie nicht zuletzt durch die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten im März bis Oktober 1933 bedroht gewesen. Die Brandstifter verbanden damit immer die Hoffnung der Auslöschung von Literaturen und Wissen. Andererseits hat sich der symbolische Akt der Bücherverbrennungen zwar kurz- und mittelfristig als verheerend, aber nicht endgültig erwiesen. Sparr erwähnt, dass es „in Bibliotheken wie Schulen einzelner US-Staaten“ Bestrebungen gebe, „das Tagebuch auf den Index zu setzen, weil das Tagebuch der Anne Frank zu freizügig sei, um Maßstäben evangelikaler Sittlichkeit zu genügen“. „Anne Frank lacht.“[21]

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In meiner Besprechung der Buchvorstellung, der Biographie und marginal des Tagebuches bin ich heute am 9. November 2023, dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, nicht auf die Verbrechen der Nationalsozialisten, wie Anne Frank sie in ihrem Tagebuch beschrieben hat und wie sie ihr widerfahren sind, eingegangen. Sie sind verbriefte Ereignisse und Literatur geworden. Sie gehören heute in Deutschland zu einem Geschichtswissen, das sich nicht mehr wie in den 50er Jahren leugnen lässt, es sei denn als politisch motiviertes Verbrechen der Holocaustleugnung oder als nicht weniger verbrecherischer „Fliegenschiss“ der deutschen Geschichte.[22] Auf bedrückende Weise haben die Reaktionen der Wochen seit des Terrorangriffs auf Israel durch die Hamas in Erinnerung gerufen, dass Literaturen gelesen werden müssen, um eine Haltung einnehmen zu können. Medienstürme und Nachrichtenterror verwirren und verängstigen nur.

Torsten Flüh

Thomas Sparr

»Ich will fortleben, auch nach meinem Tod«
Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2023    
Gebundene Ausgabe 25,00 € (D)    

Weitere Informationen mit digitalisierten Quellen zu Anne Frank und ihrem Tagebuch:
Anne Frank Fonds
Founded by Otto Frank

Familie Frank Zentrum
Jüdisches Museum Frankfurt
Bertha-Pappenheim-Platz 1
60311 Frankfurt am Main

Anne Frank Haus
Prinsengracht 263
Westermark 20 (Eingang)
1016 DK Amsterdam  


[1] Siehe: Staatsbibliothek zu Berlin: Stolpersteine Unter den Linden 8. (Online)

[2] Nadja Zinsmeister: Wirbel um „Anne Frank“-Kita im Osten: Kritik an Umbenennung auch aus Frankfurt. In: Frankfurter Rundschau 06.11.2023, 22:20 Uhr.

[3] Thomas Sparr: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2023, S. 96.

[4] Siehe: Nadja Zinsmeister: Wirbel … [wie Anm. 2].

[5] Siehe: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[6] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 97.

[7] Siehe Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[8] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 16.

[9] Ebenda S. 16-17.

[10] Anne Frank-Fonds (Hg.): Anne Frank Tagebuch. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2001 (30. Auflage: August 2022), S. 11.

[11] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 58.

[12] Ebenda S. 54.

[13] Siehe ebenda: Zeittafel, S. (ohne Seitenzahl) 311.

[14] Kursiv im Original. Anne Frank-Fonds (Hg.): Anne … [wie Anm. 10] S. 11.

[15] Ebenda S. 16.

[16] DWDS: schweinisch.

[17] Anne Frank-Fonds (Hg.): Anne … [wie Anm. 10] S. 16.

[18] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 82.

[19] Ebenda.

[20] Ebenda S 306.

[21] Ebenda S. 304.

[22] Siehe: Torsten Flüh: Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt. Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juni 2023.

Vom Logogriph als Genre der Zeitung

Literatur – Ausstellung – Vermittlung

Vom Logogriph als Genre der Zeitung

Zur Sonderausstellung Zwischen Tinte und Tatsache: Kleists „Berliner Abendblätter“ und den Kleist-Festtagen in Frankfurt (Oder)

Zwischen Kleist-Museum und Kleist Forum feierte die Stadt Frankfurt an der Oder zum zweiunddreißigsten Mal seit 1991 ab 10. Oktober ihren bekanntesten Sohn an sechs Tagen unter dem Titel Vom Suchen und Erfinden. Anke Pätsch, Kleist-Museum, und Florian Vogel, Kleist Forum, hatten ein umfangreiches Programm ausgearbeitet. Das rbb-Studio im Oderturm und der Regionalsender überhaupt engagierten sich tatkräftig vom Ufer der Oder mit dem Kleist-Museum bis in die Obere Stadt mit dem Kleist-Forum am Platz der Einheit. Frankfurts Innenstadt wurde gegen Ende des Krieges im April 1945 zu 93% zerstört. In den 50er und 60er Jahren wurde sie unter Aufgabe des alten Stadtgrundrisses neu aufgebaut. Die spätbarocke Garnisonsschule von 1777 in der Faberstraße wurde 1968 zum Kleist-Museum umgebaut. Frankfurt nennt sich heute „Kleiststadt“.

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Es ist vor allem das Literaturmuseum mit dem Namen Kleist, das Frankfurt zur „Kleiststadt“ gemacht hat. Die Gedenk- und Forschungsstätte bildet den Kern des Stadtnarrativs seit den 1970er Jahren, das nach 1989 und noch einmal stärker nach dem Kleistjahr 2011 zum Lable der Stadt geworden ist. Der historische Teil des Museumsgebäudes wird gerade saniert und modernisiert mit Bundes-, Landes- und Stadtmitteln. Das Kleist-Denkmal im Gertraudenpark von 1910 leitete verspätet mit seiner Bronzefigur literatur- und stadthistorisch im Duktus des Kaiserreichs eine Erhebung Heinrich von Kleists in den Literaturkanon ein mit den Worten: „einen idealen Jüngling (…), in der Form elastisch-geschmeidig, kräftig in seinem Gliederbau, von schwerer Abspannung sich lösend, dahingesunken die Leyer zur Seite legend, und doch, lorbeerbekränzt, bereit, sich wieder zu erheben“.[1] – Wie lässt sich indessen Kleists Zeitungsprojekt von 1810 für eine Ausstellung visualisieren?

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Der Literaturbegriff wird noch bis ins 21. Jahrhundert auf die Belletristik verkürzt, obwohl Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.[2] Das hätte eine breitere Debatte anstoßen können. Alexijewitsch wurde zum Vorwurf gemacht, dass es sich bei ihren zunächst in Zeitschriften veröffentlichten Texten um „Journalismus“ handele, dem man „nicht mit Literatur verwechseln“ dürfe, weil sie „nur“ Interviews aufgeschrieben habe.[3] Die Ausstellung setzt nun gerade an diesem Punkt ein, wenn es heißt: „Heinrich von Kleists „Berliner Abendblätter“ waren ihrerzeit eine der ersten Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum und eine echte Sensation: Sie ließen die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur verschwimmen.“[4] In der Pressemitteilung heißt es weiter: „Als Herausgeber und Redakteur (…) bewegte er sich in seinen Artikeln zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Berichterstattung und Literatur.“[5]

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Heinrich von Kleist spielt in seinen Berliner Abendblätter eine Vielzahl von Literaturformen zwischen Tagesbegebenheiten, dem Logogriph Der Griffel Gottes, dem Gerücht, dem Polizei-Ereigniß, der heute auf dem Smartphone aufpoppenden „Eilmeldung“ Extrablatt, dem Glossar Charité-Vorfall oder dem Druckfehler ebenso wie Miscellen, Legende und Anekdote, dem Brief Schreiben aus Berlin. 10 Uhr Morgens. etc. durch. Christoph Martin Wielands Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst verwirft die im Barock beliebten „Logogryphe()“[6] 1757 als „närrische() Erfindungen eines kranken Witzes“[7]. Im 19. Jahrhundert werden sie verstärkt zu einer Mode in Zeitungen und Zeitschriften. Geht es zunächst um ein poetologisches Verfahren durch Umstellung von Buchstaben andere Worte und Bedeutungen zu erzeugen – „s i e  i s t  g e r i c h t e t !“[8] –, popularisieren die sich seit den 1840er Jahren verbreitenden Zeitungen das „Logogryph“ zum Rätselraten, das nur eine Antwort gelten lässt.[9] Kleist macht es am 5. Oktober 1810 einmal zur Angelegenheit der „Schriftgelehrten“ und nicht nur zum Witz.

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Viviane Jasmin Meierdreeß hat als Kuratorin die Ausstellung in vier Sequenzen und einer Mitmachebene für die Besucher*innen aufgeteilt. Dabei geht es zunächst um eine eher abstrakte Topographie der Abendblätter von Berlin „Die Stadt als Handlungsort“, dann um das „Extrablatt“ als Genre, um das Berichten „Zwischen Fakt und Fiktion“ und um die Berliner „Zensur“ als Veröffentlichungsrahmen der Tageszeitung. In der Raummitte ist ein schreibpultartiger Tisch mit Texten, Stiften, Papier und mit einer Schublade, in der sich eine transparente Box für Kommentarzettel befindet, aufgestellt. Das Studio Neue Museen aus Halle hat die visuelle Gestaltung eingerichtet. Ein Modell des Ballons von „Prof. J.“, der mit dem „Wachstuchfabrikanten“ Carl Friedrich Claudius „in die Luft“ gehen sollte, aus dem Otto-Lilienthal-Museum in Anklam gehört zu den Ausstellungsstücken, die gleich beim Betreten des Raumes ins Auge fallen. Der im „Schreiben“ am 15. Oktober 1810 um „10 Uhr Morgens“ angekündigte Ballonaufstieg „um 11 Uhr“, war um „2 Uhr Nachmittags“ noch nicht geschehen, „es verbreitete sich das Gerücht, daß er vor 4 Uhr nicht in die Luft gehen würde“.[10]   

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Die Zensur aller Zeitungen durch das Innenresort, vergleichbar in der Zuständigkeit eines Innenministeriums, des Preußischen Staates, dem Karl August von Hardenberg unter Friedrich Wilhelm III. seit Juni 1810 als Staatskanzler vorstand, wird genauer als Rahmen für Kleists Projekt chronologisch durch eine Zeitachse über eine Wandseite visualisiert. Zugleich wird „die drohende Zensur“ als Grund für das Schwanken „zwischen Berichterstattung und Literatur“ (Pressemitteilung) angegeben. Einerseits erhielt Kleist überhaupt die Gelegenheit durch Hardenberg, das Projekt einer Tageszeitung zu starten, das mit dem Gebet des Zoroaster als „Einleitung“ quasi programmatisch am 1. Oktober 1810 eröffnet wird.[11] Andererseits installiert Hardenberg eine Zensur der politischen Meinungsäußerung unter der Besatzung durch Napoleonische Truppen in Berlin und Preußen bei einer bedingten Eigenständigkeit seit Oktober 1806[12], als Schadows Quadriga vom Brandenburger Tor nach Paris in den Louvre abtransportiert worden war.[13]

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Die politischen Rahmenbedingungen in Berlin waren mit dem Brandenburger Tor ohne Quadriga als Symbol der Souveränität Preußens gewissermaßen tagtäglich offensichtlich. Doch war „die drohende Zensur“ für Heinrich von Kleists Schreib- und Publikationsverfahren in den Berliner Abendblättern der Grund für ein Schwanken „zwischen Berichterstattung und Literatur“? Der Literaturbegriff spielt zweifelsohne eine entscheidende Rolle für die Einordnung der Texte in Form und Materialität einer Zeitung als Blätter statt eines gebundenen Buches oder Heftes. Mit dem frühen „Schreiben aus Berlin“ wird eine neuartige Zeitlichkeit im Bericht formuliert, wenn gleichsam am „Puls der Zeit“ von 10:00 bis 14:00 Uhr eine Dynamik der Ankündigung durch Verschiebungen bis zum „Gerücht“ sehr genau formuliert wird. Ist das noch ein Bericht? Oder schon eine Analyse sprachlicher Prozesse von Ereignissen? Der blau gestreifte, gelbe Ballon als Eyecatcher mit winziger Figur im Korb sieht gut aus. Doch dann kommt das Lesen von Kleists Texten.

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Das Lesen in Ausstellungen ist für die aktuelle Zielgruppe der Smartphone-Nutzer*innen zwischen 6 und 60 eine Herausforderung. Eilmeldungen und Push-Nachrichten werden rauf und runter gescrollt mit dem Fingerwisch. Gleich einem Extrablatt terrorisieren in der Phase bewaffneter Konflikte in Europa und dem angrenzenden Nahen Osten – ja, wen denn? – die Leser*innen. Gerade junge Menschen – sagen wir zwischen 16 und 36 – werden auf X, TicToc, WhatsApp etc. von vermeintlichen Meldungen und Narrativen terrorisiert und manipuliert. – Sie lesen nicht? Doch sie lesen: Eilmeldungen, Push-Nachrichten, Überschriften, Link-Kürzel etc. Sie lesen Worte wie: Hamas, Palästina, Juden, Israel, Kind, Baby, Krankenhaus, Hass, Iran, Irak, Opferzahlen, Namen und Bezeichnungen wie Mörder in Deutsch und Englisch, aber Arabisch etc.. Auf Facebook werden die Traueranzeigen mit Kurzbiographie ermordeter Israeli geteilt, auf TicToc blutende Babys gezeigt. Alle, wir sind verdammt zum Lesen! Nur: Wie lesen?

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Kommen wir also zurück zu den Visualisierungen in der Ausstellung z.B. das Brandenburger Tor! Das Brandenburger Tor ist abstrahiert mit Quadriga dargestellt. Das Brandenburger Tor hat mit Quadriga heute einen weltweiten Wiedererkennungseffekt gleichsam von Frankfurt an der Oder bis Fuzhou am Min Jang in China. Man braucht die Quadriga auf dem Tor nur anzudeuten, und schon wissen wir, dass das Brandenburger Tor gemeint ist. 1810 war sie weg. Visualisierungen in Ausstellungen wollen und sollen gelesen werden. Sie pendeln zwischen Bild und Schrift. In der Ausstellungsarchitektur von Studio Neue Museen werden Texte bildhaft präsentiert wie das „Zitat“ zum „Extrablatt“ und dann gibt es noch größere Textflächen mit kleiner Schriftgröße, an die die Besucher*innen herantreten müssen, um sie lesen zu können. Die Texte sind insofern visuell in Stufen gegliedert. Die Besucher*innen sollen über plakative bzw. bildhafte Schrift an Kleists Texte herangeführt werden. Jede Stufe erfordert eine Entscheidung, mehr zu lesen.

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Zur Ausstellung Zwischen Tinte und Tatsachen wurden während der Kleist-Festtage „Express-Führung(en)“ angeboten. So auch zum „Feierabend mit Kleist“ am 13. Oktober mit „Express-Führung und Konzert“. Der Pianist Ricardo Bozolo spielte als Hommage Werke aus der „Spätromantik“ von Brahms, Mendelssohn Bartholdy und Chopin. Bozolo schlug den Bogen in seiner Ankündigung von Kleist zu den Klavierstücken über das Unglückliche und Romantische. Er ist seit 2021 Klavierlehrer an der Musikschule der Stadt Frankfurt Oder. Die „Express-Führung“ zum „Journalisten Kleist“ und das gefühlvolle Konzert mit Werken von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Frédéric Chopin produzierten einen gewagten Eindruck von der Literatur Heinrich von Kleists wie sie vor 1910 rezipiert wurde. Also, Frédéric Chopin (1810-1849) als Komponist in Konstellation mit Kleist wäre gewiss noch einmal interessant, aber ganz anders in ihren Männerfreundschaften!

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Der durch verknappende Online-Medien wiederkehrende Epochenbegriff der Romantik macht genau das Gegenteil von dem, was Heinrich von Kleist als Redakteur und Dichter ebenso wie Journalist beispielsweise mit dem Logogriph Der Griffel Gottes messerscharf als Frage des Lesens und des Wissens bearbeitet. Literaturvermittlung sollte heutzutage viel stärker als Medienpädagogik praktiziert werden, die sich wunderbar, möglicherweise mit einem etwas zeitraubenden, genauen Lesen einiger weniger Kleist-Texte in der Zeitung üben lässt. In den Berliner Abendblättern gibt es keine Kuschelromantik bei Rotwein und Häppchen. Aber wenn man die Stolperstellen eines fraglosen Leseverstehens in den Tagesbegebenheiten und Schreiben aus Berlin ernst nimmt, dann könnte Literatur für junge Menschen ein Angebot für andere Praktiken beim Scrollen und Lesen bieten, was gesellschaftspolitisch relevant wäre.

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Als Uraufführung boten der Schauspieler Mathieu Carrière und seine Tochter Elena die Lese-Performance Kleist und andere Monster auf der Studiobühne des Kleist-Forums. Im ersten Teil des Abends lasen Tochter und Vater aus Mohamed Kacimis Stück Ich liebe den Tod so wie ihr das Leben mit verteilten Rollen als Geheimdienstoberst und Selbstmordattentäter. Im Ankündigungstext heißt es, dass das Stück in Frankreich verboten war, um dem „Monster“ keine Stimme zu geben. Matthieu Carrière hatte schon 2020 Kacimis Die Jungfrau von Orleans zu den Kleist-Festtagen im Kleist-Forum übersetzt und mit Freund*innen gelesen. Die Freiheit des Theaters gewiss auch im kleistischen Sinne stand zur Frage. Carrière hat als Schauspieler immer eine starke, intellektuelle Beziehung zur französischen Literatur und Kultur gepflegt und dies zu einer Art Alleinstellungsmerkmal gemacht. Im zweiten Teil der Lese-Performance bot Judith Rosmair vor allem eine textliche Überarbeitung des Monologs der Penthesilea aus dem gleichnamigen Stück von Heinrich von Kleist.

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Der Begriff Monster ist in der deutschen Sprache überwiegend junger Menschen recht populär. In der Titel-Kombination mit dem Namen Kleist geht es weniger um ein „furchterregendes, hässliches Fabelwesen, Ungeheuer von fantastischer, meist riesenhafter Gestalt“ als vielmehr um „etwas furchterregend Großes, Unübersichtliches, ein gefährliches Ungetüm“[14]. Sind Selbstmordattentäter und Heinrich von Kleist Monster? Oder ist es für islamistische Selbstmordattentäter ein Euphemismus? Ist das von einem Monster Reden einfach woke? Was passiert, wenn eine junge Schauspielerin (28) einen mordenden islamistischen Attentäter liest? Verliert seine angekündigte Tat dann ihren Schrecken? Am 13. Oktober 2023, 6 Tage nach dem Massaker auf einem Club Festival und in Kibbuzen, in der sich auf die Schrift (!) des Koran[15] berufenden Hamas an israelischen Männern, Frauen, Kindern, Babys, Alten und ihrer kriegsrechtswidrigen Entführung als Geiseln nach Gaza klang das monströs falsch auf der Studiobühne des Kleist-Forum.

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Matthieu Carrière gab zwar nach der Lese-Performance seine Bedenken zur Zeitgemäßheit seiner Uraufführung kund und lud zu einem Gespräch ein. Doch die Kunstfreiheit des Theaters blieb beschädigt. Dafür hätte die Performance zuvor stärker eingeordnet werden müssen. Es herrschte vielmehr eine Sprachlosigkeit nach der Aufführung. Eine Einordnung der Ereignisse vom 7. Oktober in Israel fand auch von Herrn Vogel nicht statt. Betrübnis. Betretenheit. Aber wie Worte finden? Was darf das Theater? Kleist allemal arbeitete an der Sprache und ihren Fallstricken nicht zuletzt in den Berliner Abendblättern. Gewiss auch mit der furchtbaren Verwechslung der sich im Reim Sinn vorschützenden, mordenden „Küsse“ und „Bisse“ der Penthesilea.

Torsten Flüh  

Sonderausstellung:
Zwischen Tinte und Tatsache:
Kleists „Berliner Abendblätter“
bis 25. Februar 2024
Kleist-Museum
Faberstraße 6-7
15230 Frankfurt (Oder)


[1] Die Verzahnung von Kleists Literatur mit dem Narrativ der Nation wurde von Wolfgang Barthel herausgearbeitet. Das Frankfurter Kleist-Denkmal hatte zum „Nationaldenkmal“ werden sollen. In Ermangelung eines zur Übertragung in eine Statue geeigneten Bildes vom Dichter schwingt in der Beschreibung des Denkmals mit dem „idealen Jüngling“ in der Formulierung „bereit, sich wieder zu erheben“ die nationale Bestimmung mit.  Wolfgang Barthel: Der Traum vom Nationaldenkmal : Gottlieb Elsters Denkmal für Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder. [Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte, Frankfurt an der Oder] / Frankfurter Buntbücher ; 1. Frankfurt, 1991, S. 12.

[2] Zu Swetlana Alexijewitsch siehe: Torsten Flüh: Eine Feier des Austausches und die Trauer. Zu HERE AND NOW. Ein Fest zum 60. Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2023.

[3] dpa: Radisch über Alexijewitsch: Das ist keine Literatur. In: Frankfurter Rundschau 10.10.2015 11:51 Uhr.

[4] Zitiert nach Website: Sonderausstellung: Zwischen Tinte und Tatsache. Kleist-Museum.

[5] Kleist-Museum: Pressemitteilung 28/2023 vom 9. Oktober 2023.

[6] Jens König: Aenigma. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 1 A-Bib. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1992, S. 193.

[7] Christoph Martin Wieland: Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst. Anno 1757. In: Deutsche Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Wielands Gesammelte Werke. Erste Abteilung. Vierter Band. S. 343.

[8] (Heinrich von Kleist:) Der Griffel Gottes. In: Berliner Abendblätter 5tes Blatt. Den 5ten October 1910.
Zum Logogriph siehe auch: Torsten Flüh: Schweigen? – Aushalten. Indigo und die Kleist-Preis-Rede von Clemens J. Setz im Deutschen Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. November 2021.

[9] Zur Geschichte des Logogryphs siehe: Jens König: Aenigma … [wie Anm. 6] S. 187-195.
Ebenso verkürzend: Wikipedia: Logogriph.
Zum Logogryph siehe auch den Gebrauch durch Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg in: Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2019.

[10] (Heinrich von Kleist:) Schreiben aus Berlin. In: Berliner Abendblätter 13tes Blatt. Den 15ten October 1910.

[11] Zur Einleitung siehe: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 56-60.

[12] 1810 malte Carles Meynier das monumentale Gemälde von 330 x 493 cm Entrée de Napoléon à Berlin. 27 octobre 1806, das in Versailles hängt. Die Quadriga ziert noch das Brandenburger Tor auf dem Bild, bevor sie in der Militärtradition der Trophäe, zerlegt und abmontiert wird. Sie kehrt im April 1814 nach dem Sieg über Napoleon nach Berlin zurück und wird zum Nationalsymbol.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[14] DWDS: Monster.

[15] Zur Schrift des Koran siehe: Torsten Flüh: Das Ursprüngliche des Korans. Stefan Weidners Seminar Vom Übersetzen des Unübersetzbaren im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Februar 2010. (als PDF unter Publikationen)

Eine Feier des Austausches und die Trauer

Literaturen – Künstler*in – Austausch

Eine Feier des Austausches und die Trauer

Zu HERE AND NOW. Ein Fest zum 60. Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in der Akademie der Künste

Musiker*innen und Komponist*innen sind es vielleicht, die als Stipendiat*innen des Berliner Künstlerprogrammes wie Matana Roberts und Merche Blasco durch das Festival Maerz Musik besonders gut vernetzt sind in den Medien der Stadt. – Wer? – Beim Namen Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreis 2015, meint dagegen sofort jede und jeder zu wissen, von wem und was die Rede ist. Sie war – immerhin mit 62 Jahren für den Literaturnobelpreis gehandelt – 2011 Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms. Aus Anlass des 60. Jubiläums unterhielt sie sich am 12. Oktober mit dem Präsidenten des DAAD, Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, über das Sprechen mit Menschen in Weißrussland, der Ukraine und Russland. Gestreift wurde auf der Jubiläumsveranstaltung unter Schock auch der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober auf die israelische Zivilgesellschaft.

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Die Leiterin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD Silvia Fehrmann moderierte charmant den Abend im HERE AND NOW mit Grußworten von Katja Keul, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Oliver Friederici, Staatssekretär für Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Berliner Senat, und Prof. Dr. Joybrato Mukherjee sowie das Bühnenprogramm mit den teilnehmenden Fellows wie MADEYOULOOK aus Südafrika, Matana Roberts aus den USA, Merche Blasco aus Spanien, Jay Bernard aus Großbritannien und natürlich Swetlana Alexijewitsch, die 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Literaturnobelpreis erhielt. Im Juni 2021 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz von Frank Walter Steinmeyer verliehen. Sie lebt seither in Berlin.[1] In den Grußworten wie im Podiumsgespräch wurden die Kraft der Kunst, der Literatur und des kulturellen Austausches beschworen sowie der Terrorangriff angeschnitten.

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Einleitend und rückblickend ist bedenkenswert, dass der Terrorangriff der Hamas von den Akteur*innen im HERE AND NOW zwar 5 Tage danach angesprochen, betrauert, die verstörenden Freudenbekundungen auf der Sonnenallee verurteilt wurden, doch anders als die Kriegserklärung Putins gegen die Ukraine und die Kultur des Westens, nicht als ein Angriff auf eine Kultur des Austausches, der Diversität und „des Westens“ formuliert wurde.[2] Die Kultur des Austausches in einer Praxis des gegenseitigen Schenkens und Respekts als Leitbild des Berliner Künstlerprogramms und des DAAD war auf schockierende Weise massiv angegriffen worden. In den „Leitlinien“ des Künstlerprogramms heißt es u.a.:
„Als Team des Berliner Künstlerprogramms des DAAD haben wir die Verantwortung, diese ethischen und demokratischen Werte zu wahren. Wir arbeiten unablässig daran, unser Programm so inklusiv und sicher wie möglich zu gestalten – für Menschen aller Geschlechter, Rassifizierungen, Altersgruppen, Veranlagungen und Klassen sowie für weitere Gruppen, die häufig unerwähnt bleiben. Wir fordern daher alle auf – unsere KollegInnen, PartnerInnen und AuftragnehmerInnen sowie unsere StipendiatInnen und BesucherInnen –, sich gegenseitig zu respektieren.“[3]

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In der deutschen Debatte um den Terrorangriff, die gezielte bestialische Gewalt gegen Israelis, gegen jüngste, junge bis sehr alte Jüd*innen und eine offene Gesellschaft, wie sie mit dem psychodelischem-trance Supernova Festival von Re‘im angegriffen worden ist, wird lediglich auf die propalästinensischen Freudenfeiern mit Feuerwerk auf der Sonnenallee verschoben. „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im Ressort der CDU des Berliner Senats? Mit derartigen Verschiebungen geht es darum, sich nicht angesprochen bzw. angegriffen fühlen zu müssen. Längst ist der Palästinakonflikt als Kern des Nahostkonflikts kein lokaler mehr. Einerseits brüstet sich die Hamas selbst damit, dass sie durch ihre widerlichen Taten und den offenbaren Missbrauch von hunderten palästinensischen jungen Männern, die sie mit syrischem Captagon, der sogenannten „Dschihadisten-Droge“[4], in sexualisierte Kampfmaschinen verwandelt hatte, wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht, nachdem Israel schon mit Saudi Arabien Beziehungen aufgenommen hatte und die Hamas in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte. Andererseits nutzen die Mullahs in Teheran und Erdogan die Hamas als Schachfigur in einem Krieg der Autokraten und Patriarchen gegen die Demokratie und westliche Werte, weil ihre Regime kulturell selbst massiv unter Druck stehen.

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Permanent wird aktuell hinsichtlich Israel und Palästina mit Gaza medial versucht, eine Homogenität von territorialen Lagern herzustellen, die sich bei näherer Betrachtung in Ängste, Medienschlachten und bestenfalls Heterogenität auflöst. Das ist nicht nur ein deutsches Problem. Kein einziger Staat des Nahen Osten oder der arabischen Welt ist homogen – weder Israel noch der Nicht-Staat Palästina. Widerstreitende Narrative des Islam und des Judentums kursieren lebhaft in der Region. Die Historisierung des Konflikts ist für die Hamas nur noch ein Kampfmittel, das islamistisch aufgeladen wird, während sich eine Weltöffentlichkeit und nicht zuletzt der aus Portugal stammende, ehemals sozialistische UN-Generalsekretär António Guterres im historischen Narrativ verstricken. Die Spaltung geht weit ins Innere der von den USA initiierten Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen (UN), die die Hamas und damit das Regime in Teheran mit der Historisierung ihres Terrors erreicht haben. Statt Respekt zu üben, wird ein Terrorkrieg nicht allein um Israel und sein Territorium geführt. In den Berliner Jubiläumsreden auf der Bühne der Akademie der Künste wurde dieser weitreichende, kulturelle Konflikt, der die Leitlinien des Künstlerprogramms massiv angreift, umgangen. – Vielleicht saß der Schock noch zu tief.  

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Als Vorspann präsentierte das kollaborative Künstlerkollektiv MADEYOULOOK aus Molemo Moilea und Nare Mokgotho das Videoprojekt Menagano (2022). Sie waren Stipendiat*innen 2022 im Künstlerprogramm. Die Darstellung einer Landschaft bleibt im Video schemenhaft, um es einmal so zu formulieren. Es geht von einer de-kolonialen Wahrnehmung von Landschaft aus. Die genaue und innere Kenntnis des Landes prägt die ästhetische Imagination von Land und befragt mit dem programmatischen Namen – made you look – des Kollektivs, was eine Landschaft sehen lässt. Insofern wird das koloniale Verständnis der Landschaftstradition in den visuellen Künsten gestört. Das Video will nicht einfach eine Landschaft zeigen. Vielmehr erforscht es Sichtweisen der Landschaft nach ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Sie bieten dafür Modelle der Erinnerung von Geschichten, orale Traditionen, „black love“ etc. an, die die Landschaft in ihrer Sichtbarkeit befragen, aus hierarchischen Verhältnissen lösen und zerstreuen. Da das Video vor der Anmoderation gezeigt wurde, zerstreute es sich auch in dem Eintreffen und Gesprächen des Publikums.

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Die Jazz-Saxophonistin, Jazz-Klarinettistin und Komponistin Matana Roberts, die 2018 im Bereich Musik & Klang am Programm teilnahm, ist in den USA recht bekannt. Ihr Kostüm mit bis auf die Augenbrauen gezogenem Zylinder, wallendem Gewand und an Kreolen erinnernden großen, flächigen Ohrgehängen erinnerte den Berichterstatter – möglicherweise völlig zu Unrecht – an New Orleans und James Bond 007 in Leben und sterben lassen (1973). Matana Roberts wird zum Jazzstil der New Creatives gezählt, die hoch individuell und flexibel ihre Performances einrichten. Sie bot damit eine besondere Jubiläumsperformance, mit der sie das Berliner Künstlerprogramm des DAAD als ein einzigartiges mit einer Improvisation aus Text und Sound feierte. Zugleich erinnerte sie an die glimmer: aurum performance  von und mit Otobong Nkanga zum 50. Jubiläum 2013.[5] Otobong Nkanga hat seither eine Reihe namhafter Kunstpreise verliehen bekommen.

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In mehrfacher Hinsicht war das vielschichtige Gespräch von Joybrato Mukherjee mit Swetlana Alexijewitsch über ihre Literatur der Höhepunkt des Festprogramms. Denn sie hat mit der „Komposition ihrer Interviews (…) eine() eigene() literarische() Gattung gefunden“, wie es Gottfried Honnefelder am13. Oktober 2013 in der Paulskirche in der „Urkunde“ des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels formulierte.[6] In seiner „Begrüßung“ stellte Honnefelder die Frage, ob „es Frieden geben“ könne, „wenn Menschen – und mit zunehmender Moderne ganze Menschengruppen – stumm gemacht werden und als Randphänomene politischer Prozesse aus dem Blick geraten, ja vom Rest der Welt vergessen werden“.[7] Die wenig später nobelpreiswürdige Arbeit mit der und für die Literatur von Swetlana Alexijewitsch besteht nicht in einer Befriedung widerstreitender, ja, sich bisweilen in wenigen Sätzen eines Interviews bekämpfender Narrative, sondern im Zulassen und Aufschreiben des Widersprüchlichen. Kein Urteil. Keine Kommentierung. Keine Konklusion.
„»Was wäre, wenn der Putsch gesiegt hätte? Er hat doch gesiegt! Das Dserschinski-Denkmal wurde gestürzt, aber die Lubjanka ist geblieben. Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.«“[8]

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Die Frage der Literatur oder Literaturen bricht mit Alexijewitschs Schreib- und Kompositionsverfahren auf. Kolportiert sie nur? Oder komponiert sie schon, wenn sie schreibt: „Ich sitze in der Küche bei Moskauer Bekannten. Eine große Truppe ist versammelt – Freunde, Verwandte aus der Provinz. Wir erinnern uns, dass am nächsten Tag der Jahrestag des Augustputsches ist.“[9] Und dann folgt neben anderen eine weitere namenlose Stimme, die den „Putsch“ vom 19. bis 21. August 1991 in Moskau einordnen will, die eine atemberaubende Formulierung findet: „Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.“ Das ist ein kurzer, ich möchte wohl sagen, kleiner Satz, der in seinem nachträglichen Wahrheitsgehalt auf einen gewissen KGB-Mitarbeiter in Dresden, Wladimir Wladimirowitsch Putin, zuzutreffen scheint. Das konnte selbst 2015 noch niemand so klar wissen. Wir wissen nicht, ob der Satz tatsächlich so oder etwas anders in Moskau gefallen ist. Heute springt er bestimmt nicht nur für mich wie eine Prognose und Wahrheit hervor.

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Swetlana Alexijewitsch hat das Zuhören zum Verfahren ihrer Literatur gemacht, worauf sie nicht zuletzt Joybrato Mukherjee im Podiumsgespräch wiederholt ansprach. Das Zuhören und Aufschreiben geschieht ohne einen „Haltepunkt, eine(r) oberste(n) und rettende(n) Instanz“, wie es Karl Schlögel in seiner Laudatio 2013 nannte.[10] Die Fragen nach der Ungeheuerlichkeit des russischen Angriffs auf die Ukraine nach Befehl Putins ließen die Schriftstellerin fast ungerührt. In ihren Texten mit den Gesprächen aus den 90er Jahren sind alle Narrative bereits enthalten, die sich in der Kriegserklärung verdichteten und entluden. In den Aufzeichnungen einer Beteiligten schreibt sie bereits 2013:
„Veraltete Ideen leben wieder auf: vom großen Imperium, von der »eisernen Hand« … Die sowjetische Hymne ist zurück, es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt »Die Unseren«, es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus-Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie …“[11]

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Im deutschen Feuilleton brach 2015 eine heftige Debatte über die Literatur[12] aus, als die Feuilleton-Chefin der ZEIT, zweifellos eine „Instanz“, Iris Radisch, wiederholt schrieb und sagte, dass Alexijewitschs Texte „keine Literatur“ seien. Literatur müsse „etwas Schöpferisches haben“. Sie müsse „«fiction», eine eigene Erfindung sein“. Sie müsse „eine besondere Sprachqualität haben“. Und sie müsse „- das ist ganz wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben“.[13] Gegenüber Karl Schlögels Diktum – „Swetlana Alexijewitschs Schreiben beginnt mit einem Abschied von der schönen Literatur.“ – von 2013 hatte sich Radisch doch noch ein wenig Zeit gelassen, um die polyvokale Literatur der „Küchengespräche“[14] als eine aus Literaturen zu verwerfen. Kann es mehr Weltverwandlung geben als mit der Formulierung „Wir bauen den Kapitalismus unter der Führung des KGB auf“?  

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Swetlana Alexijewitschs Literatur beginnt bei der Selbsterzählung der Menschen, nicht zuletzt als „Homo sovieticus[15], die sich nicht einfach nur als eine Reportage abtun lassen. Denn das Erzählen von sich selbst und einer Katastrophe mit einem nachträglichen Wissen legt kollidierende Narrative z.B. von Milch als Medizin frei. Wir wissen selbst bei Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft (1997/2019) nicht, wie viel nachträgliches Wissen bereits in die stockende Erzählung von den ersten Stunden der Katastrophe eingeflossen ist. Der paradoxe Untertitel „Eine Chronik der Zukunft“ gibt einen Wink auf die narrative Uneinholbarkeit der Katastrophe. Denn eine Chronik wird immer erst nachträglich, chrono-logisch[16] und nicht im Voraus angelegt.[17] Nicht zuletzt prallen Narrative von der Zukunft, der Sicherheit, der Medizin etc. aufeinander.
„Meine Freundin Tanja Kibenok kam … Ihr Mann lag im selben Zimmer … Sie kam mit ihrem Vater, der hatte ein Auto. Wir fuhren ins nächste Dorf, um Milch zu besorgen. Etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt … Wir kauften mehrere Dreilitergläser mit Milch … Sechs, damit es für alle reichte … Aber die Männer erbrachen die Milch … Sie verloren immer wieder das Bewußtsein, man hängte sie an den Tropf. Die Ärzte behaupteten merkwürdigerweise, daß es Gasvergiftungen seien, von radioaktiver Strahlung sprach keiner.“[18]  

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Das Jubiläumsprogramm bekam auf diese Weise mit dem Gespräch mit Simultanübersetzung ins Englische und Deutsche eine zugleich andere als vorhersehbare Wendung und Aktualität. Eine sich in eine Vielzahl von Narrativen aufspaltende, sich schwer in Worte fassen lassende Katastrophe war passiert. Sie holte das Bühnenprogramm ein, war allgegenwärtig und ließ sich dennoch nicht einfach durch Verbalisierung vergegenwärtigen. Das Programm musste weiterlaufen. Wahrscheinlich geht es nicht ohne Programm und dem Festhalten an Narrativen, während diese attackiert werden. Alexijewitsch beharrt auf den „Stimmen … Stimmen … Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben.“[19] Vom Gespräch bleiben die Stimmen, die mehr sind als die Narrative und das Auditive.[20]

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Merche Blasco verwandelt das Studio der Akademie der Künste im HERE AND NOW in einen Club. Der Club als ein Raum der Musik, der Lichteffekte, der Interaktion mit den Tanzenden und der zumindest erotisch aufgeladenen Interaktion der Tanzenden untereinander auf der Tanzfläche und in den Sitz- wie Liegeecken hat sich wenigstens seit The Long Now beim Festival MaerzMusik 2016[21] zur innovativen Schnittstelle von Experimentalkunst und Unterhaltung etabliert. Merche Blascos Live-Set als Teil einer umfangreicheren Komposition im Künstlerprogramm lässt sich durchaus tanzen, wenn das Format Jubiläumsveranstaltung nicht mit einem eher clubfernen Publikum in den Sitzreihen im Auditorium stattgefunden hätte. – Provokation? Nein, Praxis und Realität des kulturellen Austausches in generationellen Verhältnissen.

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Die Multimedia-Künstlerin Merche Blasco kommt zwar aus Spanien, lebt aber seit längerer Zeit in New York und zur Zeit in Berlin. An den Schnittstelle von DJ und Komposition wird von Merche im Live-Set als Kunstform mit Lichtquellen und elektromagnetischen Kraftfeldern ein komplexer Klang erzeugt, der zu tranceartigen Zuständen führen kann. Die Künstlerin kleidet sich für dieses Live-Set in der Tradition des Futurismus mit einer Art übergroßen spiegelnden Halskrause, fluoreszierenden Linien im Gesicht und im toupierten Haar. Die Bewegungen am Set wirken choreographisch durchgearbeitet. Mit wenigen Haltungsveränderungen werden komplexe Klangereignisse mit rhythmischen Elementen am Laptop und Set erzeugt. Die bewusstseinsverändernden Klang- und Lichteffekte gehören zum Setting des Clubs, zu dessen Intensivierung in Berliner Clubs als billiger Kokainersatz aktuell Captagon kursiert und konsumiert wird.

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Trance und Erweiterung des Bewusstseins könnten durchaus als Signatur des Futurismus‘ mit seinem Versprechen für Kunst und Kultur in der europäischen Moderne beschrieben werden. Zugleich geben die akustischen und visuellen Verfahren einen Wink auf den Russischen Kosmismus.[22] Multimedialität der Arbeit von Merche Blasco unter Einsatz digitaler Verarbeitungsprozesse generiert eine Intensivierung der Wahrnehmung, die paradigmatisch eine Loslösung von einer Normal-Wahrnehmung verspricht. Man könnte es zugleich als eine Art des Feierns und Rausches benennen wie eine fließende Programmierung. Die clubartige Musik- und Bühnen-Performance von Merche Blasco reflektierte nicht zuletzt Musikevents wie das Supernova Festival vom 7. Oktober an der Grenze zu Gaza.     

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Den Abschluss des Bühnenprogramms machte Jay Bernard mit einer eingespielten Lesung seines Kurzessay Über Kunst in Englisch und einer Projektion in Deutsch, was zu einer misslichen Kollision des Gehörten mit dem Gesehenen führte. Der queere und farbige Künstler und Schriftsteller Jay Bernard wuchs im Süden von London auf. Er präsentiert seine Position zur Kunst in Anknüpfung an Derek Jarman, der unter anderem 1986 den Film Caravaggio mit Dexter Fletcher und Tilda Swinton drehte, bevor er 1994 an AIDS verstarb. Projiziert wurde der deutsche Text auf blauem Hintergrund. Der blaue Hintergrund bezieht sich bereits auf ein Gedicht von Derek Jarman: „ The sky-blue butterfly/sways on a cornflower/Lost in the warmth/of the blue heat haze/Singing the blues/Quietly and slowly/Blue of my heart/Blue of my dreams…” Denn Jay Bernard hat mit BLUE NOW eine umfangreichere Arbeit zur Kunst veröffentlicht. Zu bedenken ist dabei u.a.. dass im Word-Programm Links blau unterlegt werden.

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Torsten Flüh


[1] Vera Nerusch: Alexijewitsch: Weg zur Freiheit ist lang. (Interview mit Swetlana Alexijewitsch) In: DW 06.01.2022.

[2] Zum Wortlaut der Kriegserklärung siehe Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.
Und: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[3] Berliner Künstlerprogramm: Leitlinien. (Internet)

[4] Siehe: ARD: Syrien und der Drogenhandel mit der „Dschihadisten-Droge“ Captagon

Syrien und der Drogenhandel mit der „Dschihadisten-Droge“ Captagon. In: Tagesschau24 Stand: 10.07.2023 11:12 Uhr

[5] Siehe Torsten Flüh: The Golden Jubilee. 50 Jahre Berliner Künstlerprogramm des DAAD. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Dezember 2013. (Publikationen)

[6] Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana Alexijewitsch. Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Frankfurt am Main 2013, S. 6.

[7] Gottfried Honnefelder: Begrüssung. In: ebenda S. 11.

[8] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 32. (Zuerst: München: Carl Hanser, 2013.)

[9] Ebenda S. 29.

[10] Karl Schlögel: Laudatio. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana … (wie Anm. 6) S. 30.

[11] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand … (wie Anm. 8) S. 17.

[12] Zur Debatte über die Literatur siehe auch: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 15-16.

[13] dpa: Radisch über Alexijewitsch: Das ist keine Literatur. In: Frankfurter Rundschau 10.10.2015 11:51 Uhr.

[14] Karl Schlögel: Laudatio… [wie Anm. 11] S. 41

[15] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand … (wie Anm. 8) S. 9.
Siehe auch: Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017.
Ebenso: Torsten Flüh: Kontroverse Erinnerungskünste der Sowjetmacht. Zu Karl Schlögels Schmöker Das sowjetische Jahrhundert und einer Ausstellung im Haus Zukunft. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. November 2017. (als PDF unter Publikationen)

[16] Zur Chronologie als Format der Moderne: Torsten Flüh: Die Geschichte mit dem Dreh. Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. September 2023.

[17] DWDS: Chronik.

[18] Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Berlin: suhrkamp taschenbuch, 2019, S. 21. (zuerst 1997 unter dem Titel Tschernobylskaja molitwa in der Zeitschrift Druschba narodow in Moskau)

[19] Swetlana Alexijewitsch: Dankesrede. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana … (wie Anm. 6)  S. 65.

[20] Zur Stimme siehe auch: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Unbestimmtheit und Verclubbung. Zu The Long Now 2016 im Kraftwerk Mitte bei MAERZMUSIK. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[22] Siehe: Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung und Finissage Art Without Death: Russischer Kosmismus im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Oktober 2017. (als PDF unter Publikationen)

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Emanzipation – Sexualität – Gewalt

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Zur verspäteten Ausstellung Aufarbeitung: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen der Emanzipation im Schwulen Museum

Die Kuratorin der Ausstellung und Mitglied im Vorstand des Schwulen Museums, Dr. Birgit Bosold, formulierte bereits bei der Eröffnung des Schwulen Museums im Juni 2013 an seinem professionalisierten Standort in der Lützowstraße gegenüber dem Berichterstatter ihr Unbehagen mit den visuellen und literarischen Sammlungsbeständen.[1] Das Schwule Museum in der Trägerschaft eines Vereins aus Engagierten mittlerweile aller Vertreter*innen der LGBTIQ* Community hatte es geschafft, seine Emanzipation so weit zu institutionalisieren, dass es aus dem Hinterhof auf dem Mehringdamm[2] in großzügige, helle Räume auf mehreren Etagen in die Lützowstraße ziehen konnte. Mit mehr als zehnjähriger Verspätung kam nun durch die dankenswerte Hartnäckigkeit von Bosold die Eröffnung der Ausstellung zustande.

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Die Institutionalisierung als ins Vereinsregister eingetragener Verein, durch öffentliche Projektmittel des Hauptstadt Kulturfonds und der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs finanzierte Ausstellung und Form der Anerkennung wie Bestätigung der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung seit den 1970er Jahren, als die ARD am 15. Januar 1973 Rosa von Praunheims und Martin Danneckers Agitprop-Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt bis auf Bayern bundesweit im Fernsehen ausstrahlte, hatte vermeintlich das Versprechen der Emanzipation zur Gleichheit durch ihr eigenes Museum eingelöst. Doch die Umbrüche und Unordnung revolutionär-libertärer Befreiungsbewegungen produzieren zugleich Praktiken der Überschreitung, die im weiteren Prozess einer postrevolutionären Ordnungsfindung[3], inkriminiert werden können. Dann gilt es, die von der Bewegung zusammengetragenen und geschenkten Archive und Bestände aufzuarbeiten.

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Die schwule Emanzipationsbewegung ist in Narrative und visuelle Muster verstrickt, die seit dem 19. Jahrhundert wenigstens als prekär angesehen werden müssen. Eines der Narrative umschreibt die Bilder der Männlichkeit und ihre hierarchische Anordnung, wie sie von Johann Joachim Winckelmann 1756 mit Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst angeschrieben wird.[4] Das Alter der „jungen Spartaner“ in Winckelmanns einleitenden Gedanken zur Kunst bleibt elastisch. Doch der Archäologe und Kunsttheoretiker formuliert ein klares, hierarchisches Verhältnis, das zum Körperbild junger Männer geworden ist.[5] Ob es sich dabei bereits um sexualisierte Gewalt handelt, muss einmal dahingestellt bleiben, sollte allerdings in seiner Tragweite angesichts der Aufarbeiten-Ausstellung im Schwulen Museum bedacht werden:
„Die jungen Spartaner mussten sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfiengen fett zu werden, eine strenge Diät auflegten.“[6]

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Eine wiederkehrende Formulierung in den Interviews und Berichten der Forscher*innen und der Opfer in der Ausstellung des Schwulen Museums in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung ist jene, „dafür“ keine Sprache gehabt zu haben. Die sexualisierte Gewalt als Missbrauch in hierarchischen Verhältnissen von älteren Männern und Frauen zu viel jüngeren, minderjährigen oder adoleszenten macht nicht nur sprachlos, vielmehr hatte sie keine Sprache bzw. wurde in einer Vielzahl von Narrativen, Rollenmodellen und Bildtopoi kanalisiert, umgelenkt und sanktioniert sowie instrumentalisiert. Dies ist nicht auf schwule oder lesbische Sexualitäten begrenzt, sondern kann auf ähnliche Weise in heterosexuellen Beziehungen stattfinden. Anders gesagt: die Leerstelle Sexualität verlangt nach einer verbalen und visuellen Systematisierung, wenn Konrad Hoffmann davon spricht, dass mit (Bild)Topos „ein formallogisches Systemtraining in dialektischem Schlußfolgern gemeint ist“.[7]

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Das Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche brach mit medialem Aplomb 2010 anlässlich der Missbrauchsdebatte um das Berliner Canisius-Kolleg und die reformpädagogische Odenwaldschule (OSO) auf. Plötzlich wurde der Topos des „pädagogischen Eros“ hinterfragt, der den systematischen Missbrauch an Jungen und Mädchen verbrämte. Experten der Pädagogik und Reformpädagogik wie Hartmut von Hentig und der ehemalige Schulleiter der OSO, Gerold Becker, standen plötzlich als Missbrauchstäter in der Öffentlichkeit. Die sprachlosen Opfer wurden zunächst entweder medial denunziert oder aus der Reformpädagogik heraus angezweifelt. Gerade weil es sich bei der Odenwaldschule um eine bei Vermögenden beliebte Eliteschule für ihre Kinder handelte, deutsche Karrieren daraus hervorgegangen waren, sollte der „pädagogische Eros“ nicht kritisch debattiert werden. Hans-Jürgen Heinrichs stellte am 18. März 2010 in der Sendereihe Forschung und Gesellschaft im Deutschlandradio Kultur die Frage: „Der pädagogische Eros Reformpädagogik auf dem Irrweg?“[8] 

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Die Reformbewegung der Jahrhundertwende, die OSO war 1910 gegründet worden, wie die Jugendbewegung und Reformpädagogik generierten ein Narrativ, das noch im Kaiserreich die Sexualität junger Menschen einerseits befreien und zugleich im Dienste der Gesellschaft als deren Verjüngung kanalisieren sollte. Die Reform als liberale Variante der Revolution vermied den Umbruch, weil sie zugleich eine andere gesellschaftliche Form, wie sie in allen Bereichen des Zusammenlebens unter dem Schlüsselbegriff „ganzheitlich“ in der Odenwaldschule praktiziert wurde, anbot. Die Reformbewegung reicht weit in die Publikationen der Verbalisierung und Visualisierung schwuler und lesbischer Rollenmodelle in den 20er Jahren hinein, wie die Ausstellung in den Räumen des Schwulen Museums im Bereich „Leitmedien“ mit der Zeitschrift Der Eigene von Adolf Brandt, Die Insel – Das Magazin der Ehelosen und Einsamen von Friedrich Radszuweit oder Die Freundin – Das ideale Freundschaftsblatt ebenfalls von Radszuweit reich bebildert zeigt. Das Genießen der jugendlichen Körper wird zu einer weit verbreiteten (Sub)Kultur.

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Die Rolle der Sprachlosigkeit vor allem der Opfer kann bei der Aufarbeitung kaum überschätzt werden. Der Aktivist Matthias Katsch, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, erhielt denn auch einen Platz in der Abfolge der Eröffnungsreden. Wo soll man ansetzen? Wo beginnt die falsche Sprache oder wie Bodo Kirchhoff schrieb „Scheinsprache“? Wie geht die richtige Sprache? Was hilft das Erzählen? Wie wichtig ist das Gehörtwerden? Was macht Öffentlichkeit? Im Umfeld der verzögerten und verspäteten Debatte um die Odenwaldschule machte Bodo Kirchhoff im Spiegel publik, dass er als 12-jähriger Schüler vom Kantor seiner Evangelischen Internatsschule am Bodensee sexuell missbraucht worden war.
„Die falschen Pädagogen sind, wie sie sind, sexuelle Freaks im Kleinen, und genau das reichen sie weiter. Keinem der Betroffenen sieht man an, wie viel in ihm kaputt ist, welchen Umfang das Sprachloch hat; jeder hat seine Scheinsprache entwickelt, um mit sich und der Welt klarzukommen. Macht kaputt, was euch kaputtmacht, hieß es, als ich Student in meinem Gehäuse war; aber es reicht, davon Wort für Wort, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu erzählen.“[9]

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Das Erzählen als Strategie der Aufarbeitung nimmt einen breiten Raum in der Ausstellung auf Bildschirmen mit Kopfhörern ein. Händeringend, stockend, nach Worten suchend wird in den Videos erzählt, während in Heften und Flugblättern ebenso wie Zeitungsartikeln um 1968 in der sogenannten Sudentenrevolution oder Studentenbewegung Forderungen der Emanzipation nach Legalisierung von Sex mit Kindern und Jugendlichen formuliert werden. Aus den unterschiedlichen Exponaten bricht ein Widerspruch und eine explosive Spannung hervor. Wie lassen sich diese unvereinbaren Erzählungen aushalten? Das Schwule Museum und das Archiv der deutschen Jugendbewegung stellen sich nun ihrer, durchaus schmerzhaften Aufarbeitung, wie es zu „Zwiespältige Erbschaften“ heißt:
„Lange Zeit haben unsere Einrichtungen Nachweise für sexuellen Kindes-Missbrauch aufbewahrt, ausgestellt und veröffentlicht. Nachweise sind zum Beispiel Bilder und Texte.
Das Problem: Unsere Einrichtungen sind nicht kritisch mit den Nachweisen umgegangen. Sie haben die Nachweise sogar bewundert.“[10]

„Und das motiviert mich, daran jetzt intensiv zu arbeiten.“

Wo sollen die postrevolutionären Grenzen nach ’68 gezogen werden? Der Liberalisierung homosexueller Praktiken ging 1918 die Novemberrevolution voraus. Am 12. November 1918 hatte der „Rat der Volksbeauftragten“ verkündet: „Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.“ In der revolutionären Scheidezeit von 1918/19 gelingt es Richard Oswald unter Beratung durch Magnus Hirschfeld den Film, heute würde man es Doku-Drama nennen, Anders als die Anderen zu drehen und in die Berliner Kinos zu bringen. Schnell wird der Film zur Abschaffung des § 175 StGB zensiert und verschwindet wieder, um teilweise verschnitten in Zirkeln weiter als zensiertes, aber emanzipatorisches Wissen zu kursieren. Wer liest und bewundert Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig? War Tadzio nicht immer schön und viel zu jung für die Blicke Aschenbachs? Und was passierte mit Luchino Viscontis „Most beautiful Boy in the World” (2021), Björn Andrésen? Er war 15 Jahre, als Visconti ihn 1971(!) in Morte a Venezia zu Tadzio machte. Die Ausstellungswand erwähnt Manns Der Tod in Venedig, der längst in den queer studies reüssiert hat.

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Als prekärer Bildtopos wird ebenso das Plastikmotiv des Dornausziehers erwähnt, der in der Literatur von Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater bis zu vielfachen Plastiken von Knaben reproduziert wird. Heinrich von Kleist macht den Dornauszieher aus den Antikensammlungen in deutschen Städten zu einer entscheidenden Frage des Wissens von sich selbst und der Kunst. Mit anderen Worten: Der Dornauszieher hat zuerst keine Sprache, für das, was er tut! Beim Versuch der Wiederholung, nachdem er gesprochen hat, misslingt ihm die „Grazie“ auf lächerliche Weise, wie es heißt:
„Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte.“[11]    

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Keine Antikenreplik, sondern eine eher ungeschickte, vermutlich massenhaft gefertigte Nachbildung wie jene millionenfache des David von Michelangelo wird hinter einer roten Plastikfolie ausgestellt und verborgen. Dornauszieher und David bildeten für Generationen Schwuler ein Paar der Bezugnahme und einer Art emanzipatorischen Stolzes. Die Antikenreplik folgt dem Modus der Wiederholung zur Bestätigung einer Wahrheit, so simpel sie auch sein mag. Durch die Frage nach der ihr immanenten sexualisierten Gewalt wurde nicht zuletzt die Vereinssatzung des Schwulen Museums fragwürdig, wie es auf der Präsentationswand heißt:
„In der Gründungs-Satzung unseres Träger-Vereins stand zum Beispiel bis zum Jahr 2011: Das Schwule Museum soll die Geschichte der „Knaben-Liebhaber“ bewahren.
In der Satzung des AdJb stand bis zum Jahr 2002: Das Archiv muss sich um den Nachlass von Gustav Wyneken kümmern.
Gustav Wyneken wurde im Jahr 1921 wegen sexuellem Kindes-Missbrauch verurteilt.“[12]

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Welche künstlerischen Interventionen werden in der Ausstellung praktiziert, um die missbräuchlichen verbalen und visuellen Narrative wie Bildtopoi nicht zu reproduzieren? Und was passiert nach dem Aufarbeiten mit den Archivbeständen? Einerseits besteht die Aufarbeitung aus dem Benennen und Erinnern von Straftatbeständen, die ihre Gültigkeit in Zeiten massenhafter, tatsächlicher und medialer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht verloren haben. Vielmehr ist ein Kampf gegen Kindesmissbrauch in Zeiten des Internets und seiner massenhaften Verbreitung dringlicher geworden denn je. Das Darknet ist dafür nur ein Beispiel. Cybergrooming ist ein anderer Begriff für eine bild- und textbasierte Missbrauchspraxis an Minderjährigen im Internet. Eine visuelle Praktik der Intervention sind die roten Folienstücke, die über Fotos und Archivgegenstände gelegt sind. Auch die roten Schnüre, an denen Präsentationsflächen aufgehängt sind, signalisieren prekäre Sammlungsstücke.

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Aus der Retrospektive der visuellen Archivmaterialien und Texte, die gezeigt werden müssen, ohne zugleich die sexuelle Gewalt zu reproduzieren, ergeben sich Konflikte der vom Format Ausstellung geforderten Anschaulichkeit, die zu einer Schuldfrage zugespitzt werden. Auf diese Weise werden Forderungen nach Legalisierung von sexuellen Handlungen mit Kindern, wie sie seit 1968 bis zu Beginn der 80er Jahre gefordert wurden, als Schuld, wie in der Ausstellung mit „Beschämende Solidarität“ formuliert, anerkannt werden müssen.
„Dass „nicht gewalttätige“ sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen für Kinder unschädlich seinen, war noch 1968 sexualpolitischer Konsens in emanzipatorischen Milieus. Forderungen nach Abschaffung der Schutzaltersgrenzen und Entkriminalisierung „einvernehmlicher“ sexueller Beziehungen mit Kindern waren auf der Höhe der Zeit. „Pädoaktivistische“ Positionen begründeten sich nicht mehr mit dem hierarchischen Modell des „pädagogischen Eros“, sondern mit Rhetoriken von „sexuelle Befreiung“ und Antipädagogik“. Auch wegen gemeinsamer Erfahrungen von Verfolgung und Ächtung fanden sie breite Unterstützung in der Schwulenbewegung. Gegenstimmen wurden dagegen kaum wahrgenommen.“[13]

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Die Medienforscherin und -künstlerin Claudia Reiche steuert eine Bildeschreibung anstelle eines Ölgemäldes bei. Über der Rückseite des Gemäldes hängt eine Plexiglasscheibe mit einem Text. Ein Bild und eine Erzählung lassen sich genießen. Wie lässt sich diesem verdrehten Genießen entgegenarbeiten? Wie kann die verführerische Schicht von Farben, Spiegelungen und sich abzeichnenden Formen durchkreuzt werden? Kann ein Zur-Sprache-bringen der Konstruktion des Bildes das Genießen abwenden? Es dreht sich immer alles um die Schnittstelle von Sprache und Bild.
„„Fischerknaben“ seien es, beim Bad im Meer, wie der Titel des Gemäldes eines deutschen Malers des 19. Jahrhunderts mitteilt, und Capris ‚blaue Grotte‘ sei der Ort. Seine Zeit setzt das Gemälde in einer Antike, deren Ewigkeit als wiederholbar konstruiert ist. Wiederholbar wie gebräunte, muskulöse Körper der am felsigen Meeresufer spielenden Jugendlichen und die der jungen Männer.“[14]

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Das Szenario bezieht sich auf einen frühen, wieder erkennbaren, gar touristischen Ausflugsort, der Blauen Grotte auf der frühen Urlaubsinsel Capri, der sich schnell als eine Schnittstelle von Kunst, Begehren und Tourismus im 19. Jahrhundert etablierte. Der aufsehenerregende Naturort, den im August 2019 die Medienpersönlichkeiten Heidi Klum und Tom Kaulitz als Szenario für die Darstellung ihrer intimen Beziehung nutzten, einer widerrechtlichen Eindringung in die Grotte, indem sie ein örtliches Schwimmverbot brachen, wird seit dem 19. Jahrhundert als Körperinnenraum imaginiert. Mit den Worten Reiches:
„Eine Wasserspiegelung in einem Bassin am Übergang der Felsengrotte zur dahinter leuchtenden Meeresweite gibt die Hauptgruppe dieser Fischer in perspektivischen Verzerrungen und Ausschnitten als Arrangement aus Beinen, Gesäßen und Oberkörpern zu sehen. Dieser Wasserspiegel, vom Umriss einer Auster, zeigt uns im Vordergrund ein heimliches Bild verschlungener Körperteile, umkränzt von Schaum.“

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Die Blaue Grotte von Capri mit ihren Spiegelungen und der Öffnung oder einem Loch im Fels zum Meer bzw. vom Boot den Einblick in einen verlockend blau leuchtenden Innenraum wird, wie nicht zuletzt von Klum und Kaulitz vorgeführt, als Penetrationsphantasie inszeniert. Das widerrechtliche Eindringen in die Grotte ruft gleichsam, zum Rechts- oder bei Klum und Kaulitz zum Diskursbruch auf. Das aufwendige, vermeintlich naturalistische und natürliche Szenario der vielen Knaben in der Grotte bietet eine Spiegelung an, die einer Imagination entspringt. Es geht um ein komplexes Szenario von Spiegelungen.
„Die so gespiegelte Fünfergruppe besteht aus zwei einander zugewandten Männerpaaren und einem jüngeren bäuchlings Liegenden, dessen Blick zum Unterleib des einzigen gänzlich Nackten dieser Gruppe geht. Die aus der Gruppe aufragende Figur mit roter phrygischer Mütze setzt die Pose des ihm zu Füßen liegenden Jungen halbkreisförmig nach oben fort.“

„Es gab im Vorfeld die Gründung des Arbeitskreises Tabubruch,“

In gewisser Weise haben erst Klum und Kaulitz das Geheimnis der Blauen Grotte in ihrem ständigen Wechsel von Zeigen und Verbergen zur vollen Geltung gebracht und einer vernetzten Weltöffentlichkeit präsentiert. Auf den ebenso heimlichen wie offensichtlich bestellten Fotos der beiden Modells ist alles und nichts zu sehen. Im Gegenlicht des blauen Scheins zeichnen sich die schwimmenden Körper dunkel ab und können ebenso bekleidet wie nackt sein. Das schien eben der hier namenlose Maler im 19. Jahrhundert bereits verstanden zu haben. Aus den Farbschichten und Formen wird das ganze Ensemble aus Erektion, Eindringen und Ejakulation (Schaum) an jungen, minderjährigen Männern gezeigt und verborgen.
„Diese Zentralfigur wendet den Blick der rechts zu ihr stehenden und zu ihr aufblickenden Figur zu, während ihr lang ausgestreckter Arm mit einer starken Gebärde unbestimmten Hindeutens nach links auf fünf spielende Jungen im Wasser weist. Die tiefe Nachmittagssonne wirft den langen Schatten des Armes zurück auf die Brust des so Deutenden und weist zum angeblickten Gegenüber, genauer zu dessen in lockere weiße Wäsche bekleideten Unterleib, wo eine Erektion im Faltenwurf des Stoffs angedeutet ist.“

„dass Betroffene von sexualisierter Gewalt,“

Bilder entstehen nicht zuletzt zum Gebrauch. Der Aspekt des Gebrauchs wird in der Ausstellung weniger deutlich thematisiert, obwohl er mit dem Begriff Missbrauch ständig angeschrieben wird. Das ist ein Manko. Bilder existieren nicht ohne Gebrauch, um es einmal zugespitzt zu formulieren. Sie werden zur Spiegelung, zum Genuss, zur Selbstdarstellung, zur Bewunderung, zur Befriedigung, zur Emanzipation, zur Einübung, zur Disziplinierung, zur Strafe, zur Erniedrigung, zum Gelderwerb etc. gebraucht. Manchmal einzeln, auch widersprüchlich und manchmal alles zugleich. Für das Subjekt seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert dreht sich indessen alles um la jouissance, den Genuss. Niemand anderes als Friedrich II. hat in Anknüpfung an Voltaire dazu um 1840 der jouissance die Weltherrschaft erteilt. Mit dem Gedicht La Jouissance formulierte er sein Befreiungsprogramm(!).[15] Insofern entweichen dem Vesuv im Ölgemälde nicht nur „Dampf und Gase in einer schlanken Wolke“.
„Rechts vom dieser zentralen Gruppe, in einer etwas erhöhten und kleineren Öffnung der Grotte zum Meer hin, haben sich ein junger Mann und ein nackter Junge abgesondert. In der fernen Tiefe des Bildes, hinter ihnen, entweichen Dampf und Gase in einer schlanken Wolke dem Vesuv. Der ebenfalls rot bemützte und mit Hemd und kurzer Hose bekleidete Mann blickt zu den Badenden nach links, dabei mit dem Körper lässig uns zugewandt und beiden Händen in den Taschen. Der graziös vor ihm sitzende Junge blickt uns ruhig und ernst an.“

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Wie sieht sexuelle Gewalt aus? Gezeigt werden auch Filmsequenzen aus Veit Harlans  Anders als du und ich (§ 175) von 1957, dessen Originalfassung in Anknüpfung an Magnus Hirschfeld den Titel Das dritte Geschlecht tragen sollte. Zumindest als der Berichterstatter durch die Ausstellung wanderte, sah er den ihm bekannten Ausschnitt beim Antiquitätenhändler Dr. Boris Winkler (Friedrich Joloff). Die Filmsequenz wird in der Ausstellung nicht näher kommentiert. Hat sie Identifikationspotential oder stößt sie den schwulen Blick ab? Der Film wird wenig eingeordnet. Die Verführungsszene im Hause Winklers mit elektronischer Musik, antiken Statuen(!) und nackten Jünglingen ist ebenso aufwendig wie prekär inszeniert. Einerseits versucht der Naziregisseur Veit Harlan unter Beteiligung seines Sohnes Thomas mit sexualwissenschaftlicher Geste für eine Akzeptanz, gar Emanzipation und Abschaffung des § 175 StGB zu argumentieren. Andererseits geht es mit der Hauptfigur der Mutter in der Starbesetzung von Paula Wessely um die seinerzeit existierenden, sexualstrafrechtlichen Kuppelparagraphen 180 und 182 StGB. Die betreffende Szene schwankt zwischen Avantgardekunst (elektronische Musik), sexueller Freiheitspraxis und der diabolisch ins Licht gesetzten Verführer-Figur Dr. Boris Winkler, der mit dem Titel nicht zuletzt als Akademiker markiert wird. 

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Der Film verhandelt mit den Strafprozess-Sequenzen vor allem eine Schuldfrage. Ist die Mutter der Kuppelei schuldig oder nicht? Wollte sie den Sohn nur vor einem Verführer retten? Für die Verhandlung der Schuldfrage wird gleichsam als entlastendes Material die Verführung zu gleichgeschlechtlichen Handlungen im Sinne des § 175 StGB ins Spiel gebracht. Verhandelt wird insofern vor allem die mütterliche Aufsichtspflicht mit der Botschaft: Mütter passt auf eure Söhne auf! Die Schuld der Mutter an einer fehlgeleiteten sexuellen Orientierung setzte sich als Narrativ der 60er und 70er Jahre tief im Diskurs mütterlicher Verantwortung für die Sexualität des Sohnes fest. Insofern musste die Verführungssequenz im Hause Winklers diabolisch inszeniert werden. Dabei überschneiden sich das Verantwortungs- und das Verführungsnarrativ. Die in Szene gesetzte sexualisierte Gewalt wird zumindest hier zu einer offensichtlich warnenden Konstruktion: Warnung vor dem Intellektuellen und Verführer. Die Verführungsszene ist nicht emanzipatorisch, sondern denunzierend angelegt. Der Identifikation mit dem vermeintlich charismatischen und wortmächtigen Verführer Dr. Winkler wird insofern dramaturgisch entgegen gearbeitet. Faszinieren konnte sie vermutlich trotzdem.

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Die Ausstellung Aufarbeiten im Schwulen Museum, die bis zum 26. Februar 2024 zu sehen ist, appelliert an die Empathie der Community. Denn sie „stellt zur Diskussion wie es möglich war, dass Bewegungen, deren Kernanliegen die Selbstbestimmung von Menschen ist, so anfällig waren für die Rhetoriken der Täter*innen, so unsolidarisch mit den Betroffenen und beklemmend desinteressiert an deren Schicksal“.[16] Die tradierten Narrative und Visualisierungen nicht zuletzt einer griechisch-römischen Antike des 19. Jahrhunderts als Inbegriff humanistischer Bildung – Wilhelm von Humboldt – haben Machtverhältnisse im Dienste sexualisierter Gewalt sanktioniert und institutionalisiert, möchte ich einmal formulieren. Doch die revolutionären Dynamiken erschöpfen sich damit nicht, vielmehr werden sie – wie mit der Blauen Grotte – weiter popularisiert, medialisiert und kapitalisiert.

Torsten Flüh

Aufarbeiten:
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
im Zeichen der Emanzipation

Schwules Museum
Montag, Mittwoch, Freitag: 12–18 Uhr
Donnerstag: 12–20 Uhr
Samstag: 14–19 Uhr
Sonntag:14–18 Uhr
Dienstag: Ruhetag
Lützowstraße 73
10785 Berlin


[1] Die Besprechung vom 3. Juni 2013 entfaltet sich um die Frage der Institutionalisierung und Emanzipationsbewegung: Torsten Flüh: Bilder erzählen. Zur Neu-Eröffnung des Schwulen Museums in der Lützowstraße. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Juni 2013. (als PDF unter Publikationen)

[2] Beispielhaft: Torsten Flüh: Sonntag mit Jean. GENET – Hommage zum 100. Geburtstag im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Dezember 2010. (als PDF unter Publikationen)

[3] Hier mit knüpfe ich mehr oder weniger an Christopher Clarks Revolutionsbeschreibung an. Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[4] Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden und Leipzig 1756.

[5] Ausführlicher siehe: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte. In: Initiative Queer Nations (Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf) (Hrsg.): Jahrbuch Sexualitäten 2019. Göttingen: Wallstein, 2019. S. 43-70.

[6] Joann Joachim Winckelmann: Gedanken … [wie Anm. 4] S. 5.

[7] Konrad Hoffmann: „Was heißt ›Bildtopos‹?“. Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, edited by Thomas Schirren and Gert Ueding, Berlin, Boston: Max Niemeyer Verlag, 2000, p. 237.

[8] Hans-Jürgen Heinrichs: Der pädagogische Eros. Reformpädagogik auf dem Irrweg? In: Forschung und Gesellschaft. 18. März 2010 Deutschlandradio Kultur (PDF).

[9] Bodo Kirchhoff zitiert nach ebenda.

[10] Zitiert nach Ausstellungstext.

[11] Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Zuerst in: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter (als Fortsetzung) 12.-15. Dezember 1810.

[12] Zitiert nach Ausstellungstext.

[13] Ebenda.

[14] Zitiert nach Ausstellunginstallation.

[15] Siehe Torsten Flüh: Geburtstagsparty mit l’esprit. 300. Geburtstag Friedrichs des Großen als Originalklang-Konzert mit Armin Müller-Stahl und Burghart Klaußner. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Januar 2012. (PDF unter Publikationen)

[16] Zitiert nach Ankündigungstext.

Der europäische Bogen der Revolution

Revolution – 1848 – Geschichte

Der europäische Bogen der Revolution

Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

Am 25. September 2023 stellte Christopher Clark eloquent im Gespräch mit Jenny Friedrich-Freska im Humboldt Forum sein neues, bereits auf Platz 9 der Spiegel Bestseller gelistetes Buch Frühling der Revolution als eine nichtlineare Erzählung von den Revolutionen in Europa der Jahre 1848/49 vor. Denn der Ort auf dem  52.517883 Breiten- und 13.393655 Längengrad war mit dem Berliner Schloss, das mit der Fassade des Humboldt Forum bis auf die Große Kartusche als spät hinzugefügten Detail sowie der zwischen 1845 und 1853 aufgesetzten neobarocken Kuppel, ebenfalls am 18. März 1848 ein umkämpfter Schauplatz der Revolution. „Schließlich trat der Monarch (Friedrich Wilhelm IV.) auf einen Balkon über dem Platz, wo er mit frenetischem Jubel empfangen wurde.“[1]

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Im Saal 1 des Humboldt Forums erzählte Christopher Clark ebenso launig wie überrascht vom weiteren Verlauf der Revolution unter dem Schloss-Balkon, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ein blutiges Ende nahm. „Der recht skurrile Versuch des Palasts, diese Falschinformation mithilfe zweier Zivilisten zu korrigieren, die ein breites Leintuch mit der Aufschrift »Ein Missverständnis! Der König will das Beste!« durch die Straßen trugen, hatte, wie zu erwarten, wenig Erfolg.“[2] – Wir wissen nicht, ob es sich bei dem Balkon um eben jenen von Portal IV handelte, der von Roland Korn und Hans Erich Bogatzky als Portal für das Staatsratsgebäude der DDR am Schloßplatz verbaut wurde. Auf jenem Balkon soll Karl Liebknecht am 9. November 1918 die „sozialistische Republik“ ausgerufen haben.

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Die Nichtlinearität der Geschichte gehört zu Christopher Clarks neuartigen Ansatz seiner materialreichen, über tausend Seiten umfassenden Erzählung von der 1848er Revolution. Denn er wehrt sich vor allem gegen die landläufige These, „dass dem Narrativ dieser Aufstände ein erlösender Abschluss fehlte“[3], wie er es in der Schule gehört hatte. Das Paradox des Fehlens „ein(es) erlösende(n) Abschluss(es)“ wird mit dem Balkon von Portal IV als einem vermeintlichen Abschluss der Geschichte augenfällig. Statt Sozialismus beheimatet das Gebäude nun die Privatuniversität European School of Management and Technology (ESMT) und empfiehlt sich als Eventlocation. Dazu passen dann die dem Gott des Weines, Bacchus, gleichenden Atlashermen von Balthasar Permoser, die den Balkon des 2. Stocks tragen.

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Die Fassade des Humboldt Forums erinnert nicht nur an das vielfach erweiterte und umgebaute Schloss in seiner Funktion als Sitz der Herrscherfamilie und Machtzentrum, vielmehr wird in den Durchgängen ebenso an die Revolutionen von 1848, 1918/19 und die Revolution der Bürger*innen der DDR von 1989 vor dem Palast der Republik(!) erinnert, als die Demonstrierenden damit rechnen mussten, dass auf sie geschossen werden könnte. Wie entstehen Revolutionen? Wie kam es zu der europaweiten Revolution von 1848? „Das wohl auffälligste Merkmal“, schreibt Clark in seiner Einleitung, „von 1848 war ihre Gleichzeitigkeit – sie war schon den Zeitgenossen ein Rätsel, und sie ist ein solches für die Historiker geblieben.“[4] – Ob der König zur Menge vom Balkon im 1. oder 2. Stock ohne technische Hilfsmittel sprechen wollte oder sprach, wird nicht mitgeteilt. – Eine große Menge wird kein Wort vom Balkon verstanden haben.

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Christopher Clark versucht das Rätsel der Revolution nicht zu lösen. Aber er bietet in 9 ausführlichen Kapiteln von den „Soziale(n) Fragen“ über „Ordnungskonzepte“, „Konfrontation“ und „Explosion“ ebenso wie „Regimewechsel“ und „Emanzipation“, „Entropie“, „Gegenrevolution“ und „Nach 1848“ eine Vielzahl von Diskussionsbeiträgen an. Die in Deutschland „Soziale Frage“[5] genannten Probleme seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wird bei Clark zu einer Vielzahl „Soziale(r) Fragen“, die auf über einhundert Seiten beschrieben werden. Denn: „Die »soziale Frage«, die Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte, war ein ganzer Komplex realer Probleme, aber sie war zugleich auch eine Art der Wahrnehmung.“[6] Wobei es dabei vor allem um eine neuartige „Politik der Beschreibung“ bis zum Roman Les Mystères de Paris geht.[7] Beschreibungen sind nicht zuletzt ebenso relevant für die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ von 2010/11, an die Clark mit seinem Titel Frühling der Revolution anknüpft und auf deren Rätselhaftigkeit anspielt.
„Die Gleichzeitigkeit  war auch einer der rätselhaftesten Momente der Ereignisse von 2010/11 in den arabischen Ländern, die tiefe lokale Wurzeln hatten, aber eindeutig auch miteinander verknüpft waren.“[8]

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Der große Bogen der Beschreibungen berührt und erwähnt denn auch mehr en passant Bettina von Arnim und ihr anonym veröffentlichtes Buch[9] Dies Buch gehört dem König. von 1843.[10] Der kryptische Titel dieses Buches bedarf einer Transkription, die dahin lauten könnte, dass der König, Friedrich Wilhelm IV., verdammt noch mal dieses Buch lesen solle. Aus dieser Perspektive einer dringlich warnenden Stimme aus dem Umkreis des Berliner Hofs gerät der Auftritt des Königs auf dem Balkon 5 Jahre später in ein anderes Licht. Denn Bettina von Arnim war nicht nur über ihre Schwester Kunigunde von Savigny, geb. Brentano, durch Friedrich Karl von Savigny als Mitglied des Staatsrats über politische Entscheidungen informiert, sie veröffentlichte durch Gespräche mit Dämonen 1852 als ausdrücklichem „zweiten Band“ des „Königsbuchs“ eine Kritik der Revolution von 1848 und ihrer Ergebnisse.[11]
„Ich dachte, wäre das mein Ziel, B e s c h ü t z e r  d e r  U n t e r d r ü c k t e n, das wollt ich so gerne sein; — und wo ich ging und stand sann ich auf diesen Juwel ihn an der Stirne zu tragen. — Und Deine Weisheit ist das reife Blut der Traube, ich muß es trinken, es rieselt durch die Sinne und beherrscht den Geist. — — —“[12]

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Bettina von Arnim veröffentlicht ihre Kritik der Revolution in einer aufwendig verschachtelten Konstruktion, die einen Wink auf das politische Klima, ja, Angst nach 1848 in Berlin gibt. Der zweite Band des „Köngisbuchs“ kommt als märchenhafter Briefroman und Lehre des Islam daher. Hatte sich die Anonymität schon beim ersten Band nicht lange wahren lassen, so wird nun die Kritik an den sozialen Verhältnissen in Berlin mit mehreren literarischen Drehungen so formuliert, dass sich eine Aussage kaum fassen lässt. Die literarischen Operationen lassen eine Kritik nur aufscheinen, wenn das unwahrscheinlich Märchenhafte und Orientalische abgestreift wird.

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Mit der Geste der Aufklärung durch Verfremdung gleich den Lettre Persanes (1721) von Montesquieu schreibt Bettina von Arnim nicht vom preußischen König, sondern zugleich mit Wink auf Goethe als Widmung „Dem Geist des Islam vertreten durch den großmüthigen Abdul-Medschid-Khan Kaiser der Osmanen.“[13] Eine Kritik der Revolution lässt sich für sie nicht deutlicher artikulieren.
„Die Schriftstellerin Bettina von Arnim, die sich auch mit der sozialen Frage beschäftigte, hatte an den Ereignissen in Berlin von 1848 zwar nicht teilgenommen, aber während dieses Jahres, zum Entsetzen ihrer Verwandten, nicht nur einen sondern zwei Salons unterhalten. Den einen besuchten überwiegend konservative und liberale Oberschichtfiguren aus dem Adelsmilieu, in dem ihre Familie verkehrte. (…) Bettina von Arnims Briefe aus den Monaten des Aufruhrs offenbaren ihr unermüdliches Bemühen, zwischen den Lagern zu vermitteln.“[14]

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Für Christopher Clarks Frühling der Revolution nimmt Bettina von Arnim als Berliner Autorin und Salonière gleichsam eine Scharnierfunktion ein. Der extreme politische Druck, der durch den zweiten Teil des „Königbuchs“ spürbar wird, wird von Clark zugunsten des großen Bogens kaum berücksichtigt. Die Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande vor dem Hamburger Tor von Heinrich Grunholzer als systematische und formalisierte Beschreibung der aus Armut in die „Familienhäuser“ gezogenen Menschen, wären indessen „ohne ihre Initiative (…) nicht zustande gekommen“.[15] Dabei endet Bettina von Arnims politik-philosophischer erster Band radikal, wenn der „Kathrinenthurm“ als Symbol einer alten Macht der Kirche in Frankfurt am Main weggeschossen wird, aber Berlin gemeint ist.

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Von Clark wird die Armutsbeschreibung aus dem sogenannten Vogtland vor dem Hamburger Tor als systematische Sammlung von formalisierten Erzählungen – „Als ich eintrat, nahm die Frau schnell die Erdäpfelhäute vom Tische, und eine sechszehnjährige Tochter zog sich verlegen in einen Winkel des Zimmers zurück, da mir der Vater zu erzählen anfing.“[16] – in dem zentralisierten, privaten Armenquartier außerhalb der Stadtmauer, den sogenannten „Familienhäusern“, favorisiert. „Bettina von Arnim will kein faktizitätsgetreues Bild der Wirklichkeit konstruieren, sie will offenkundig machen, dass es nottut, nach einer Realität zu suchen, die es noch nicht  gibt.“[17] Doch die zunächst anonyme Verfasserin hatte vor den Erfahrungen bereits die Stadt beschießen lassen und die revolutionäre Freiheit gefeiert:
„Fr. Rath.      Ach gute Stadt Frankfurt geschieht endlich wieder einmal ein klein Elementespiel in deine Mauern zu deim Sommerplaisir! — Da seh nur unserm Kathrinenthurm sein Zopf brennt! — guck nur wie er seine Stirne kraus zieht. Ja guter Kerl dein Nachtmütz brennt ab. (…) Haha! das ist ein gut Zeichen für uns die wir das Feuer der Freiheit zu conserviren uns der Unsterblichkeit geweiht haben! —“[18]

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Der Frankfurter Zungenschlag klingt in der Schreibweise der Beschreibung Bettina von Arnims als gebürtiger Frankfurterin fast spaßig durch. Im Hochdeutsch des Dichtergatten, Achim von Arnim, und Dichterbruders, Clemens von Brentano, hätte sich der launige Beschuss der Stadt als Folge des „Feuer(s) der Freiheit“ kaum schreiben lassen. Die Zeitungsmitarbeiterin Bettina von Arnim beherrscht die literarische Verstellung wegen der Zensur, die schon für Zeitgenoss*innen schwer auf eine Position festzulegen war. Radikal ist die Geste allein und winkt hinüber zum Frühling von 1848. Dennoch ist es wohl nicht zuletzt ihre gesellschaftliche Position als Witwe, die lange im Hause Friedrich Schleiermachers mit ihren Kindern leben musste, bevor sie 1847 in ein gutshausähnliches Gebäude In den Zelten vor die letzte Stadtmauer zog, zwischen Bürgertum, Adel, Administration und sozialen Aktivist*innen, die sie zu einer Scharnierfigur macht.

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Christopher Clarks europäische Perspektive nicht zuletzt auf Frauen als Akteurinnen und Beobachterinnen der gesellschaftlichen Umbrüche, die sich 1848 quasi entladen, wird mit der Frage nach den „Ordnungskonzepte(n)“ durch den Abschnitt „Eine Welt der Männer“[19] erhellend. Darin widmet er sich der Pariser Journalistin Claire Démar, die 1833 jene Macht in Frage stellte, die heute weithin als Patriarchat bekannt ist. Zwar hatten bereits d’Alembert und Diderot das „PATRIARCHAT“ in ihrer Encylopédie berücksichtigt, aber nur hinsichtlich seiner kirchenrechtlichen Verwendung: „PATRIARCHAT, étendue de pays soumise à la jurisdiction d’un patriarche.“[20] Also, als ein Gebiet oder Land, das der Gerichtsbarkeit eines Patriarchen unterliegt. Hinsichtlich einer Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter beschreibt erst Claire Démar „die Macht des Vaters“ als entscheidende „Form() der Ungleichheit“ für alle anderen:
„Die Macht des Vaters sei, so Démar, ihrem Ausmaß und ihrer Tiefe einzigartig, weil sie in die Prozesse verwoben sei, durch die Menschen in der Kindheit und Jugend sozialisiert und diszipliniert werden. Es sei die Macht, durch die Väter ihre Söhne deformierten, indem sie deren »geschundene Gliedmaßen« schlügen, um sie zur Unterordnung zu zwingen.“[21]   

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Der Abschnitt zu den Machtverhältnissen der Geschlechter macht besonders deutlich, dass die brennenden Fragen nach Ordnungskonzepten bis auf den heutigen Tag trotz aller Revolutionen nicht einfach gelöst worden sind. Die Geschlechterfrage inklusive „der sexuellen Beziehungen“[22] wird im Vorfeld der Revolution bereits seit 1833 in Paris von der „radikale(n) Journalistin und Schneiderin Suzanne Voilquin“ und ihrer Freundin Claire Démar zur Debatte gestellt. Die neuartigen industriellen Verhältnisse wirken sich zumindest in Paris auf andere Ordnungskonzepte zwischen den Geschlechtern aus. Nicht zuletzt war dem Berichterstatter kürzlich bei Hector Berlioz‘ Les Troyens die Konzipierung der Frauenrollen aufgefallen.[23] Voilquin und Démar gehörten zu jener Stimmung, in der der Komponist seit den 1830er Jahren in Paris lebte.
„Démars Stimme war außergewöhnlich aggressiv, aber keineswegs isoliert. Ihre enge Freundin Voilquin war eine der Herausgeberinnen einer Publikation, die unter dem Namen La Femme nouvelle, L’Apostolat des femmes und La Tribune des Femmes bekannt war und in der Autorinnen, ausnahmslos Frauen und größtenteils Arbeiterinnen, lediglich mit dem Vornamen unterschrieben, um die patriarchalen Implikationen des Familiennamens zu vermeiden.“[24]

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Das Geschlecht in Hinsicht auf eine Konstruktion von Rasse spielt durch die Emanzipation als Brückenwert ebenso eine Rolle bei der Forderung nach der Befreiung von Sklaven. Die Vision „einer Welt ohne Patriarchat“[25] betrifft nicht nur die Frauen, vielmehr regieren ebenso hierarchisch-patriarchale Verhältnisse in der Sklaverei. „Für Claire Démar und Flora Tristan waren Frauen die Sklavinnen der Männer. (…) Für Joseph de Maistre waren Revolutionäre keine Freiheitskämpfer, sondern Sklaven der Geschichte.“[26] Mit anderen Worten: Die Begriffe des Sklaven und der Sklaverei kursieren im Vorfeld der Revolution von 1848 relativ elastisch. Wer sich nicht emanzipiert, in der Umkehrung des Narratives, bleibt Sklave oder Sklavin ohne Entscheidungsfreiheit. Die Abschaffung der Sklaverei wird wiederholt gefordert und z.B. in England und Frankreich unterschiedlich erfolgreich umgesetzt.
„Die französische Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei erlangte nie die gesellschaftliche Tiefe ihres britischen Pendants. (…) Es gab in Frankreich regelmäßige Versuche, größere Unterstützung für die Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei zu gewinnen, doch die Reaktion war enttäuschend: Eine Petition in Paris und Lyon im Jahr 1844 bekam nicht einmal 9000 Unterschriften.“[27]

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Christopher Clark spitzt die Widersprüche in der Revolution 1848/49 zu. Nicht jede und jeder, die von der Sklaverei schreibt und sie verurteilt, tritt engagiert genug auf, um sie abzuschaffen. Die Grenzen der Geschlechter in der dem Deutschen eigenen Mehrdeutigkeit von Herkunft, biologischem Geschlecht oder Rasse einzureißen, schafft zugleich eine Verunsicherung bei der eigenen Verortung, mit einem anderen Wort: der Identität. Trotzdem wird 1848 nicht zuletzt durch neuartige, institutionalisierte Versammlungen zu einem Scheidepunkt für die Sklaverei.
„Im Februar 1848 brachte eine Revolution die entschlossensten Fürsprecher der Abschaffung in die Nähe der Hebel politischer Macht. Die Metapher und die Sache, die Bereitschaft zu diskutieren und die Macht zu handeln wurden auf einmal vereint, und das mit weitreichenden Konsequenzen.“[28]

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Während der Buchvorstellung im Saal 1 im Humboldt Forum kamen Susanne Kitschun für den Friedhof der Märzgefallenen und Hartmut Dorgerloh als Generalintendant des Humboldt Forums und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, so der offizielle Titel der Stiftung, zum Podiumsgespräch hinzu. Trotzdem spricht Dorgerloh lieber vom Humboldt Forum als einem Raum für Debatten, denn vom Schloss. Die europaweiten Revolutionen von 1848/49 gaben paradoxerweise vor allem den Nationalisierungsbewegungen einen Schub. Träume und Albträume des Vaterlands werden drumherum aktiviert und formuliert. Dorgerloh sieht indessen das Humboldt Forum nicht nur als europäischen, sondern mit dem Ethnologischen Museum als einen internationalen Debattenraum. Christopher Clarks Europa der Revolution von 1848 führt auch für Susanne Kitschun dazu, die Aufgaben des Trägervereins Paul Singer e.V. stärker in einer europäischen Perspektive zu sehen. Die Unabgeschlossenheit der Revolution und der Geschichte regt uns, nach Clark, zu einem anderen Blick auf 1848 an:
„In dem Maße, wie wir aufhören, Geschöpfe der Hochmoderne zu sein, werden neue Affinitäten möglich. Es ist daher besonders spannend, ja sogar lehrreich, über die Menschen und Situationen von 1848 nachzudenken: (…)“[29]

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Christopher Clark erweist sich mit Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt wiederum als ein kenntnisreicher Historiker und begnadeter Erzähler. Seine Quellen wie nicht zuletzt Claire Démar tragen weiter, als es sich selbst die Autorin hätte träumen lassen. Vielleicht muss man sogar sagen, dass die radikale Kritik des Patriarchats nach einigem Tumult mittelbar in die wiederum patriarchal formulierten Nationalismen der Vaterländer bis zum Ungarn eines Victor Orbán oder Polen eines Jarosław Kaczński mündeten. Doch die Nichtlinearität der Geschichtserzählung erlaubt es Clark nicht zuletzt, nonchalant Widersprüche aufeinanderstoßen zu lassen und einen großen Bogen bisweilen zum Nachteil der Details zu beschreiben. — Als Schlussbild lässt er ein Foto von einem „Protestmarsch der Gelbwesten (Gilets jaunes) gegen die französische Regierung im Mai 2018 in Toulouse“ abdrucken.[30]

Torsten Flüh

Christopher Clark:
Frühling der Revolution.
Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt.
München: DVA, 2023.
48,00 €
Hardcover mit Schutzumschlag, 1.168 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
mit 42 s/w-Abbildungen und 5 Karten
ISBN: 978-3-421-04829-5


[1] Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München: DVA, 2023, S. 442.
Zum Problem des Berichtens von der Revolution siehe auch: Torsten Flüh: Revolution berichten. Jörg Armbruster und Laila Soliman: Der Arabische Frühling – Wunschtraum oder Albtraum? (Mosse-Lecture) In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Januar 2013. (Als PDF unter Publikationen)

[2] Ebenda S. 444.

[3] Ebenda S. 13.

[4] Ebenda S. 16.

[5] Gerd Schneider, Christiane Toyka-Seid: Soziale Frage. In: Das junge Politik-Lexikon. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2023. (online)

[6] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Ebenda S. 28 ff.

[8] Ebenda S. 16.

[9] Ebenda S. 38.

[10] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies Buch gehört dem König. Berlin: Gedruckt bei Trowisch und Sohn, ohne Jahr. (Digitalisat)

[11] Bettina von Arnim: Gespräche mit Dämonen. Berlin: Arnim’s Verlag, 1852. (Digitalisat)

[12] Ebenda S. 15.

[13] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 1) (Digitalisat).

[14] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 604.

[15] Pia Schmid:  Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande (1843). In: Barbara Becker-Cantarino: Bettina von Arnim Handbuch. Berlin: De Gruyter, 2019, S. 411.

[16] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies … [wie Anm. 10] S. 537-538.

[17] Barbara Becker-Cantarino mit Ursula Liebertz-Grün: Die Buch gehört dem König. In: Barbara Becker-Cantarino: Bettina … [wie Anm. 15] S.

[18] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies … [wie Anm. 10] S. 532-533. (Digitalisat)

[19] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 135-155.

[20] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: PATRIARCHAT. In : Paris Tome 12, p 175, 1751.

[21] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 135.

[22] Ebenda S. 137.

[23] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[24] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 139.

[25] Ebenda S. 136.

[26] Ebenda S. 222.

[27] Ebenda S. 230.

[28] Ebenda S. 232.

[29] Ebenda S. 1024.

[30] Ebenda S. 1025.