Musik als Geschenk im Advent

Grundgesetz – Musik – Gottesdienst

Musik als Geschenk im Advent

Anne-Sophie Mutter gestaltete mit ihrem Quartett die Domvesper musikalisch im Berliner Dom zugunsten des Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung

Am Samstag vor dem 3. Advent gestaltete Anne-Sophie Mutter mit ihrem Streichquartett nach dem Orgelvorspiel von Domorganist Andreas Sieling den musikalischen Teil der Domvesper. Etwa 2.000 Menschen hatten sich laut Domprediger Michael Kösling am Freitag zuvor per extra eingerichteter E-Mail um Sitzplätze bemüht. Das Kontingent der Plätze nach den geltenden Abstandsregeln mit ausgelegten Karten für 1, 2 oder 3 Personen war nach Freischaltung schnell erschöpft. Anne-Sophie Mutter, Violine I, Wei Lu, Violine II, Hwayoon Lee, Viola, und Lionel Martin, Violoncello, baten mit ihrem hochklassigen Spiel bei der Kollekte am Ausgang um Spenden für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung. Vorgeführt wurde mit vier Stücken während des Gottesdienstes die hohe Kunst des Zusammenspiels.

Weltweit können Orchestermusiker*innen keine oder nur eingeschränkt Konzerte geben. Häufig haben auch in Deutschland viele Orchestermusiker*innen oder Sänger*innen keine feste Anstellung. Die Kunst des Zusammenspiels und des klangvollen, oft kräftigen Ausatmens kam bereits mit dem „Lockdown light“ ab 1. November zum Erliegen. November und Dezember gehören zu den besonders intensiven Konzertmonaten der Saison. Dieses Jahr darf nicht einmal der Weltstar Anne-Sophie Mutter mit Orchestern vor Publikum auftreten. Im Fernsehprogramm vermischt sich die Realität der Aufzeichnung mit einem vermeintlichen live. Kirchen, Synagogen und Moscheen sind derzeit die einzigen Orte, wo Musik live gehört werden kann. Warum ist das so? Ist Kultur Lebensmittel? Ist Deutschland eine Kulturnation? Für die Deutsche Welle fragt Anne-Sophie Mutter: „Sind wir nun eine Kulturnation, oder sind wir es nicht?“[1]

Gottesdienste dürfen weiterhin stattfinden Konzerte, Theater, „Kultur“ nicht. Woran liegt das? – Es liegt einzig und allein an der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, mit seinem Artikel 4, in dem die Glaubensfreiheit als Grundrecht geschützt wird und der Entscheidung der 2. Kammer im 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2020, die einem muslimischen Glaubensverein die Religionsausübung unter Einhaltung der Regeln erlaubte. Noch 2019 wurde das Jubiläum 70 Jahre Grundgesetz mit Sondereditionen von der Bundesregierung gefeiert. Doch Ende März für den ersten Lockdown zu Ostern wurden die Grundrechte durch Länderverordnungen so sehr eingeschränkt, dass auch die „Religionsausübung“, die nach Artikel 4, Absatz 2 „ungestört … gewährleistet wird“, nicht mehr möglich war.[2] Keine Gottesdienste in Kirchen und Freikirchen zu Ostern. Lediglich einzelne kürzere Andachten auf Distanz z.B. vor der Berliner Auferstehungskirche in der Friedensstraße waren möglich.

Am 10. April hatte das Bundesverfassungsgericht noch den Antrag eines „Antragstellers … katholischen Glaubens“ auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus der hessischen Landesregierung vom 17. März 2020 abgelehnt, der es ihm erlauben sollte, an der Heiligen Messe teilzunehmen.[3] Die juristische Argumentation des Antrags war nicht ausreichend. 19 Tage später entschied die gleiche Kammer, dass ein generelles „Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen und Synagogen (…) zur Religionsausübung“ in der Niedersächsischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus nicht zulässig ist.[4] Die zweite Entscheidung wurde maßgeblich für den weiteren Verlauf der Religionsausübung aller Religionen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland während der Pandemie. Die demokratische Konstruktion von einer die Legislative – Bundesregierung – kontrollierenden und korrigierenden Judikative – Bundesverfassungsgericht – hatte, wie vorgesehen, funktioniert. Deshalb u.a. versuchen nun die Bundesregierung und alle Landesregierungen gar nicht erst, die Kirchen zu Weihnachten zu schließen, obwohl das Bundesverfassungsgericht die gegenwärtige epidemische Lage anders einschätzen könnte.      

Anne-Sophie Mutter hat ausdrücklich kein Konzert gegeben, vielmehr hat sie die Domvesper musikalisch mitgestaltet, so wie sie es bereits mit wechselndem Ensemble in Leipzig, Hamburg, München oder Stuttgart in Gottesdiensten zugunsten des Nothilfefonds getan hat und vermutlich weiter tun wird. Das ist richtig und gut so und eine große Ehre für die betreffenden Kirchengemeinden, was auch Domprediger Kösling zum Ausdruck bracte. Sie respektiert die geltenden Regeln und beschenkt die Gemeinden mit herausragender Musik als einem Kulturgenuss. Zwar gibt es in Deutschland viele exzellente Organist*innen, die um die Bedeutung der musikalischen Gestaltung eines Gottesdienstes in diesen Zeiten wissen, aber am Berliner Dom kommt mit Andreas Sieling hinzu, dass er sein Instrument auf orchestrale Weise zum Klingen bringt. Mit Xaver Schult verfügt der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte über einen weiteren hochkarätigen, jungen Organisten an der ältesten erhaltenen Kirche in Berlin, St. Marien.

Doch wie steht es um die Kultur in Zeiten der Pandemie? Die Respektierung der Verfassung, unseres Grundgesetzes, steht für die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung während dieser schwersten Krise seit dem Ende des 2. Weltkriegs in Deutschland als Gebot ausgesprochen oder nicht an oberster Stelle. Die Covid-19-Pandemie hat weltweit die Kraft und Dynamik, Regierungen und Systeme nicht nur in Frage zu stellen, sondern durch politische Gegenspieler wie die AfD hinwegzufegen. Das Grundrecht auf Religionsausübung darf selbst dann nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, wenn die Evangelische und Katholische Kirche in Deutschland auf eine weitgehend säkularisierte Gesellschaft treffen. Ein Grundrecht auf Kultur und Musik gibt es (leider), schon deshalb nicht, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes, keinen Kulturbegriff formulieren konnten, den sie als Grundrecht hätten schützen können außer die Religionen.

Für das Orgelvorspiel hatte Andreas Sieling das Rorate caeli der französischen Komponistin Jeanne Demessieux ausgewählt. Es gehört zu den frühen Kompositionen der Pianistin, Organistin und Komponistin von 1947. Demessieux wurde 1921 in Montpellier geboren und erregte schon als Kind die Aufmerksamkeit zeitgenössischer Komponisten. 1936 traf sie den Organisten und Komponisten Marcel Dupré in seinem Haus in Meudon, wo er die Salonorgel seines Lehrers spielte. 1939 wurde Demessieux seine Schülerin am Pariser Konservatorium. Das Rorate caeli desuper wird als Antiphon der Adventszeit besonders in katholischen Kirchen gespielt und gesungen. Denn der Text wurde von dem Schriftpropheten Jesaja im Alten Testament ins Buch der Richter aufgenommen. Insofern handelt es sich um einen ebenso poetischen wie prophetischen Text des Tanach im Judentum. Jesaja 45, 8 wird in den christlichen Kirchen als Ankündigung der Geburt von Jesus Christus gelesen.
Rorate caeli desuper,              Tauet Himmel, von oben,
et nubes pluant iustum:          ihr Wolken, regnet den Gerechten:
aperiatur terra,                       Es öffne sich die Erde
et germinet Salvatorem.          und sprosse den Heiland hervor.

Das Streichquartett in Es-Dur opus 20, Nr. 1 von Joseph Haydn aus dem Jahr 1772 wird relativ selten in Konzerten gespielt, obwohl es mit den Sätzen Allegro moderato – Menuetto (Allegretto) – Affectuoso e sostenuto – Presto zu den einfallsreichsten gehört. Joseph Haydn gehört zu jenen Komponisten an der Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft, die ihr Komponieren im 18. Jahrhundert noch ganz als Geschenk Gottes verstehen. Formelhaft setzt er den Streichquartetten Opus 20 die Eingangsformulierung „In Nomine Domini“, im Namen des Herren voran und beendet sie mit dem Dank an den „allmächtigen Gott“ und die „allerseligste Jungfrau Maria“, obwohl die Streichquartette nicht für die Kirche, wohl für die häuslichen und höfisch konzertanten Gebrauch komponiert wurden.[5] Das Regelwerk der Streichquartette mit ihren Kombinationen und Variationen wird als Gabe Gottes empfunden und gerahmt. Vor allem deutet Anne-Sophie Mutter mit dieser Wahl an, dass sie mit ihrem Ensemble Wiederzuentdeckendes zu bieten hat.

Der Fragment gebliebene Quartettsatz c-Moll von Franz Schubert wird häufiger in Konzerten gespielt und bricht nach ca. 9 Minuten ab. Der Berichterstatter hörte ihn zum ersten Mal und war sofort von dem Stück wie seiner Aufführung durch Anne-Sophie Mutter, Wei Lu, Hwayoon Lee und Lionel Martin hingerissen. Franz Schubert, der mit seinem Vater und seinen älteren Brüdern im Streichquartett die Viola spielte, probiert 1820 in diesem Satz im Allegro assai offenbar einen neuartigen Kompositionsansatz aus, um ihn dann nach dem 41. Takt des zweiten Satzes abzurechen.[6] Ein musikalischer Gedanke wird nicht weitergeführt und bis zu Schuberts frühen Tod 1828 nicht wieder aufgenommen. Im Unterschied zu Joseph Haydns Gottvertrauen fast 50 Jahre früher zeigt sich hier das Geschenk gerade darin, dass es nicht abgeschlossen ist. Doch Schuberts Quartettsatz vermag gerade deshalb, umso mehr zu faszinieren.

Nach dem Vaterunser und dem Segen spielte Anne-Sophie mit ihren hochkarätigen Mitspieler*innen den 2. Satz aus der Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur, das „Air“, von Johann Sebastian Bach. Und bei ihm ist dann wieder das Gottvertrauen da, wenn auch nicht unerschütterlich wie Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern für die Johannes-Passion 2014 herausgearbeitet hat.[7] Haydns und Bachs Gottvertrauen in der Musik sind nicht zuletzt in der geradezu mathematischen Regelhaftigkeit ihres Komponierens begründet. Gott materialisiert sich seit dem 17. Jahrhundert in der Berechenbarkeit der Welten z.B. im streng geometrischen Barockgarten. Der Wuchs der Bäume und Hecken wird als göttliches Prinzip in das Repertoire der Geometrie überführt. Das Jahresgerüst der Kirchenkalender und der Kirchenmusiken bietet Halt in einem zwischen 1665 und 1714 von der Pest mehrfach heimgesuchten Europa. Pest, Pocken und Cholera suchten bis Ende des 19. Jahrhunderts die Menschen ohne Aussicht auf einen Impfstoff mehrfach heim. Die Regelhaftigkeit spiegelt nicht etwa eine gesicherte Lebenswelt wider, vielmehr ist sie der Versuch, das Unvorhersehbare der Seuchen, Kriege und tödlichen Krankheiten mit Regeln einzuhegen.

Musik, vor allem live gespielte Musik, schafft einen Raum der Teilnahme. Das Hören im Gottesdienst ist noch einmal anders als Konzertsaal nicht nur passiv, vielmehr geht es darum, es gemeinsam zu gestalten. Für die Dauer der Versammlung entsteht ein „Gemeinschaftserlebnis“, wie es Anne-Sophie Mutter nennt. Der Begriff der Musik lässt sich schwer eingrenzen. Denn es sind nicht nur die Noten oder die Töne, vielmehr eine Art Gemeinschaftsproduktion, wenn es gelingt. Musik lässt sich als eine zutiefst soziale Tätigkeit formulieren. Oder, wie die Geigerin es in ihrem Spendenaufruf formuliert:
„Musik ist ein Refugium, eine Quelle der Kraft, des Trostes sowie leuchtender Hoffnung und tiefer Gemeinschaftserlebnisse. Bitte unterstützen Sie diejenigen, die Ihnen dieses Geschenk machen und wegen Corona in Existenznot geraten sind. Helfen auch Sie bitte mit, dass die Deutsche Orchesterstiftung Nothilfe leisten kann.“[8]

Die Schirmherrschaft für die Spendenkampagne des Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung haben Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Kirill Petrenko übernommen.[9] Mit dem Datum vom 15. Dezember 2020 hat der Spendenstand über 3 Mio. € erreicht, so dass für jeden bewilligten Antrag 600 € ausgezahlt werden konnten. Bei der Deutschen Orchester-Stiftung sind zum Teil erschütternde Danksagungen eingegangen: „Die Situation ist … nicht einfach, und als ich meinen Kontoauszug in den Händen hielt … habe ich mitten in der Bank geweint.“[10] Neben Anne-Sophie Mutter unterstützen Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart, das Konzerthaus Dortmund und der Pierre Boulez Saal die Spendenkampagne als Partner.[11] Epidemien und ihre Folgen haben wir im Geschichtsunterricht nicht behandelt und gelernt. Allenfalls kam Albert Camus‘ Pest als Lesestoff im Deutschunterricht vor.[12] Und Thomas Manns Zauberberg haben wir nie als Pandemie-Roman gelesen. Der Berliner Dom wurde 1894 bis 1905 mit neobarocker Handschrift von Julius Raschdorff erbaut, als ließe sich Welt mit Regeln beherrschen.

Torsten Flüh

Spenden Sie für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung:
Deutsche Orchester-Stiftung
IBAN: DE35 1004 0000 0114 1514 05
BIC: COBADEFFXXX
Kennwort: Nothilfefonds
Betreff: Berliner Dom     


[1] Rick Fulker: Anne-Sophie Mutter: „Sind wir nun eine Kulturnation, oder sind wir es nicht?“ In: DW 14.12.2020.

[2] Siehe Artikel 4 Grundgesetz Deutscher Bundestag.

[3] Bundesverfassungsgericht: Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, Rn. 1-16.

[4] Bundesverfassungsgericht: Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 – 1 BvQ 44/20 -, Rn. 1-19.

[5] Villa Musica: Kammermusikführer: Joseph Haydn: Streichquartett C-Dur, op. 20, 2.

[6] Ebenda: Franz Schubert: Quartettsatz c-Moll, D 703 op. post.

[7] Siehe Torsten Flüh: Herzenssache. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion der Berliner Philharmoniker auf DVD und Blu-Ray. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 10, 2014 20:32.  

[8] Zitiert nach Programmzettel für das Domvesper zum 3. Advent im Berliner Dom.

[9] Deutsche Orchesterstiftung: Nothilfefonds.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

[12] Vgl. zu Albert Camus: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. April 2020.

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