Davoser Sonnenumläufe

Geschichte – Davos – Ordnung

Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020

Wie die Kombucha-Brauerei Bouche in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat.

Das Jahr 2020 verlangt einen Rückblick, Review oder eine Revue. Wir sollten es uns Revue passieren lassen, was immer noch besser ist als ein Jahresrückblick. So fuhr der Berichterstatter am Freitag, den 11. Dezember, ein Nachmittag nasskalt, Grau in Grau die trostlose Landsberger Allee mit dem Rennrad hinauf, bis der Radweg kurz vor Marzahn auf der Autobahn endet. Autobahn geht selbst mit einem Rennrad nicht, so dass er unversehens im Kreisverkehr am Haupttor zum Knorr-Bremse-Werk stoppen musste. Er hätte Google-Maps nach einem korrekten Ausweg suchen lassen können. Stattdessen erregte die Infotafel zu Georg Knorr, ein Name, den er noch nie gehört und schon gar nicht in Marzahn erwartet hätte, seine Aufmerksamkeit. Plötzlich wird an diesem grauen, nasskalten Spätherbsttag – Hände durch den Fahrtwind fast gefroren, die Zehen in den Rennradschuhen vor Eiseskälte taub – mit dem Namen Georg Knorr Davos gegenwärtig.

Ziemlich genau einhundertachtundsechzig Stunden später steht der Berichterstatter im Haus 10 des Knorr-Bremse-Werks in der Kombucha-Brauerei Bouche und spricht mit Felix Rank, einst Student des Kommunikationsdesigns, über den gesunden EARLYBIRD. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Georg Knorr war in Berlin reich geworden, sehr reich und starb am 15. April 1911 in Davos sehr gepflegt an den Folgen einer pandemischen Tuberkuloseinfektion. Vorvorgestern oder so erhielt ich von zwei frohgelaunten Freund*innen zwei Pics von den Pisten Davos-Klosters‘. Trifft sich jetzt alle Welt in Davos? Gerade in diesem Jahr? Davos ist seit der Tuberkulose um 1900 nicht nur gesund, sondern irgendwie auf besondere Weise pandemiefähig. Mondäne Tuberkulose-Sanatorien wie das Schatzalp in Thomas Manns Roman Der Zauberberg wurden seit den 50er Jahren in Berg- oder Waldhotels verwandelt. Nun ist im Schatzalp alles „CLEAN & SAFE“. – Venedig? Venedig war in diesem Jahr im März einer der ersten Orte der Pandemie in Europa. Karneval und Sars-Cov-2.

In Davos hat man gut 9 Monate später schon viel gelernt. – Diese Revue verlangt nach Ordnung. Aber erst einmal ist all das, was einem passiert unordentlich. Oder wie Thomas Mann im Roman Der Zauberberg in der Eröffnungssequenz schreibt „Geschichte“. Kein Wort von der Pandemie in Davos, aber „Geschichte“: „Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. … vertraut man sich wieder der Eisenbahn …“[1] Hans Castorps Vertrauen in die Eisenbahn nach Davos-Dorf ist quasi darin begründet, dass Georg Knorr 1900 die Einkammerschnellbremse in Berlin Britz konstruiert hatte. Das neuartige Bremssystem für Eisenbahnen wurde schnell für Deutschland patentiert. Knorr-Bremse wurde zum Marktführer, wie man heute sagt.

© Knorr-Bremse AG

Leider verstarb der erfolgreiche Konstrukteur mit dem Kaiser-Wilhelm-Portrait an der Wand über seinen Produkten in seinem Büro im Alter von 51 Jahren 1911 in Davos, wenn nicht gar im Luxus-Sanatorium Schatzalp des berühmten Gründers und Arztes Dr. Gustav Maurer. 1942 veröffentlichte er in den Helvetiva medica acta sein Buch Aus dem Sanatorium Schatzalp-Davos: eine kombinierte Lungenkollapsmethode zur Kavernenbehandlung. Der Kaiser hatte drei Zimmer im Sanatorium auf Nummer sicher für sich und seine Familienangehörigen dauerreservieren lassen. Doch er kam nie auf die Schatzalp, während zahlreiche internationale und transkontinentale Gäste bis zur Verbreitung der Antibiotika in den 50er Jahren zu Kuren anreisen mussten. 1912 verbrachte Katia Mann wegen einen falschen Tuberkulose-Diagnose ein halbes Jahr im Sanatorium und wurde von ihrem Mann nach etlichen Briefen im Mai und Juni vier Wochen lang besucht.

© Knorr-Bremse AG

Katia und Thomas Mann haben Georg Knorr in Davos relativ knapp um ein Jahr verpasst. Weshalb Joachim Ziemßen, den Hans Castorp besucht, im Sanatorium ist, wird nicht direkt erwähnt. Vielmehr vergleicht sich Hans zu seinem Vetter als kleiner und schmaler, er sei „ein Bild der Jugendkraft und wie für die Uniform geschaffen“.[2] Doch Joachim leidet an „Kehlkopf-Tuberkulose“ und stirbt an einer merkwürdigen „Herzschwäche“.[3] Das tuberkulöse Endstadium eines wahrscheinlich multiplen Organversagens durch „Generalisation“[4] wird von Thomas Mann literarisch transformiert. Joachim stirbt literarisch, erzählerisch gerade nicht an der Tuberkulose. Vielmehr wird die Tuberkulose aus der Lunge in den Kehlkopf verlegt, weil es eine psychologisch-historische Schwierigkeit des Sprechens nicht nur über Gefühle, sondern über die tödliche Erkrankung gibt. Die Tuberkulose wird bei Mann zur Signatur einer Epoche der Verunsicherung:
„Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsächlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er sich, wie es ihm dort oben ergehen werde.“[5]

Das „klaftertief“ Abgründige der Existenz im Hochgebirge von Davos überschneidet sich mit der Pandemie einer bakteriellen Infektionskrankheit, die zwar von Joachim selbst angedeutet, mit einer „Flasche aus blauem Glas mit Metallverschluss“[6] geradezu zelebriert, doch nicht benannt wird. Das Wissen um das Unausgesprochene, aber Angesprochene strukturiert denn auch das Geschichtswissen zwischen Lokal-, Personal- und Weltgeschichte in Thomas Manns Zauberberg. Er schreibt im Vorsatz trotz der Ankündigung einer genauen und detaillierten Geschichte bereits das Problem einer weder emotional noch narrativ fertigen Erzählung an. Nach dem Vorsatz wird sich der Erzähler selbst um der Geschichte willen vergessen müssen.
„Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält.“[7]

Das Problem des Erzählens und der Geschichte wird von Thomas Mann im Roman quasi vorsätzlich vorausgeschickt. Seit Mai 2020 schreibt „Dr William Lee, Portland/Oregon“ den Geschichtsblog auf der Homepage des Berghotels Schatzalp. Ein Foto zeigt ihn „am 21. Mai 2020 während des Covid-19 Lockdowns auf der Schatzalp mit den Davos Blättern von 1939“.[8] Sein Geschichtsblog kämpft mit 18 Anmerkungen in einer „Ausgabe“ mit dem weit verzweigten Geschichtswissen. Thomas Mann formuliert das Äußere des Sanatoriums „auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau, die Front südwestlich gewandt“ als „ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm“.[9] Die Eingangsbeschreibung des Sanatoriums lässt sich insofern als mehrdeutig lesen. Denn „löchrig und porös … wie ein Schwamm“ erinnert nicht nur an Lungengewebe, vielmehr wird das „Gebäude“ dadurch als zwar luftig, aber auch instabil beschrieben.

Eine Epidemie oder gar Pandemie stellt immer die bestehende Ordnung in Frage. Hans Castorp trifft in Davos auf eine nach den Sanatoriumsregeln organisierte Welt, die er gegen die gesellschaftliche Ordnung der Norddeutschen Tiefebene eintauscht. Heutzutage reicht die Ordnung eines ersten eidgenössischen Lockdowns im Mai zwar bis auf die Schatzalp, aber im Dezember sind die Pisten bei weitaus höheren Infektions- und Sterbezahlen in der Schweiz weiterhin geöffnet. Frei nach der innovativen Sanatorium-Eröffnung, der Davos seine Weltbekanntheit verdankt, deutet sich eine Art Normalisierung der Covid-19-Pandemie an. Der letzte, mit 18 Fußnoten äußerst umfangreiche Blogeintrag im Geschichtsblog stammt vom 18. Dezember über einen Brief von Großfürst Dmitri Pawlowitsch Romanow vom 23. September 1939 auf dem Papier des Sanatoriums Schatzalp. William Lee widmet sich in seinem Blog nicht so sehr einer allgemeinen Geschichte der Schatzalp als vielmehr der von Dmitri Romanow, der durch den Ausbruch des 2. Weltkriegs aus Paris ins Hochgebirge wegen einer Tuberkuloseerkrankung flüchtet, sich erholt und doch 1942 auf ungeklärte, mysteriöse Weise dort verstirbt.[10]

Ernest B. Gilman hat das Sanatorium 2014 in seiner Studie Yiddish Poetry and the Tuberculosis Sanatorium: 1900-1970 als besondere Verknüpfung von Lyrik und Heilanstalt untersucht. „Gilman sheds light on how essential writing and literature were to the sanatorium experience. All three poets wrote under the shadow of death.“[11] In Davos spitzte sich das Verhältnis von Tuberkulose-Sanatorium, Kultur, Wirtschaft und Politik noch einmal auf besondere Weise zu. Georg Knorr wurde von Davos in das Familienbegräbnis auf dem evangelischen Friedhof „Zur frohen Botschaft“ in Berlin-Lichtenberg überführt und bestattet. 2016 wurde auf Betreiben des Vorstands der Knorr-Bremse AG eine „Ehrengedenkplatte“ enthüllt.[12] Während des 2. Weltkrieges entwarf Albert Sperr die neuen Werkgebäude in Marzahn für die Firma Hasse & Wrede, die seit 1921 zum Knorr-Bremse Konzern gehört. Von Georg Knorr wissen wir wenig. Bei der Enthüllung der Ehrengedenkplatte soll ein Enkel anwesend gewesen sein. Erhard Born schrieb für die Neue Deutsche Biographie 1980 einen Artikel über die Entwicklung der bahnbrechenden Knorr-Bremsen als Georg Knorrs Lebensleistung der Tuberkulose-Tod wird nicht erwähnt.[13]    

Als Thomas Mann 1913 an dem Text über die Welt von Davos zu schreiben beginnt, weiß er selbst nur wenig über die Geschichte, die er 1924 geschrieben haben wird. Denn es kam viel Geschichte, Ereignisse oder gar eine Epochenwende dazwischen. Mehrfach ist in der Thomas-Mann-Forschung darauf hingewiesen worden, dass er mit dem Text eine „Art von humoristischem Gegenstück“ zu seiner Novelle Tod in Venedig, hatte schreiben wollen.[14] Weniger beachtet wurde dabei, dass Tod in Venedig vor dem Hintergrund einer Cholera-Epidemie spielt. Hätte die Erzählung von der Tuberkulose „humoristisch()“ im Unterschied zur tödlichen von der Cholera verlaufen sollen? Oder war das Humoristische in der Fehldiagnose einer Tuberkulose bei Katia Mann angelegt? Zweifelsohne sind die Erzählweisen der Epidemien verschieden angelegt, wie es sich bereits mit Joachims „Flasche aus blauem Glas“ im Roman ankündigt. In der Novelle wird Gustav von Aschenbachs „Denkweise“ über die moralisch wie hygienisch „unsauberen Vorgänge() im Innern Venedigs“ mit der Infektionskrankheit verknüpft. Im fünften und letzten Kapitel steigt die „Seuche“ zunächst gerüchteweise herauf:
„Versessen darauf, Neues und Sicheres über Stand oder Fortschritt des Übels zu erfahren, durchstöberte er in den Kaffeehäusern der Stadt die heimatlichen Blätter, das sie vom Lesetisch der Hotelhalle seit mehreren Tagen verschwunden waren. Behauptungen und Widerrufe wechselten darin. Die Zahl der Erkrankungs-, der Todesfälle sollte sich auf zwanzig, auf vierzig, ja hundert und mehr belaufen, und gleich darauf wurde jedes Auftreten der Seuche wenn nicht rundweg in Abrede gestellt, so doch auf völlig vereinzelte, von außen eingeschleppte Fälle zurückgeführt. Warnende Bedenken, Proteste gegen das gefährliche Spiel der welschen Behörden waren eingestreut.“

Der fiebrige Choleratod wird schließlich zur ultimativen erotischen Begegnung mit dem begehrten Knaben Tadzio. Denkweise und Seuche verschmelzen im Tod in Venedig zu einem Narrativ vom homoerotischen Begehren. Erst unter den Bedingungen der Cholera wird der Abschied zur imaginierten Ankunft und Erwiderung des Begehrens. Die Cholera in der Schlusssequenz war immer auch ein Problem für das Begehrensnarrativ. Dennoch wird sie zur Bedingung der intimen Begegnung auf Distanz:
„Der Schauende dort saß wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so dass seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu folgen.“

Nun hatte der Berichterstatter vor allem von der Kombucha-Brauerei Bouche und der Gesundheit schreiben wollen. In Davos gibt es zumindest kein Kombucha von Bouche. Das ist Berlin. Das Künstlerkollektiv Yannic Pöpperling, Felix Rank und Walker Brengel haben sich Anfang 2020 mit ihrer Brauerei selbständig gemacht. Und dann kam der Lockdown besonders hart im Gastronomie-Sektor. Im Oktober hatte der Berichterstatter den Kombucha vom Fass im neuen Restaurant Remi an der Torstraße im Suhrkamp-Verlagshaus auf der Karte entdeckt und probiert. Dann war wieder der Lockdown da und für ein Sonntagsessen brauchte er unbedingt den Kombucha. So fand der Berichterstatter The Bouche. Die Covid-19-Pandemie hat den jungen Unternehmern den Geschäftsstart gründlich verhagelt, um es einmal so zu formulieren. Den wundervoll erfrischenden und moussierenden Kombucha in den drei Aromarichtungen EARLYBIRD, LEMONDROP und MELONBUZZ kann man sich allerdings bundesweit liefern lassen. Die Pfandflaschen werden derzeit von Lidl angenommen. Für ein innovatives Startup lohnt sich natürlich noch keine Pfandflasche, wie sie Ignaz Nacher für die Berliner Engelhardt Brauerei um 1910 erfand.[15] 1929 ließ er den Flaschenwaschturm in Stralau bauen.[16] – Doch das ist dann wieder eine andere Geschichte.

Torsten Flüh

Bouche
Kombucha
Georg-Knorr-Straße 4
12681 Berlin


[1] Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1991 (zuerst 1924), S. 10.

[2] Ebenda S. 13.

[3] Eva Dorothea Becker: Thomas Mann Figurenlexikon: Ziemßen, Joachim. In: Literaturlexikon online. Zuerst veröffentlicht 2006. – Überarbeitete Version 2011.

[4] Siehe: Klinische Symptomatik. In: Robert-Koch-Institut: Tuberkulose. Berlin, 21.02.2013.

[5] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 1] S. 10-11.

[6] Ebenda S. 14.

[7] Ebenda S. 8.

[8] Schatzalp: Geschichtsblog.

[9] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 1] S. 14-15.

[10] Schatzalp: Geschichtsblog: Das Imperiale Russland in den Alpen. 28. Mai 2020.

[11] Ernest B. Gilman: Yiddish Poetry and the Tuberculosis Sanatorium: 1900-1970. New York: Syracuse University Press, 2014.

[12] Knorr-Bremse: Ehrengrabstätte für Firmengründer Georg Knorr in Berlin. München 28.11.2016.

[13] Erhard Born: Knorr, Georg. In: Neue Deutsche Biographie. Bd.: 12, Kleinhans – Kreling, [Schriftleitung Hauptschriftl. Fritz Wagner … Genealog. Beratung Friedrich Wilhelm Euler], Berlin, 1980. (Digitalisat)

[14] Alexander Cammann: Über Der Zauberberg. In: Thomas Mann: Der Zauberberg. Hamburg: Zeitverlag, 2018, S. 892.

[15] Siehe: Johannes Ludwig: Die Erfindung der Pfandflasche. In: ans Tageslicht 26.11.2019.

[16] Wikipedia: Flaschenturm.

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