Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis

Zorn – Wut – Recht

Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis

Zwischenlese zur digitalen Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Zorn – Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts

Aus dem Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin wurden bisher an zwei Donnerstagabenden live via YouTube-Kanal die Mosse-Lectures von Johannes F. Lehmann und Ute Frevert gestreamt. Aaron Ben-Ze’ev bat die Organisator*innen der Mosse-Lectures, ihn nicht der rasenden Covid-19-Pandemie auszusetzen und aus seiner Heimat-Universität, University of Haifa, per „Online Learning“ seinen Vortrag halten zu dürfen. Auf drei unterschiedliche Weisen näherten sich die Vortragenden dem Thema Zorn. Lehmann betrachtete den Gefühlsausbruch des Zorns aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht. Ben-Ze’ev positionierte als Philosoph den Zorn zwischen Liebe und Hass. Und die Historikerin Frevert ging dem Zorn und der Wut als mächtige Gefühle in der deutschen Geschichte nach. Was wissen wir vom Zorn?

Die aktuelle Transformation des Zorns auf Demonstrationen der sogenannten Querdenker und Corona-Leugner heißt Wut. Was unterscheidet den Zorn von der Wut? Unter evangelikalen Christen in den USA und Ralph Drollinger, Mitglied der White House Bible Study Group, kursierte schon Ende März 2020 der Glaube, dass Amerika den „consequential wrath of God“ mit der Pandemie erfahre.[1] Der „folgerichtige Zorn Gottes“ über Homosexualität und Umweltschutz trifft die USA weiterhin mit allergrößter Wucht. Während in Deutschland die Rede vom Zorn oder gar einem Zorn Gottes nahezu versiegt ist, wird von ihm im Umkreis von Donald Trump weiterhin gesprochen. Agierte Donald Trump mit seinen Entlassungen nicht immer unter Anmaßung eines Zorns über jeden Funken eines Widerspruchs? Kanalisierte und transformierte er als Präsident nicht die Wut der Angry White Men (2013) in einen selbstgerechten Zorn? Wünscht sich Wut nicht immer im Zorn eines Machthabers eingelöst zu sehen?

In meiner Zwischenlese zu den Mosse-Lectures im außergewöhnlichen Wintersemester 2020/2021, denn es steht noch eine Performance von A. L. Kennedy am 21. Januar aus, möchte ich das Verhältnis von Zorn und Wut im Horizont eines religiösen, biblischen Sprechens unter Berücksichtigung der gehaltenen Lectures analysieren. Die Mosse-Lectures von Aaron Ben-Ze’ev Anger and its Interaction with Love and Hate und Ute Frevert Edler Zorn und Wut im Bauch. Historische Metamorphosen sind wie auch die von Johannes F. Lehmann im YouTube-Kanal abrufbar. Deshalb werde ich nur auf einige wenige Aspekte referierend, zuspitzend und erweiternd eingehen. Am heimischen, antiquierten Sekretär sah und hörte der Berichterstatter mit Headset die Lectures live und fertigte Screenshots für diese Besprechung an. Über die Chat-Funktion des YouTube-Programms stellte er Fragen. Erwähnenswert ist vielleicht schon hier, dass bei ca. 100 zugeschalteten PCs kaum Fragen aus dem, wie man sagt, Netz gestellt wurden. Ein Inkognito gerierte sich im Chat als Bot und gab zweimal kontextfreie Äußerungen von sich.

Hinsichtlich des Zorns im Englischen gibt es ein anderes semantisches Umfeld, das zwischen anger, wrath und fury oszilliert. Im Englischen wird wrath häufig als Steigerung von anger gebraucht.[2] Michael Kimmel veröffentlichte 2017 seine Studie über die Angry White Men: American Masculinity at the End of an Era mit einem neuen Vorwort, in dem er schrieb, dass „Donald Trump“ im Index seines Buches nicht vorkomme, weil es ein Buch nicht über ihn, sondern seine Anhänger (followers) sei. Nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im November 2016 erlangte die Studie weltweite Aufmerksamkeit. Denn sie schien nicht nur etwas über dessen Wähler*innen, sondern auch, wie Ute Frevert sagen würde, die „Gefühlspolitik“ des Reality-Stars und Geschäftsmannes zu verraten, der die stolze Partei der Republikaner mit Populismus[3] gekapert hatte.
„Populism is not a theory, an ideology; it’s an emotion. And the emotion is righteous indignation that the government is screwing “us.””[4] 

Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte in ihrer Schriftenreihe bereits 2016 in einer Lizenzausgabe mit der Übersetzung von Helmut Dierlamm Kimmels Buch über Männlichkeit als Angry White Men: die USA und ihre zornigen Männer veröffentlicht.[5] In dieser Übersetzung deutet sich ebenfalls eine literarische Verschiebung von der Wut zum Zorn an. Männer dürfen nicht nur wütend, sondern zornig sein. „Angry White Men“ sind geschlechtsspezifisch und erst einmal keine weißen Frauen. Mit dem Zorn wird nicht zuletzt in Bibeltexten ein unergründbarer Rechtsanspruch verknüpft. Denn Gott selbst figuriert in seinem Zorn als Gesetzgeber und Überwacher seiner Vorschriften. Die Verschränkung von Gefühl und Gesetz zeichnet den Zorn Gottes aus und macht ihn in der theologischen Einordnung durchaus problematisch, denn Gott darf nicht aus Gefühl handeln.
„Die Rede vom Zorn Gottes durchzieht das Alte und Neue Testament. Im Unterschied zum menschlichen Zorn ist dabei weniger an einen unbeherrschten Gefühlsausbruch gedacht als vielmehr an eine willentliche Reaktion Gottes, durch die er menschlichem Fehlverhalten und der Missachtung seiner Gebote entgegentritt. Deshalb ist mit dem Zorn Gottes häufig der Beschluss eines vernichtenden Gerichts verbunden, das diesem Treiben der Menschen ein Ende setzen soll.“[6]

Wut lässt sich mit einem Rechtsanspruch verknüpfen, so schwierig dessen Formulierung fallen mag. Zorn dagegen bricht aus, weil das Gesetz oder die Regeln überschritten, gebrochen, in Frage gestellt worden sind. Der zornige, weiße Mann beansprucht immer, aus seiner Männlichkeit und rassistischen, weißen Vorherrschaft das Gesetz zu sein, zu verkörpern. In gewisser Weise korrespondiert diese Unterscheidung mit den Untersuchungen von Johannes F. Lehmann in seinem Vortrag Wut als Alarmsystem. Zur historischen und politischen Dimension von Konzepten des Zorns. Denn er stellt die These auf, dass „um 1800 der Zorn vor dem Hintergrund der liberalen politischen Ökonomie zur Wut demokratisiert“ wurde. Eine „Theorie der Wut“ formuliert er damit, dass „Wut (…) als Alarmsystem energetischer Integrität“ fungiere. Und er formuliert die These, dass „wir (…) im Politischen zwischen Wut als Ausdrucksform verletzter und verweigerter energetischer Integrität unterscheiden“ können.[7] Konträr zum Zorn der „weißen Männer“ identifiziert Lehmann die berechtigte Wut in der Bewegung von Black Lives Matters. Denn Schwarzen werden von zornigen Weißen gleiche Rechte vorenthalten, ja, abgesprochen.

Johannes F. Lehmann führte drei historische Definitionen für Zorn an, die nicht nur zufällig mit dem Recht eines gebrochenen Gesetzes oder einer Gesetzmäßigkeit korrelieren. So schrieb Zenon von Citium ca. 300 vor Christus: „Zorn ist Begierde nach Rache an einem, von dem man ungebührliches Unrecht zu haben glaubt.“ Gefühl und Gesetz werden nicht etwa voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen. Thomas von Aquin schrieb später den Gefühlsanteil verstärkend: „Die Zornesneigung steigt nämlich nur auf wegen zugefügter Kränkung und wenn zugleich Sehnsucht und Hoffnung auf Vergeltung vorhanden ist.“ Und der barocke Dichter wie Sprachgelehrte Justus Georg Schottel, latinsiert Justus-Georgius Schottelius, formulierte mit rhetorisch-poetischer Zuspitzung: „Der Zorn ist eine begierliche Herzneigung / sich alsofort zu rächen wegen einer zugefügten Beleidigung.“ „Herzneigung“ reimt sich auf „Beleidigung“. Schottel gibt mit seinem Reim nicht zuletzt einen Wink auf die Affektenlehre in der Rhetorik des Aristoteles.

Rache und Vergeltung werden als Ziele des Zorns genannt, weil ein Konnex zwischen Gefühl und Gesetz hergestellt wurde. Das Gesetz und die Gesetzmäßigkeiten zeichnen sich durch eine emotionale Aufladung aus. Hinsichtlich der theologischen Auslegung des Zorns Gottes ist das bemerkenswert.  Denn in der theologischen Definition des Zorns muss das Gefühl zugunsten einer „willentliche(n) Reaktion“, die gleichwohl unergründlich bleibt, ausgeblendet werden. Durch den Zorn soll der Haushalt der Gefühle ausgeglichen werden, aber nicht so bei Gott. Er wird denn auch von Aristoteles in seiner Rhetorik zum ersten Mal im dritten Teil – „Von der gerichtlichen Rede“ – des ersten Buches angesprochen.[8] Doch der Zorn wird von Aristoteles sogleich aus dem Bereich der „gerichtlichen Rede“ zu den „Gemüthsbewegungen“ verschoben, wo er als Scharnier des Gefühlshaushaltes ausführlich behandelt wird.
„8. Vom Zorne wird nachher, wo von den Gemüthsbewegungen die Rede seyn wird, gehandelt werden.“[9]

Um 1800 erfährt die Rhetorik des Aristoteles eine Reihe von neuen Übersetzungen. Damit wird der Zorn auf auch neuartige Weise formuliert. Denn er nimmt in dem Text eine entscheidende Funktion ein. Der Zorn gilt Aristoteles als „Beispiel“ für die Verschiedenheit der Affekte. Er ist nicht nur ein Affekt unter anderen, vielmehr wird ihm eine ausführliche Diskussion zuteil. Im zweiten Buch der Rhetorik wird der Zorn bereits in der Einführung der „unangenehme(n) und angenehme(n) Empfindungen“ ausführlich verhandelt.
„Affecte sind alle die Regungen, wodurch die Menschen in wandelbarer Ansicht verschieden urtheilen, mit welchen unangenehme und angenehme Empfindungen verbunden sind: z. B. Zorn, Mitleid, Furcht und dergleichen, und derselben Gegensätze. Die Untersuchung über jeden einzelnen muß man dreifach abtheilen; ich meine z. B. die über den Zorn, in die Fragen: in welcher Verfassung man zornig ist; auf welche Menschen man zu zürnen pflegt, und über welche Dinge? Denn wenn wir eines oder zwei Stücke, nicht aber alle drei inne hätte, so wäre es unmöglich, den Zorn einzuflößen; und ebenso im Uebrigen.“[10]

Durch die neuen Übersetzungen der Rhetorik zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhält der Zorn eine strukturierende Qualität insbesondere für den männlichen Gefühlshaushalt. Aristoteles zitiert nicht nur den Zorn in der Literatur der Antike wie z.B. in der Odyssee oder Ilias – „Der weit süßer zuerst, denn sanfteingleitender Honig / Bald in der Männer Brust aufwächst“ –, er wird durch die neuen Übersetzungen auch in ein normatives Bild vom Mann eingespeist. Der Zorn wird zum Dreh- und Angelpunkt der geschlechtlichen, männlichen Identität. In Johann Gottlieb Fichtes Naturrecht findet der Zorn nur eine Erwähnung als Widerpart der Vernunft – „… aus Zorn oder Trunkenheit seiner Vernunft nicht mächtig gewesen, spricht zwar los von der Anklage des bedachten bösen Willens; …“[11] –, aber in den neuen Übersetzungen der Rhetorik erfährt er eine positive Wiederkehr:
„So sey nun der Zorn ein schmerzliches Verlangen nach Dem, was uns als Rache erscheint, wegen Dessen, was uns als Kränkung erscheint von Seiten Desjenigen, der gegen uns oder einen uns Angehörigen nicht nach Gebühr verfahren hat. Ist das der Zorn, so muß der Zürnende immer auf eine Person zürnen, z.B. auf Eseon, nicht überhaupt nur auf einen Menschen; und der Grund muß seyn, daß jener uns oder Einen der Unsern Etwas angethan hat, oder hat anthun wollen; und verbunden mit jedem Zorne muß eine gewisse Lust seyn, ausgehend von der Hoffnung des Rächens. Denn die Vorstellung, Das zu erlangen, wonach man strebt, gewährt uns Lust; und Niemand strebt nach Dingen, welche ihm unmöglich erscheinen; sondern der Zürnende strebt nach scheinbar Möglichem. Darum heißt es schon von dieser Leidenschaft […]:
          Der weit süßer zuerst, denn sanfteingleitender Honig
          Bald in der Männer Brust aufwächst –“[12]

Johannes F. Lehmann zitierte in seinem Vortrag zur Verschiebung des Zorn-Begriffs um 1800 nicht zuletzt Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Das Aussetzen der Vernunft, wie es von Fichte formuliert worden ist, hatte dieser den Zorn als „Schreck“ bezeichnet, „der zugleich die Kräfte zum Widerstand gegen das Übel schnell rege“ mache. 1807 kommt nach Lehmann eine psychologische Definition durch Johann Christoph Hoffbauers Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände hinzu. Hoffbauer schrieb, dass „Anlässe zum Zorn (…) schon das Kind (habe), so bald es einen Widerstand empfindet, gegen welchen es seine Kräfte aufzubieten sich versucht fühlt“. Gegenüber der Aristotelischen Zorn-Definition zeichnet sich bei Hoffbauer ein, wie es Lehmann nennt, energetisches Modell des Zorns ab, das für die Politik zur Wut transformiert, wirksam wird. Als Beispiel zitierte Lehmann aus Arlie Hochschilds Studie Strangers in their own land. Anger and Mourning on the American Right von 2016. Der Zorn und die Trauer werden dort mit einem Wegschneiden von Rechten formuliert:
„Look! You see people cutting in line ahead of you! You’re following the rules. They aren’t. As they cut in, it fells like you are being moved back. How can they just do that?”
“Blacks, women, immigrants, refugees […] – all have cut ahead of you in line. But it’s people like you who have made this country great!”

Zorn kommt immer dann auf, wenn ein Verlust empfunden wird. Gilt das nicht auch für die Querdenker in der Covid-19-Pandemie? Sind Querdenker zornig oder wütend? Aaron Ben-Ze’ev fragt in seinem Vortrag danach, wie „Anger“ sogar nachhaltig werden könnte. Für ihn nimmt der englische Begriff anger eine semantische Bandbreite zwischen Zorn, Ärger und Wut u.a. bei Buddha, der die Wut zurückweise, an. Er entwickelt seinen anger-Begriff insbesondere in Opposition zu Martha Nussbaums Anger and forgiveness: Resentment, generosity and justice von 2016.[13] Sie befasste sich in ihrem Buch mit dem nationalistischen Populismus, der sich in Europa und Nordamerika verbreitete. Und stellte als zentrale These heraus: „anger is ‚normatively problematic‘ in all spheres of human lives, including the political“.[14] Ben-Ze’ev hält dagegen, dass Wut einer Hilflosigkeit (helplessness) entspringe. Die Hilflosigkeit wird von Ben-Ze’ev als entscheidendes Argument angeführt. Wenn wir wütend würden, dann sei das ein Anzeichen dafür, dass wir unsere Hilflosigkeit ändern können. Wut sei häufig assoziiert mit sozialem Verhalten wie der Pflege (caring) und nicht mit sozialer Indifferenz. Als Beispiel für Wut und romantische Liebe zitiert Ben-Ze’ev die mysteriöse Libby Fudim mit „Love me or hate me, but spare me your indifference“.

Anger ist mit dem Buch von Martha Nussbaum zu einem umstrittenen Thema in der Politischen Theorie geworden. Die Elastizität des Begriffs anger im Englischen erlaubt es Aaron Ben-Ze’ev in seinem Vortrag auf fast schon phänomenologische Weise, mit wutverzerrten Gesichtern auch in Paarbeziehungen eine produktive Kraft zu visualisieren und konzipieren. Insofern knüpft er an Libby Fudim an, die vor allem keine Indifferenz der Emotionen erfahren will. Er argumentiert damit, dass Gefühle extrem wichtig für das Überleben sind: „Feeling physical pain is vital for survival! Lacking the ability to do so is an extremely dangerous condition.” Wenn er darlegt, dass anger bei Aristoteles auf eine Balance des anger hinauslaufe – nicht zu viel anger und nicht zu wenig anger -, dann wird deutlich, wie dagegen im Deutschen das lateinische ira in die Übersetzung mit Zorn im 19. Jahrhundert eine folgenreiche Festlegung des Begriffs zeitigte. Im Englischen und den Classics wird anger zu einem komplexen Begriff, der stärker auf eine existentielle Balance ausgerichtet ist, wie sie weder Zorn noch Wut im Deutschen vermögen:
“Aristotle’s position on anger is that it is one of the most complex and distinctive of the human emotions, that it involves bodily, psychological, social, and moral dimensions, and that anger can and ought to be felt and acted upon in a number of right ways.”[15]

Einerseits erfährt das lateinische ira, im Griechischen θυμός thymos, Englischen als anger eine diätetische Aufwertung zur Lebenspraxis wie sie von Aaron Ben-Ze’ev entfaltet wird. Denn Aristoteles‘ θυμός kann auch mit Lebenskraft übersetzt werden. Andererseits ist ira im Englischen so anschlussfähig, dass die IRA – Irish Republican Army – das Homonym durchaus einkalkuliert haben dürfte. Ira und anger korrespondieren auf eine im Deutschen durch die Normalisierung zu Zorn undenkbare Weise. Das wurde denn auch mit Ute Freverts Vortrag zum Gebrauch der Begriffe Zorn und Wut in der deutschen Geschichte deutlich. Hier soll noch einmal erinnert werden an die Diskursivierung des Zorns durch die frühen Übersetzungen der Rhetorik im 19. Jahrhundert. Demnach regelt der Zorn eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft, wenn es heißt:
„Ferner den unbedeutenden Leuten um so mehr, wenn sie Geringschätzung zeigen; denn der Zorn ist angenommen als Aufreizung über die Geringschätzung gegen Solche, denen sie nicht zusteht;“[16]

Ute Frevert eröffnete ihren Vortrag mit dem Gebrauch der Wut im Kontext der Fußball-Berichterstattung. Da nimmt vor allem die „Fan-Wut“ eine entscheidende Funktion im nicht nur alltäglichen deutschen Fußballgeschehen ein, vielmehr fand Frevert die Schlagzeile: „Die Wut ist echt – Flutlicht an: In Halle demonstrieren aktive Fußballfans erstmals gegen »Geisterspiele«“. Das Politische der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie trifft auf den Unterhaltungssektor der systemrelevanten Fußballmedienindustrie zwischen 11 Freunde, Sportschau, sport1 und dem Streamingdienst DAZN. Während Kultureinrichtungen von Museum bis zur Oper geschlossen sind, finden aktuell weiterhin Fußballspiele ohne Fans im Stadion statt. Die „Fan-Wut“, darf man daraus schließen, ist eine hoch relevante für das politische System. Ob sie ebenso berechtigt ist, wie die Wut beispielsweise von Greta Thunberg über die Versäumnisse der Klimapolitik kann einmal dahingestellt bleiben.

Die Begriffsgeschichte von Zorn und Wut entfaltete Frevert anhand von Enzyklopädien und Universallexika vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. In der Literaturform der Enzyklopädien wird weiterhin um eine Unterscheidung von Zorn und Wut gerungen. So heißt es 2006 in der Brockhaus Enzyklopädie zum Zorn in der Psychologie: „elementarer Affekt mit unterschiedlich starker aggressiver Tendenz, z. T. mit vegetativen Begleiterscheinungen (Erblassen, Erröten u.a.) verknüpft; im Normalfall Reaktion auf Beeinträchtigungen durch die Umwelt, v.a. durch fremde Verhaltensweisen, die eine persönlich empfundene oder objektive Sollens- oder Rechtsnorm verletzen. Durch den Gehalt an rationalen und im weitesten Sinn eth. Komponenten unterscheidet sich der Z. von der Wut; er ist eine spezifisch menschl. Reaktion.“ Seit den Übersetzungen der Rhetorik Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich anscheinend im deutschsprachigen Wissen vom Zorn wenig geändert. Im Unterschied zu ira und anger geht es immer noch nicht um einen diätetischen Gebrauch des Zorns, wohl aber um ein affektives Merkmal des Menschen.

In den Gedichten Ferdinand Freiligraths kommt der Begriff des Zorns häufig vor. 1846 veröffentlicht er sechs Gedichte auf Deutsch unter dem französischen Titel ÇA IRA!, das den Zorn für die Politik und den Kommunismus mit dem Gedicht Von unten auf! ins Spiel bringt: „Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat, / Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!“[17] Das „Proletariat“ reimt sich durch den Zorn auf „Staat“. In dem Fragment gebliebenen Gedicht Schiffbruch naturalisiert Freiligrath den Zorn geradewegs mit der Formulierung: „Und hat es sie gefaßt, dann hält es sie den Schlägen / Der Stürzflut und dem Zorn des Tropensturms entgegen“. Der Wirbelsturm wird im Schiffbruch von ihm als „zürnende() Gewalt des Trombengeists“ verdichtet. Und in dem Gedicht Aus Spanien hat das „Volk“ „(i)m Auge Zorn“. Im Gedicht Vor der Fahrt, ebenfalls aus ÇA IRA!, das nach der „Melodie der Marseillaise“ gelesen oder gesungen werden sollte, befährt das Fahrzeug „die zorn’ge Flut“. Der Zorn wird so wiederholt im Naturbild politisch, proletarisch und patriotisch.

Der Zorn wird bei Freiligrath zur Signatur des deutschen Patriotismus. Sein Zorn findet 1887 in der Novelle Der Doppelgänger von Theodor Fontane eine literarische Verarbeitung. Dort denkt ein Erzähler über ein Lied nach: „Ich kannte zwar das Lied – hatte nicht auch Freiligrath seinen patriotischen Zorn an dem harmlosen Dinge ausgelassen?“[18] Der Zorn bei Freiligrath changierte daher zwischen einem kommunistischen und patriotischen. Das schwierige Verhältnis der Deutschen zum Zorn gipfelt denn wohl am 10. November 1938 in Joseph Goebbels Tagebuch-Formulierung eines „Volkszorn(s)“, der nachweislich ein gefälschter, neudeutsch Fake war:
„Wagner ist noch immer etwas lau. Aber ich lasse nicht locker. Wächter meldet mir, Befehl ausgeführt. Wir gehen mit Schaub in den Künstlerklub, um weitere Meldungen abzuwarten. In Berlin brennen 5, dann 15 Synagogen ab. Jetzt rast der Volkszorn. Man kann für die Nacht nichts mehr dagegen machen. Und ich will auch nichts machen. Laufen lassen.“[19]

Der „Volkszorn“ verdankte sich der antisemitischen Propaganda von Goebbels selbst. Der siebzehnjährige Herschel Grynspan, geboren in Hannover, hatte am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris den homosexuellen Diplomaten Ernst vom Rath angeschossen, der am 9. November im Krankenhaus verstarb. Die Umstände der Tat wurden nie genau geklärt. Die nationalsozialistische Propaganda nutzte die Tat, um sie in Zeitungen und Rundfunk als Attentat einer jüdischen Verschwörung auszuschlachten und so allererst den „Volkszorn“ zu generieren. – Ute Frevert erinnerte daran, dass Peter Sloterdijk 2006 mit seinem Buch Zorn und Zeit – psychologischer Versuch und dessen Abschnitt Die thymotische Revolution – Von der kommunistischen Weltbank in unbeabsichtiger Weise der Wut von Rechts eine argumentative Vorlage gegeben haben könnte. Der „Wutbürger“ sei allerdings ein Neologismus des Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit vom 11.10.2010 auf die Proteste gegen Stuttgart 21 und die Sarazin-Debatte. Mit dem Graffito „ZU VIEL ÄRGER ZU WENIG WUT“ auf steigende Mieten und Gentrifizierung in Berlin von 2017 schloss Ute Frevert ihren Vortrag.

Zorn und Wut lassen sich als emotionale Kippfiguren des Politischen beschreiben. Einerseits werden sie immer wieder als Wissensformationen gebraucht. Andererseits geben sie einen Wink auf ihre Herkunft vom griechischen θυμός bzw. lateinischen IRA, die sich als derart ambig erweisen können, dass daraus eine Lebenskraft und Lebenspraxis abgeleitet werden kann. Im 19. Jahrhundert spielte der Zorn eine große Rolle in der sozialen Frage und bei der Herausbildung von Patriotismus und Nationalismus. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird in Deutschland die Wut zunächst von Links und aktuell eher von Rechts für den politischen Diskurs wichtig. Der Gebrauch des Zorns als Gefühl in der Politik bleibt wechselhaft und vielfältig.

Torsten Flüh

Mosse-Lectures
ZORN
Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts
A. L. Kennedy – >>The Second Thing<<
21. Januar 2021 19 Uhr c.t.
YouTube-Kanal


[1] Eugene Scott: A White House faith adviser is under fire for appearing to suggest coronavirus is due to God’s wrath over homosexuality, evnvironmentalism. In: The Washington Post March 27, 2020 at 1:27 p.m. EDT.

[2] Vgl. wrath in Wiktionary.

[3] Bereits im Wintersemester 2016/17 hatten die Mosse-Lectures unter der Leitung von Elisabeth Wagner den Populismus zum Semesterthema gemacht. Am 27. Oktober 2016 eröffnete Slavoj Žižek im überfüllten Audimax die Reihe der Lectures: Torsten Flüh: Die Katastrophe akzeptieren. Slavoj Žižek eröffnet mit Rage, Rebellion, New Power die Vorlesungsreihe Populismus und Politik der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN  Oktober 30, 2016 21:29. Siehe auch: ders.: Vom Wandel der Verfassung und der Schrecken des Populismus. Christoph Möllers‘ Mosse-Lecture zu Autokratien, Philip Manows Die Politische Ökonomie des Populismus und ein Wetterbericht. In: ebenda November 14, 2018 17:09.

[4] Michael Kimmel: Angry White Men: American Masculinity at the End of an Era. (E-Book) 2017, Preface.

[5] Michael Kimmel: Angry White Men: die USA und ihre zornigen Männer. Bonn: bpb, Bundeszentrale für Politische Bildung, 2016.

[6] Deutsche Bibelgesellschaft: Stichwort: Zorn Gottes. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft (ohne Jahr).

[7] Zitate nach Screenshots während der Lecture vom 12.11.2020.

[8] Aristoteles: Rhetorik. (Übersetzt von Michael Wenzel Voigt) Prag: Karl Barth, 1803, S. 118-192.

[9] Ebenda S. 162.

[10] Aristoteles: Rhetorik. (Übersetzt von Karl Ludwig Roth) Suttgart: J. B. Metzler’sch Buchhandlung, 1833, S. 112-113.

[11] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1796-1797, S. 106-107.

[12] Aristoteles: Rhetorik … [wie Anm. 10] S. 114.

[13] Martha Nussbaum: Anger and forgiveness: Resentment, generosity, and justice. Oxford: Oxford University Press, 2016.

[14] Siehe auch: Dan Degerman: Review. Anger and forgiveness: Resentment,generosity, and justice Martha Nussbaum Oxford University Press, Oxford, 2016. In: Contemporary Political Theory (2017).

[15] Gregory B. Sadler: One Sentence Summary on Aristotle and Anger. Aristotle has a lot to say about anger, so how can we sum up his theory? In: medium May 11, 2018.

[16] Aristoteles: Rhetorik … [wie Anm. 10] S. 118.

[17] Ferdinand Freiligrath: Ça ira! Herisau, 1846, S. 28. (DTA)

[18] Theodor Fontane: Der Doppelgänger. Berlin: Gebrüder Paetel, 1887, S. 10. (DTA)

[19] Zitiert nach Frevert.

Von der Poesie des Naturbildes

Asche – Poesie – Trauma

Von der Poesie des Naturbildes

Zu Jinran Kims visueller Poesie in ihrer Ausstellung PAINSTAKING in der Galerie Z22

Galerien sind geöffnet. Es müssen die Distanz- und Hygieneregeln eingehalten werden. Doch statt eines Galerienbummels führt der Besuch diesmal in die Einzelausstellung von Jinran Kim unter dem Titel PAINSTAKING in der Galerie Z22 in der Wilmersdorfer Zähringerstraße. Die übliche Vernissage mit vielen Besucher*innen musste ausfallen. Denn schätzungsweise 4 bis 5 Personen dürfen sich zugleich in den einstigen hohen Ladenräumen aufhalten. Das erlaubt eine gewisse Blick-Freiheit, wo sonst oft Gedränge herrscht. Am 5. Dezember findet ein Artist Talk mit Jinran Kim zwischen 1 Uhr und 5 Uhr nachmittags statt. An der Schnittstelle von Kultur, Kunst und Wirtschaft sind Galerien z.Z. nicht vom Lockdown betroffen. Das ist ein Vorteil, der allerdings nicht allen Bürger*innen bewusst ist. Kunst entdecken, betrachten und kaufen, wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee zur Unterstützung von Kunst und Kultur.

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Jinran Kim nennt ihre Ausstellung PAINSTAKING, was sich mehrdeutig lesen lässt, gar eine Poesie des Bildes ins Spiel bringt. Es hat viel mit den Materialien ihrer Arbeiten in Bilderrahmen zu tun. Die Rahmen machen die oft dreidimensionalen Arbeiten in verschiedenen Formaten recht eigentlich zum Bild. PAINSTAKING lässt sich als im Englischen geläufiger Begriff painstaking lesen, um als Adjektiv die Art und Weise zu beschreiben, mit der etwas akribisch, sorgfältig oder gewissenhaft, mühsam gemacht worden ist – „done with or employing great care and thoroughness“. Doch es ist auch ein Kompositum aus pains und taking, also Schmerzen und nehmen, so dass sich daran denken lässt, dass mit den Bildern aus Gaze bzw. Verbandsmull und Asche Schmerz genommen oder aufgenommen werden können. – Und das bei Schneelandschaften, Meer- und Strandansichten?

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Das Material Gaze erforscht und verarbeitet Jinran Kim seit einigen Jahren für ihre Bildgestaltung. Gaze ist ein traditionelles Naturgewebe aus Baumwolle. Es wurde oder wird vielseitig eingesetzt wie z.B. als Kleiderstoff oder für das Binden von Büchern und die Verstärkung von Buchrücken. Jinran Kim hat immer wieder mit unterschiedlichen Materialien, oft Alltagsmaterialien z.B. Handseife für die Installationen zu koreanischen Reinigungszeremonien wie 2014 in ihrer Ausstellung After The Rain in der Galerie im Körnerpark gearbeitet. Asche und Naturfarben gehören ebenso zu ihren Materialen. Für die zarten Gaze-Bilder benutzte sie schon vor 2018 handelsübliche Verbandsgaze, um beispielsweise beziehungsreiche Portraits von Samuel Beckett, Karl Marx oder John Cage, aber auch Ruinenlandschaften mit Flüchtenden in ihrer Ausstellung Civilisation and its Discontents zu schaffen.

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Die Gaze-Bilder haben sich bei Jinran Kim von der Collage zur Montage entwickelt. Die Künstlerin verarbeitet sie im wieder aus andere Weisen. Die ersten Arbeiten aus der Serie der Gaze-Bilder wurden mehr geklebt. Die Wellen fallen nun wie feines Gewebe. Das Textile des Materials wird in den Wellen und einem Wasserfall durch Vernähen stärker herausgearbeitet. Jinran Kim löst die Textur der Verbandsgaze bis in feinste Fäden auf, um daraus im Schwarz-Weiß-Kontrast z.B. ein abstraktes Triptychon mit einer Meeransicht zu schaffen. Vor einem Triptychon lässt sich innehalten. Die Welleneffekte – Schaumkronen – sind mit großer Sorgfalt gemacht. Dabei sind die Wellenszenarien oder Momentaufnahmen vom Strand, auf dem Wellen auslaufen, eine Art Augentäuschung. Der Moment ist aufwendig und akribisch hergestellt worden.

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Die Wellen sind kein Wasser und keine Fotografien in Schwarz-Weiß, sondern sorgfältig und mit großer Geduld sowie ästhetischem Fingerspitzengefühl Montagen aus Lagen von Gaze und Asche. Das dargestellte Wasser als fließendes Element erweist sich als feingliedrige Konstruktion. Anders gesagt: Jinran Kim ist es außerordentlich wichtig, die Medien und Bilder mit den Materialien zu reflektieren, aus denen visuelle Poesie entspringt. Oder mit den Formulierungen des Medienkünstlers, Kurators und Digital-Philosophen Baruch Gottlieb:
“These are careful caring works, painstaking works, with every meticulous detail, they take the pain away. At once fragile and relentless, surging irreverence, the great forces at play are on the surface light, uncertain. Something is trapped in the mesh. The gauze bandage has absorbed some dark essence, or intoxicant, something from deep in nature, so deep in human nature it is indistinguishable from land. The landscape gapes from inner space behind furrowed brow and life-creased face.”[1]

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Das Meer rauscht, nein, es braust und tost regelecht. Großformatig. Die Schaumkronen werden deutlich sichtbar. Das Meer ist bis auf die Wasserwellen leer und kein, wie man in der Marinemalerei sagt, Seestück mit Schiffen. Seestücke lassen sich als Genre bis in die Antike zurück verfolgen. Aus der Erinnerung schiebt sich Caspar David Friedrichs Mönch am Meer von 1810 in die Wellen. Damit ändert sich alles, weil das Seestück zur „Seelandschaft“ wird. Heinrich von Kleist hat das Ölgemälde in einer redaktionellen Montage mit dem Titel Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft in seinen Berliner Abendblättern am 13. Oktober 1810 besprochen. – „Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegränzte Wasserwüste, hinauszuschauen.“[2] – Doch gegenüber dem imaginierten Naturerlebnis nimmt „das Bild“ eine merkwürdig verletzende Medialität an. Denn wie bei Jinran Kim ist es nur der Rahmen, der das Gemälde zum Bild macht.
„Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Joungs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären.“[3]

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Heinrich von Kleists ebenso merkwürdige wie poetische Formulierung von den weggeschnittenen Augenlieder(n) ließe sich dahin auflösen, dass der Betrachter auf das Bild zwanghaft schauen muss. Er kann nicht einmal mehr blinzeln oder seinen Blick im Bild deponieren, „wie man durch eine erotische Attraktion in Bann gezogen wird, Wünsche wach werden, etwas geschehen lässt und sich hingibt, der eigenen, der fremden und der gemeinsamen Lust“.[4] Es übt eine Faszination aus, der sich der Betrachter nicht entziehen kann und die er sich nicht zu erklären vermag. Auf verunsichernde und mehrdeutige Weise überschneidet sich das Kompositum Augenlieder mit dem „augendeckel“[5] und Liedern oder der Lyrik. Noch das Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1854 kennt nur die Form Augenlied.[6] Erst ab 1864 wird das Augenlied anatomisch in ein Augenlid normalisiert.[7] Die nähe zum Lied störte anscheinend. Es gibt auch noch andere, sagen wir, Motive als das Meer. Dazu gehören die Wasserfälle und die Wellen in der Ausstellung PAINSTAKING. Doch die Wellen/Waves faszinieren am stärksten.  

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Der Rahmen macht die genähten Montagen aus Verbandsmull auf Leinwand mit Asche zum Bild. In einem bislang unveröffentlichten Buch zur Ausstellung gibt es ein Foto aus der Wasserfall-Serie vor Fertigstellung ohne Rahmen. Die mit Asche unterschiedlich stark eingefärbten Gazestreifen und -fäden hängen bauschig über das Rechteck des Papiers hinaus. Kim komponiert ihre Wellen und Wasserfluten. Was macht es, dass sich das Bild eines halbkreisförmigen Wasserfalls aus drei Einzelbildern einstellt? Wann sehe ich den Wasserfall? Und wann nicht? Es sind Licht- und Schattenspiele, die die Gazestreifen in Wasserströme verwandeln. Aus der sterilen Gaze wird visuell ein Wasserfall, der so angeordnet ist, dass man den Eindruck oder das Gefühl bekommt, man werde in die Tiefe, eine unendliche Tiefe, hineingespült. Naturschauspiel und Psychotrip zugleich. Ohne Rahmen, bevor der Rahmen angelegt wurde, ist das nicht so. Der Rahmen erweist sich als eine paradoxe Konstruktion: Erst der Rahmen erzeugt die unendliche Tiefe, indem er das Überlappende abschneidet.

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Das Handwerkliche und Sinnliche spielt für die bildende Künstlerin eine wichtige Rolle. Man kann wissen, dass Jinran Kim sehr handwerklich arbeitet. In einem Interview zu ihrer Serie Last Mattress hat sie einmal erzählt, wie sie mit Baumwolle, Naturfarben und der Struktur arbeitet. Das Handwerkliche oder die Praxis lässt sich nicht so leicht in den Bildern sehen. Erst, wenn der Betrachter näher herangeht, wird sichtbar wie aus den Gazestreifen einzelne Fäden herausgezogen worden sind, um visuelle Effekte zu generieren. Dafür braucht es allerdings die akribische Beschäftigung mit dem Material. Natürlich war immer alle Farbe in der Malerei künstlich und entstand erst durch eine Handwerkskunst, die u.a. für Restaurator*innen eine immense historische, chemische und maltechnische Rolle spielt. Doch genau das übersehen die Museumsbesucher*innen. Warum sehen wir Bilder von der Natur, einer geradezu idyllischen, heilen Natur, wo handwerkliche Praxis mit dem Material Gaze perfektioniert worden ist?

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Es gibt in der Ausstellung die Serie Winterlandscape/Winterlandschaft mit so weißem Schnee, dass er in den Augen brennt. – „AUF DEN LIPPEN SCHNEE“, heißt es in Heiner Müllers Hamletmaschine. – Selten war eine Winterlandschaft in der Kunstgeschichte weißer. Es liegt wohl an der Sterilität der Gaze auf besonders weißem Papier. An den Winterlandschaften, die einerseits als Kanal mit Waldrand oder mit See inszeniert werden, irritiert, dass es Landschaften sind, denen man in Berlin gleich um die Ecke begegnen könnte. Landschaften sind Naturdarstellungen. In der Geschichte der Landschaftsmalerei geht es immer darum, eine Landschaft nicht nur abzubilden, quasi fotografisch, sondern ideologisch aufzuladen. Die Landschaft als Naturauffassung idyllisch, romantisch, naturalistisch, realistisch, minimalistisch etc. Doch die gleißend weiße Schneelandschaft wird von einem Kanal durchschnitten. In Berlin gibt es viele Industrie-Kanäle. Sie sind das Gegenteil einer idealisierten und ökologischen Natur. Auf den Bildern von Jinran Kim werden die Landschaften in dieser Serie melancholisch und durch das sterile Weiß zur erschreckenden Idylle zugleich. In den Bildern kippt die Darstellung auf beunruhigende Weise.

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Ich könnte mir vorstellen, dass Kims Winterlandschaften trotz Naturmaterialien ins Digitale verwickelt sind. Eine Fotografie wird in Grautöne aufgelöst. Durch die Grautöne entstehen ganze Landschaften. Auf der Wasseroberfläche des Kanals spiegeln sich die Schatten des Waldrandes. Zu den Winterlandschaften gehören auch Arbeiten, in denen die Baumrinde von Birken mit Gazefasern erzeugt wird. Da die Winterlandschaften wiederum menschenleer sind – keine Spaziergänger, keine Läufer*innen, keine Wanderer – bekommen sie einen geheimnisvollen Zug. Es sieht so aus als ob es, nur um die Natur bis ins Detail der Birkenrinde ginge. Baumrinden werden in mehreren Bildern geheimnisvoll. Ganz genau lassen sich die Bäume nicht bestimmen, weil sie – vielleicht auch das im Deutschen ein Wortspiel des Visuellen – aus feinster Baumwolle sind. Das Bild kann man sehr schnell sehen, indem der Betrachter die Baumwollfäden und Strukturen übersieht. Es gibt besonders in der Ausstellung PAINSTAKING immer eine Art Oszillieren zwischen dem Bild und seiner Herstellungsweise. Dieses Oszillieren lässt sich nicht stillstellen.

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Ausgerechnet in der Ausstellung mit dem mehrdeutigen Titel PAINSTAKING, was auf eine Künstlichkeit und therapeutische Rezeption verweisen könnte, wird die Natur zum Bild. Mit einem Fotoapparat ließe sich die Natur gar nicht mehr so idyllisch darstellen. Vielmehr bekommen wir die Bilder vom Plastikmüll in den Weltmeeren nicht mehr aus unserem Gehirn. Sie haben sich uns heute eingebrannt. Auch der Dannenröder Forst in seiner Gefährdung durch den Braunkohleabbau hat sich als verletzte und gefährdete Natur in unser visuelles Gedächtnis gesengt. Die Naturfotografie zeigt häufig bildschöne Landschaften, die auf einen zweiten Blick vermüllt sind. Das klare Wasser eines Wasserfalls ist bei genauerer Betrachtung stark verunreinigt. Die Natur kommt für viele junge Menschen kaum noch anders denn als Trauma des Klimawandels vor. Die Natur und unsere Vorstellung von ihr mit vom Plastikmüll verletzter Meeresschildkröte bis zur seuchenverbreitenden Fledermaus kommt heute, alles andere als idyllisch in den Medien vor. Wir sind nicht zuletzt für den Klimaschutz, weil uns die Bilder der verletzten Natur erschüttern.

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An diesem Punkt kommt der Titel noch einmal anders ins Spiel des Visuellen. Jinran Kims Arbeiten am Naturbild bekommen eine rituelle und therapeutische Dimension. Nur mit meditativer Sorgfalt können derartige Bilder von der Natur entstehen, die immer ein wenig zu schön aussehen. Riten können in der koreanischen oder buddhistischen Kultur therapeutisch wirken. Der Ritus wird eine kulturelle Form einer individuellen Therapie. Das Naturbild als Schönes kann heilen, wenn wir mehr als nur das Bild sehen und durch dieses in einer geradezu zen-buddhistischen Leere meditieren. Es gibt auch die Moose und Wälder und Wasserfälle in starken, intensiven Farben. Aus ihnen leuchtet das helle Weiß der sterilen Gaze als schäumendes Wasser. In der Ausstellung PAINTAKING lässt sich ein großes Spektrum der praktischen Meditation über die Natur mit dem Naturmaterial Gaze entdecken. Jinran Kim findet immer wieder neue Praktiken aus der Arbeit mit ihrem sterilen und dennoch natürlichen Material Gaze.

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Und – es gibt die Asche als Material und Rest. Es ist gewesen. Die Asche ist eine Spur von Verbranntem. Man kann die Asche eines Menschen verstreuen oder in einer Urne mit Fürsorge aufbewahren. Jinran Kim verwandelt Asche in Bilder. Die Arbeit mit der Asche wird zu einer meditativen Praxis. In einem „Post-Skriptum“[8] auf seine Lektüre von Sigmund Freuds Studie Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva (1907) kommt Jacques Derrida noch einmal auf die Frage des Archivs mit der Asche zurück:
„Er träumt davon, wieder lebendig zu machen. Er träumt eher davon, sich selbst wieder lebendig zu machen. Aber eben dadurch, daß er den einzigartigen Druck und Eindruck, den Gradivas Schritt, der Schritt selbst, der Schritt von Gradiva selbst an jenem Tag, dieses eine Mal, an jenem Datum in dem, was er an Unnachahmlichem hatte, in der Asche hatte hinterlassen müssen, wieder lebendig macht. Er träumt diesen unersetzlichen Ort, die Asche selbst, in der der einzigartige Abdruck sich wie eine Signatur kaum vom Eindruck unterscheidet. Und das genau ist die Bedingung der Einzigartigkeit, das Idiom, das Geheimnis, das Zeugnis.“[9]     

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Mit der Asche und der Gaze werden Jinran Kims Naturarbeiten zu einem Zeugnis für ein Trauma und dem kreativ-meditativen Umgang damit. Auf einzigartigeweise werden ihre Gaze-Bilder zu Archiven. Es wird nicht so einfach sein, in diesen virtuellen Archiven zu finden, was man sucht. Die Archive sind systematisiert. Aber die eigensinnige Arbeitsweise wird von den Bildern bezeugt. Malen, ja, malen ließen sich die Naturbilder auch wie Caspar David Friedrich. Aber nicht so. Das Malerische kippt bei ihm schon, in eine ganz andere Richtung, die häufig das Romantische genannt wird, bei der es unterdessen mehr um eine Art Verlust geht. Die Gaze-Bilder wirken auf den ersten Blick wie gemalt oder gar fotografiert. Aber Malen und Fotografieren sind etwas völlig anderes als Färben, Nähen und Montieren. Dadurch werden die Naturbilder einzigartig. Denn schließlich muss die Gaze zufällig, aber sorgfältig fallen, um einen natürlichen Wasserfall generieren zu können.

Torsten Flüh

Z22
Jinran Kim
PAINSTAKING
bis 16. Januar 2021
Zähringer Straße 22
10707 Berlin    
Do      14 : 00  –  20 : 00
Fr       12 : 00  –  20 : 00
Sa      11 : 00  –   17 : 00
und nach Vereinbarung


[1] Baruch Gottlieb: Foreword. In: Galerie Z22 (Hg.): Jinran Kim: PAINSTAKING. Berlin: (unveröffentlicht), 2020, S. 2.

[2] Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. (Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.) Band II/7 Berliner Abendblätter I. Basel; Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 61.

[3] Ebenda.

[4] Vgl. Karl-Josef Pazzini: Über die Angst, die Waffen abzugeben. In: Brigitte Verlic, Adam Budak, Peter Pakesch (Hg.): Zeichen der Psyche. Psychoanalytische Perspektiven zu Kunst. Wien: Turia + Kant, 2009, S. 137.

[5] So Deutsches Wörterbuch von Jacob Grim und Wilhelm Grimm: Augenlied. (Digital)

[6] Siehe auch Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Sprache von 1793: Augenlied. (Digital)

[7] Augenlider in Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände: Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig: Brockhaus, 1864, S. 377.

[8] Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin: Brinkmann + Bosse, 1997, S. 169-176.

[9] Ebenda S. 172.

Unfassbar traumhaft – Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman

Lyrik – Paul Celan – Corona

Unfassbar traumhaft

Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman Paul Celan und der chinesische Engel

Am 23. November 2020 wäre der Lyriker Paul Celan einhundert Jahre alt geworden. Ein Jahrestag. Yoko Tawada hat ihm ihren brandneuen Roman per Titel zum Geschenk gemacht. Das ist mehr als eine Widmung, wie sie literarisch häufig geübt wird. Der Roman Paul Celan und der chinesische Engel lässt sich nicht anders als ein fulminantes Literaturereignis beschreiben. Er wird als Geschichte eines Patrik in Berlin im Frühjahr 2020 erzählt und endet berührend schön auf dem Rücken eines Vogelkörpers. Patrik verehrt eine Sängerin und trifft Leo-Eric Fu im umgangssprachlich Corona-Lockdown genannten Ausnahmefrühling und will, dass, O-Ton Tawada, „die gerade angezündete Freundschaft nicht verlöscht“.[1] Anders gesagt: Yoko Tawada hat den Corona-Roman ganz aus Celans Lyrik geschrieben. Das wird ein Leseabenteuer und ein Liebesroman.

Es gibt keine Epidemie-Romane. Seit beginn der Covid-19-Pandemie in Europa und Deutschland treibt Literaturforscher die Frage um, warum es keine Romane z.B. von der Cholera-Epidemie um 1830 gibt.[2] Warum haben wir nie oder sehr verspätet einen Roman von der Spanischen Grippe gelesen? Albert Camus‘ La Peste verarbeitet ein Epidemie-Szenario, um es mit der Resistance erzählerisch zu verknüpfen.[3] Selbst ein anspruchsvollerer AIDS-Roman blieb in den 90er Jahren aus. Angels in America von Tony Kushner kam Anfang der 90er als Theaterstück im Off-OFF-Broadway raus und wurde 1993 von Werner Schroeter am Schauspielhaus Hamburg mit Aplomb inszeniert als „Schwule Variationen über gesellschaftliche Themen. Teil Eins: Die Jahrtausendwendenacht“.[4] Nun liegt eine Liebeserklärung vor der Dichterin an den Lyriker auf „dis-Tanz“ von hoher „Bei-Nähe“, wie es einmal Ginka Steinwachs formuliert hat.

Thomas Manns Zauberberg könnte eine Art Epidemie-Roman sein, insofern es sich bei der Tuberkulose um eine allerdings bakterielle Infektionskrankheit mit epidemischer Ausbreitung handelte. Sie hat in gewisser Weise sogar Ähnlichkeiten mit dem Krankheitsbild von Sars-Cov-2, weil es sich ebenfalls um eine Erkrankung der Lunge handelt, die über die Luft, also die Atemwege übertragen wird. „Eine Ansteckung erfolgt allerdings grundsätzlich nicht so leicht wie bei anderen über die Luft übertragbaren Krankheiten“, schreibt der RKI-Ratgeber.[5] Die relativ langsame Ausbreitung der Tuberkulose und ihr langfristiger Krankheitsverlauf (2-3 Jahre) generierten im 19. Jahrhundert eine regelrechte Straf- und Sanatoriumskultur, die zum wahrscheinlich ersten Mal 1848 von Alexandre Dumas dem Jüngeren in dem Paris-Roman La dame aux carmélias, Die Kameliendame, ausgebildet wurde. Alexandre Dumas schrieb den Roman 1852 um in ein Theaterstück, das in Paris als skandalös galt und außerordentlich erfolgreich wurde.

Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave transformierten den Drama gewordenen Roman 1853 in die Oper La Traviata. Die Vom-Wege-abgekommene, wie sich La Traviata aus dem Italienischen übersetzen lässt, also die Pariser Salonprostituierte Violetta Valéry stirbt inmitten der Gesellschaft, öffentlich an einem Hustenanfall, der ihre Tuberkulose-Erkrankung verrät. Die Oper führt so gesehen die Tuberkulose, die damit verbundene Atemnot und den Erstickungstod als ein Gesellschaftsereignis auf, das in ihrem Schlafzimmer auf der Bühne stattfindet. Hans Castorp richtet sich dagegen im Sanatorium in Thomas Manns Roman von 1924 behaglich mit einem „zweiten Frühstück“ ein, um ein europäisches Sitten- und Kulturgemälde des Niedergangs inklusive politischer Agitatoren zu entwerfen.
„»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Peter. »Aber ich muss zugeben, was mich am meisten fasziniert hat – obwohl ich weiß, dass ich an all diese wichtigen Dinge denken sollte –, was mich am meisten fasziniert hat, war …«
»Das zweite Frühstück«, unterbrach ihn Holly.
»Genau!«, sagte Peter. »Ganz genau! Woher wussten Sie das?«
»Ach, kommen Sie«, sagte Holly. »Wer kann schon lesen, dass es in einem Sanatorium eine Mahlzeit gibt, die ›zweites Frühstück‹ heißt, und nicht denken, Tuberkulose hin oder her: Das klingt nach Paradies? Bei einem leichten Fall wie Hans? Das wäre es unbedingt wert.«
Zwei Köpfe, ein Gedanke! Peter wurde ein wenig schwindelig, aber er fuhr fort.“

Erst 1839 hatte Johann Lukas Schönlein das Krankheitsbild unter der Benennung von „Lungentuberkel“ beschrieben. Unter dem 5. Januar 1844 beschreibt Schönlein den Fall des Raschmachergesellen, Carl Wagner, der unterentwickelt und krank ist. Bei ihm findet er u.a., „dass (sich) in den obern Lappen beider Lungen (…) Tuberkeln gebildet haben, die aber noch im Zustande der Crudität“ sind.[6] Schönlein diagnostiziert „eine Correlation zwischen Diabetes und Tuberculose“. Für ihn wird die Tuberkulose noch nicht durch die Luft in die Atemwege übertragen, vielmehr geht er von einer „Nierentuberculose“, die über eine Diabetes, „sich später Tuberculose in den Lungen ausbilde“ aus.[7] Wagner wurde immerhin am 1. März aus der Charité-Klinik als geheilt entlassen.[8] Da weder der Tuberkulose-Erreger 1853 bekannt, noch eine erfolgreiche Therapie im Sanatorium in den Alpen wie im Zauberberg entwickelt worden war, sich Robert Kochs Impfstoff Tuberkulin später als wirkungslos erwiesen hatte, wurde die Krankheit moral-mythologisch hoch aufgeladen.

Woher kommt der Engel im Titel des Romans? Yoko Tawada gibt mit Paul Celan und der chinesische Engel einen Wink auf Engel in Amerika von Tony Kushner – und macht literarisch doch alles anders. Schließlich lebte Yoko Tawada 1993 in Hamburg und ging sicher auch ins Deutsche Schauspielhaus. Aber der Engel könnte ebenso woanders herkommen, weil es ein chinesischer ist. Das heißt aber nicht gleich, dass der Engel aus China kommt. Weil Parteichinesisch im Deutschen unter anderem eine Sprache oder Sprechweise benennt, die sich nicht gleich erschließt. 1967 schreibt Celan allerdings auch das erotische Gedicht Aus Engelsmaterie, das im Gedichtband Fadensonnen 1968 erschien.[9] Paul Celan ist im Roman die Hauptperson. Aber Paul Celan denkt, schreibt oder erzählt den Roman nicht.
„Aus Engelsmaterie, am Tag
der Beseelung, phallisch
vereint im Einen …“

Der Roman beginnt mit Patrik und handelt, wie man sagt, von ihm. Er durchlebt eine Krise. Zumindest schlägt es der Klappentext so vor: „Patrik soll einen Vortrag auf einer Celantagung in Paris halten, doch er hat Angst, möchte absagen, befindet sich in einer Krise.“[10] Allerdings erhält Patrik im Roman seinen Namen erst später. – „Der Patient heißt Patrik.“[11] – Auf 13 Seiten bleibt auf verstörende Weise offen, wie der Patient heißt. Es ist immer nur von dem Patienten die Rede, was mehr als eine stilistische Geste andeutet. Der Patient ist nichts weiter als „der Patient“. Im ersten Satz heißt, der, von dem erzählt wird, „Patient“:
„An jeder Kreuzung bereut der Patient, keinen Würfel dabei zu haben, der ihm die Entscheidung abnehmen könnte. Geradeaus gehen oder abbiegen?“[12]

Das ist ein bedenkenswerter Romanauftakt. Denn erstens wird mit dem Begriff „Patient“ als Name sofort auf eine Erkrankung angespielt, die nie benannt wird. Wir werden nicht zu wissen bekommen, ob überhaupt und woran „der Patient“ erkrankt ist. Patient wird man, wenn man zu einem Arzt geht und behandelt wird. Die Benennung als „der Patient“ macht Patrik – oder Paul – zu einem Leidenden oder Betroffenen nach dem Lateinischen Nomen Patiens. Zugleich wird Patiens in der Linguistik zu einem Satzglied, das die semantische Rolle desjenigen bezeichnet, der/die von einem Verb betroffen ist. Als Leser*innen wissen wir nicht, ob eingangs eine linguistische Figur beschrieben wird oder der Protagonist als Patient an einer Entscheidungsschwäche leidet. Ein „Würfel“ sollte helfen können, um nicht nur eine Wegrichtung zu finden, sondern überhaupt die Erzählung in Gang zu setzen. Weiterhin kann man von der Autorin Yoko Tawada wissen, dass sie selbst das Würfelspiel für das Dichten einsetzt. Für sie ist der „Würfel ein Zufallsplaner“ beim Dichten.[13]

Die Covid-19-Pandemie hat binnen weniger Wochen alle Menschen zu Patienten gemacht, womit eine weitere Leseebene des ersten Romansatzes vorgeschlagen wird. Plötzlich wurde in der zweiten März-Hälfte von „Risikogruppen“ gesprochen. Menschen über 50 Jahre und solche mit „Vorerkrankungen“ wurden den „Risikogruppen“ zugerechnet, um sie einerseits besonders zu schützen, andererseits allerdings zu „Patienten“ zu machen. Insofern ist der Begriff „Patient“ als Benennung des Hauptakteurs nicht zufällig, obschon ein Zufallsszenario mit dem ersten Satz aufgerufen wird. Nicht zuletzt Paul Celan als „Patient“, eines am Überleben der שׁוֹאָה/Shoa leidenden, klingt in dem ersten Satz an. Doch Celan wurde auch durch wiederholte Aufenthalte in der Psychiatrie der Pariser Universitätsklinik, der Salpêtière, zum Patienten gemacht. Auf diese Weise verdichtet sich „der Patient“ zu einem vieldeutigen Akteur im Roman, bevor er sich in der Erzählung des Celan-Experten Patrick, sagen wir ruhig, konkretisiert. Unterdessen hat Yoko Tawada bei ihrer Celan-Lektüre das vieldeutige Wort Corona gefunden.
„Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.“[16]

Man kann, ein zwar heute übliches, doch gespenstisches Internetphänomen, Paul Celan jederzeit Corona lesen hören. Auf Lyrikline.org wird eine Lesung von 1963 im Hessischen Rundfunk hörbar gemacht. Paul Celan liest mit jenem eigenen Rhythmus, der mehrere Zeiten überschneiden lässt. So gehört Alles hat seine Zeit des Predigers Salomo im Tanach[17] ebenso zum Geflecht des Gedichtes wie eine Affäre mit Ingeborg Bachmann und das Gedenken an die Shoa. Es ist denn auch שְׁלֹמֹה/Salomo, der mit dem erotischen Hohenlied als Autor in Verbindung gebracht wird. Anders gesagt: Paul Celan praktiziert in seinem Gedicht und in der Weise wie er es liest, indem er in der dritten Strophe sein Lesetempo ekstatisch beschleunigt, eine Überschneidung mehrerer Bedeutungsebenen. Gleichzeit markiert das Gedicht mit Veröffentlichung, 1952, und Lesung, 1963, eine historische Zeit, in der die deutschen Leser wie besessen gegen das „Gedächtnis“ arbeiteten. Sie wollten alles, nur nicht sich an den Holocaust erinnern müssen.

Corona bezeichnet nicht zuletzt einen Kranz oder eine Krone um die Sonne herum. – Eine Straßenlaterne in der Dunkelheit zeigt auf einem Foto auch eine Corona. – Neigt der aktuelle Leser aus seinem übermächtigen Corona-Wissen heraus, diese nur als Virus-Art und Epidemie zu verstehen, so muss doch allein bei Paul Celans Gedicht Corona, darauf hingewiesen werden, dass dem Begriff eine besonders große Bedeutungsvielfalt eigen ist. Es könnte nicht nur eine Bekrönung der Geliebten oder ein Kranz um „das Geschlecht der Geliebten“ betreffen, sondern ebenso eine Corona um die verdunkelte Sonne. Zwischen Naturereignis, Erotikbeschreibung und Zeitpunkt in einer Mehrzeitigkeit lässt das Gedicht viele Bedeutungen offen. Paul Celan und der chinesische Engel verdankt sich vor allem der intensiven Werk-Lektüre durch Yoko Tawada. Gegen Schluss bringt Leo-Eric Fu Celans Kompositum Fadensonnen mit „Korona“ in Verbindung.[18] Wir wissen nicht, was Fadensonnen sind, weil es ein Wort der Lyrik Celans ist. Doch um das Kompositum hat sich eine strahlende Corona gebildet.

Die Wahrnehmung kann ebenso durch eine Corona beeinflusst werden. In der medizinischen Diagnostik wird der Begriff Corona indessen aktuell vollständig von Sars-Cov-2 abgedeckt. Für eine Seh- und Wahrnehmungsstörung bei einer starken Migräne wurden zeitweilig Aura und Corona synonym benutzt. Denn im Lateinischen heißt corona vor allem Krümmung. So sollen sich einige Darstellungen in der Bildenden Kunst nach einigen Wissenschaftlern und Kognitionsforschern wie bei Van Goghs Sternennacht durch eine migränebedingte Aura oder Corona bedingt sein. Patricks Wahrnehmung wird von Yoko Tawada allerdings allein poetologisch verschoben. „Hinter den Schulterblättern“ der Kellnerin tut sich im Roman vieldeutig eine ganze Tuberkulose-Erzählung, La Traviata auf:
„Genervt von dieser Antwort, kehrt die Kellnerin ihm den Rücken zu. Hinter den Schulterblättern der Kellnerin ist eine Flügeltür zu sehen. Hinter der Tür findet eine prächtige Feier statt. (…) Es ist Paris. (…) Violetta will ihnen folgen. Plötzlich ergreift ein teuflischer Hustenanfall ihre Brust. Sie kauert sich zusammen und rutscht in eine dunkle Sphäre, wo kein Scheinwerfer sie mehr erreicht.“[19]   

Der Roman beginnt im Lockdown. Doch Tawada beschreibt ihn nicht, vielmehr triggert sie in der Eröffnungssequenz nicht nur mit der geschlossenen Staatsbibliothek die Erinnerung an den Bewegungsrahmen während dieser Zeit. Das ist höchst kunstvoll formuliert, so dass man leicht überlesen kann, in welcher Situation „der Patient“ auf die Straße geht. Er hat keine große Auswahl zwischen rechts und links. Zwar gibt es im Café „Kaffeetrinkende() und erntet ihre Gesichter wie goldene Ähren“, aber damit werden die Gesichter als „goldene Ähren“ derart aufge- und überbewertet, dass sie vielmehr den Wunsch nach eben diesen gerade nicht vorhandenen Gesichtern unterstreicht. Und der Besuch im Supermarkt galt im März April auch ohne einer „Kassiererin mit bösem Blick“ als lebensgefährlich:
„Wenn er nach rechts gehen würde, würde bald ein kleiner Supermarkt erscheinen, in dem eine Kassiererin mit bösem Blick und eine zweite mit barmherzigen Augen arbeiten. Wer von den beiden wird ihm das Geld nehmen? Betreten eines Supermarktes ist russisches Roulette.“[20]

Indem Yoko Tawada Patrik als Nachwuchswissenschaftler für Paul Celans Fadensonnen konzipiert hat, wird es ihr möglich, den Roman als Celan-Poetologie zu schreiben. Wie hat Paul Celan seine Gedichte geschrieben? Wie hat er mit Worten und Zahlen gearbeitet? Woher kommen Celans Anatomiekenntnisse mit so merkwürdigen Begriffen wie Lippen, Schwellgewebe oder „Kleinhirnwurm“? Für diese wissenschaftlichen Fragen taucht der „transtibetanische“ Leo-Eric Fu, der vorgibt, im chinesischen Kulturinstitut zu arbeiten, plötzlich auf. Doch dieser „chinesische Engel“ oder „Vogel“ wird nicht durch seine Funktion im Chinesischen Kulturinstitut, das natürlich auch geschlossen ist – und war –, zum Motor der Geschichte, vielmehr kannte sein Großvater in Paris Paul Celan persönlich und so gut, dass er sich in einem Schlüsselbuch für Fadensonnen die Worte angestrichen hat, die Celan in seinem Exemplar „markiert“ hatte.
„Leo-Eric schließt das Buch und überreicht es dem Freund. Der Körper des Menschen. Einführung in den Bau und Funktion. Das Buch ist beim angesehenen Wissenschaftsverlag Georg Thieme erschienen. Patrik wirft einen flüchtigen Blick auf das Impressum und das Vorwort. (…)
»Das ist nicht das Original. Mein Großvater hat sich dasselbe Buch gekauft und die Stellen markiert, die Celan in seinem Buch markiert hat. Zum Beispiel hier. Celan hat das Wort Aortabogen unterstrichen. Deshalb hat mein Großvater das Wort genauso unterstrichen.«
»Hat er Celans Lesespuren übertragen?«“[21]

Ich denke mir die Dichterin bei einer sehr ähnlichen Lese-Schreib-Arbeit. Viele Wörter wie „Hirnstamm und Hirnmantel[22] oder eben Fadensonnen sind im Roman kursiv gesetzt. Yoko Tawda wird sich die Wörter in den Gedichten „markiert“ haben, um sie dann nicht nur in ihrem Roman zu verwenden, vielmehr daraus recht eigentlich den Roman zu generieren. Für Celan-Entdecker*innen als Leser*innen ist das ein ebenso spannendes wie amüsantes Erzählverfahren. Für Celan-Expert*innen wird der Roman zu einem geistreichen Spiel mit Celans Textmaterial. So geht das „Wort köpfeln (…) dem Patienten nicht mehr aus dem Kopf, ertönt alle drei Sekunden in voller Lautstärke und lässt ihn nicht in Ruhe“. „Der Patient“ denkt zunächst, dass das Wort „besser in Celans Umwegkarten bleiben“ sollte, weil „außerhalb des Gedichts (…) kaum jemand das Wort köpfeln“ brauche.[23] Doch schon wenig später hat sich „der Patient“ in ein „Ich“ transformiert, das das Wort gebraucht.
„Bevor ich damit (einem OP-Messer, T.F.) jemanden verletze, muss ich ins kalte Wasser springen, das mich zur Vernunft bringt. Ich verwandle mich in einen Wal und köpfle.“[24]

Der Roman lässt sich schließlich als eine Kritik der Celan-Forschung lesen. Zu den Forschungsfragen gehört die nach der Lyrik. Und dafür lässt Yoko Tawada ihren Patrik „weder Esoterik noch Verschwörungstheorien“ verwenden wollen, „er wollte etwas, was er als Mystik bezeichnete. So kam er zur Lyrik.“[25] Die Lyrik kommt im Roman nicht zuletzt als Liebe zur Musik, zum Gesang vor. Daraus wird ein ganzes, wiederkehrendes Motiv im Roman. Doch was heißt dann Lyrik, wenn Patrik „(i)rgendwann (…) aufhören (wollte) zu zählen, sich vom Gitter der zählbaren Buchstaben befreien und abends tanzen gehen“ will.[26] Lyrik, wie von ihr in Paul Celan und der chinesische Engel erzählt wird, wäre dann eine Verdichtung der Sprache, damit die Wörter leicht werden und zu tanzen beginnen.

Torsten Flüh

PS: Die Fotos wurden am 11. November 2020 nach 21:15 Uhr aufgenommen. Seit dem 2. November hat der zweite Lockdown die Schließung von Kultureinrichtungen wie dem Literaturforum im Brecht-Haus, der Ausstellung „Stageless“ im Friedrichstadt Palast, der Staatsoper Unter den Linden, der Komischen Oper, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Akademie der Künste etc. und der Gastronomie wie den Restaurants am Schiffbauerdamm und der Hotelerie wie dem Hotel de Rome am Bebelplatz oder selbst dem Adlon erfordert. Insofern zeigen die Fotos ein Trauma in einer inadäquaten Form. Was schön aussieht, zeigt eine Tragödie. Gleichzeitig wird auf Werbeflächen an Bus- und Tram-Haltestellen vom Bundesministerium für Gesundheit für die AHA Formel – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske – und Zusammen gegen Corona geworben.

Yoko Tawada
Paul Celan und der chinesische Engel
144 Seiten, einige farbige Bilder,
Fadenheftung, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88769-278-0
12,90 €


[1] Yoko Tawada: Paul Celan und der chinesische Engel. Tübingen: Konkursbuch, 2020, S. 129.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Verpassen des Traumas. Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juni 2020.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[4] Siehe: Helmut Karasek: Erfolgreiche Lust am Untergang. In: Der Spiegel 22.11.1993.

[5] Robert-Koch-Institut: RKI-Ratgeber: Tuberkulose vom 21.02.2013.

[6] Ludwig Güterbock (Hg.): Schoenlein’s klinische Vorträge in dem Charité-Krankenhause in Berlin. Berlin: Veit, 1843, S. 395.

[7] Ebenda S. 396.

[8] Ebenda S. 406.

[9] Paul Celan: Fadensonnen. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. In: Paul Celan: Werke. (Herausgegeben von Jürgen Wertheimer.) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 161.

[10] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] Rückseite.

[11] Ebenda S. 20.

[12] Ebenda S. 7.

[13] Torsten Flüh: „Ich lasse mich gerne atmen durch eine andere Sprache“. Yoko Tawada liest neue „Überseezungen“ mit Naomi Sato an der 笙 (shō) im Haus für Poesie. In: NIGHT OUT @ Berlin Februar 18, 2018 23:05.

[14] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] S. 103.

[15] Ebenda S. 48.

[16] Lyrikline listen to the poet: Paul Celan: Corona Hessischer Rundfunk 1963.

[17] Prediger 3, 14: 31 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. In: Lutherbibel 2017.

[18] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] S. 139.

[19] Ebenda S. 30-31.

[20] Ebenda S. 8.

[21] Ebenda S. 99.

[22] Ebenda S. 98.

[23] Ebenda S. 117.

[24] Ebenda S. 118-119.

[25] Ebenda S. 121.

[26] Ebenda S. 122.

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Der lange Sommer der Verschwörungstheorien

Einige Beobachtungen zur politischen Ökonomie und Dynamik von Verschwörungstheorien in Zeiten der Covid-19-Pandemie

Ende September erinnerte Thomas Assheuer im ZEIT-Feuilleton daran, dass Leo Löwenthal im Exil schon vor 70 Jahren Verschwörungstheorien in der „Mitte“[1] der Gesellschaft der USA untersucht hatte.[2] Assheuer formulierte die Frage „Warum glauben vernünftige Bürger an Verschwörungen und globale Drahtzieher?“ 1949 veröffentlichten Leo Löwenthal und Norbert Guterman unterstützt vom American Jewish Commitee in der Social Studies Serie als ersten Band: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. bei Harper & Brother in New York. Später wurde die Studie in der deutschen Übersetzung Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation bekannt und mehrfach in Anthologien publiziert. Löwenthal blieb in den USA und wurde Professor in Berkley. Am 20. Oktober 2020 publizierte Charles H. Clavey im Boston Review mit Bezug auf Löwenthal den Artikel: Donald Trump, Our Prophet of Deceit.[3] Fast plötzlich wird Leo Löwenthals methodologischer Ansatz für die frühe Studie wieder lesenswert.

Aktuell lässt sich während der zweiten epidemiologischen Welle beobachten, dass sich die Verschwörungstheoretiker in sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen in Leipzig und Frankfurt am Main etc. radikalisieren und offen mit rechtsradikalen Gruppierungen fraternisieren. Während Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz einen zweiten, harten Lockdown verordnen muss, liefern sich Corona-Leugner in Frankfurt Straßenschlachten mit der Polizei und behaupten, dass es weder das Virus Sars-Cov-2 noch eine Pandemie gebe. Leo Löwenthal untersuchte die sprachlichen Prozesse und Narrative, die während des Zweiten Weltkriegs in Amerika zu rechten, faschistischen, um nicht zu sagen nationalsozialistischen Politikern und Agitatoren überzulaufen aufriefen. Wie konnte es sein, dass amerikanische Wähler*innen rechtsradikalen Politikern glaubten, während Millionen amerikanische Soldaten in Europa gegen Nazi-Deutschland kämpften? Wie können hunderte niedergelassene Ärzte und Wissenschaftler wie der Hirnforscher und Neurobiologe Gerald Hüther mit Wege aus der Angst (Oktober 2020) Verschwörungstheorien nähren?    

Als Bildmaterial erscheinen in dieser Besprechung Fotos vom Haus der Statistik Ecke Karl-Marx-Allee und Otto-Braun-Straße in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz. Die Fotos wurden am 1. Juni 2020 um ca. 18:30 Uhr aufgenommen. Es war Pfingstsonntag und die Einschränkungen des ersten Lockdowns seit März wurden nach und nach gelockert. Seit dem 4. Mai fuhren z.B. in Berlin die Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen wieder im Regelbetrieb. Ein Pfingstkonzert hatte vor der Auferstehungskirche in der Friedenstraße im Freien stattgefunden. Viele Veranstaltungen der „Werkstatt Haus der Statistik“ finden im November nicht wie geplant statt. Das Haus der Staatlichen Zentralverwaltung der Statistik (SZS) der DDR steht seit 10 Jahren leer. Es ist eine Liegenschaft des Landes Berlin geworden. Die Werkstatt arbeitet in einem Interessenverband an Perspektiven für eine Zukunft des repräsentativen Plattenbaus aus vier Hochhausscheiben, der zwischen 1968 und 1970 mit einer Grundfläche von 46.000 m² erbaut wurde. Eine Neonröhrenzeichnung zeugt heute noch vom DDR-Café Mocca-Eck.

Im Kontext der Verschwörungstheorien spielen die Fotos vom Haus der Statistik auf staatliche Berechnungen und Planungsmodelle in Zentralplanungswirtschaften an. Die Konzepte und Methoden der Staatlichen Zentralverwaltung der Statistik unterschieden sich von denen des Statistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutschland, so dass die Statistikgesetze des Bundes am 3. Oktober 1990 auch für die neuen Bundesländer in Kraft traten. Die Geschichte des Bundesamtes vermerkt entsprechend für 1991: „Alle Statistiken in den neuen Ländern und Berlin-Ost werden nach den Konzepten und Methoden der Bundesstatistik durchgeführt.“[4] In seinem Leitbild definiert sich das Statistische Bundesamt heute als ein Service für „demokratische, faktenbasierte Entscheidungsprozesse“, was auch einen Wink auf die nicht immer entsprechenden Prozesse in Zentralplanungswirtschaften wie z.B. der Volksrepublik China gibt.
„Wir stellen neutrale, objektive und fachlich unabhängige Statistiken zur Verfügung. Diese Zahlen sind die Basis für demokratische, faktenbasierte Entscheidungsprozesse. Wir bilden mit unseren Daten nicht nur das Hier und Heute ab, sondern vermitteln auch Informationen zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.“[5]

Das Zahlen-Wissen, die Planungsmodelle und die Planbarkeit von „gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen“ haben durch die Covid-19-Pandemie einen epochalen Bruch erfahren. Das aus den Statistiken generierte Zahlen-Wissen ist in Deutschland seit dem Beginn der Epidemie im März grundlegend erschüttert, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass die Politik der „Schwarzen Null“ von einem auf den anderen Tag mit den sogenannten Corona-Hilfen von der Bundesregierung und Finanzminister Olaf Scholz nach einer Dringlichkeitsabwägung für obsolet erklärt wurde.[6] Dahinter wirkt eine nachhaltige Verschiebung der Konzepte und Methoden. Die Krise des statistischen oder Zahlen-Wissens gehört zu jenem Komplex der Wissenserschütterung, der durch die Pandemie in Europa und der Welt eingesetzt hat. Paradoxerweise sind es die rein statistischen Methoden, Erhebungen und Berechnungen wie z.B. durch den R0-Wert, die Basisreproduktionszahl, die nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern massiv die Lebenspraxis jedes Einzelnen beeinflussen. Das Statistische Bundesamt hat eine eigene Kategorie der „Corona-Statistiken“ eingerichtet.[7]

Die Macht der Statistik hat sich verschoben zu einem Akteur, der fast unsichtbar oder dem Großteil der Bevölkerung nahezu unbekannt war: dem Robert-Koch-Institut, kurz RKI. Vor dem RKI am Nordufer stehen wie im Frühjahr seit einigen Wochen wieder Fernsehteams mit Reporter*innen, die per Live-Schaltung die neuesten Infektionszahlen ins Mikrophon sprechen. Die Direktoren und Mitarbeiter*innen des RKIs haben, soviel mir bekannt ist, bislang keine Interviews vor ihrem Institut gegeben. Mehr als Zahlenwerte ermittelt bzw. bündelt das Robert-Koch-Institut aus den nationalen Gesundheitsämtern nicht. Vor 20 oder 30 Jahren hätte das per Telefon oder FAX stattfinden müssen, was eine gewisse Verzögerung bedeutete. Heute werden die Zahlen durch digitale Datenübermittlung generiert und bisweilen jede Zeitverzögerung skandalisiert. Millionen von Bundesbürgern warten auf die morgendlich verkündeten Zahlen vom Vortag, als gehe es um die Lotto-Gewinnzahlen, was für die Macht der Zahlen spricht. Da es um mittelfristige Entwicklungen und nicht um plötzliche Zufallszahlen geht, dürfte diese Wahrnehmung der Zahlen ihre Aussagekraft verfehlen.

Den Hintergrund der Verschwörungstheorien gibt jene Macht der Zahlen ab, die in einer gewissen Monstrosität der leeren Fenster des Hauses der Statistik verkörpert werden könnten. Das historisierende Gebäude des Robert-Koch-Instituts in Backstein von 1910 am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal wirkt dagegen geradezu pittoresk. Trotzdem ist es bereits zum Ziel eines Brandanschlags und von Protesten der Corona-Leugner mit Megaphon geworden. Charles H. Clavey, der in Harvard lehrt, hat sich in seinem Artikel zu Leo Löwenthal und seinem Text Prophets of Deceit nicht nur mit dessen Rahmen der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer befasst, vielmehr weist er auf Löwenthals neue Methoden hin:
„The first prong was “content analysis,” a new method for systematically analyzing the creation and transmission of meaning through speech and text. Researchers in the emerging field of communications studies practiced content analysis by assembling a large body of evidence and then parsing each text, cataloging recurring images, tropes, claims, and rhetorical devices.”[8]     

Anders als es die deutsche Übersetzung des Titels von Prophets of Deceit vorgibt, geht es nicht um „Falsche Propheten“, sondern um Propheten des Betrugs oder der Täuschung bis hin zur Lüge. Die Lüge lässt sich indessen als rhetorische Figur auffassen. Sie formuliert das Gegenteil von dem, was zuvor als wahr und faktisch ausgesagt worden ist. Im Kontext des Zahlen-Wissens wird dieses per se als falsch erklärt. Die Lüge unterliegt einer Nachträglichkeit selbst dann, wenn z.B. Donald Trump im Voraus von einer manipulierten Wahl spricht, um bewusst Misstrauen in die Demokratie zu schüren. Donald Trump lässt sich nach Clavey als ein Prophet der Lüge auffassen. So stellte schon Leo Löwenthal seinem Buch ein Bibelzitat des alttestamentarischen Propheten Jeremia in Englisch voran: „Yeah, they are prophets of deceit of their own heart. Jer. 23:26“ In der Lutherbibel wird Jeremia 23:26 auf folgende Weise übersetzt: „Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen“.[9] Die Lüge, so Jeremia, wird dazu verbreitet, damit sie Vergessen bewirkt: „27und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?“ Der hebräische Text lässt einen gewissen semantischen Spielraum bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsch. Dennoch gibt Löwenthal einen Wink auf ein sehr altes rhetorisches Verfahren, das eine faktische Wahrheit in eine oft offensichtliche Lüge verkehrt. Donald Trump hat erwiesenermaßen tausendfach während seiner Präsidentschaft gelogen, dennoch oder gerade deshalb haben ihn ca. 70 Millionen Amerikaner*innen gewählt.

Die Lüge lässt sich nicht nur als äußerst wirksame Rhetorik analysieren. Sie wird nach Clavey von Löwenthal und Guterman methodisch ebenso mit der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und Erik Erikson kombiniert, um zu erklären, „how the agitator’s material activated “unconscious mechanisms” in followers’ minds, reinforcing deep-seated fears, manipulating their behavior, and diminishing their abilities to think and act independently“.[10] Obwohl die Forscher ihre Methode als „frankly experimental“ erklärt hätten, sei es ihnen möglich geworden, zu erklären wie Agitatoren ihre Zuhörer und Leser zu „followers“ transformierten, indem sie das Gespenst (specter) eines existentiellen Feindes konstruiert und sich selbst als Führer etabliert hätten. Sie schufen allererst die Wahrnehmung einer feindseligen Welt (hostile world).[11] Anders gesagt: Es lässt sich leicht erkennen, dass die oft reproduzierten und keinesfalls neuen Narrative durch geschickte Kombination häufig äußerst intensive Gefühle erzeugen, die die gesamte Wahrnehmung verändern. Die Benennung und Beschreibung von Ängsten – „deep-seated fears“ – nimmt dabei eine entscheidende Funktion ein. Ich werde auf die Funktion der Ängste zurückkommen.

Die Funktion der Lüge hat Slavoj Žižek in Anknüpfung an Lacan einmal genauer mit dem Fetisch beschrieben. Der Fetisch sei effektiv eine Art Umkehrung des Symptoms. „That is to say, symptom is the exception which disturbs the surface of the false appearance, the point at which the repressed truth erupts, while fetish is the embodiment of the Lie which enables us to sustain the unbearable truth”. Der Fetisch sei die Verkörperung der Lüge, welche es uns ermöglicht, die unerträgliche Wahrheit aufrecht zu erhalten, heißt, dass in Bezug auf die Verschwörungstheorien der Agitator oder politische Anführer wie etwa Donald Trump zum Fetisch gemacht wird, um es einmal so zu formulieren. Žižek führt als Beispiel den Tod einer geliebten Person an: „when I „repress“ this death, I try not to think about it, but the repressed trauma persists and returns in the symptoms. (…)” Wenn der Tod der Person als Trauma geleugnet oder verdrängt wird, dann kehrt er in den Symptomen für das Ich wieder.[12]

Žižek formuliert, wie der Fetisch bzw. die Fetischisierung genau die gegenteilige Funktion zu Leugnung oder Verdrängung erfüllt. Der Fetisch kann eine sehr konstruktive Rolle einnehmen, damit wir mit der besonders krassen Realität zurecht zu kommen. Wenn der Hinterbliebene von den schrecklichsten Momenten des Sterbens in einer besonders kalten und klaren Weise spricht, dann klammert sich das Ich an den Fetisch. Das Trauma leitet sozusagen die Fetischisierung ein. Anders als bei Löwenthal und Guterman spricht Žižek allgemeiner vom Trauma, obwohl der Tod eines geliebten Menschen selbstverständlich eine soziale oder gesellschaftliche Katastrophe sein kann oder ist. Mit Žižeks Worten:
„In the case of a fetish, on the contrary, I „rationally“ fully accept this death, I am able to talk about her most painful moments in a cold and clear way, because I cling to the fetish, to some feature that embodies for me the disavowal of this death. In this sense, a fetish can play a very constructive role of allowing us to cope with the harsh reality: fetishists are not dreamers lost in their private worlds, they are thoroughly „realists,“ able to accept the way things effectively are – since they have their fetish to which they can cling in order to cancel the full impact of reality.”[13]

Der Modus der Wiederholung lässt sich als ein wesentliches Element in „den verschiedenen Agitationstexten“ nach Löwenthal und Guterman identifizieren. Als „Agitationsmaterial“ dienten ihnen „Flugschriften, Zeitschriften und Reden“ im damals neuartigen Medium Radio. Doch „(i)n den weitaus meisten Fällen könnten die in diesem Buch verwandten Zitate ohne weiteres als ständig sich wiederholende Themen im Agitationsmaterial gefunden werden.“[14] Was die Autoren Agitation nennen, beschreiben sie „als Manifestation tiefliegender sozialer und psychologischer Trends“.[15] Trends lassen sich nur durch Wiederholungen erkennen. Löwenthal und Guterman haben vor allem die Beschreibung der Juden in den Texten als Konstruktion des Antisemitismus untersucht. Der Antisemitismus der Corona-Leunger unterdessen ist so diskret, dass ihn sogar jüdische Bürger*innen nicht erkennen oder partout übersehen wollen. Doch was Löwenthal über die „Sprache des Agitators“ schreibt, lässt sich der Struktur nach leicht in aktuelle Verschwörungstheorien übertragen.
„In der Sprache des Agitators gewinnt die Vorstellung vom Auserwähltsein der Juden eine negative Bedeutung. Die „geheimnisvollen Wurzeln des jüdischen Schicksals“, von denen die Theologen sprechen, werden als ausgeklügeltes jüdisches Komplott gedeutet; die Besonderheiten des jüdischen Intellekts gelten als jüdische Rücksichtslosigkeit und Gerissenheit; die kompromißfeindlichen messianischen Zielvorstellungen werden als verbrecherischer Vernichtungswillen gegen die nichtjüdische Welt ausgelegt. Ehrfurcht und Bewunderung verwandelt der Agitator in Furcht, Neid und Haß.“[16]

Löwenthal beschreibt sprachliche Operationen der Verkehrung, aus denen Antisemitismus und Verschwörungstheorien gemacht werden. Das zentrale Narrativ in Form des Gerüchts von QAnon sind die das Blut von Kindern trinkenden Mächtigen. Kinder und Schwangere nehmen eine entscheidende Funktion für die die Pandemie leugnenden Verschwörungstheoretiker ein. Die Machtlosesten werden von den Verschwörern misshandelt, gequält und getötet, um selbst an Macht zu gewinnen. Das setzt erhebliche Emotionen frei. Immer wieder wird von Teilnehmerinnen auf Corona-Demonstrationen die schwere Misshandlung der Kinder durch die Aufforderung zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen artikuliert und kolportiert. Insofern wäre die Wiederholung der immer gleichen Lügen wie bei QAnon keine Ausnahme, vielmehr gehört sie zur Struktur der Agitation oder Verschwörungstheorien. Denn der- oder diejenige, der sich der Verschwörungstheorie angeschlossen hat, will sie wiederholt hören, indem der/die andere sie ebenfalls ausspricht. Auf diese Weise lässt sich verstehen, dass der das Tragen einer Maske in der Bäckerei verweigernde Corono-Leugner die Verkäuferin und Frau des Bäckers, die allein im Laden bedient, davon überzeugen will, dass sie keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen soll. Man könnte das einen regelrechten Wiederholungszwang des sich selbst als frei von Angst wahrnehmenden Leugners beschreiben.

Das Aussprechen bzw. die Artikulation der Verschwörungstheorie als „mein“ Wissen nimmt z.B. für die Trump-Anhänger hinsichtlich einer amtlich widerlegten gestohlenen Wahl eine nicht nur verbindende Funktion ein. Sie wollen alle Anderen zwingen, ihre Lüge als Wahrheit zu übernehmen. Roland Barthes hat einmal in seiner Antrittsrede am College de France formuliert, dass Faschismus nicht heiße, am Sagen hindern, sondern dass das Zum-Sagen-zwingen faschistisch sei. Insofern sind Verschwörungstheorien nicht zufällig faschistisch, vielmehr liegt es in ihrer Struktur wie etwa beim Kunden in der Bäckerei, der die ihm hilflos ausgelieferte Verkäuferin zwingen will, die Maske abzunehmen und damit zu sagen, dass sie nicht an die Covid-19-Pandemie glaube. Im Hintergrund läuft ein unausgesprochenes Machtspiel als Narrativ ab, dass davon ausgeht, dass die Frau erstens keinen Kunden verlieren will und befürchten muss, dass durch eine sogenannte Mundpropaganda weitere Kunden ausbleiben könnten. Zweitens muss die Bäckersfrau befürchten, dass der erregte Corona-Leugner ihre Schaufensterscheibe beschmiert oder einschmeißt, wenn sie auf das Tragen der Maske besteht. Die Bäckersfrau erzählte mir eben jene Befürchtungen, die der Corona-Leugner selbstverständlich weiß.

Was ist Angst? Wie lässt sich z.B. mit der Angst vor einer ungewollten Infektion mit Sars-Cov-2 umgehen? Bin ich ängstlich, wenn ich meine Kontakte zu Bekannten, Freunden und Familie einschränke, weil die Bundesregierung und die Landesregierungen angesichts der dynamischen Epidemie und den entsprechenden Infektionszahlen in Deutschland zur Kontaktbeschränkung auffordern, Bußgelder verordnen und von der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs abraten? Gerald Hüther hat laut seiner Website Anfang Oktober 2020 bei Vandenhoeck & Ruprecht Wege aus der Angst. Über die Kunst, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens umzugehen veröffentlicht.[17] Der Vertrauen erweckende Titel mit der Bildungsgeste einer Anknüpfung an die Kunst des Lebens spricht aufgeschlossene Leser*innen an, die sich womöglich mit ihren Ängsten konstruktiv befassen möchten. Ein gewisser Bildungshorizont wird insofern vorausgesetzt und angesprochen. Gerald Hüther kann man einen Spitzenwissenschaftler nennen, weil er vor einigen Jahren in das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen worden war. Er hatte also die Möglichkeit erhalten, sich an einem universitären Forschungsinstitut anzudocken und binnen fünf Jahren mit einem Volumen über 500.000 € für eine ordentliche Professur in seinem Fach der Neurobiologie zu qualifizieren. Nur die Besten werden in das DFG-Programm aufgenommen. Hüther hat wiederholt über Angst publiziert und seit 19. April 2020 mindestens zwei Videos zum Thema Angst auf YouTube hochgeladen. Gleich am 28. März 2020 äußerte sich Hüther in einem Gespräch mit Michel Friedmann zu Angst während der Covid-19-Pandemie.[18]

Gerald Hüther kommt nach einer kurzen Anmoderation sofort auf die Kinder zu sprechen, um die „Folgeschäden“ des Lockdowns zu illustrieren, was gewiss kein Zufall ist: „Ich nehme mal so, was ganz einfach ist, dass es Unmengen von Kindern gibt, die normalerweise mit ihren Müttern, wenn sie von den Vätern geprügelt und geschlagen werden, die dann in solche Frauenhäuser gehen können. Die sind alle zu. Das hat mit Ökonomie gar nichts zu tun. Wo sollen denn die jetzt eigentlich hin? Wo soll ein Mensch, der völlig ratlos ist, jetzt finden?“[19] Die Transkription der mündlichen Rede über Zoom etc. wurde in der Syntax nicht normalisiert. Vielmehr wird auf diese Weise in der mündlichen Rede das willkürliche Aufrufen der „Kinder“ als Zeugen deutlich. Häusliche Gewalt, die durch einen Lockdown hätte zunehmen können, wird nicht erklärt, sondern syntagmatisch offen assoziiert. Mit Löwenthal lässt sich sagen, dass bei den Zuhörer*innen vom Agitator hängenbleiben sollte: „Mein Gott, die armen Kinder!“ Auf seiner Website kündigt der bekannte Neurobiologe zur „Angstforschung“ mit einer gewissen sprachlichen Elastizität sein neues Buch an:
„Das Schüren oder Beschwichtigen von Angst ist also gezielt zur Durchsetzung eigener Interessen und Absichten einsetzbar. Diese Instrumentalisierung der Angst macht Menschen abhängig und manipulierbar, beraubt sie ihrer Freiheit. Deshalb beschreibt Gerald Hüther in diesem Buch auch nicht, wie wir uns von der Angst befreien, sondern was wir tun können, um nicht zu Getriebenen der von anderen Menschen oder Interessengruppen geschürten Ängste zu werden.“[20]

Gegenüber dem Versprechen eines lebenspraktischen Umgangs mit Angst im Titel, wird nun die Angst ins Machtpolitische verschoben. Hätten wir erwarten dürfen, etwas über die neurobiologischen Wirkungsweisen von Angst im Gehirn erfahren zu dürfen, so geht es nun um eine politische „Instrumentalisierung der Angst“. Die therapeutische Praxis wird politisch, weil „wir uns von der Angst befreien“ müssen, die von anderen „Menschen oder Interessengruppen geschürt()“ wird. Die vermeintlich naturwissenschaftlich begründete methodologische Wende zur Gesellschaftspolitik wird von Hüther denn auch im darauffolgenden Absatz als entscheidende und positive Neuerung in einem großen Bogen zwischen Klima- und Epidemiepolitik herausgestellt.
„Es ist das gesellschaftspolitisch brisanteste Buch, das Gerald Hüther bisher veröffentlicht hat. Es erklärt nicht nur, weshalb so viele Menschen nichts tun, um das Überleben unserer Spezies auf diesem Planeten angesichts der vielen, real existierenden Bedrohungen zu sichern. Es macht auch verständlich, weshalb bereits die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht.“[21]

Michel Friedmann hatte im März noch mit Hüther über die Funktion von Vertrauen in die Politik und die Politiker gesprochen. Einige Monate später geht es um eine Wissensformation, die als falsch und interessengeleitet denunziert wird, weil „die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht“. Mit Angst und Schrecken zu regieren, heißt Terror, weshalb Corona-Leugner von „Corona-Terror“ sprechen. Doch damit wird Zahlen-Wissen per se zu Terror erklärt. Die Leugnung des Virus setzt auf diese Weise einen vermeintlich berechtigten Widerstand, eine Art staatsbürgerlichen Ungehorsam frei. Leider ist dieser Ungehorsam seit einigen Wochen so letal, dass die Intensivbetten in den Kliniken nahezu überbelegt sind. In der Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, Spanien und den Niederlanden ist die Intensivversorgung an ihre Grenzen gestoßen, so dass das „Virus“ nicht nur gefährlich, sondern tödlich ist. Auf eine grundlegende Analyse der Angsttexte von Gerald Hüther kann hier verzichtet werden, weil sich schon an den zitierten Passagen abzeichnet, dass es hier nicht um Wissenschaft oder Neurobiologie geht, wohl aber um Narrative, die bereits Leo Löwenthal und Norbert Guterman als Repertoire der, wie sie es nannten, Agitatoren analysieren konnten.

Torsten Flüh


[1] Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. In: ders.: Untergang der Dämonologien. Studien über Judentum, Antisemitismus und faschistischen Geist. Leipzig: Reclam 1990, S. 144.

[2] Thomas Assheuer: Hier walten geheime Kräfte. In: DIE ZEIT Nr. 41/2020, 1. Oktober 2020 (Online 4. Oktober 2020, 12:57)

[3] Charles H. Clavey: Donald Trump, Our Prophet of Deceit. In: Boston Review. A Political and Literary Forum October 20, 2020.

[4] Siehe: destatis – Statistisches Bundesamt: Über uns: Geschichte.

[5] Ebenda Inhalt.

[6] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[7] destatis – Statistisches Bundesamt: Corona-Statistiken.

[8] Charles H. Clavey: Donald … [wie Anm. 3].

[9] Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2016.

[10] Charles H. Clavey: Donald … [wie Anm. 3].

[11] Ebenda.

[12] Slavoj Zizek: Self-Deceptions. On Being Tolerant and Smug. Zuerst in: Die Gazette. Israel, 27 August 2001. In: Lacan.com.

[13] Ebenda.

[14] Leo Löwenthal: Falsche … [wie Anm. 1] S. 145.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda S. 168.

[17] Gerald Hüther: Mediathek: Buchmanuskript.

[18]  MICHEL FRIEDMAN CORONA-SPEZIAL: Neurobiologen Gerald Hüther zu ANGST in der Covid-19-Isolation. YouTube: WELT Nachrichtensender 28.03.2020.

[19] Eigene Transkription nach ebenda.

[20] Gerald Hüther: Mediathek … [wie Anm. 17].

[21] Ebenda.

Beethoven gefeiert zwischen Kombination und Ionisation

Montage – Eroica – Bildnis

Beethoven gefeiert zwischen Kombination und Ionisation

Zu Hans Otto Löwensteins restauriertem Film Beethoven (1927) und Gene Pritskers EroicAnization (2020)

Bereits zu Lebzeiten wurden Bildnisse von Ludwig van Beethoven angefertigt. Einige waren als Lithographien während der Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin im Humboldt-Saal des Hauses Unter den Linden im Juli zu sehen.[1] Es sind überwiegend kleinformatige Darstellungen bis zu Miniaturen. Bildnisse des Komponisten nach Zeichnungen oder Schattenrissen, sogar eine Lebendmaske, gehörten nicht zuletzt zum neuartigen Verkaufskonzept der Musikverleger um 1800.[2] Ein Bildnis des jungen Komponisten verkaufte die Noten besser. So zeichnete Gandolph Stainhauser von Treuberg 1801 den dreißigjährigen Komponisten. Für den Druck übersetzte Johann Joseph Neidl die Zeichnung in einen Kupferstich, der von Karl Traugott Riedel noch einmal in einen Stich transformiert wurde. Der Wunsch nach einem Bild wuchs im 19. Jahrhundert mit seinem Ruhm, so dass in Kombination mit Biographien Beethoven zunächst zum Stummfilm- und bald zum Tonfilmsujet wurde. Zum 100. Todestag verlieh 1927 Fritz Kortner dem Komponisten ein Gesicht.

Zur Uraufführung von Gene Pritskers Beethoven-Stück EroicAnization als Auftragswerk des ensemble KONTRASTE und BTHVN2020 unter der Leitung von Hans Rotmann in der Tafelhalle Nürnberg am 1. Januar 2020 hatte Frieder Weiss eine Videoinstallation mit bearbeiteten Beethoven-Filmen montiert. Die Visualisierung ist genau auf die Musikbearbeitung der Eroica bzw. 3. Symphonie abgestimmt. Gut 200 Jahre Beethoven-Rezeption und -Medialisierung lassen sich nicht mehr von der Musik trennen. Die Medialisierung Beethovens und seiner Kompositionen hat ein Wissen von der Musik generiert, das von Pritsker verarbeitet und hinterfragt wird. Zugleich erscheint in diesen Tagen Hans Otto Löwensteins Beethoven-Film mit Fritz Kortner in einer restaurierten Fassung. Er wurde mit neuer Musik von Malte Giesen versehen, die ihrerseits nicht nur die Musik, sondern ebenso die Medien ihrer Verbreitung zwischen Symphonie und Stummfilmmusik reflektiert.

Die frühe Bild-Politik des Leipziger Musikverlegers Franz Anton Hoffmeister ließ 1801 das erste Bild des Klaviervirtuosen und Komponisten als junger Mann mit dessen gedruckten Noten zirkulieren.[3] Das hübsche, gepflegte Bildnis eines schwiegersohntauglichen Mannes nach einer verschollenen Zeichnung des Wiener Portraitisten Gandolph Stainhauser von Treuberg kollidiert allerdings mit Beschreibungen seiner Zeitgenossen. Sein Schüler Carl Czerny fühlte sich beim „Anblick seines Lehrers“ an eine literarische Figur aus dem Jahr 1719 erinnert, nämlich die des Abenteurers, Gestrandeten und von der Welt abgeschnittenen Romanhelden Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Czerny beschrieb Beethoven damit, dass „das pechschwarze Haar (…) sich zottig um seinen Kopf (sträubte)“.[4] Häufig wird für die Beethoven-Bildnisse ein Schattenriss von Joseph Neesen Beethovens als 15jährigen mit Zopf als „früheste(s) überlieferte(s) Bildnis des Komponisten“ angeführt.[5] Doch Schattenriss und Zeichnung oder Lithographie sind sehr unterschiedliche Medien des Portraits.

Die Bildnisse Ludwig van Beethovens, die seit dem Stummfilm eine neuartige Qualität und Funktion für die Musik erhalten haben, unterliegen visuellen Medienwechseln, die geflissentlich übersehen werden. Das Beethoven-Haus in Bonn unterscheidet zwar zwischen Bildnissen, die zu Lebzeiten bis 1827 entstanden sind, und solchen, die als „Angebliche Beethoven-Porträts“ oder gar „Fälschung“ ermittelt werden konnten. So wurde beispielsweise ein Schattenriss oder „Silhouetten-Fälschung von Josef Kundera“ von der Beethoven-Forschung gefunden. Das vermeintlich besonders authentische Bildmedium des Schattenrisses generierte eine Fälschung, die vom Sammler gern als Bild genommen und wertgeschätzt wurde. Zur Kulisse des Beethoven-Films mit Fritz Kortner gehören übrigens Schattenrisse an der Wand in der Wohnstube. Noch einen stärkeren Eindruck macht die Lebendmaske als Bildmedium von 1812, die durch die Photographie licht- und einstellungstechnisch zum Leben erweckt wurde. Die Totenmaske hat weit weniger Verbreitung gefunden. In den Portraits und Masken wird eine Spur des Denkens und Komponierens gesucht, die sich zugleich einer Präsenz entzieht.

Mit der Produktion der Beethoven-Bildnisse um 1800 geht es um eine neuartige semiologische Wissensformation: die Physiognomie. Auf dem Gesicht lässt sich seit Johann Caspar Lavaters konzeptuellen Physiognomischen Fragmenten, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe ab 1775 der Charakter und das Denken ablesen. Lavater konstruiert, liest und ordnet die Zeichen des Gesichts zu einem Wissen über den Menschen und sein Denken. Er formuliert in der Eröffnungssequenz seiner Physiognomischen Fragmente allerdings ein medienpraktisches Problem. Denn die „Zeichner und Kupferstecher“, durch die Lavater durch Vergleich sein Wissen über die Menschen generieren will, machen „Fehler“, d.h., sie generieren nach Schemata Zeichen, die Lavater im Vergleich nicht sieht.
„Ich ließ rechts und links Versuche von Zeichnungen aller Art machen; Ich betrachtete und verglich unzählige Menschen und allerley Arten menschlicher Bildnisse. Ich bat Freunde, mir behülflich zu seyn. Die häufigen täglichen Fehler meiner Zeichner und Kupferstecher waren die kräftigsten Beförderungsmittel meiner Kenntnisse. Ich mußte mich über vieles ausdrücken, vieles tadeln, vieles vergleichen lernen, was ich vorher noch zu sehr nur überhaupt bemerkt hatte. —“[6]

Die Lebendmaske Beethovens bleibt auf bedenkenswerte Weise trotz des großen Aufwandes zeichenlos oder leer. Das entspannte, flächige Gesicht mit geschlossenen Augen wirkt auf verstörend Weise wie tot. Erst durch das nachträgliche Photographieren entsteht eine zeichenhafte Dynamik aus Licht und Schatten. En face und im Profil wird die Maske photographiert immer wieder z.B. mit einem Lorbeerkranz oder Draperien abgewandelt, um Zeichen zu generieren. Beethovens Zeit ist beispielsweise für die neuartige Lithographie seit 1798 auf eine Lösung des von Lavater mit dem Kupferstich formulierten Problems auf eine Generierung von Zeichen, um nicht zu sagen eindeutigen Zeichen versessen. Es müssen sich Zeichen finden lassen. Beim Komponisten Ludwig van Beethoven wird die Suche nach den Zeichen besonders schwierig. So wird etwa überliefert: „Am 27.3.1827 wurde der Leichnam unter besonderer Berücksichtigung der Gehörorgane obduziert.“[7] Das Hören und das Nicht-Hören bzw. die Ertaubung werden u.a. im Stummfilm Beethoven (1927) mit seiner neuen Vertonung ausführlich behandelt.[8]

© ZDF/ARTE

Hans Otto Löwenstein stellt seinem Beethoven-Film ein dramatisch ausgeleuchtetes, seitenverkehrtes Photo von G. L. Manuel der künstlerischen Bearbeitung der Lebendmaske von Antoine Bourdelle voran. Die Plastik mit dynamischem Haarbusch im Stil Rodins entstand 1902. Da es sich bei der restaurierten Fassung des Films um eine Kopie für das französische Kino handelt, könnte diese Aufnahme auch nachträglich hineingeschnitten worden sein. Sie markiert allerdings jene Schnittstelle von Lebendmaske und biographischem Spielfilm, an der Beethoven mit einer gewissen Ähnlichkeit des flächigen Gesichts von Fritz Kortner sozusagen zum Leben erweckt werden soll. Die Bildnisse von Beethoven wandeln und verselbständigen sich im Maße ihrer künstlerischen Transformationen. Die Frage der Haartracht oder Frisur wird mit dem Film z.B. dadurch bedeutend, dass Joseph Haydn eine gepuderte Perücke mit Zopf nach der Mode des 18. Jahrhundert trägt, während Beethoven nie mit einer Perücke beschrieben oder dargestellt worden ist. Auf diese Weise werden Beethovens Haare zu einem Zeichen für den Bruch mit der Tradition sowie einer Praxis der Freiheit und des Genies.

© ZDF/ARTE

In der neuen Vertonung des Stummfilms durch Malte Giesen bricht der Ton ab und lässt eine Art Pfeifen durch Elektronik hören, wenn Beethoven (Fritz Kortner) seiner Taubheit gewahr wird. Dramaturgisch wird die Tragik des fortschreitenden Hörverlusts dargestellt, indem Beethoven auf einer Wanderungen mit einem Freund das „Lied der Schalmei“ eines Hirten nicht hört. Dem Hörverlust wird von Hans Otto Löwenstein 1927 ein größerer Raum eingeräumt, als er in vielen zeitgenössischen Biographien einnimmt. In der folgenden Einstellung hört Beethoven das Klopfen seiner Haushälterin an der Tür nicht. So wird das Komponieren der Musik als ein intellektueller Prozess in die Aufmerksamkeit gerückt. In der Schlusssequenz wird eine Wiederaufführung der 9. Symphonie angesetzt, die Beethoven selbst dirigieren soll. Doch auf der Probe stellt sich heraus, dass Beethoven nicht mehr dirigieren kann, weil er die Fehler im Orchester nicht hört. Man könnte allerdings mit gleichem Recht fragen, ob Beethoven das Orchester genau hören musste, um es zu dirigieren.  

© ZDF/ARTE

Beethovens Taubheit lässt sich als Frage nach dem Hören zuspitzen. Was heißt hören? Der überlieferte Obduktionsbericht vom 27. März 1827 zeichnet sich dadurch aus, dass dem Innenohr besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zur Feststellung der Todesursache hätte es einer genauen Untersuchung und Extraktion des Hörorgans nicht bedurft. Im Obduktionsbericht werden die Hörorgane sorgfältig mit „Ohrknorpel“, „Gehörgang“, „Trommelfell“, „Eustachische Ohrtrompete“, „Substanz des Felsenbeins“ und „Gegend der Ohrschnecke“ „ausgesägt“, freigelegt, untersucht und beschrieben.[9] Es ist, als wollten die sezierenden Ärzte nicht die Ursache des Todes, sondern des Hörens und der Taubheit herausfinden. Doch es gibt keine Diagnose. Das Hörorgan geht sogar verloren. Nachträglich schreibt G. v. Breunig.
„Zur genaueren Untersuchung der seit so lange schon verödeten Gehörorgane des Titanen im Reiche der Töne wurden beiderseits die Felsenteile der Schläfenknochen ausgesägt und mitgenommen. Wie Hofrat Hyrtl mir kürzlich erzählte, hatte er diese Gehörorgane damals, als er selbst noch Student war, in einem zugebundenen Glas geraume Zeit hindurch bei dem langjährigen Sektionsdiener Anton Dotter stehen gesehen; später seien sie verschollen.“[10]

© Filmarchiv Austria

Die Komposition der Symphonie Nr. 3 bzw. der Eroica spielt als eines der „bekanntesten Werke()“ in Beethoven eine entscheidende Rolle.[11] 1949 wird Walter Kolm-Veltée seinen Beethoven-Film mit Ewald Balser in der Hauptrolle gar um die Eroica herum erzählen und sie zum Titel machen. Schon 1918 hatte Fritz Kortner Beethoven in dem „Lebensroman“ Der Märtyrer seines Herzens unter der Regie von Emil Justitz gespielt.[12] Das Drehbuch hatte ebenfalls Emil Kolberg geschrieben. Im Unterschied zum späteren Stummfilm wird im ersten eine fiktive Liebes- und Leidensgeschichte der Annerl nach der Stummfilmästhetik stärker ausgespielt. Das Hörproblem wird weniger stark beleuchtet. Allerdings wird der Schalmei-Spieler im Fenster einer Burgruine von 1918 neun Jahre später von anderen Gegenschnitten gerahmt wieder in den Film montiert. Der Film war 1917 in Wien gedreht worden. Die Ausstattung des Films wirkt aufwendiger.

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Emil Kolberg knüpft in seinem neuen Drehbuch 1927 an Vie de Beethoven von Romain Rolland von 1903 an, das 1918 erstmals in der Übersetzung von L. Langnese-Hug in Deutsch erschienen war.[13] Somit hatten sich die Dreharbeiten mit der Veröffentlichung von Rollands Biographie überschnitten. Romain Rolland schenkt vor allem Beethovens Sympathien für Frankreich und Napoleon einen größeren Raum, so dass auch die Eroica-Erzählung als Interpretation der Komposition an Bedeutung gewinnt. Er stellt über eine Montage der Physiognomie – „Das Gesicht war breit, ziegelrot, erst gegen sein Lebensende wurde die Gesichtsfarbe kränklich gelb, besonders im Winter (…) Die Stirn war mächtig und zeigte seltsame Höcker …“[14] – mit dem Bildnis von Gandolph Stainhauser von Treuberg geradezu eine Ähnlichkeit mit Napoleon Bonaparte her:
„Eine Zeichnung, die Stainhauser um jene Zeit von ihm machte, umreißt ziemlich scharf das, was er damals war. Im Vergleich zu den spätern Beethoven-Bildern ist es ungefähr das, was Guérins Bild von Bonaparte mit dem scharfen, vom Fieber des Ehrgeizes gezeichneten Zügen, im Vergleich zu den spätern Napoleon-Bildern bedeutet. Auf jener Zeichnung scheint Beethoven jünger als er damals war, mager, aufrecht, steif in seiner hohen Krawatte steckend, mit mißtrauischem, gespanntem Blick. Er weiß, was er wert ist, er glaubt an die ihm innewohnenden Kräfte.“[15]

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Beethoven (1927) montiert auf eine lange Sequenz, die die Mondscheinsonate als unglückliche Liebesgeschichte zu Julie Guiccardi inszeniert, um zugleich eine Reihe von Landschaftsgemälden mit Mond aus der Romantik als Inbegriff der melancholischen Stimmung zu visualisieren, mit der Eroica über den Zwischentitel: „Begeistert von Napoleons Siegen, vollendete Beethoven seine 3. Sinfonie und widmete sie dem großen Feldherrn.“ In der Vertonung von Malte Giesen erklingt daraufhin der eröffnende Eroica-Akkord. Bemerkenswert ist an dem visuellen Verfahren von Hans Otto Löwenstein, dass die Liebeserzählungen mit einer gleichsam kunsthistorischen Montage von Landschaftsgemälden montiert wird. Während sich in den Bildfindungen der sogenannten Romantik das Individuum einsam in der Nacht einer Landschaft im Mondschein gegenüber findet, wird in der Gefühlserzählung der Liebe ein Verlust inszeniert. Die Klaviersonate Nr. 14 op. 27 Nr. 2 in cis-Moll kann indessen auch anders gespielt werden, wie Igor Levit erst vor kurzem gezeigt hat.[16]    

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Malte Giesen hat mit Fabio Matino (Klavier) und einem kleinen Orchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach unter der Leitung von Aurélien Bello sowie Elektronik eine qualitativ ebenso hochwertige wie zeitgenössisch reflektierte Stummfilmmusik eingespielt. Sie bringt den Stummfilm quasi zum Sprechen und bedenkt zugleich die Funktionen von Musik im Medium Film. Giesen hatte die „Idee“, „aus Beethoven-Werken eine Art ‚komponierte Interpretation‘ zu entwickeln, die den Film musikalisch in immer wieder unterschiedlicher Funktion begleitet“. Er verwendet aktuelle Techniken der Musikbearbeitung.
„Dabei möchte ich mit Techniken arbeiten, die unmittelbar an die zeitgenössische Ästhetik und Philosophie meiner Generation anknüpfen: Remix, Sampling, Shuffling, auch gerade der Mix Orchester/Elektronik soll hier zu Einsatz kommen. Auf diese Weise stelle ich mir die hypothetische Frage: Wie hätte Beethoven komponiert, wenn es schon Elektronik gegeben hätte? Elektronik kommt also in unterschiedlicher Funktion zum Einsatz, einerseits als zusätzliche Klangfarbe mit eigener Ästhetik und andererseits als bewusstes Spielen mit der „Medienfarbe“ und Historizität von elektronischen Klängen (wie durch Grammophon, Schallplatte, Spielen mit klischeebehafteter Stummfilmmusikästhetik).“[17]

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Das Verhältnis der Musik zum visuellen Medium Film hat sich bei Malte Giesens Komposition regelrecht umgedreht. Denn schon der erste Stummfilm 1909 mit dem Titel Beethoven von Victorin Jasset, der am 6. Dezember 1909 in Paris ins Kino kam, sollte die Musik über das visuelle Medium Stummfilm zugänglich machen.[18] Die Titelrolle spielte übrigens der 29jährige Harry Bauer, der damit zur französischen Verkörperung des Komponisten wurde und 1936 für Abel Gance in Un grand amour de Beethoven ihn noch einmal im Tonfilm „plus vrai que la nature“ spielen sollte.[19] Die Darstellung Beethovens im Film konstruiert ein biographisches Wissen als Zugang oder gar Entschlüsselung der Musik. Malte Giesen dagegen erprobt und kombiniert unterschiedliche akustische Medien, um dem Stummfilm eine eigene Komposition zu unterlegen. Er orientiert sich dabei sehr wohl am Filmmaterial, um es kreativ zu interpretieren.

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Der New Yorker Komponist, Di.J. und E-Gitarrist Gene Pritsker hat mit EroicAnization und der Visualisierung durch Frieder Weiss den wahrscheinlich ambitioniertesten Beitrag zum Beethoven-Jahr 2020 als Music on demand veröffentlicht. Ohne Visualisierung geht es heute in der populären Beethoven-Rezeption kaum noch. Andererseits hat Maurizo Kagel vor 50 Jahren zum 200. Geburtstag mit dem Film Ludwig van und dessen Musik einen nachhaltigen Bruch mit der Visualisierung von Beethoven und seiner Musik vollzogen. Helmut Loos schrieb dazu 1986, dass der Film „eine aggressive Kritik an allem, was sich bis dahin an Beethovenkult entwickelt hat“ sei. Der Film hatte mit 91 Minuten Spielfilmlänge. Derzeit kursieren auf YouTube mehrere kurze Sequenzen. Nicht nur die musikalische Bearbeitung und Verzerrung der Kompositionen von Beethoven spielt eine Rolle, vielmehr fand sich das Publikum visuell verletzt.
„Dabei nimmt der Film weder auf Empfindlichkeiten des Publikums Rücksicht noch auf dessen Ermüdungstoleranz: wenn etwa in Dieter Rots ‚Badezimmer‘ eine zerbröckelnde Fettbüste Beethovens nach der anderen aus der Badewanne geholt und der Kamera vorgehalten wird … Mag manche Kritik an ‚Ludwig van‘ durchaus berechtigt sein, so bestätigt eine Äußerung wie die von Hilde Spiel in der FAZ ‚zwei- bis dreitausend Jahre mühsamen Aufstiegs in eine Begriffswelt, der Beethovens Musik Ausdruck gegeben hat, werden geleugnet‘ genau jenen Beethovenkult, den Kagel angreift.“[20]

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Der Beethovenkult war vermutlich 1969/70 größer und konservativer als heute. Denn er basierte auf einem Mythos vom Genie und romantischen Komponisten, wie er seit der postumen Biographie von Anton Schindler aus dem Jahr 1840 entwickelt und immer wieder beispielsweise von Romain Rolland sowie in ca. 30 Beethoven-Filmen und Beethoven als Filmmusik modifiziert worden war. Eine genaue Textanalyse des Briefes an die „Unsterbliche Geliebte“[21] oder Erforschung der Kompositionen wurde dabei teilweise regelrecht verdrängt. Was heißt Komponieren? Hörte Beethoven die Musik, bevor er sie in Notenschrift zu Papier brachte? Das zumindest behaupten und inszenieren viele Beethoven-Filme. Oder geht es um ein Kombinieren und Improvisieren, wie es beispielsweise die 32 Klaviersonaten nahelegen könnten? Die Sonatenform wird bei Joseph Haydn aufgegriffen und immer weiter aus- und umgebaut, gar zerlegt.[22] – Wir wissen es nicht.

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Was ist Ionisation? Gene Pritsker komponiert und montiert mit E-Gitarre, D.J.ing und Elektronik sowie Kammermusikensemble nicht nur die Eroica neu, vielmehr führt er an den Titeln der 6 Stücke von EroicAnization bereits eine Art Sprachspiel vor: Eroica Erupted, Eroica Extracted, Erotic Eroica, Eulogy Eroica, Erroneous Eroica, Eka Tala Eroica. Das Heroische wird transformiert und nach Edgar Varèses Komposition Ionization von 1931 gleichsam verarbeitet. Die bahnbrechende Komposition von Varèse für 13 Schlagzeuger spielt mit ihrem Titel auf den physikalischen Vorgang der Ionisierung an. Damit wird ein physikalisches Wissen modellhaft auf die akustische Produktion angewendet. Der britische Physiker John Joseph Thomson beschrieb am 27. Februar 1896 zum ersten Mal eine elektrische Aufladung der Luft durch Röntgenstrahlen mit der Formulierung „the air is ionised“.[23] Aus dieser Formulierung generierte sich das physikalische Wissen der Ionisierung oder Ionisation. Von einem Atom oder Molekül werden Elektronen entfernt, so dass positiv aufgeladene Molekülreste oder Ionen zurückbleiben. Anders gesagt: ein Prozess der Zerlegung generiert durch Reste eine Energie und Dynamik. Edgar Varèse überträgt diesen Prozess in ein ca. sechseinhalb Minuten langes Musikstück, das unter den 43 Instrumenten auch eine Sirene vorsieht.[24]

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Komponieren heißt für Gene Pritsker zerlegen, forschen, bearbeiten und neu kombinieren, würde ich sagen. In Eroica Erupted spielt er den die 3. Symphonie eröffnenden, markanten Eb Akkord vom Laptop als Digital Jockey mit zusätzlichen Effekten wie Verzögerungen und Nachhall ein sowie vom Orchester. Zum Komponieren gehört für ihn auch die Internetrecherche, die ihn die chronologische Studie zu den Eröffnungsakkorden der Eroica von Erik Carlson auf YouTube finden ließ. Er stellte die Aufnahmen der Eröffnungsakkorde von 1924 mit der Staatskapelle Berlin unter Oskar Fried bis 2011 mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Riccardo Chailly zusammen.[25] Die Eroica beginnt insofern mit einem Ausbruch oder einer Eruption, die sich durch die technischen Mittel heute beliebig oft wiederholen lässt. Es wäre wohl ein wenig redundant jetzt jedes Stück genauer zu beschreiben. Doch Erotic Eroica nimmt nicht zuletzt auf die Rezeption der Romantik Bezug, wie sie im Film vielfach bemüht worden ist. Pritsker kombiniert dafür die Hauptmelodie aus dem ersten Satz der Symphonie mit Musik aus Pornofilmen der 70er Jahre und dem Stöhnen aus Sexfilmen. Frieder Weiss montiert dazu die bearbeiteten Liebesszenen aus dem Beethoven-Film mit Fritz Kortner von 1918.[26]

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Anders als bei der Aufführung von Eulogy Eroica des VKKO lässt sich in der Aufnahme der Uraufführung von EroicAnization der von Chanda Rule gesungene Text gut verstehen.[27] Eulogy Eroica erinnert mich an Summertime aus Porgy and Bess von George Gershwin. Pritsker hat die Hauptmelodie des zweiten Satzes in einen „pop song“ transformiert. Auf durchaus subtile Weise dreht Pritsker die „Trauermarsch“ genannte Melodie in einen jazzigen Popsong und damit in eine romantische Stimmung. Mit aktuellen technischen Verfahren wie Di.J.ing lässt sich in der Musik ein genau gegensätzlicher Effekt zum Ausgangsmaterial erreichen. Das könnte eine ungeheure Neuerung in der Musik und ihren Kompositionsverfahren sein. Oder es könnte genau das als Komponieren vorführen, was Ludwig van Beethoven auf virtuose Weise sogar ertaubt beherrschte.

Torsten Flüh

Beethoven (1927)
Regie: Hans Otto Löwenstein
Länge: 71
Bild: PAL, S/W, 4:3
Ton: Dolby Stereo
Sprache: Deutsch
Regionalcode: codefree
Label: ARTE edition
€ 9,90

Gene Pritsker
EroicAnization
ensemble KONTRASTE
Gene Pritsker – guitar, Di.J., rap
Naxos, Spotify, Apple 


[1] Siehe zur Ausstellung: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[2] Vgl. dazu Ludwig van Beethoven – Stich von Karl Traugott Riedel nach einem Stich von Johann Joseph Neidl, der nach der Zeichnung von Gandolph Stainhauser von Treuberg von 1801 entstand, Leipzig, 1801. In: Beethoven-Haus Bonn Beethoven Darstellungen. Beethoven-Haus Bonn, B 23.

[3] Ebenda.

[4] Zitiert nach ebenda.

[5] Siehe Zeittafel in: Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger (Hrsg): »Diesen Kuß der ganzen Welt!« Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Berlin: Michael Imhof Verlag, 2020, S. 204.

[6] Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 11. In: Deutsches Textarchiv.

[7] Totenmaske Ludwig van Beethovens – Fotografie von Dietrich Andrear nach der von Josef Danhauser im Jahr 1827 angefertigten Maske. Beethoven-Haus, B 2529.

[8] Siehe auch ausführliches Datenblatt zu Beethoven (1927) auf absolutMEDIEN.

[9] Deutsche Übersetzung zitiert nach: Reinhard Ludewig unter Mitarbeit von Susanna Seufert: Beethoven und das Gift im Wein. In: Ärzteblatt Sachsen 11/2002, S. 546.

[10] Ebenda.

[11] Siehe auch: Beethoven (1927) absolutMEDIEN.

[12] Der vorangestellte Zwischentitel des Österreichischen Filmarchivs lautet: „Der nachfolgende Film ist keine Beethoven-Biographie im Sinner eines Dokumentarspiels, sondern ein verfilmter „Lebensroman“ in Episodenform mit zum Teil fiktiven Figuren.“ Siehe: Beethoven, el mártir de su corazón (1918 Austria) auf YouTube.

[13] Romain Rolland: Ludwig van Beethoven. (Deutsch von L. Langnese-Hug) Zürich: Max Rascher, 1918. (PDF)

[14] Die Formulierung „seltsame Höcker“ bei Rolland könnte dem Umstand geschuldet sein, dass er ein Photo oder die Plastik selbst von Antoine Bourdelle nach der Lebendmaske, nicht aber diese selbst gesehen hatte. Ebenda S. 11.

[15] Ebenda S. 20 – 21.

[16] Siehe dazu: Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[17] Zitiert nach Datenblatt zu Beethoven (1927) wie Anm. 8.

[18] Wikipédia: Beethoven (film, 1909). Registerkarte. Und: Stummfilm-Magazin: Beethoven Jubiläumsjahr. (Artikel)

[19] Wikipédia: Un grand amour de Beethoven. (1937) Registerkarte.

[20] Zitiert nach nach Datenblatt zu Beethoven (1927) wie Anm. 8.

[21] Siehe zum Brief: Torsten Flüh: Beethovens … (wie Anm. 1).

[22] Siehe auch: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll  op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[23] Ionisierende Strahlung. In: Wikipedia.

[24] Varèse: Ionisation (Pascal Rophé, Franz Michel (piano) et les percussionnistes de l’Orchestre philharmonique de Radio France) France Music.

[25] Beethoven’s Eroica: opening chords. 30.05.2013. (YouTube)

[26] Frieder Weiss für Gene Pritsker und ensemble KONTRASTE auf Vimeo.

[27] Vgl. zu Eulogy Eroica im Konzert Orbiting: Torsten Flüh: Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno. Zum Orbiting – Enter the Void-Konzert von VKKO im Prince Charles Club beim Impuls Festival 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. November 2020.

Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno

Club – Kammerorchester – Leere

Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno

Zum Orbiting – Enter the Void-Konzert von VKKO im Prince Charles Club beim Impuls Festival 2020

Auf der Schwelle schon zum Shutdown fand am 24. Oktober im Prince Charles Club in der Prinzenstraße am Moritzplatz ein außergewöhnliches Konzert im Rahmen des Impuls-Musikfestivals statt. Das zwanzigköpfige Verworner Krause Kammerorchester hatte schon nach und nach eine Art Bühne wie am Rande eine Schwimmbeckens betreten, eine Stimmkünstlerin hatte sich bereits vor einem Mikrophon eingefunden, als die Komponisten und Dirigenten Christopher Verworner und Claas Krause energiegeladen an das Pult mit der Partitur springen. Verworner greift zur E-Gitarre, Krause gibt den Einsatz und das Kammerorchester legt los mit einem Soundorkan, der durch fette Club-Boxen verstärkt wird. Das Konzert des VKKO – Verworner Krause Kammerorchester – donnert als eine Art Naturereignis aus Kammerorchester und Elektronik durch den Club.

Verworner und Krause haben mit ihrem Kammerorchester ein neuartiges Konzertformat mit dem Titel Orbiting designed. Wegen der Pandemie hat eigentlich der Prince Charles Club seit dem 1. Juni nicht nur geschlossen, sondern „nach 8 großartigen Jahren“ dicht gemacht. Die trendigen Räume zwischen Tiefgarage, Schwimmbad und Chillout Lounge hinter einer schweren Betonwand sind erhalten geblieben. Zum Sound des VKKOs aus München könnte ich auch tanzen. Stattdessen stehen ein paar Klappbänke zum Sitzen, wo bis März getanzt wurde. Orbiting im Club wird auch zu einer Art Requiem auf die Club-Kultur nicht nur in Berlin, sondern weltweit. Sozusagen postum wird mit 3 Uraufführungen im Rahmen des Impuls Musikfestivals noch einmal der Club gefeiert. Impuls, das festival für neue musik sachsen-anhalt, hätte noch bis 20. November unter dem Festivalmotto Enter The Void an verschiedenen Orten wie Kalbe, Halberstadt, Quedlinburg und Magdeburg stattfinden sollen.

Der Titel Orbiting klingt geheimnisvoll und bedenkenswert. Einlass nach strikten „hygiene measures“ ist ab 19:00 Uhr. Das Personal begleitet die Gäste einzeln oder in kleinsten Gruppen bis zu 3 Personen auf ihre Plätze. Ich behalte meine LIEBE-TUT-DER-SEELE-GUT.-Maske auf. „No dancing event“ wird auf einem DIN a5-Zettel mit drei Ausrufezeichen – „!!!“ – Nachdruck verliehen. Es gibt Barbetrieb, aber „consumption only while seating“. Auf meiner Bank angekommen nehme ich die minimalistische, immersive Installation „Orbit“ von Clemens K. Thomas (Komponist) und Cornelius Reitmayr (visual artist) wahr. Es piept, rauscht und blinkt ein wenig aus seltsam antiquierten Geräten wie im SciFi-Film, aber wie es Juri Gagarin während seiner ersten Umrundung der Erde nicht gehört und nicht gesehen hat. Christopher Riley hat in seinem Film The first Orbit 2011 vor allem die Stille und Leere inszeniert. Das menschliche Wesen im Orbit einsam in einer Kapsel in den berechenbaren, aber kaum begreifbaren Weiten. Gagarin ließ sich dafür feiern, dass er den Mut besessen hatte, sich allein in die Umlaufbahn um die Erde schießen zu lassen.[1]

Doch der Begriff Orbiting hat im Kontext digitaler Realitäten, Club und Social Media schon vor der Coivid-19-Pandemie eine weitere Bedeutungsmöglichkeit erhalten. Er benennt ein Verhalten auf Dating-Apps, bei dem eine Person ständig eine andere virtuell umkreist oder verfolgt, aber keinen direkten Kontakt zulässt und mehrdeutige Antworten sendet.[2] Orbiting wird als ein psychologisches Problem im Bereich der Beziehungsratgeber behandelt. Der oder die Orbiter ist durch Signale immer ganz nah, um auf unendlicher Distanz zu bleiben. Das lässt sich schwer aushalten. Anders gesagt: Ein semiotisches Problem der Mehrdeutigkeit von Zeichen, Bildern und Worten, das in der romantischen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausführlich thematisiert wird, kehrt in den digitalen Medien als ein paarpsychologisches wieder. Doch in einer Zeit der epidemiologischen Kontaktbeschränkungen wird Orbiting möglicherweise zu einer anhaltenden Praxis von Paarbeziehungen. Die Kontaktbeschränkungen fordern gar neuartige Praktiken der Nähe ein, um zugleich den Kontakt zu verhindern. Das findet gerade im Kulturleben statt. Die Nähe im Theater etc. wird in digitale Programme wie Zoom verlagert.

In der „Konzertarchitektur“ von Orbiting wechseln zwei Stimmkünstlerinnen – Mia Knop Jakobsen und Salome Kummer – am Mikrophon. Da sich das Konzert mehr an Popkonzerten als an klassischen orientiert, gehen die Stücke fast ineinander über. Das VKKO, also Verworner und Krause haben Bloodthirsty Tribes für die Stimmkünstlerin Salome Kammer komponiert. Es gibt Text, der sich allerdings in „massiven Akkordwelten mit technoidem Imperativ und resoluten Grooves als Betonung einer dennoch subversiven Fragilität“[3] nicht ganz so leicht verstehen lässt. Verworner und Krause wechseln einander am Pult ab. Das Orchester wird zu einem „offene(n) Organismus im Raum verteilt und teilweise „begehbar““. Auf einer Leinwand vor dem Schwimmbad-Mosaik erscheinen digitale Welten, die genau mit der Musik synchronisiert werden. Philip Seybold, visual artist, am Laptop gibt Einsätze mit einem Taktstock für seine visuellen Kompositionen. Dazu viel Trockeneisnebel und Laserscheinwerfer. Während Kammermusik die hohe Kunst des subtilen Spiels miteinander genannt werden könnte, wird sie beim VKKO zur konzertierten medialen Flutung, die zur Ekstase führen könnte, wenn sie den unter den „hygiene measures“ erlaubt wäre. Doch wir befinden uns gerade in einer ekstasefeindlichen Zeit.

Orbiting und Ekstase begünstigen einander. Wenigstens dirigieren Verworner und Krause ekstatisch. Das ist auch eine grandiose Show. Die Hornistin tanzt und bleibt doch auf Distanz eingestellt. Auf der Screen erscheint ein Film mit einer Taucherin und Riesenhaien. Nervenkitzel und Harmoniefantasie. Es sind Bildfetzen, die überblendet werden. Dann ein Palmenwedel im Gegenlicht. Unterwasser-Filme gelten im Lounge-Bereich als entspannend. Ein Joint wäre förderlich. Unterwasser-Bilder dieser Art versprechen Ekstase und Mamafikation, wie es sich aus dem Englischen transferieren ließe: ein Außer-sich-sein, indem die Rückkehr in den Mutterleib imaginiert wird. In der Musikliteratur lässt sich Parsifals Begegnung mit Kundry zum Beginn der 2. Aufzugs bei Richard Wagner als eine ekstatische Mamafikation bedenken, die Erkenntnis verspricht. Kundry macht sich zu Parsifals Mutter Herzeleide, um ihn zu verführen. Kundrys Verführungsversprechen wird nicht zuletzt als ein inzestuöses formuliert.
„Bekenntnis
wird Schuld in Reue enden, 
Erkenntnis
in Sinn die Torheit wenden:
die Liebe lerne kennen,
die Gamuret umschloß,
als Herzeleids Entbrennen
ihn sengend überfloß!
Die Leib und Leben
einst dir gegeben,
der Tod und Torheit weichen muß,
sie beut‘
dir heut‘ –
als Muttersegens letzten Gruß
der Liebe – ersten Kuß.“ (Richard Wagner: Parsifal, 2. Aufzug)

Außer sich ganz bei sich selbst sein wird auch mit Orbiting vom VKKO vom getunten Kammerorchesterklang versprochen. Der narrative Gesang wird zur Stimmkunst von Salome Kammer. Beethoven und Wagner stehen nicht nur Pate beim ausgesteuerten Klang des VKKO. Er geht bis an die Schmerzgrenze, ist aber grandios. Widerstand wird zwecklos, erfordert das Verlassen des Konzerts. Mit Ohrstöpseln wird der massive Kammerorchesterklang nur vermeintlich gedämpft. Die Kompositionen von Verworner und Krause, Vasiliki Krimitza und Gene Pritsker setzen entschieden auf Überwältigung durch Klang. Die Teilnehmerin der IMPULS-Meisterklasse Vasiliki Krimitza knüpft mit ihrer Komposition Άυλη. (griech. immateriell) entfernt an Wangers Tristan an, wenn ihr Stück als „mit der Idee der körperlich ‑metaphorischen- Paralyse verbunden und auf psychische oder geistige Prozesse gegründet“ beschrieben wird. Bei Wagners „Liebestod“ wird es jene rauschhaft immaterielle Vereinigung, die sich sprachlich, stimmlich und musikalisch vollzieht. Anders und doch sehr ähnlich heißt es bei Krimitza, dass ihre Komposition Ansätzen enthalte, „sich vom Irdischen zu distanzieren und zurückzutreten und in der Seele zu vertiefen. Das eigene Übersteigen wird thematisiert, offen bleibt jedoch, ob das eine positive Erfahrung ist oder nicht. Denn das Ganze ist mit der Wirkung des Todes auf die Psyche und dem Wissen um die Vergänglichkeit des Menschen eng verbunden.“[4]

Gene Pritsker verarbeitet in Beethoven’s Erotic Eulogy für das VKKO die Eroica bzw. die 3. Sinfonie. Es ist sozusagen eine Auskopplung aus der sechsteiligen Eroicanization für Kammerorchester und DJ-Set, einem Auftragswerk des Ensemble KONTRASTE Nürnberg. Das VKKO spielte zwei Stücke, Erotic Eroica und Eulogy Eroica aus der Eroicanization. Der Berichterstatter war sich während des Konzerts nicht ganz sicher, ob er Anspielungen auf die Eroica hörte. Verworener setzt in Erotic Eroica mit seiner E-Gitarre und Wha-Wha-Effekt ein. Bei Takt 288 wird die Wha-Wha-Gitarre heruntergefahren, bis sie verschwindet und der DJ lässt die „sex samples“ los.[5] Für Eulogy Eroica setzen die beiden Streicher*innen im Flautando (flötenartig) ein und es gibt eine Stimme, die an der Schwelle zur Verständlichkeit artikuliert:
“This is a eulogy
for my fear-less-ness
used to be so brave
now I fear love
that I can – not save
can – not save
but I sol – dier
on and try to be the best
that I can so
that life can spare
Our Love our love
This is a eulogy
that I prepared in case we fall
Love it is so much gamble
never know if we survive
the dices final role.”[6]   

Vor allem Gene Pritskers Eulogy Eroica fällt hoch poetisch und narrativ auf das Heroische aus. Damit knüpft Pritsker an eine populäre Interpretation der 3. Sinfonie von Ludwig van Beethoven an. Während sie Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin am 27. Januar 2020 sehr viel individueller interpretiert hatte.[7] Allerdings thematisiert Pritsker nicht den Napoleon-Mythos zur 3. Sinfonie, sondern macht sie zu einer Selbstreflektion und Lobrede auf die Angstlosigkeit, die sich in eine Angst vor der Liebe verkehrt. Schließlich wird das Überleben vom zufälligen Fall der Würfel abhängen. Als äußerste produktiver Crossover-Komponist bringt Pritsker mit Eulogy Eroica einen eher ruhigen, nachdenklichen Aspekt in die Club-Kultur.

Das IMPULS Festival für Neue Musik hatte das zeitlose Motto Enter the Void, was soviel heißen könnte wie, nehmt die Leere in Besitz, aber auch trete in die Leere ein oder halte die Leere aus. Seit dem Beginn der Pandemie in Europa und Deutschland im Frühjahr hat das Festivalmotto einen neuen Zeitbezug, „Aktualität und Brisanz“ erhalten. „Neben der landespolitischen Dimension wird das Thema nun zu einem existentiellen Aufruf. Wir wollen nicht durch Funkstille den Mangel unterstreichen, vielmehr soll das künstlerische Kreieren von Neuem unsere Systemrelevanz immer wieder neu reflektieren.“[8] Nun ist gerade das IMPULS Festival durch den neuerlichen Shutdown ausgebremst worden. Doch vieles ist anders als im Frühjahr. Die Leere ist nicht gleich der Mangel. Für den Mangel muss ontologisch eine Fülle vor der Leere dagewesen sein. Doch wir werden durch Kontakt-Beschränkungen in der dunklen Phase des Jahres stärker mit der Leere konfrontiert als im Frühjahr. Im November wird in der deutschen Kultur zudem mit den Gedenktagen, an die Toten und den Tod als Endlichkeit des Lebens erinnert. Das macht es für viele Menschen schwieriger, die Leere auszuhalten. Sie fordert allerdings dazu auf, dass wir uns unser ganz privates Leben schön und mit Liebe einrichten.

Torsten Flüh

VKKO
Verworner Krause Kammerorchester

LIEBE TUT DER SEELE GUT.
Kampagne und Masken


[1] Siehe: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56.

[2] Focus: Warmhalte-Strategie In der Umlaufbahn, ohne Kontakt: Wie Sie auf die Dating-Masche Orbiting reagieren sollten. 02.12.2018, 10:45.

[3] Impuls: orbiting – Konzert & Lounge 24. Okt. 2020.

[4] Ebenda.

[5] Gene Pritzker: Eroinanization. Score (PDF).

[6] Ebenda S. 64-78.

[7] Vgl. auch: Torsten Flüh: Gedenken als fortschreitender Prozess. Über das Benefizkonzert Zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in der Staatsoper Unter den Linden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Januar 2020.

[8] Impuls: Über Impuls.

Rückkehr eines aus dem Kanon Gefallenen

Kanon – Schriftsteller – Verrat

Rückkehr eines aus dem Kanon Gefallenen

Zum doppelten Jahrestag des Franz Freiherr Gaudy und der Neuedition seiner Ausgewählten Werke

Im Rahmen der Kleist-Festtage im Kleist-Museum in Frankfurt/Oder fand am 11. Oktober die Präsentation des ersten Bandes der Ausgewählten Werke Franz von Gaudys mit einem Vortrag der Herausgeberin Doris Fouquet-Plümacher und eingestreuten Lesungen von Gedichten und Textpassagen durch Henning Westphal statt. Die Veranstaltung konnte am 19. April zum exakt 220. Geburtstag des in Frankfurt im „Haus zum roten Polacken“ in der Oderstraße 13 geborenen Schriftstellers aus Gründen der Covid-19-Pandemie nicht stattfinden, so dass sie nun unter den bekannten Hygieneregeln mit verringerter Teilnehmer*innenzahl abgehalten wurde. Als sei abermals das Lebenslotto, so der Titel eines ironischen Gedichts des Jubilars, selbst im Nachleben ungünstig ausgefallen, hatte sich die Vorstellung der textkritischen Werkausgabe abermals verzögert. Doris Fouquet-Plümacher hat ihn mit großem persönlichem Engagement in einer über achtjährigen Forschungsarbeit „wachgeküsst“, wie es eine Freundin formulierte.

Franz Freiherr Gaudy, wie er sich programmatisch als Autor nannte, gehörte im 19. Jahrhundert und durch zahlreiche Neuausgaben seiner Venetianischen Novellen bis in die 20er Jahre zum Kanon der deutschen Literatur. Am 5. Februar 1840 verstarb der Schriftsteller jung und unverheiratet in Berlin an einem Schlaganfall. Fouquet-Plümacher wies in ihrem Vortrag auf die prekären Lebensumstände des preußischen Armeeadels hin, denn sie waren alles andere als glamourös. Franz wird in Frankfurt als Sohn eines Majors in die soziale Klasse der Armee hineingeboren. Seine Paten sind die Vorgesetzten des Vaters General Franz Kasimir von Kleist und der Generalmajor August von Zenge. Heinrich von Kleist, der berühmte Schriftsteller, erschießt sich am Kleinen Wannsee, als Franz 11 Jahre alt ist. Er geht gar auf das Elite-Gymnasium Schulpforta, um dann zu einer Karriere in der Armee gedrängt zu werden, die durch Langeweile, Duelle und wiederholte Festungshaft über 15 Jahre scheitert. Die Freiheitsfantasie trotz Zensur in Preußen hieß für ihn, „Dichter“, Schriftsteller werden.

Claudia Czok hatte für die Veranstaltung eine Pop-up-Ausstellung eingerichtet, um den Schriftsteller auch visuell im Kleist-Museum präsent werden zu lassen. Denn das Kleist-Museum unter der Leitung von Dr. Hannah Lotte Lund hat nun Gaudy als einen weiteren Schriftsteller und Sohn Frankfurts in den Bestand aufgenommen. Für das Museum hatte Claudia Czok bereits mit Anette Handke pünktlich zum Geburtstag im April den Blog franzvongaudy.wordpress.com entwickelt, designed und hochgeladen. Rot als Hintergrund mit schwarzer Type ist allerdings immer ein wenig gefährlich, selbst dann, wenn damit Bezug auf den Geburtsort „Haus zum roten Polacken“ und ein rotlackiertes Namensschild an der Tür genommen wird. Czok macht Texte und Bilder von Gaudy zugänglich wie den programmatischen als auch selbstironischen Besuch bei einem Dichter vom 21. Oktober 1837 in der Berliner Markgrafenstraße 87. Literarisch macht der Text einige rhetorische Figurensprünge, die es schwierig werden lassen, ihn rein autobiographisch zu lesen. Das beginnt bereits beim Namen des Dichters.
„Dieser Herr Franz Freiherr Gaudy — weshalb mag er wohl niemals von und immer nur Freiherr schlechtweg schreiben? Vielleicht macht er sich nichts aus den drei ominösen Buchstaben, und will den Leuten blos zeigen, daß er ein freier Herr sei und sich um Niemanden scheere. Wer kann’s wissen — also dieser Herr Gaudy, welcher einer schlauen Kritik des Herrn O. Gruppe zufolge, durch einige gelungene Dichtungen bekannt seyn soll, wohnt in der Markgrafenstraße Nr. 87 auf gleicher Erde, wie ich dies auch im Berliner Wohnungsanzeiger ausnahmsweise richtig bemerkt fand. Sein Name steht auf einem rothlakirten Blech an der äußersten Stubenthür — das Zimmer hat nämlich Doppelthüren.“[1]

Der Erzähler, Gaudy, besucht im Text einen Dichter, „Franz Freiherr Gaudy“, indem er sich rhetorisch ab- oder aufspaltet. Mit der rhetorischen Figur der Parenthese, fragt der Erzähler sich, „weshalb (…) er wohl niemals von und nur Freiherr schlechtweg schreib(e)“. Diese nicht nur rhetorische Frage wird nicht beantwortet, zumindest nicht direkt. Eine mögliche Antwort wird im Konjunktiv I mit dem eine Unsicherheit oder Vermutung[2] anzeigenden Adverb vielleicht formuliert. Doch die Vermutung wird noch dadurch zugespitzt, dass die den Adelstitel anzeigende Präposition[3] von zu „drei ominösen Buchstaben“ entleert wird. Sie werden gleichsam bedeutungslos. Stattdessen löst sich die Vermutung rhetorisch in einem Konzetto auf. Denn der Adelstitel Freiherr wird geistreich zu einem „freie(n) Herr(n)“, der „sich um Niemanden“ schert. Doch die mögliche Antwort wird noch in der Parenthese mit der Floskel „Wer kann’s wissen“ konterkariert.

Letztlich beantworten weder der Erzähler noch der Dichter die Frage nach dem Grund, weshalb sich „(d)ieser Herr Franz Freiherr Gaudy … schreib(t)“. Es gibt für Gaudy keinen anderen Grund als das Schreiben, könnte man fast sagen. Was als unterhaltsame Eröffnung des Besuches erzählt wird und an eine narzisstische Spiegelung denken lässt, erweist sich als eine rhetorisch ausgefeilte Konstruktion. Womöglich gehörte klassische Rhetorik zum Lehrplan in Schulpforta, so dass Gaudy damit früh vertraut war. Gaudy wollte in Göttingen Jura studieren, was vor allem heißt: Gesetzestexte zu lesen, zu analysieren und auf Einzelfälle anzuwenden. Der Besuch bei einem Dichter bekommt durch die Rhetorik einen humoristischen Zug. En passant wird der „Berliner Wohnungsanzeiger“ als ein nicht immer zuverlässiges Verzeichnis kritisiert. Statt einer geräumigen Wohnung lebt der Dichter in einem Zimmer mit Doppeltüren. Die Rede- oder Formulierungskunst wird in diesem Text und Gaudys Werk ebenso wie im Gedicht Lebenslotto bis zur Phantastik der Venetianischen Novellen zu einem wichtigen, wenn nicht hervorstechenden Strang. Kritik an der Zensur in Preußen wird durch eine Metonymie möglich.
„Und milde lächelnd sprach Fortuna jetzt:
„Muth! Muth! Noch wird die Ziehung fortgesetzt!“
Zum Dritten zog ich nun – ein Saitenspiel!
Ich schlug es an, erst blöd‘, allmählig dreister;
Stehn blieb so Mancher, dem mein Ton gefiel,
Ermuth’gend lächelten die hohen Meister.
Da hieß es: „Still! Das Staatsgesetz erlaubt
Charaden nur und patriot’sche Lieder!“ –
Für mich zu hoch. Ich schüttelte das Haupt,
Und legte seufzend auch die Zither nieder.“

1834 gehört Gaudy noch nicht zum Kanon der Literatur, verkehrte aber schon in der „Mittwochsgesellschaft“, „dem wichtigen Literaturzirkel der preußischen Hauptstadt, in dem er Willibald Alexis, Joseph von Eichendorff, Emanuel Geibel, Julius Hitzig, Karl von Holtei, August Kopisch, Franz Kugler und Karl Streckfuß traf“.[4] Fouquet-Plümacher knüpft hier an Anna Buschs Untersuchung Hitzig und Berlin. Zur Organisation von Literatur (2014) an.[5] Denn die „Mittwochsgesellschaft“ der 1830er Jahre in Berlin wurde von dem Juristen und Kriminaldirektor, Verleger, Schriftsteller und Literaturmanager Julius Eduard Hitzig (1780-1849) organisiert. Sie ist nicht zu verwechseln mit der „Geheimen Mittwochsgesellschaft“, die zwischen 1783 und 1798 in Berlin u.a. mit Moses Mendelssohn existierte.[6] Doch knüpft Hitzig als Schriftsteller und Organisator an die aufklärerische Geste der älteren Mittwochsgesellschaft an. Adelbert von Chamisso gehörte ebenfalls zu dieser Gesellschaft, so dass Hitzig auf Wunsch des „Vorausgegangenen“[7] 1839 dessen Leben und Briefe als Biographie geschrieben und herausgegeben hat.[8] Eine offizielle Kanonisierung erfährt Gaudy mit den Venetianischen Novellen kurzzeitig „Ende der 1920er Jahre als Schullektüre“.[9]

Die Freundschaft von Franz von Gaudy zu Adelbert von Chamisso wird von Fouquet-Plümacher mit dem „Nachruf-Gedicht Chamisso ist todt“ als „in der Tat der einzige Freund, den Gaudy jemals nennt“, hervorgehoben.[10] Hitzig berichtet in seiner Chamisso-Biographie, dass „im Juli (…) die Freunde mit ihm in seinem Garten einige der heitersten Abende, und Gaudy, Kugler, Rauschenbusch und Eberhard Friedländer aus Dorpat,“ zugebracht hätten.[11] Gaudy hatte sich zu einer Italienreise verabschiedet. Am 21. August 1838 stirbt Adelbert von Chamisso an einer von Hitzig detailliert beschriebenen Lungenentzündung.[12] Gaudy erhält die Nachricht vom Tod seines Freundes in Italien, wo sie in eine Idylle am Golf von Neapel unter dem Vesuv einbricht oder zumindest als dort einbrechend imaginiert wird.
„Zu Füßen rauschte wild des Volks Gedränge
In roher Lust, in Klag‘, in gellndem Zank;
Zerrissen wehten Mandolinenklänge,
Nachtfaltern gleich, den stillen Golf entlang;
Um des Vesuvs in Schlaf gewiegten Krater
Verschwamm das lezte müde Abendroth –
Ich weinte still: Mein einz’ger Freund, mein Vater,
Mein Chamisso, mein Chamisso ist todt! –“[13]

Gaudy und Chamisso teilten das Trauma einer fast tödlichen Cholera-Erkrankung. Er war wie Franz von Gaudy 1831 während der Cholera-Epidemie in Berlin und Posen an der Seuche erkrankt. Am 30. August 1831 hatte Chamisso eine „letztwillige() Verfügung“ mit den Worten aufgesetzt: „Hitzig solle, wenn er ihn überlebe, eine Auswahl aus seinen nachgelassenen Papieren herausgeben und eine biographische Notiz vorausschicken.“[14] So weit kam es nicht, aber Hitzig nahm 1838 diese als Auftrag, um nun Leben und Briefe zu veröffentlichen. Gleichwohl gibt Chamissos letzter Wille an den Juristen einen Wink auf die Ängste während der Erkrankung und Epidemie. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, dass Hitzig „ihn überlebe“. „Gaudy erkrankte vom 20.7.-3.8.1831: »Fest überzeugt, daß ich draufgehn muß«, heißt es am 26.7.1831 in seinem Tagebuch“.[15] Die Erfahrung an der Cholera während der Epidemie lebensgefährlich erkrankt gewesen zu sein, erhält auf bedenkenswerte Weise bei beiden Schriftstellern keine narrative oder poetische Verarbeitung.[16] Gaudys Gedankensprünge eines der Cholera Entronnenen (1832) springen munter erzählend vom Trauma davon, indem der Begriff im Titel genannt, aber nicht be- oder verarbeitet wird.

Die Herausgabe des Deutschen Musenalmanachs durch Adelbert von Chamisso und Gustav Schwab eröffnete Gaudy nicht nur eine Möglichkeit zur Publikation, vielmehr wird er selbst zum Herausgeber und Organisator von Literatur. Als assoziierter und offizieller Herausgeber entschied Gaudy, welche Dichter mit welchen Gedichten im namhaften Musenalmanach veröffentlicht werden sollten. Wer dort veröffentlicht wurde, hatte quasi eine erste Stufe zur Kanonisierung erreicht. Die Regeln und Themen für den Prozess der Kanonisierung wurden allerdings kaum formuliert. Für das Jahr 1832 finden sich im Musenalmanach keine Spuren der Cholera. Im Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1833 veröffentlicht „Gaudy, Freih. v.“ vier Gedichte – Zu spät, Die Winterrose, Hoffnung und Der Sabbatmorgen.[17] Für das Jahr 1839 wird er zusammen mit Chamisso einmal als Herausgeber des Deutschen Musenalmanachs genannt und u.a. sein Gedicht Lebenslotto abgedruckt.[18] Ab 1840 wird der Deutsche Musenalmanach in einer neuen Zählung von Ernst Theodor Echtermeyer und Arnold Ruge herausgegeben.

Auffällig an der von Gaudy mit Chamisso gezeichneten Herausgabe des Deutschen Musenalmanachs für das Jahr 1839 ist, dass „Graf von Platen’s Bildnis“ vorangestellt wird. Doch der Band enthält keine Gedichte August Graf von Platens, über den Gaudy in einem Briefwechsel mit Heinrich Heine korrespondiert hatte.[19] Platen war bereits Ende 1835 in Syrakus verstorben. Seit der durch Heine angestoßenen, homophoben Platen-Affäre von 1826 war der diskreditierte Dichter nicht dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt. Nachdem im Musenalmanach als Bildnisse Adelbert von Chamisso (1833), Friedrich Rückert (1834), Gustav Schwab (1835), Anastasius Grün (1836), Heinrich Heine (1837) und Ludwig Uhland (1838) erschienen waren, nimmt sich das Bildnis Platens in dieser Abfolge kurios aus, weil er anders als die andern umstritten war. Es lässt sich als Versuch einer Rehabilitierung lesen. Fouquet-Plümacher weist einerseits auf Ähnlichkeiten in der missglückten Armeekarriere bei Gaudy und Platen hin.[20] Andererseits wird die Ehelosigkeit Gaudys damit begründet, dass „vielleicht, weil jede wirtschaftliche Grundlage für eine Heirat fehlte, vielleicht aus anderen Gründen“.[21] Wir wissen es nicht.  

Doris Fouquet-Plümacher widmet sich nach ihrer beruflichen Tätigkeit als Bibliotheksdirektorin an der Universitätsbibliothek der Freien Universität zu Berlin der Gaudy-Forschung. Sie möchte den glücklosen Dichter aus Frankfurt dem Vergessen entreißen. Zu ihren zahlreichen Aktivitäten gehören Vorträge, Verlagssuche, das Sammeln von Gaudy-Ausgaben und -Kuriosa. Als Bibliotheksdirektorin im (Un)Ruhestand gilt ihr besonderes Augenmerk der bibliophilen Sammlung und Edition von Büchern zu Gaudy. Ihr Anliegen ist, Franz von Gaudy mit seinem Werk wieder zugänglich zu machen und ihn als guten Schriftsteller und als liberalen Bürger im Vormärz-Preußen wieder ins kulturelle Gedächtnis zurückzurufen. Doch zunächst trat sie 2018 mit der Spende zur Wiederherstellung der Grabstätte Franz von Gaudys am Familienbegräbnis auf dem Friedhof der Jerusalem-Kirchengemeinde vor dem Halleschen Tor an die Öffentlichkeit. Da Gaudy im Juli 1839 in die Markgrafenstraße 17 aus Italien zurückgekehrt war, gehörte er zur Gemeinde der alten Jerusalem-Kirche, die noch aus dem 15. Jahrhundert am Ende der Markgrafenstraße gelegen war. Chamisso war ebenfalls auf dem Friedhof der Jerusalem-Kirchengemeinde bestattet worden, so dass sich heute noch bzw. wieder auf dem Friedhof mit E. T. A. Hoffmann etc. mehrere Berliner Dichter aus der Zeit nach 1800 finden lassen. Franz von Gaudy hatte zunächst keinen eigenen Stein mit Inschrift erhalten. Erst zum 100. Geburtstag am 19. April 1900 wurde ihm von seinem Neffen, dem Generalleutnant Arthur von Gaudy, ein Kissenstein gestiftet, der im Zweiten Weltkrieg verlorenging.

Im panoramatischen Schaukasten des Foyers der Universitätsbibliothek der Freien Universität in der Garystraße 39 hat die Herausgeberin nun eine kleine Ausstellung anlässlich der Jahrestage eingerichtet. Der Schwerpunkt liegt auf der textkritischen Neuausgabe und antiquarischen Editionen der Venetianischen Novellen und italienischen Erzählungen. Um 1900 zum 100. Geburtstag erfuhr Gaudy einen Schub in seiner Kanonisierung aus einem ganzen Ensemble an Publikationen, namentlichem Grabstein und Artikeln in Zeitungen wie der Münchner Allgemeinen Zeitung.[22] Gaudy ließ sich gar in den 20er Jahren mit der Phantastik einiger Novellen als ein Vorreiter moderner Literatur- und Erzählformen lesen. Gleichzeitig fand eine prekäre Popularisierung der Novellen statt, so dass der verstümmelte und normalisierte Gianettino l’Ingrese als Gianettino l’Inglese, also mit l statt r, in der „Hausbücherei der frischen Resi“ für die „bayrische Kernmagarine Resi“ werben durfte.[23]  
„Die gefürchteteste Brigantenhorde war die des Gianettino l’Ingrese. Der Name ihres Anführers verbreitete Schrecken bis an die Schwelle des Quirinals, paralysierte die kecksten, in der napoleonischen Schule gebildeten Gensdarmen, und war hinreichend die Ausflüge der Reisenden und Maler wochenlang zu verzögern, wenigstens solang bis die seinigen eine entgegengesetzte Richtung genommen hatten. Sein Wohnsitz war in seiner der wildesten Gebirgsschluchten zwischen Riofreddo und Carzoli, just auf der päbstlichen und neapolitanischen Grenze. Das Volk beschwur es mit tausend Eiden, daß Gianettino ein Zauberer sei, sich an zwei Orten zugleich befinden, sich auch nach Umständen unsichtbar machen könne, und jederzeit auf einen Bajocco wisse, wieviel Pachtgeld der Pächter abzuliefern habe.“[24]   

Fouquet-Plümacher macht in ihrer Einführung zu den Novellen kurz auf deren Narratologie aufmerksam. Gaudy entwickelt eine eigene Art Geschichten und Geschichte zu erzählen. „Beispielhaft“ sei das in der Novelle Der Stumme zu lesen. „Eine breite Rahmenerzählung stellt die Beziehung Italien – Deutschland bzw. Rom – Berlin besonders heraus. (…) Die eigentliche Novelle ist die Lebensbeichte eines stummen, alten Römers, der, als Waisenkind klösterlich zum Abbate erzogen, bei einem Fürsten arbeitet, (…) Kulminationspunkt ist der römische Karneval mit dem Umbruch der Geschichte.“[25] Die Verschränkung von Novellen- und Geschichtserzählung führt zu einem neuartigen Geschichtsbild, das u. a. mit dem Gemälde Italia und Germania (1811-1828) von Friedrich Overbeck (1789-1869) als vermeintliche Allegorie auf die deutsch-italienische Beziehung gesehen wurde. Die Anlehnung suchende Darstellung der Germania kann dabei an Albrecht Dürers Melancholia erinnern.[26] Friedrich Overbeck kannte selbstverständlich Dürers Melancholia. Insofern entsteht das Geschichtsbild durch eine Montage als spezifisch moderne Darstellungsform. Reiseerlebnis, Befreiungsgeschichte und Heiligenlegende werden von Gaudy in Der Stumme zur Novelle montiert.

Das durch den Titel sinnfällige Bild zweier Nationalgöttinnen ohne Nationalstaaten ist bedenkenswert. Die Nationalstaaten Italien und Deutschland werden erst 1861 bzw. 1871 durch Kriege als König- bzw. Kaiserreich gegründet. Nora Eckert schreibt in ihrer Rezension der Ausgewählten Werke, dass „auch andere Erzählungen (…) vom tragischen Missverständnis (wissen), das der deutschen Sehnsucht nach dem Süden eingeschrieben scheint“.[27] Das Gemälde Italia und Germania beginnt schnell zu kursieren. 1840 wird ein Stich des Gemäldes zum Signet der italienischen Zeitschrift La Rivista Viennese aus Wien, wo gleichzeitig Der Stumme in italienischer Übersetzung veröffentlicht wird. Das Bild als Signet illustriert nicht die Novelle Der Stumme. Aber es kontextualisiert Gaudys Erzählung in einer Geschichtserzählungen. Während englische Adlige bereits im 17. und 18. Jahrhundert ihre Grand Tour nach Italien und Rom antraten, um sich ein quasi überzeitliches Geschichtswissen der sogenannten Ewigen Stadt anzueignen, reisen die deutschen Künstler, Schriftsteller, Maler und Archäologen mit Verspätung, um sich mit Italien zu identifizieren. Es spielt ein, sagen wir, verpasstes Bild in der Novelle eine entscheidende Rolle.
„Ich breitete die Arme nach dem bezaubernden Bilde aus, ich stimmte in den Jubelruf der Menge: Quanto è bella! mit ein. Benedetta wandte sich um und warf mir mit dem holdseligsten Lächeln einen vollen, duftenden Veilchenstrauß zu. Ich fing die Blüten auf, preßte sie an meine Lippen, riß mich von meinem Begleiter los und taumelte neben dem Wagen: Benedetta dal cielo! jauchzend, bis mich ein neuer Maskenschwarm abdrängte und die Geliebte in dem Gewühl meinen Blicken entschwand. Sie hatte mich erkannt, sie hatte mir vergeben!“[28]

Franz von Gaudy wie der Ich-Erzähler in Der Stumme begehrt und identifiziert sich mit Benedetta, mit dem Bild, von dem er bezaubert ist. Sie ist nicht nur ein Bild der angebeteten, vielmehr ruft er ihr zu: „Benedetta dal cielo!“ Die quasi religiöse Verzückung durch die Veilchensträuße werfende „Benedetta aus dem Himmel“ setzt vielmehr jene Überschneidung von Wunschbild und für Gaudy z.B. durch mangelnde finanzielle Mittel harte Realität der Romreise in Szene. Gaudy ist in dieser Schwärmerei nicht allein wie auch der Stumme sich in der „Menge“ bewegt, bis er von einem „neue(n) Maskenschwarm abgedrängt()“ wird. Die Karnevalszene gibt einen Wink auf ein verehrtes und begehrtes Bild von Italia und/oder Roma, das sich für die wenigsten Reisenden erfüllen kann. Benedetta ist nicht nur eine Geliebte, sie wird zur Gesegneten und damit Adressatin aller Sehnsüchte und Schmerzen. Das Heiligenbild wird durch die Reise und Teilnahme am Karneval vermeintlich erreichbar. Es wird profaniert, um zugleich unerreichbar zu bleiben. Denn erzählen heißt immer auch verraten:
„Ich schauderte, wenn ich mir die möglichen Folgen meines Leichtsinns vergegenwärtigte. Jener geistige Rausch, der mich zum Schwätzer gemacht hatte, war verflogen. Ich verstummte; keins der Schmeichelworte Carlo’s wollte mehr verfangen. In einer entsetzlichen Beklemmung schied ich, gedachte mit Beben des Augenblicks, wo ich Benedetta und ihren Vater, den schmählich Verratenen, unter die Augen treten sollte, und durchwachte die Nacht, gefoltert von den finsteren Ahnungen.“[29]

Gaudy schmückt die Geschichte vom Erzählen als ein Verraten höchst kunstvoll aus. Man könnte sich fast fragen, was er denn nun Carlo verraten hat außer die Gefühle des Grafen gegen die Franzosen. Doch es ist nicht entscheidend, was der Stumme ideenreich verrät. Es ist auch nicht wichtig, dass sich Carlo seinerseits als Spion und Verräter erweist. Es geht vielmehr um den „geistige(n) Rausch“ des Erzählens als Tätigkeit des erzählenden Schriftstellers. Erzählerfiguren spielen mehrfach in den Novellen eine wichtige Rolle. Was dem Schriftsteller, ob als Novellist, Poet oder Dramatiker eigen wird, ist der Verrat, den er nicht will und gleichzeitig ausüben muss. Die Leser*innen kaufen auch Literaturen, um zu lesen, was verraten wird. In seinen Gedichten und Novellen scheint Franz von Gaudy viel von sich und seinem Leben zu verraten. Nicht zuletzt Literaturwissenschaftler*innen suchen immer wieder nach Spuren, wo der Schriftsteller etwas über sein Leben, seine Lebenspraxis oder gar sich selbst verrät. – Doch kann man einem langjährigen Armeeangehörigen, der die Konsequenzen des Verrats kennt, und zugleich leidenschaftlichen Schriftsteller glauben, der mit dem Aufwand einer farbenfrohen, aber dramatischen Novelle so genau vom Verraten und Verstummen schreibt?  

Torsten Flüh

Franz von Gaudy:
Ausgewählte Werke
Herausgegeben von Doris Fouquet-Plümacher
Band 1. Venetianische Novellen und italienische Erzählungen.
Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 2020
426 S., Hardcover
ISBN: 978-3-487-15849-5
Subskriptionspreis bis zum 31.12.2020 :  29,80 EUR
Preis ab dem 01.01.2021 :  49,80 EUR

Franz von Gaudy
Venetianische Novellen und italienische Erzählungen.
Eine Ausstellung zum Erscheinen der kritischen Studienausgabe
bis 11. November 2020
Mo bis Fr von 10.00 bis 16.00 Uhr
im Foyer der Universitätsbibliothek
Garystraße 39
14195 Berlin-Dahlem

Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in Berlin-Brandenburg:
http://stiftung-historische-friedhoefe.de/wiederherrichtung-der-grabstaette-von-franz-freiherr-gaudy/


[1] Franz Freiherr Gaudy: Besuch bei einem Dichter. Zitiert nach Claudia Czok https://franzvongaudy.wordpress.com.

[2] Siehe Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: „Bedeutungsübersicht“ vielleicht 1.

[3] Ebenda „Bedeutungsübersicht“ von VI.

[4] Doris Fouquet-Plümacher: Franz Freiherr Gaudy. In: Franz von Gaudy: Ausgewählte Werke, Band 1. Venetianische Novellen und italienische Erzählungen. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 2020, S. 21.

[5] Ebenda Fußnote 34.

[6] Berliner Klassik: Mittwochsgesellschaft auch: Geheime Mittwochsgesellschaft, Berlinische Mittwochsgesellschaft, Gesellschaft von Freunden der Aufklärung. Berliner Klassik 2007.

[7] Julius Eduard Hitzig: Adalbert von Chamisso: Leben und Briefe. Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1839, ohne Seitenzahl (S. V). (Digitalisat)

[8] Ebenda S. VII.

[9] Doris Fouquet-Plümacher: Venetianische Novellen. In: Franz von Gaudy: Ausgewählte … [wie Anm. 4] S. 36.

[10] Ebenda S. 22.

[11] Julius Eduard Hitzig: Adalbert … [wie Anm. 7] S. 100.

[12] Ebenda S. 104-105.

[13] Franz von Gaudy: Chamisso ist todt.

[14] Ebenda S. VII.

[15] In der Fußnote 25 heißt es allerdings: „Tagebuch von 1831, nicht überliefert. Nach Dreecken, Gaudy, S. 23“. Doris Fouquet-Plümacher: Franz … [wie Anm. 4] S. 19.

[16] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Verpassen des Traumas. Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juni 2020.

[17] Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1833. (Herausgegeben von A. v. Chamisso und G. Schwab.) Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1833. (Digitalisat)

[18] Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1839. (Herausgegeben von A. v. Chamisso und Franz Freih. Gaudy.) Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1839. (Digitalisat)

[19] Doris Fouquet-Plümacher: Franz … [wie Anm. 4] S. 19.

[20] Ebenda S. 17.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Vgl. dazu Fußnote 13 in Doris Fouquet-Plümacher: Venetianische … [wie Anm. 4] S. 36.

[23] Ebenda.

[24] Franz von Gaudy: Gianettino l’Ingrese. In: ders.: Venetiansche … [wie Anm. 4] S. 216.

[25] Doris Fouquet-Plümacher: Venetianische … [wie Anm. 4] S. 35.

[26] Siehe zur Melancholie als Stimmungswissen: Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.

[27] Nora Eckert: Märchenhaftes Allerlei. Venetianische Novellen und italienische Erzählungen im ersten Band der „Ausgewählten Werke“ von Franz von Gaudy, herausgegeben von Doris Fouquet-Plümacher. In: literaturkritik 25.09.2020.

[28] Franz von Gaudy: Der Stumme. In: ders.: Venetiansche … [wie Anm. 4] S. 310.

[29] Ebenda S. 312.

Macht Euch sichtbar! Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020

Geschlecht – lesbisch – Sichtbarkeit

Macht Euch sichtbar!

Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020 Begegnungen und Verbindungen – sichtbar werden – sichtbar bleiben in der P120

Lila Wunder gibt es immer wieder – und viele. Google kennt das Lila Wunder vor allem als stark duftende Teehybridrose, die sicherlich nicht zu verschmähen ist. Doch eigentlich ist das Lila Wunder in der P120 mit dem lila Samtvorhang und lila Teppich Dem lila Lied von 1920 viel näher als der Teehybridrose.[1] Das Lila Wunder, das sich hier entfaltet, sind die weiblichen Künstler*innen zwischen Josephine Baker, Else Lasker-Schüler und Renée Sintenis, die in Berlin in den 20er Jahren neuartige Frauenrollen kreierten, zu denen auch die Liebe zum gleichen Geschlecht und das Spiel mit Geschlechterrollen gehörte. Vor allem drängten sie in die Domäne der schreibenden, malenden und tanzenden Männer. Denn die Kunstproduktion war männlich. Josephine Baker tanzte ihren selbstkreierten Tanz und wurde nach Harry Graf Kesslers Tagebuch am 13. Februar 1926 in „jeux saphiques“ mit der Schriftstellerin Ruth Landshoff im Anzug beobachtet.[2]

Jan Feddersen von der Initiative Queer Nations und dem Projektraum Kunst & Kultur/Queeres Kulturhaus (E2H) verlas ein ausführliches Grußwort des Senators für Kultur und Europa Dr. Klaus Lederer, der aus pandemischen Termingründen am 9. Oktober nicht zur Ausstellungseröffnung erscheinen konnte. Berlin will tanzen, was seit Monaten und im Moment wieder ganz besonders schwierig geworden ist. Klaus Lederer führte mit seiner Rede vor allem zurück in die 20er Jahre, als lesbische Künstlerinnen in Berlin in einem zuvor ungekannten Maße sichtbar wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg und der zweiten Welle der Spanischen Grippe im Herbst 1918, kam im Herbst 1919 Richard Oswalds Dokudrama und Magnus Hirschfelds „(s)ozialhygienische(s) Filmwerk()“ Anders als die Andern heraus. Ab 1920 verbreitete sich das Lila Lied von Mischa Spoliansky ebenso rasant in Berlin, wie Claire Waldoff mit ihrer Lebensgefährtin Olga von Roeder zum Mittelpunkt des Berliner Kabaretts und des lesbischen Nachtlebens bis 1933 wurde.

Das lesbische Berlin der 1920er Jahre wird von der Kuratorin Mesaoo Wrede und dem LAZ – Lesbisches Aktionszentrum Westberlin, das sich 1972 gründete – aktuellen Künstlerinnen wie Kerstin Drechsel, Stef. Engel, Claudia Balsters & Hannah Goldstein, Traude Bührmann u.a. in einem „dialogischen Prinzip“ gegenübergestellt. Künstlerinnenpaare wie Heidi von Plato, Schriftstellerin, und Kerstin Drechsel, Malerin, werden allerdings nicht eingehender thematisiert. Da wäre kuratorische Luft nach oben, zumal Heidi von Plato zu den Autorinnen der radikal-feministischen Zeitschrift Die Schwarze Botin (1976-1987) gehörte. Mesaoo Wrede möchte „queere Themen wie Identität und Selbstfindung, Inspiration, Ikone und Vorbild“ aufgreifen. Zumindest hinsichtlich der von Wrede bewunderten Josephine Baker muss frau wohl weniger von einer ontologischen „Selbstfindung“ als einer Erfindung des Selbst sprechen, wie Hannah Durkin kürzlich mit ihrem Buch Josephine Baker & Katherine Dunham – Dances in Literature and Cinema[3] gezeigt hat.

Harry Graf Kesslers Tagebuchnotiz vom 13. Februar 1926 mit Josephine Baker und Ruth Landshoff in einer Sapphischen Szene oder Sapphischen Spielen war nicht der erste Auftritt der Tänzerin in Berlin, mit denen das Revue-Girl Geschlechterrollen wenigstens überschritt. Um die gleiche Zeit ließ sich Josephine Baker auf dem Pariser Platz wahrscheinlich von Karl Vollmoeller in einem Sulky fotografieren, der von einem afrikanischen Strauß gezogen wurde.[4] Das Fuhrwerk für Pferderennen wurde so ziemlich ausschließlich von Männern gefahren. Straußenfedern verwendeten Revuestars für ihre Kostüme und als Fächer zur zeitweiligen Verdeckung ihrer nackten Körper. Selbst wenn das Foto vom Pariser Platz wahrscheinlich von Vollmoeller für die Presse inszeniert war, ist es heute weitgehend als ikonisch für Bakers Selbstinszenierung in den 20er Jahren vergessen. Die Revue-Tänzerin hält in einer ebenso sportlichen wie männlichen Geste die Zügel in der Hand. Baker war sich anscheinend dem Spiel mit dem Sichtbaren bewusst. Sie wechselt durchaus die Geschlechter wie ihre Freundin Landshoff, die für Kessler „wirklich wie ein bildhübscher Junge aussieht“.[5]

Dass Harry Graf Kessler in Ruth Landshoff eher einen Jungen erblickte als in der kaum bekleideten, doch ebenfalls fast knabenhaften Baker spricht für visuelle Geschlechterüberschneidungen. Wann wird das Mädchen sichtbar zum Jungen? Mit Josephine Baker und den von Mesaoo Wrede auf der Tafel zitierten Formulierungen „Ich war nicht wirklich nackt, ich hatte nur keine Kleider an“ und „Ein Geiger hat seine Geiger, ein Maler hat seine Palette, aber ich habe nur mich, ich bin das Instrument, das ich pfleglich behandeln muss“ wird die Frage der Sichtbarkeit angesprochen. Was als sichtbar inszeniert wird, unterliegt der rhetorischen Figur des Aprosdoketon, die das Zu-sehen-geglaubte, auf überraschende Weise zurecht oder verrückt. Doch Baker operiert wie zeitgenössische Künstler z.B. John Heartfield ebenso mit einer visuellen Rhetorik insofern ihre Nacktheit auf der Revue-Bühne keine vorführen will. Kessler sah bei Karl Vollmoeller, mit dem Ruth Landshoff eine Affäre hatte, Baker tanzen. Und Vollmoeller fotografierte 1926 Josephine Baker allein und mit Ruth Landshoff mehrfach auf experimentelle Weise[6], was mit der Tagebuchnotiz von Kessler korrespondiert.
„Die Baker tanzte mit äusserster Grotesk Kunst und Stilreinheit; wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik treibt, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. So müssen die Tänzerinnen Salomos und Tutankhamons getanzt haben.“[7]       

Die kunsthistorische Assoziation Kesslers ist schon ein wenig zu weit einordnend, denn „ihr() Stil“, ihre Choreographie ist einzigartig. Hannah Durkin sieht Baker wenigstens als „coauthor“ ihrer Tanzszenen auch im Film, obwohl sie nicht als solche genannt werde.[8] Im Kontext und der Darstellung einer „Black womanhood“ im Film erscheine sie „unrestricted; her rapid gestures seemed to resist on ordered pattern and appeared spontaneous rather than choreographed“.[9] Doch Choreographie kann eben genau diese Spontaneität enthalten, die Harry Graf Kessler nur schwer und mit einem gewissen Maß der kunsthistorischen Verkennung beschreiben kann. Wenig später, 1927, erschien Josephine Baker in Paris in ihrem ersten Film La Sirène de tropique und arbeitete zugleich mit ihrem Sekretär Marcel Sauvage an ihrem ersten Buch, Les Mémoires de Joséphine Baker. Durkin hat eine vielsagende „thirty-second sequence“, die als Werbung für die Memoiren gedacht war, recherchiert und analysiert. Obwohl die Männer später behaupteten, aus ihr einen Star gemacht zu haben, sieht Durkin in der Szene eine Farce, die nicht zuletzt auktoriale Männerphantasien aufdeckt:
„Her overstated movements reduce the scene to farce and point up the fantasies on which men’s depictions are based.“[10]

Mesaoo Wredes Vorschlag, Josephine Baker zu einer lesbischen Ikone zu machen, könnte ein reizvoller Anstoß sein. Denn der Revuestar lässt sich, wie Durkin ausführt, offenbar auf andere Weise im Kontext von „Black womanhood“ und Frauenpraxis lesen. Josephine Baker schaffte es anscheinend über das Revuetheater hinaus, mit Künstlerinnen und Künstlern zu kollaborieren, um neuartige Lebens- und Darstellungsformen an der Schnittstelle von Frauen- und Männerbildern zu entwickeln. In ihren wiederholten autobiographischen Erzählungen montiert Baker mit ihren Co-Autoren auch die Geschichten des Rassismus gekonnt um. Mémoires (1927), Voyages et aventures de Joséphine Baker (1931), Une vie de toutes les couleurs (1935) und Joséphine (1976)[11] formulieren die dem Genre eigene Enthüllung anders, um ein anderes Bild der Schwarzen Frau zu beschreiben.
„In Joséphine, she even takes revenge on a white suitor for crimes against her forebears: „I ordered the young man to his knees and planted him by my bedside. Then I left for the theater. Unkind? Perhaps. But looking back on it now, I wonder if the ghost of an African ancestor humiliated by an arrogant plantation owner hadn’t been lurking someplace under my well-oiled-scalp“.“[12]

Das wiederholt mit ihr nahestehenden männlichen Co-Autoren ausgearbeitete Genre der Autobiographie wird nicht nur zu einer Selbstlebensbeschreibung wie bei Jean Paul, vielmehr sucht die junge Josephine Baker zugleich nach einem Selbst, das sich beschreiben ließe. Die drei ersten Autobiographien gehen mit Filmproduktionen einher und könnten so als Werbung verstanden werden. Doch sie sind nicht nur Erinnerungen, vielmehr wechseln sie im Titel zum Genre der Reise- und Abenteuerromane – Voyages et aventures … –, um nach 1933 mit Une vie de toutes les couleurs während des nicht nur in Deutschland voranschreitenden Rassenwahns ein Statement für Diversität zu formulieren. In Un vie enthüllt der Revuestar nicht nur seinen Körper, sondern die rassistisch-patriarchalen Strukturen des Mittleren Westen. Die Sichtbarkeit der Hautfarbe generiert Machtverhältnisse.
Une vie’s knowledge of skin tone politics in a Midwestern Black household once again evidences Baker’s authorship and highlights correlations between skin tone and one’s perceived place in U.S. society, serving as a pointed critique of the social restrictions imposed on early-twentieth-century African American women. Such a narrative evokes the “tragic mulatta’s” Otherness.“[13]  

Das Jahr 1920 als Beginn der Zwanziger Jahre, in denen lesbische Liebe wenigstens zu einer neuen Sichtbarkeit mit Künstlerinnen wie Else Lasker-Schüler, Hannah Höch, Lotte Laserstein, Renée Sintenis, Jeanne Mommen, Gertrude Sandmann und Josephine Baker gelangte, wird von Mesaoo Wrede und LAZ etwas plakativ gefeiert, um mit aktuellen Künstlerinnen quer durch den Ausstellungsraum in Korrespondenzen zu treten. Während gerade die neuen 20er Jahre mit einer Pandemie und erheblichen politischen Verwerfungen beginnen, geht ein erster Blick zurück, auf lesbische Künstlerinnen, die geradezu kanonisiert worden sind. Kerstin Drechsel setzt sich im Bereich der Unschärfe mit ihren Darstellungen von Besuchen in Clubs mit der Sichtbarkeit auseinander. Sie zeigt in ihren Bildern alles, was zwischen Köpern und Personen passieren kann. Das hat auch sehr viel mit der Berliner Clubszene zu tun, die gerade wegen der Pandemie pausieren muss. Statt gespreizter Beine geht es im Moment um eine gnadenlose Sperrstunde.

Es ist dann doch ein Wink auf die Frage der Sichtbarkeit in geschlechtlicher wie traumatisch-pandemischer Hinsicht, wie Kerstin Drechsel die Unschärfe als visuelle Strategie einsetzt. In der medialen Überfülle der Bilder vom Virus Sars-Cov-2 – übrigens haben sich die Grafiken des Virus immer weiter ausdifferenziert, was im März mit der deiktischen Geste der Fotografie als Bild vom Virus präsentiert wurde, hat zwischenzeitlich diverse ähnliche Bilder vom Virus generiert und auch zerstreut. In der Überfülle der Bilder vom Virus und der Pandemie fehlt es unterdessen an künstlerischen Arbeiten, die sich mit den neuartigen Bildern auseinandersetzen. Die vermeintliche Sichtbarkeit der Pandemie im globalen Tragen von „Masken“ bzw. MNB (Mund-Nasen-Bedeckungen) wird versucht, z.B. mit Fotoprojekten als neuartiges Bild vom Menschen aufzugreifen. Der nackte Mensch trägt MNB. Doch eine wirklich kreative Visualisierung von Virus und Pandemie bleibt aufgeschoben.

In der Ausstellung gibt es viele visuelle Arbeiten, die konzeptuell z.B. mit Miniportraits ein Netzwerk aus lesbischen Frauen von Martina Minette Dreier sichtbar werden lassen. Heike Schader montiert aus Covers von Lesbenzeitschriften der 20er Jahre wie Die Freundin oder Frauenliebe oder Garconne und eigenen Zeichnungen von lesbischen Paaren an der Wand ein Herz, wie es in Social Media verwendet wird, um Zustimmung und Liebe zu zeigen. Stef. Engel durchkreuzt mit eher unübersichtlichen, kleinformatigen Montagen die Sichtbarkeit. Ein ikonisches Foto von Louise Bourgeois mit Penisplastik wird in einer Art Bildschachtel mit einer goldenen Penisplastik und einem Stück schwarzen Stoff kombiniert. Das Stück Stoff verdeckt das Foto auch teilweise. Das ikonische Foto wird gefeiert, transformiert und doch durch die Montagepraxis aus seiner Ikonologie herausgelöst. Stef. Engel montiert in der ausgestellten Serie unterschiedliche Bilder mit Stoffstücken oder Mini-Kostümstücken, die zwischen Fetisch und Verhüllung oszillieren.

Katharina Oguntoye las mehrere Gedichte von Audre Lorde, die sich selbst als „black, lesbian feminist mother poet warrior“ bezeichnetet. Sie hat von einer unabhängigen Jury 2020 den Preis für Lesbische Sichtbarkeit des Senators für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Dr. Dirk Behrendt schon im Sommer verliehen bekommen. Die Preisverleihung soll(te) Ende Oktober stattfinden. Audre Lorde ist seit den 80er Jahre eine entscheidende Stimme für Schwarze lesbische Frauen. 1984 erschien ihr erstes Buch auf Deutsch im sub rosa Frauenverlag mit dem Titel Auf Leben und Tod: Krebstagebuch. Im August 1992 wurde Audre Lorde durch einen öffentlichen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl bekannt, nachdem es in Rostock und Hoyerswerda zu rassistischen Anschlägen gekommen war. Im Februar 2020 wurde ein Beteiligungsverfahren eröffnet, um eine Straße in Friedrichshain-Kreuzberg nach ihr zu benennen.
„Rostock und Hoyerswerda und Übergriffe und Morde an schwarzen Deutschen, Afrikanerinnen, türkischen und asiatischen Menschen in den letzten drei Jahren werfen nicht lediglich die Frage auf, wie viele Ausländerinnen in Deutschland zugelassen werden können oder wie viele ausgeschlossen werden müssen. Ausschlaggebend sind die fundamentalen Fragen von Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie, Probleme der deutschen Psyche, die in den letzten 50 Jahren nicht wirklich untersucht und angesprochen wurden und die das gegenwärtig ausgedrückte Bewußtsein der breiteren deutschen Gesellschaft durchdringen.“[14]

Lila Wunder eröffnet einen breiten Debattenraum zu queeren Sichtbarkeiten und Visualität. Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie sind keine isolierten Narrative, sondern werden in der Regel mit Lesben-, Homo-, Trans- und Interphobie kombiniert. Audre Lorde und Katharina Oguntoye mussten insofern schmerzlich die Kehrseiten von Sichtbarkeit erfahren. Denn Sichtbarkeit und was sichtbar wird, hat immer mit Wissensformationen zu tun. Deshalb müssen Sichtbarkeiten immer schon mit einem Anspruch auf Subversion angelegt werden. Beobachten lässt sich an Audre Lordes Protestbrief, dass die aktuellen Debatten um „Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie“ erstens nicht neu sind und zweitens in einer bestürzenden Hartnäckigkeit wiederkehren, ohne dass es Flüchtende bräuchte. Es geht um eine nahezu ununterbrochene Wiederkehr von Narrativen, die entschieden bekämpft werden muss. Bisweilen gibt es selbst bei Schwulen hartnäckige Narrative von Lesben, die nicht nur nicht originell, sondern stereotyp und phobisch angelegt sind.

Torsten Flüh

Lila Wunder
1920 Begegnungen und Verbindungen
2020 sichtbar werden – sichtbar bleiben
bis 15. November 2020
weitere Termine mit Lesungen und Diskussionen
Potsdamer Straße 120 über Woolworth


[1] Zum Lila Lied vgl. auch: Torsten Flüh: Wechselstimmung im Grünen Salon. Boris Steinbergs letzter Chanson Salon 2016 in der Volksbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 1, 2017 16:28.

[2] Zitiert nach: Catel & Bocquet: Joséphine Baker. Tournai: Casterman, 2017, S. 503.

[3] Hannah Durkin: Josephine Baker & Katherine Dunham – Dances in Literature and Cinema. Urbana, Chicago, Springfied: University of Illinois Press, 2019.

[4] Siehe das Foto in Stiftung Brandenburger Tor (Hg.): Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne. Berlin: Nicolai, 2016, S. 20. Siehe auch Twitter: VisitBerlin.

[5] Harry Graf Kessler: Tagebuch vom 13. Februar 1926.

[6] Vgl. Marbacher Magazin: Jan Bürger: Im Schattenreich der wilden Zwanziger. Fotografien von Karl Vollmoeller aus dem Nachlass von Ruth Landshoff-Yorck. Mit Beiträgen von Thomas Blubacher und Chris Korner. 68 Seiten, zahlreiche Abb. Fadengeheftete Broschur. (PM 4/2008 18.01.2018) und Max Reichwein: Der Harem vom Pariser Platz. In: Welt Kultur 14.01.2018.

[7] Harry Graf Kessler: Tagebuch … [wie Anm. 5].

[8] Hannah Durkin: Josephine … [wie Anm. 3] S. 9.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 19.

[11] Ebenda S. 25.

[12] Ebenda S. 26.

[13] Ebenda S. 35.

[14] Zitiert nach Corinna von Bodisco: Welche Straße für Audre Lorde? Vorschläge sind willkommen. In: Tagesspiegel Leute Friedrichshain-Kreuzberg 20.02.2020.

Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne

Bilderatlas – Wissenschaft – Zettelkasten  

Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne

Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt

Am 3. September 2020 war es soweit: Auf der Pressekonferenz zur Ausstellung „Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original“ im Foyer des HKW wurde erstmals der Bilderatlas als Folio-Band aus dem Verlag Hatje Cantz aufgeschlagen. Zugleich wurden alle 63 rekonstruierbaren Bildertafeln im großen Ausstellungssaal in sechs halbkreisförmigen Installationen zum ersten Mal überhaupt gleichzeitig aufgehängt. Die Hängung orientiert sich an der Form einer Ellipse und der Größe des Lesesaals in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) in Hamburg, über deren Eingangstür noch heute ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ eingemeißelt ist. Aby Warburg hatte Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts dort nacheinander die Bildertafeln aufgehängt. Roberto Ohrt erzählte auf der Pressekonferenz freimütig, dass er noch gar nicht wusste, was er im Warburg Institute in London finden sollte, als Bernd Scherer ihm 2018 zusagte, das Projekt zu unterstützen.

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Nun existiert der legendäre, unabgeschlossene Bilderatlas medial zweimal: als Buch und als Ausstellung. In der Welt der Kunsthistoriker*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Bildforscher*innen handelt es sich um ein epochales Ereignis, das Roberto Ohrt und Axel Heil medien- und institutionenübergreifend mit dem Warburg Institute London unter der Leitung von Bill Sherman, HKW und dem Verlag zustande gebracht haben. Alle Bildtafeln jemals an einem Ort zur gleichen Zeit in brillanter Bildqualität sehen oder gar in einem großformatigen Bildband in allerneuster Hochauflösung mit der Lupe studieren zu können, muss selbst Aby Warburg und seinen Mitarbeiter*innen utopisch erschienen sein. Der Bilderatlas als Utopie hat sich nun (fast) plötzlich materialisiert. Bernd Scherer sieht in ihm „eine(n) wichtige(n) methodische(n) Bezugspunkt für die Generierung von Wissen in unserer Zeit“.[1] In der Ausstellung lässt sich auf einem großen Bildschirm im digitalen Folio-Band blättern.

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Ein originaler Zettelkasten aus dem Warburg Institute darf gleich zu Beginn der Ausstellung bestaunt werden. Der ganze Karteikasten „als raumgreifendes Möbel, das die Schrift material-medial neu konditioniert“[2], wird in Originalgröße als Fotografie gezeigt. Axel Heil sagt auf der Pressekonferenz, er sei „das Gehirn der Ausstellung“. Zettel- und Karteikästen archivieren, speichern und generieren Wissen. Auf bedenkenswerte Weise verändern sich mit dem Zettelkasten die Schrift und das Wissen um 1900, wie es nicht zuletzt Walter Benjamin in seinem Buch Einbahnstraße 1928 formuliert hat. Benjamin benutzt den Begriff der „Kartothek“, vergleicht sie mit der „Rune oder Knochenschrift“ und kontextualisiert sie mit der „Bilderschrift“. Für die Frage des Wissens Ende der Zwanziger Jahre gibt dieser Kontext einen Wink auf die Intelligibilität des Bilderatlas’.
„Aber es ist ganz außer Zweifel, daß die Entwicklung der Schrift nicht ins Unabsehbare an die Machtansprüche eines chaotischen Betriebes in Wissenschaft und Wirtschaft gebunden bleibt, vielmehr der Augenblick kommt, da Quantität in Qualität umschlägt und die Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft wird. An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu machen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms. Mit der Begründung einer internationalen Wandelschrift werden sie ihre Autorität im Leben der Völker erneuern und eine Rolle vorfinden, im Vergleich zu der alle Aspirationen auf Erneuerung der Rhetorik sich als altfränkische Träumereien erweisen werden.“[3]

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Walter Benjamin schreibt in seinem ebenso wissenschaftlichen wie belletristischen Montagebuch[4] Einbahnstraße von einer „Eroberung der Dreidimensionalität der Schrift“ durch Zettelkasten, Karteikasten oder Kartothek in Bezug auf „Wissenschaft“ und „Poeten“. In der Kartothek lässt sich u.a. die Karte und Landkarte als Atlas mitlesen. Die „Dreidimensionalität der Schrift“ wird als eine Befreiung von der Linearität oder Zweidimensionalität formuliert. Deshalb bezieht sich die Dreidimensionalität nicht nur auf eine Verräumlichung hinsichtlich eines Möbels oder einer visuellen 3-D-Konstruktion wie etwa die Darstellung des menschlichen Gehirns mit seinen „Knotenpunkten als neuronale Netze“ im Kontext der Debatte um Künstliche Intelligenz, vielmehr wird die Schrift vervielfacht und mehrdeutig. Natürlich können in Zettelkästen alphabetische oder nummerische Ordnungen eingezogen werden, doch „(j)ede Karte steht mit jeder anderen in einer potenziellen Beziehung, die vom Benutzer aktualisiert werden“ muss.[5] Karin Krauthausen weist zugleich auf den Gebrauch der Karteikästen im 20. Jahrhundert in der Verwaltung als „Benutzeroberfläche“ hin, „insofern sie die archivierten Bücher und andere Quellen über Verfassername, Titel, Signatur oder Schlagworte (auf-)findbar machen“.[6] Doch die Analogie Verwaltung und Karteikasten unterschlägt die Ambiguität der Schrift, wie sie von Benjamin angeschrieben wird.

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Die Dreidimensionalität der Schrift wird von Benjamin am Zettelkasten als Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft, Rhetorik und Poetik über die „Wandelschrift“ mit dem Träumen in Verbindung gebracht. Das Gehirn kennt nicht nur das Wachen, vielmehr noch das Träumen. Doch das Träumen ist von vornherein vieldeutig aufgeladen. Insofern wird der Zettelkasten hinsichtlich des Bilderatlasses Mnemosyne zu einem Möbel zum Träumen. Das Projekt der „Wiederherstellung“ von Roberto Ohrt und Axel Heil, wie es als „Original“ mit „Klemmhaken“ in der Ausstellungshalle des HKW re-materialisiert worden ist, erschlägt zunächst in seiner Komplexität und Diversität von „971 Objekte(n)“ bzw. Fotografien von „fotografische(n) Reproduktionen, Zeitungsausschnitte(n), Ansichtskarten, Reklamen, Briefmarken, Broschüren, einzelne(n) Buchseiten, von Warburgs Ehefrau Mary angefertige(n) Skizzen und zwei Originaldrucke(n)“.[7] Der Bilderatlas machte und macht mit dem Medium der Fotografie und neuartigen Druckverfahren wie den „Halbtondrucken nach dem Rasterverfahren“[8] Bilder für die Wissenschaft und eine breitere Öffentlichkeit zugänglich.

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Im Folio-Band ist neben dem Text von Claudia Wedepohl nicht nur eine Seite aus dem Kunsthistorischen Bilderbogen für den Gebrauch bei öffentlichen Vorlesungen … von Ernst Arthur Seemann aus dem Jahr 1881 als Beispiel für die Verbreitung und Geschichte des Bilderatlas‘ abgedruckt, vielmehr wird auch ein Foto vom Fotostudio mit dem von Aby Warburg verwendeten Rectigraph der Marke „Photo Clark“ in der KBW von 1926 gezeigt.[9] Wedepohls Ausführungen zum „Making of“ des Bilderatlasses werden insoweit mit Fotos aus dem Warburg Institute London als Dokumente belegt, was eine deiktische Praxis des Gebrauchs von Fotografien in Bildbänden wäre.[10] Ohrt und Heil weichen von diesem Ansatz ab und gehen der Verwendung der „Begriffe „Bilderatlas“ und „Tafel“ … seinerzeit im Verlagswesen“ nach. Doch die Erklärung, dass „Bilderatlas […] den Abbildungsband, der als Ergänzung zum Textband noch in einer anderen Technik und auf anderem Papier gedruckt werden musste, [bezeichnete]“[11], kann mit dem Sexualwissenschaftliche(n) Bilderatlas der Geschlechtskunde[12] von Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1930 faktisch widerlegt werden. Der Begriff Bilderatlas wird um 1930 auf verschiedene Weise im Feld der Wissenschaft verwendet.

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Magnus Hirschfeld prägt seinen Bilderatlas-Begriff als eine Wissenschaft durch Bilder mit dem vorangestellten Motto „Bilder sollen bilden“.[13] Das Motto kündigt mit den Initialen „M. H.“ als Hirschfelds (eigene) Methode an. Wenn es heutzutage um die Sichtbarkeit von LGBTI* geht, dann knüpft dieser Anspruch auf eine Sichtbarkeit und Repräsentanz in gewisser Weise an Hirschfeld an. Der Sexualwissenschaftliche() Bilderatlas der Geschlechtskunde verwendet wie bei Aby Warburg diverses Bildmaterial von ethnologischen Bildern, Portraits aus der Kunstgeschichte wie von Friedrich II. und seinem Bruder Heinrich, Privatfotos von König Ludwig II. von Bayern mit seiner Mutter[14], medizinisch beschrifteten Zeichnungen der Klitoris[15], Fotos aus der Boulevardpresse, Filmstills, Zeichnungen von der „Sexualnot der Gefangenen“[16], Fotos von Kongressen mit Magnus Hirschfeld etc.. Der Bilderatlas hat über 830 Seiten, auf denen Text und entweder einzelne oder mehrere Bilder abgedruckt werden. Friedrich II., Prinz Heinrich und König Ludwig II. werden trotz unterschiedlicher Medialität (Reproduktionen von Gemälden und ein Foto) auf einer Seite im Kapitel Neunzehn mit dem Titel „Vererbungsgesetze“ gedruckt.[17] Die Homosexualität der drei historischen Adeligen wird somit in den Wissensbereich eines generationellen Übertragungsprozessen gestellt, obwohl Friedrich II. und Heinrich Brüder waren und somit die Homosexualität nicht untereinander vererben konnten.

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Der Bilderatlas befreit sich zumindest bei Hirschfeld Ende der fraglichen Zwanziger Jahre aus einem stringenten Wissenschaftsverständnis, um an politischen Debatten teilzuhaben. Denn Magnus Hirschfeld ging es um eine weitreichende und vielfältige Reform des Sexualstrafrechts zwischen Abtreibung, Homosexualität, Prostitution und Sexualität im Justizvollzug. Die Wissenschaftspolitik des Bilderatlasses löst Bilder aus ihren Wissenschaften wie Ethnologie, Kunstgeschichte, Geschichte, Medizin, Vererbungslehre und Kriminalistik heraus, um sie anders zu montieren, so dass die historische Figur des Großen mit Friedrich dem Großen zum Zeugen für die Rechtmäßigkeit homosexueller Praktiken angeordnet wird. Zwischen dem ersten Kapitel „Das Menschenpaar“ und dem zweiunddreißigsten „Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage“ entfaltet sich zwar ein chronologischer Bogen, aber dieser funktioniert in seiner Diversität des Bildmaterials längst nicht mehr als Geschichtswissenschaft.

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Der Wunsch nach bwz. das Problem der Vollständigkeit führt bei Aby Warburg zu Lücken und Ergänzungen, die die Fassung des „Originals“ nach einer „dritten Version“ von 1929 weiterhin als „Fragment, noch unfertig im Prozess der Entwicklung“[18] vorführen.[19] Doch das methodologische Problem der Ordnung und Vollständigkeit könnte mit dem Bild statt Text selbst zu tun haben. Denn Magnus Hirschfeld formuliert das Problem der Vollständigkeit für seinen Bilderatlas ebenfalls. „Der Umfang dieses Werkes“ sei „bedeutend größer geworden, als ursprünglich beabsichtigt“, schreibt er in seiner Einleitung, und er sei „(v)on dem Wunsche getragen, möglichst vollständig zu sein,“ gewesen.[20] Das Medium Bilderatlas siedelt sich bei Hirschfeld zwischen Lexikon, Bilderbuch, wissenschaftlichem Kompendium und Streitschrift an. Dabei funktioniert der Bilderatlas nicht zuletzt als eine Montage aus Text und Bild. Obwohl er eingangs davon schreibt, dass „(d)as Bild […] den Text in den Hintergrund gedrängt, vielleicht sogar vernichtet“ habe, wünscht er sich von seinen Leser*innen, dass die „Bilder nur eine Begleiterscheinung des Textes“ genutzt werden mögen.[21] Ende der 1920er wird insofern mit dem Bilderatlas eine Krise des Textes formuliert und ihr begegnet, die heute als aktuell empfunden wird. Oder geht es um eine generelle Wissenskrise?

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Claudia Wedepohl macht in ihrem „Making of“ auf verschiedene Methoden aufmerksam, die Aby Warburg für sein Wissen von den Bildern zwischen Engrammen, „die ins Nervensystem eingeschrieben und dort weder einer Entwicklung ausgesetzt noch durch historische Umstände veränderbar seien“,[22] und dem „Typus“ als „eine stofflich konkretisierte Abstraktion“[23], ausprobierte. Insofern die Rede von den Engrammen einen neurowissenschaftlichen Ansatz formuliert, wird mit ihm nicht nur die Frage nach einem Denkmodell angeschrieben, vielmehr wird der Bilderatlas zur Frage der Intelligenz und ihrer Konzeptualisierung. Der zwischenzeitlich „Typenatlas“ genannte Bilderatlas gibt einen Wink auf den Diskurs der Fotografie und der Wissenschaft wie sie z.B. der Fotograf August Sander in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickeln wollte. Sander wollte seine Portraitfotos von Deutschen nach „Archetypen“ und einer „Typologie“ ordnen.[24] Auch bei Sander geht es um ein Anlegen von „Mappen“[25], allerdings in einer hierarchischen Ordnung. Der Bilderatlas soll aus sich selbst heraus intelligibel werden. Doch wie bei Warburg so wird das Versprechen der Fotografie auch bei August Sander zum Problem, so dass das „Mappenwerk“[26] erst postum als Foliant re-konstruiert veröffentlicht wird.

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Das physiologische Engramm, das Aby Warburg aus Richard Semons Schrift Mneme in die Kunst- und Kulturwissenschaft überträgt, bildet sich an der Schnittstelle von Gedächtnis- und Gehirnforschung heraus. Nach Wedepohl war Warburg davon überzeugt, „dass sich der Gebrauch dieser Pathosformeln mit unterbewussten Erinnerungen, genauer mit Eindrücken aus dem kollektiven Reservoir leiblicher und emotionaler Erfahrungen, […], erklären ließ“.[27] Richard Sermon hat 1904 dafür eine Physiologie des Gedächtnisses konzipiert, die sich aus einem neuartigen „Reizbegriff“ als „eine energetische Einwirkung auf den Organismus von der Beschaffenheit, daß sie Reihen komplizierter Veränderungen in der reizbaren Substanz des Organismus hervorruft“,[28] entwickelte. Semon verknüpft die Gedächtnisforschung mit der Evolutiontheorie über Engramme und beschreibt das Gehirn als „Organismus“. Anders gesagt, Engramme werden vererbt, woran Warburg mit seiner „Pathosformel“ zumindest im europäischen Kulturraum andocken konnte. Engramme sind selbst „historisch“:
„Bei den uns jetzt beschäftigenden historisch gegebenen Engrammen fällt das Eintreten des engraphischen Reizes in die Vergangenheit, der Organismus, wie wir ihn zur Untersuchung erhalten, befindet sich bereits im sekundären Indifferenzzustand. Nur die Latenzphase und die Manifestationsphase sind also unserer Untersuchung zugänglich. Der Schluß, daß hier auch wirklich ein Engramm vorliegt, kann sich demgemäß bei dieser Art der Beweisführung nur auf zwei Momente stützen: Erstens auf den Umstand, daß es sich um Eigenschaften der organischen Substanz handelt, die bald latent, bald manifest sind. Zweitens auf die Art und Weise, wie der Übergang aus der Latenzphase in die Manifestationsphase ausgelöst wird, d. h. auf den Nachweis, daß diese Auslösung den Charakter einer Ekphorie trägt.“[29]

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Die Engramme werden auf diese Weise zu einem Problem der Semiologie. Bleiben die Engramme immer gleich oder verändern sie sich? Aby Warburg befindet sich in seinen kulturhistorischen Studien nicht zuletzt über Mnemotechniken in einer methodologisch schwierigen Situation. Nach seinen Erfahrungen in der Psychiatrie steht sowohl das Individuum auf dem Spiel wie das Leiden unter Engrammen durch „Ekphorie(n)“. Anders gesagt: es kehren aus dem Gedächtnis Einschreibungen immer wieder hervor, die unerwünscht sind. Der Bilderatlas reflektiert insofern ein Problem der Reproduktion und Wiederholung insbesondere der Antike oder antiker Formen, das zur Identifikation einlädt, indem es in ein Wissen transformiert wird, doch zugleich wie mit dem „Hosenkampf“ zur Satire eines historischen Wissens unter den Geschlechtern werden kann.[30] Die assyrischen Tonlebern auf Tafel 1 des Bilderatlasses präsentieren nicht zuletzt Engramme. Sie enthalten eine ganze Engraphie, um diese auf Lebern der Opferschafe applizieren zu können. Wenn die Engramme in der Opfertierleber vorzufinden sind, dann lässt sich um die Zukunft wissen.[31]

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Auf der Tafel 1 werden vor allen Bildern der Antike materielle Wissenspraktiken miteinander konstelliert. Assyrische Opfertierlebern werden durch die Tonlebern genauso intelligibel wie einige tausend Jahre später der Himmel mit Sonne und Mond auf dem babylonischen Kudurru, einem Grenzstein des Königs Meli-Sipak II.[32] Bernd Scherer stellt die Ausstellung dezidiert in den Kontext von „Wissenssyteme(n)“: „Vor dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Krisen und Transformationsprozesse, die durch die Kategorien der bestehenden Wissenssysteme nicht mehr erfasst werden, ist die Erinnerung an die im Mnemosyne-Projekt vorgeführte kulturelle Technik von größter Bedeutung.“[33] Dabei lässt sich bedenken, dass diese Formulierung vor dem Eintritt der Covid-19-Pandemie geschrieben worden ist. Denn im Frühjahr 2020 haben wir mit der Existenz und der epidemiologischen Dynamik des Sars-Cov-2-Viruses eine Wissenserschütterung erlebt, die tiefgreifender als der Anthropozän-Diskurs zur Umweltbelastung und Ressourcenausbeutung nicht nur „bestehende() Wissenssysteme“ angegriffen hat, sondern in Deutschland für wenige Woche gleichsam in Schreckstarre eingefroren hat.[34]

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Der Bilderatlas Mnemosyne von Abi Warburg entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Zeit größter Wissenserschütterungen z.B,. von Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) ereignete sich ohne Zutun eines Philosophen nicht nur in der Kultur von Literatur, Malerei, Musik und Moral, vielmehr brachte der Erste Weltkrieg bereits eine deutsche und europäische Vorherrschaft der kulturellen Werte in der Welt ins Wanken. Roberto Orth und Axel Heil argumentieren mit ihrer „Wiederherstellung“ vor allem gegen Ernst Gombrich, der „Warburg als einen Wissenschaftler“ charakterisiert habe, der nicht das notwendige organisatorische Geschick und die methodische Stringenz besaß, um sein letztes Werk zum Abschluss zu bringen“.[35] Seit der Erstveröffentlichung von Ernst Gombrichs Biographie zu Aby Warburg 1983 erregt seine Sichtweise heftigen Widerspruch. Dagegen wollen Orth und Heil nun die „Ebene der Montage“ näher rücken und den „Reiz, in Quellen etwas neues herauszustellen,“ zugestehen.[36]

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Um nur einige wenige gegensätzliche Haltungen zur Lektüre des Bilderatlas‘ zu nennen, seien George Didi-Huberman mit Atlas ou le gai savoir inquiet, L’œil de l’histoire (2001) und Sigrid Weigel mit ihrer Grammatologie der Bilder (2015) genannt. Didi-Huberman schreibt, dass der „Atlas […] seit Aby Warburg nicht nur die Formen – und also die Inhalte – sämtlicher »Kulturwissenschaften« oder Humanwissenschaften  von Grund auf verändert“ habe, „sondern er hat auch zahlreiche Künstler angeregt, die Art und Weise, wie in den visuellen Künsten heute gearbeitet wird und wie sie präsentiert werden, in Form der Sammlung oder der Remontage völlig neu zu denken“.[37] Sigrid Weigel sieht Warburgs „Beitrag und Anregung (…) für die gegenwärtige Bildwissenschaft (…) weniger in der Klärung bildtheoretischer Fragen, wie sie in einer Grammatologie der Bilder interessieren, als in der Analyse der psychisch-intellektuellen Leistung symbolischen und bildnerischen Verhaltens in unterschiedlichen kulturellen Praktiken, die er als Möglichkeiten der Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Mythos und Logik, Bild und Zahl, Magie und Mathematik etc. interpretiert“.[38]    

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Der Bilderatlas Mnemosyne bleibt selbst als „Original“ ein Abenteuer der Wissensproduktion durch Formen und Gesten, Wiederholung und Transformation, Geschichtswissen und Einschreibungen, „Dreidimensionalität der Schrift“ und Konstellationen. Die Forschung am „Original“, wie es nun materiell zugänglich geworden ist, beginnt gerade erst. Methodologisch ist allerdings sehr zu wünschen, dass der kunsthistorisch-rekonstruierende Ansatz nur im Auftakt vorherrscht. Ernst Gombrichs diskreditierende Biografie bleibt nicht zuletzt einem positivistischen, angelsächsischen Wissenschaftsdiskurs geschuldet. Forschen aber heißt lernen und immer wieder das Wissen zu hinterfragen. Es bilden sich dann jene Praktiken als Konsens heraus, die sich zumindest vorübergehend als die besten erweisen. So wie sich das Virus Sars-Cov-2 mehr oder weniger permanent wandeln und nicht einfach aus der Welt schaffen lassen wird, werden auch immer wieder Praktiken an den Umgang mit ihm justiert werden müssen. Es wird nie einen bis ins Detail entschlüsselten Bilderatlas Mnemosyne geben.

Torsten Flüh

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
Das Original
bis 30.11.2020
Haus der Kulturen der Welt
Ticket mit Zeitfenster

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
The Original
Hrsg. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil, Text(e) von Roberto Ohrt, Axel Heil, Bernd M. Scherer, Bill Sherman, Claudia Wedepohl, Gestaltung von Axel Heil, Christian Ertel, fluid editions
Englisch
2020. 184 Seiten, 83 Abb.
gebunden mit Schutzkarton
44,00 x 60,00 cm
ISBN 978-3-7757-4693-9
200,00 €

ZWISCHEN KOSMOS UND PATHOS
Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
bis 1. November 2020
Gemäldegalerie, Kulturforum
Ticket mit Zeitfenster

NEU: VIRTUELLE TOUREN

Virtual Tour – Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne exhibition at Haus der Kulturen der Welt


[1] Bernd Scherer: Der Bilderatlas im 21. Jahrhundert. In: Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original. Hg. v. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil. Berlin: Hatje Cantz, 2020. (Zitiert nach Pressemitteilung ohne Seitenzahl)

[2] Karin Krauthausen: Zettelkasten. In: Susanne Scholz, Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin/Boston: De Gruyter, 2018, S. 454.

[3] Walter Benjamin: Einbahnstraße [1928]. In: Gesammelte Schriften. Band IV.1. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1991: 83−148.

[4] Vgl. zum Buch „Einbahnstraße“ Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168.

[5] Auf Krauthausens Formulierung ist zu entgegnen, dass die „Beziehung“ nicht nur „aktualisiert werden kann“, vielmehr muss sie allererst vom „Benutzer“ werden. Karin Krauthausen: Zettelkasten … [wie Anm. 2].

[6] Ebenda.

[7] Claudia Wedepohl: Über die Entstehung von Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. In: Aby Warburg: Bilderatlas … [wie Anm. 1]. Original in Englisch: The Making of Warburg’s Bilderatlas Mnemosyne. S. 14.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. dazu auch die „pur langage déïctique“ in Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, 16.

[11] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum Nachleben der Mnemosyne. In: Ebenda S. 11.

[12] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas der Geschlechtskunde. Stuttgart: Julius Püttmann, 1930.

[13] Siehe dazu: Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 18, 2018 16:46.

[14] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher … [wie Anm. 11] S. 328.

[15] Ebenda S. 138.

[16] Ebenda S. 724.

[17] Ebenda S. 319-338.

[18] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum … [wie Anm. 10] S. 13.

[19] Zum Unfertigen als Semesterthema der Mosse Lectures vgl. Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 27, 2017 22:18.

[20] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher … [wie Anm. 11] S. 2.

[21] Ebenda.

[22] Claudia Wedepohl: Über … [wie Anm. 7] S. 15.

[23] Ebenda.

[24] Vgl. dazu Torsten Flüh: Photographie als Schrift. Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zu einem vielfältigen Medium. Saarbrücken: VDM, 2007, S. 45-65.

[25] Ebenda S. 63-64.

[26] Ebenda S. 65.

[27] Claudia Wedepohl: Über … [wie Anm. 7] S. 15.

[28] Richard Semon: Mneme. Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1904, S. 12.

[29] Ebenda S. 88-89.

[30] Zum Hosenkampf vgl. Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.

[31] Vgl. zum Zukunftswissen der Tonlebern: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.

[32] Aby Warburg: Bilderatlas … [wie Anm. 1] S. 30 und 31.

[33] Bernd Scherer: Der … [wie Anm. 1].

[34] Zur Wissenserschütterung siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020

[35] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum … [wie Anm. 10] S. 13.

[36] Ebenda.

[37] George Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 17.

[38] Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2015, S. 399.

Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in c-Moll op. 111

Sonate – Männlichkeit – Roman

Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll  op. 111

Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus

Am 20. September setzte sich Igor Levit gegen 21:00 Uhr in der Philharmonie Berlin wieder an den Flügel, um die legendäre, letzte Sonate von Ludwig van Beethoven als Abschluss seiner Konzertreihe zu spielen. Nachdem am Nachmittag des Vortages das 7. Konzert mit einer ebenso hinreißend wie verstörend interpretierten Sonate Nr. 29 geendet war, brachte das Spiel des Opus 111 am Sonntagabend das Publikum fast zum Rasen. Standing Ovations. Bravo-Rufe. Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim beehrte Igor Levit mit seiner Anwesenheit. Er hat die Sonaten Nr. 29 bis 32 ebenfalls interpretiert und 2005 eine Meisterklasse zu den Beethoven Sonaten z.B. mit Lang Lang in der Symphony Hall Chicago unterrichtet, worauf zurückzukommen sein wird.

Opus 111 ist nicht nur eine der meistgespielten Sonaten Beethovens, vielmehr wurde ihre Besprechung und Verarbeitung in Thomas Manns Montageroman Doktor Faustus deswegen legendär, weil sie eine entscheidende Funktion für die deutsche Musikentwicklung nach Theodor W. Adorno einnimmt. Über Musik, über Beethovens Sonaten zu schreiben, stellt seit jeher eine Herausforderung dar. Wie lassen sich Formulierungen finden für eine Sprache ohne Worte? Opus 111 wurde nicht nur mehrfach vom Komponisten selbst umgewidmet, es wurde zugleich zum die Form der Sonate sprengenden wie sie bestätigenden, widersprüchlichen Werk. Thomas Mann schreibt dem Opus 111 mit Adornos Beratung bis zum Plagiat für „Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde“ eine paradoxe Funktion betreffs der Musik des 20. Jahrhunderts zu.

Ereignet sich mit der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 ein provokanter Bruch hinsichtlich der Sonatenform[1], so nimmt die 32 diesen teilweise zurück, um ihn auf eine andere Weise zu wenden, die bis in Färbungen des Jazz oder des Impressionismus bei Igor Levit angespielt wird. Levits Spiel wie Manns Montage sollen einmal genauer besprochen werden, denn vor allem die letztere ist vielfach im musikästhetischen, historischen wie literarischen Kontext international diskutiert worden.[2] Vor allem das fünfzigjährige Jubiläum der Veröffentlichung von Doktor Faustus 1997 hat zu einer internationalen Diskussion geführt, bei der der Bezug zur Musik, zu Beethoven und dem Opus 111 eine wichtige Rolle spielte.[3] Auf der dOCUMENTA (13) hat Enrique Vila-Matas das Verhältnis von Thomas Mann und Theodor W. Adorno in einer Installation, An Exchange / Ein Austausch, mit einer Einführung thematisiert.[4]

Zu den bedenkenswerten Umständen der Genese von Thomas Manns Kultur- und Komponisten- ebenso wie Musikroman gehört, dass der Autor zwar mit Die Entstehung des Doktor Faustus – Roman eines Romans schon zwei Jahre nach dessen Erscheinen 1949 diesen selbst zum Gegenstand einer erläuternden Erzählung macht. Allerdings hat er Opus 111 von keinem anderen Pianisten als Theodor W. Adorno gespielt gehört. Stattdessen hörte er „Opus 132“ mit dem Busch-Quartett und machte Beethovens Streichquartett Nr. 15 in a-Moll zum Begleiter seiner Arbeit am Doktor Faustus. Er referenziert für den Roman auf dieses „höchste() Werk“. Der Roman wird dadurch nicht nur thematisch zu einem Beethoven-Roman, vielmehr legt Mann nah, dass sein Roman zu lesen sei wie das Streichquartett zu hören. Unterdessen wird die ironische Kritik an Beethovens Sonate Nr. 32 auf diese Weise im Nachhinein zurückgenommen.
„Eine herrliche >Matinee< (nachmittags) des Busch-Quartetts in Town Hall sei nicht vergessen, – mit vollendeter Wiedergabe von Beethovens opus 132, diesem höchsten Werk, das ich, wie durch Fügung, in den Jahren des >Faustus< ein übers andere Mal, gewiß fünfmal, zu hören bekommen habe.“[5]   

Ludwig van Beethovens Klaviersonaten geben einen Wink auf den Mythos der Männlichkeit in der Musik. Das wird so eher selten formuliert, wird allerdings von Eleonore Büning im Interview mit Igor Levit en passant angesprochen, ohne dafür eine nähere Expertise auszustellen. Sie bleibt bei einer modischen Anknüpfung stecken. Wie männlich Beethoven selbst war und ob beispielsweise die harten Brüche in den Sonaten bisweilen einem spezifisch männlichen Stimmungswechsel geschuldet sind, mag einmal dahingestellt bleiben. Das Prometheische und Titantische als Form der Männlichkeit tauchen allerdings um 1800 beispielsweise mit der Musik für das Ballett Die Geschöpfe des Prometheus von 1801 auf. Beethoven wird schließlich um 1900 als Komponist des Männlichen imaginiert und dargestellt. Das wird u.a. mit dem Beethoven-Haydn-Mozart-Denkmal von Rudolf und Wolfgang Siemering von 1904 im Berliner Tiergarten am Venus-Bassin deutlich. Mozart und Hadyn sind symbolistische, tanzende Frauengestalten in einer Art Neo-Renaissance als Musen beigegeben, während Beethoven mit einem nackten, jungen, kämpfenden Mann an einem Felsen assoziiert wird.[6] Die zeitgenössische Musikgeschichte mit Mozart und Haydn z. B. hinsichtlich der Sonaten als Lehrer und Vorläufer wird mit dem „männlichen“ Beethoven als Gipfel dargestellt.

Thomas Manns ebenso historischer wie geschlechtlich nahezu misogyner Teufelspakt im Roman stellt die Virilität Adrian Leverkühns aus, indem sie mit der Infektion der um 1900 noch unbehandelbaren Lues oder Syphillis gebrochen wird. Dass der „deutsche“ Komponist Leverkühn sich bei einer Prostituierten mit dem Bakterium Treponema pallidum bzw. der Syphilis von griechisch σῦς sŷs, deutsch ‚Schwein‘, φιλεῖν phileîn, deutsch ‚lieben‘ oder „Franzosenkrankheit“ infiziert, spricht einerseits für seine Manneskraft, andererseits führt diese als Geschlechtskrankheit mit Spätfolgen zur Isolation und Verlust der Sexualität und Zeugungskraft. Insofern wird Leverkühns Virilität von einer gewerblichen Frau bestätigt und zerstört. Doch schon in Wendell Kretzschmars Vortrag darüber „»warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe«“[7] spielt ein männlich geprägtes Verhältnis von „Größe und Tod“, das biographisch konstruiert wird, eine Rolle. Der „herrischste() Subjektivismus“ wird durchaus als ein spezifisch männlicher formuliert:
„Wo Größe und Tod zusammenträten, erklärte er, da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse, weil darin das Nur-Persönliche, das doch schon die Überhöhung einer zum Gipfel geführten Tradition gewesen sei, sich noch einmal selbst überwachse, indem es ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete.“[8]   

Zum Mythos der Männlichkeit in der Musik gehört mit dem herrischen „Subjektivismus“ insofern immer ein Regelverstoß, wie er sich an der mythologischen Figur des Prometheus durchaus seit Johann Wolfgang Goethes gleichnamigem Hymnus mit der Eingangsformulierung „Bedecke Deinen Himmel Zeus“ artikuliert.[9] Überschreitung und Befreiung werden seit den 1770er Jahren zur Signatur von Männlichkeit und Moderne sowie der Männlichkeit in der Moderne. Obwohl wir über Beethoven heute viel wissen, galt Thomas Mann zu Beginn der 1940er „Schindlers Beethoven-Biographie, ein geistig spießbürgerliches, aber anekdotisch anregendes und sachlich lehrreiches Buch“ viel.[10] Bis auf Adornos Expertise übernimmt Mann viel von Anton Schindler, der heute in der Beethoven-Forschung als eher suspekt angesehen wird.[11] Zum Komplex der Männlichkeit gehört bei Beethoven auch der von Schindler aufgefundene, versteckte „Brief“ an die Unsterbliche Geliebte, ohne dass die Beethoven-Forschung den Geliebten des Mannes recht habhaft geworden ist.[12] Ulrich Grothus hat darauf hingewiesen, dass Doktor Faustus insbesondere hinsichtlich der Kompositionen Adrian Leverkühns ein Roman sei, „that makes you believe to hear music that actually has never been composed“.[13]  

Doch die Sonate Nr. 32 opus 111 wurde komponiert und wird vielfach gespielt, während Mann sie mit Adornos Hilfe auf eine außergewöhnliche Weise hörbar machte. Bei Erscheinen des Romans konnte allerdings noch niemand die „drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote“ mit „»Wie-sengrund«“ als „Dankbarkeitsdemonstration“[14] lesen und hören. Offenbar bereitete Manns montierende Verarbeitung der Musikbeschreibungen seiner Nachbarn im kalifornischen Exil, Schönberg und Adorno, derart Probleme, dass er die Komplexität und Dankbarkeit mit der Romanergänzung explizieren und demonstrieren musste. Seither wird für die Leser*innen des Doktor Faustus bei jeder Aufführung des Opus 111 „Wie-sengrund“ hörbar, was einerseits stören und andererseits als Musikwissen begrüßt werden könnte.
„Das Arietta-Thema, zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint, ist ja sogleich auf dem Plan und spricht sich in sechzehn Takten aus, auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluß seiner ersten Hälfte, einem kurzen, seelenvollen Rufe gleich, hervortritt, – drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders skandiert als etwa: »Him-melsblau« oder: »Lie-besleid« oder: »Leb‘-mir wohl« oder: »Der-maleinst« oder: »Wie-sengrund«, – und das ist alles.“[15]  

Der Berichterstatter hatte vor der Sonate Nr. 32 op. 111 gespielt von Igor Levit den Roman noch nicht gelesen. Überhaupt erfuhr er erst nach dem Konzert von dem Doktor Faustus als Beethoven-Roman. Dabei hatte er sehr wohl gehört, dass Beethoven in dieser Komposition gleichsam sein Sonatenschaffen reflektiert. Auf paradoxe Weise wird das Kompositionsschema der Sonate bestätigt und zugleich in den Variationen des zweiten Satzes aufgelöst. Thomas Mann macht den zweiten Satz – „Arietta. Adagio molto semplice e cantabile – L’Istesso tempo“ – indessen zu einem dramatischen Ereignis, bei dem man sich nicht ganz sicher sein kann, ob er die Musik hörbar macht oder sie übertönend verschwinden lässt.
„…; und Kretzschmar spielte uns mit arbeitenden Händen all diese ungeheueren Wandlungen, indem er aufs heftigste mitsang: »Dim-dada«, und laut hineinredete: »Die Trillerketten!« schrie er. »Die Fiorituren und Kadenzen! Hören Sie die stehengelassene Konvention? Da – wird – die Sprache – nicht mehr von der Floskel – gereinigt, sondern die Floskel – vom Schein – ihrer subjektiven – Beherrschtheit – der Schein – der Kunst wird abgeworfen – zuletzt – wirft immer die Kunst – den Schein der Kunst ab. Dim – dada! Bitte zu hören, wie hier – die Melodie vom Fugengewicht – der Akkorde überwogen wird! Sie wird statisch, sie wird monoton – zweimal d, dreimal d hintereinander – die Akkorde machen es – Dim – dada! Bitte achtzugeben, was hier passiert –«
Es war außerordentlich schwer, zugleich auf sein Geschrei und auf die hochverwickelte Musik zu hören, in die er es mischte.“[16]

Serenus Zeitbloms ironische Erzählung vom kommentierten Vorspiel Kretzschmars erinnert an die Praxis der Meisterklasse, wie sie Daniel Barenboim im Januar 2007 in Chicago zu den Sonaten abgehalten hat. Barenboim sitzt an einem zweiten Flügel neben den Meisterschülern am Flügel, spielt die betreffenden Takte und gibt lautmalerisch Anweisungen, wie die Stelle, die Takte zu spielen seien. Die Meisterklasse ist vom BBC aufgezeichnet worden und auf YouTube verfügbar. Barenboim insistiert mehrfach darauf, wie genau Beethovens Tempi und Wechsel zu verstehen sind. Allerdings kommentiert er die Passagen weniger, hinsichtlich ihrer musikhistorischen Bedeutung, wie es Adorno zu einem musiktheoretischen Verfahren in Bezug auf die „Zwölftontechnik“ von Arnold Schönberg gemacht hat. Thomas Manns literarische Transformation zieht indessen mit der Figur des stotternden Kretzschmar von vorneherein eine ironische Ebene ein.

Doktor Faustus erzählt Musik als Roman bis an die Grenze ihrer Hörbarkeit. Ob sich der Erzählerfreund Serenus Zeitblom mit dem Autor Thomas Mann identifizieren lässt, ja, wie weit Thomas Mann überhaupt noch die Rolle des Romanautors als „Gott“ einer Welt einzunehmen gelingt, kann einmal offen bleiben. Allerdings gibt Zeitbloms Kommentar zur Szene einer, sagen wir, restlos kommentierten und verstandenen Musik einen Umschlag zu bedenken. Das Verständnis macht es nämlich auch schwer, „die hochverwickelte Musik zu hören“. Gehört wird dann nämlich nur noch das Verstandene. Die Beherrschung der Musik wird auch zu einer „herrischen Subjektivität“. Was bei Mann/Adorno in ihrer Beethoven-Imagination durchschimmert, lässt sich als ein Männlichkeitsphantasma beschreiben. In ihrer ekstatischen Beschreibung verstehen sie mehr oder gar anderes, als Beethoven möglicherweise von seiner Musik verstanden hat. Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno beschuldigten jedenfalls Thomas Mann des Plagiats. Im XXII. Kapitel zieht Adrian Leverkühn als Komponist diese Art des Hörens in Zweifel:
„… Wenn du unter >Hören< die genaue Realisierung der Mittel im einzelnen verstehst, durch die die höchste und strengste Ordnung, eine sternsystemhafte, eine kosmische Ordnung und Gesestzlichkeit zustande kommt, nein, so wird man’s nicht hören. Aber diese Ordnung wird oder würde man hören, und ihre Wahrnehmung würde eine ungekannte ästhetische Genugtuung gewähren.“ (S. 257)

Ulrich Grothus‘ Faszination durch den Roman, der eine Musik beim Lesen zu hören glauben macht, die niemals komponiert und gespielt worden ist, gibt einen Wink auf das Verhältnis von Musik, Musikliteratur, Komposition und Musikbesprechung. – Thomas Mann benutzt für seine Erzählerfigur Zeitblom übrigens recht häufig den Begriff besprechen wie z.B. in der Wendung „Ich werde an ihrem Ort die Tatsache besprechen“. (S. 542) – Zeitblom bespricht die Musik. Mit allen der Musikbesprechung zur Verfügung stehenden Ebenen und Praktiken bespricht Zeitblom z.B. das Violinenkonzert für Rudi Schwerdtfeger im achtunddreißigsten Kapitel, das zu einem Publikumserfolg Adrian Leverkühns wird. Die literarischen Praktiken der Musikbesprechung, anders gesagt, der Musikkritik, die Zeitblom nicht üben will, macht in gewisser Weise eine Geistermusik lesbar und hörbar. Es wird hörbar, was nie gehört wurde! Thomas Mann gelingt durch eine Montage eine Musik aus Worten, was durchaus unheimlich ist. Gleichzeitig wird damit die Musikbesprechung ironisiert, weil sie von etwas spricht, was die Musik notwendiger Weise verfehlen muss. Von der Praxis der Widmung über die Tonalitäten bis zum Beethoven-Vergleich werden alle Praktiken quasi umgekehrt eingesetzt. Besprochen wird nicht, was gehört wurde, sondern was gehört werden soll:
„Es ist ein Besonderes mit dem Stück: In drei Sätzen geschrieben, führt es kein Vorzeichen, doch sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, drei Tonalitäten darin eingebaut, B-Dur, C-Dur und D-Dur, – von denen, wie der Musiker sieht, das D-Dur eine Art von Dominante zweiten Grades, das B-Dur eine Subdominante bildet, während das C-Dur die genaue Mitte hält. (…) … – eine deutliche Reminiszenz an das Rezitativ der Primgeige im letzten Satz von Beethovens a-Moll-Quartett, – nur daß auf die großartige Phrase dort etwas anderes folgt als eine melodische Festivität, in der die Parodie des Hinreißenden ganz ernst gemeinte und darum irgendwie beschämend wirkende Leidenschaft wird.“ (S. 543-544)

Der Schriftsteller Enrique Villa-Matas hat sich in einer Einführung zu seiner Installation mit Briefen und Manuskripten von Thomas Mann und Theodor W. Adorno mit der Frage des Plagiats in der Literatur beschäftigt. Dabei ist zu bedenken, dass die Praxis der Montage in der Musik wie der Literatur immer schon den Verdacht des Plagiats weckt. Wem gehört welcher Gedanke? Wo setzt beim Zitat und der Montage die Eigenleistung ein? Beethoven hat beispielsweise in seinen Kompositionen Passagen über Genre hinaus neu montiert. Der „modernen“ künstlerischen Praxis der Montage ist immer schon das Problem des Plagiats eingeschrieben. Das gilt für die Musik immer wieder wie für die Literatur. Arnold Schönberg sah vor allem im Kapitel XXII des Doktor Faustus ein Plagiat seiner Theorie der Zwölftontechnik. Doch er verstarb, bevor sein Vorwurf weiter diskutiert werden konnte. Villa-Matas sieht da Problem indessen im Autorphantasma bei Thomas Mann.
„Manchmal denke ich über diese alte Geschichte nach, diese Kontroverse über das zulässige aber zumindest bedenkliche Plagiat, und dann glaube ich zu bemerken, dass Thomas Mann selbst, obwohl er vorhatte, in seinem Roman den Moment aufzuspüren, in dem der Bruch zwischen Kunst und Schönheit aufkeimte (oder besser das Ender der ganz großen Kunst mit dem Einbrechen des populären Geschmacks oder auch, was allerdings das Gleiche wäre, das Ende einer Welt, die zu Gott und nicht zum Menschen schaut), durch die schmerzliche Kampfperiode mit seinem kalifornischen Nachbarn Schönberg in perfekter Weise das Ende jener allmächtigen Romanschriftsteller veranschaulicht – und zwar im wirklichen Leben, was das Erstaunlichste daran ist –, die in einer schon vergangenen Zeit glaubten, dass ihnen alles gehörte, wie Gott, sogar die von ihren Dienern zusammengefassten Partituren des Nachbarn.“[17]

Der „allmächtige Romanschriftsteller“, der über Musik schreibt, als komponiere er seinen Roman nach musikalischen Praktiken, scheitert in dem Maße wie die Montage selbst zum „Roman eines Romans“ wird. Mit dem „Roman eines Romans“ überschreibt Thomas Mann die Montage zum autobiographischen Roman. Zeitblom indessen reflektiert bereits in der Eröffnungssequenz des ersten Kapitels seine Erzählung als „Symphonie“, deren „Thema (Adrian nicht, T.F.) vorzeitig auftreten – hätte es höchstens auf eine fein versteckte und kaum schon greifbare Art von ferne sich anmelden lassen“.[18] Der Musikwissenschaftler Hermann Danuser nennt die „Erzählte Musik“ in Doktor Faustus eine „fiktive musikalische Poetik“, die hinsichtlich Beethovens an eine „Literarisierung des Komponierens im 19. Jahrhundert“ anknüpft.[19] Er kritisiert damit auch Manns Musikwissen, das dieser im „Roman eines Romans“ z.B. wie bei Anton Schindlers Beethoven-Biographie als Erzählmaterial nutzt.
„Beethoven – im Roman als vereinsamter Kranker gezeichnet, dessen Hang zu exzessiver „Grübelei und Spekulation“ einen Vorschein Leverkühns bildet – wird als Kronzeuge dafür beschworen, daß musikalische Komposition im Akt der Genese auf der ihr scheinbar fremden Ebene des Wortes angesiedelt sein kann. Ein verbal geleiteter musikalischer Schaffensprozeß erlaubt es, zwischen dem Gegenstand – der Musikpoetik – und seiner Fiktion – dem Prosatext des Romans – eine Kompatibilität herzustellen, die ein Gefühl des quid pro quo, davon also, daß die fiktive Poetik ihren eigentlichen Gegenstand verfehlte, gar nicht erst aufkommen läßt. Musikhistorisch wird damit eine Linie zur Ideenkomposition, Programmmusik, Weltanschauungsmusik, einer Literarisierung des Komponierens im 19. Jahrhundert seit Beethoven gezogen“.[20]

Dafür dass Beethoven einer der bekanntesten, wohl auch häufig gespielten und äußerst umtriebigen Komponisten seiner Zeit in Wien war, wo er ein wie auch immer funktionierendes Netzwerk aus Auftraggeber*innen und Adressat*innen mit Widmungen unterhielt – die Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111 ist Erzherzog Rudolph von Österreich gewidmet -, wird ihm eine merkwürdige Vereinsamung zugeschrieben. Die Erzählweisen widersprechen einander von Anfang an. Hört man die 32 Sonaten in der Interpretation von Igor Levit, kann die „Grübelei“ zum Ausprobieren neuer Formen, zu einer Lust am Experiment werden. Verrät „Dim-dada“ diese Lust nicht auf etwas unschöne Weise? Es kommt auf die Intensität an. Igor Levit spielte den zweiten Satz der Sonate Nr. 30 E-Dur am 20. September nicht „Prestissimo“. Natürlich könnte er „Prestissimo“ noch schneller spielen. Wie sehr muss sich ein Klaviervirtuose einer Tempoangabe des Komponisten unterwerfen? Alle 32 Sonaten von „Ludwig van“, wie er im Tweet auftaucht, mit Igor Levit gehört haben zu dürfen, ist ein Geschenk fürs Leben.

Torsten Flüh   

Musikfest Berlin on Demand


[1] Vgl. Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[2] U.a. Ulrich Grothus: Sixty Years of Thoma Mann’s Doktor Faustus. In: Logos. A journal of modern society & culture, 7,1 winter 2008.

[3] Siehe: Werner Röcke: Thomas Mann Doktor Faustus 1947-1997. Bern: Peter Lang, 2001.

[4] dOCUMENTA (13): 100 Notes – 100 Thoughts No050: Enrique Vila-Matas: Thomas Mann & Theodor W. Adorno: An Exchange / Ein Autausch. Ostfilden: Hatje Cantz, 2012.

[5] Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1981 (zuerst 1949) S. 721.

[6] Siehe die Fotos vom 30. September 2020 mit Details des Denkmals von Siemering in dieser Besprechung.

[7] Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von seinem Freunde. [wie Anm, 5] S. 71.

[8] Ebenda S. 74.

[ix] Siehe zur Figur des Prometheus auch Torsten Flüh: Große Mythen anders und witzig durchtanzt. Zu Nick Powers Between Tiny Ciities und Euripides Laskaridis’/Osmosis‘ Titans bei Tanz im August. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 27, 2018 20:56.

[10] Thomas Mann: Die … [wie Anm. 5] S. 713.

[11] Vgl. zu Anton Schindlers Beethoven-Biographie: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[12] Ebenda.

[13] Ulrich Grothus: Sixty … [wie Anm. 2].

[14] Thomas Mann: Die … [wie Anm. 5] S. 712.

[15] Thomas Mann: Doktor … [wie Anm. 7] S. 75.

[16] Ebenda S. 75-76.

[17] Enrique Villa-Matas: Thomas … [wie Anm. 4] S. 9.

[18] Thomas Mann: Doktor … [wie Anm. 7] S. 11.

[19] Hermann Danuser: Erzählte Musik. Fiktive musikalische Poetik in Thomas Manns „Doktor Faustus“. In: Werner Röcke: Thomas … [wie Anm. 3] S. 299.

[20] Ebenda.