Grenze – Immersion – Spiegel
Leben durch Entgrenzungspraktiken
Ein Rückblick auf die Retrospektive zu Yayoi Kusama im Gropius-Bau und als Digitaler Guide
Die vielfältige Kunst von Yayoi Kusama lässt sich mit immer wieder neuen und anderen Entgrenzungspraktiken formulieren. In ihrer Malerei spielt die Entgrenzung seit der ersten Ausstellung 1952 in ihrer ländlichen Heimatstadt Matsumoto eine strukturierende Rolle. Sie könnte bereits in der Zeichenkombination 弥生, Yayoi, angelegt sein. Denn der nach westlicher Schreibweise vorangestellte Vor- oder Beiname klingt für Japaner*innen oder den dem Japanischen kundigen Semiotiker Götz Wienold nicht nach einem persönlichen Namen. Vielmehr hört er darin sogleich 弥生時代, Yayoi jidai, das Yayoi Zeitalter, das zu Beginn des europäischen Neolithikums anbricht, die Bronzezeit und den Beginn der Eisenzeit überdauert. Es wird vom 10. bis ins 6. Jahrhundert vor Christus angesetzt.[1] Das erste Zeichen von 弥生 wird mit neu übersetzt, das zweite mit Leben.[2]
Die Überschneidung des weiblichen Vornamens mit einer Epoche der japanischen Frühgeschichte lässt beim Hören und Lesen das Subjekt des Wissen zwischen Name und Menschenzeitalter schwanken. Gleichzeitig wird mit dem „neuen Leben“ eine Zäsur angeschrieben. Historisch gesehen beginnt mit Yayoi ein intensiver Reisackerbau und die Sesshaftigkeit der vormals nomadischen Kulturen. Das „neue Leben“ ist aus japanischer Perspektive ein Wendepunkt der Humangeschichte. Der Name als Versprechen könnte Yayoi Kusama zu all jenen Praktiken ermuntert haben, die das Leben beispielsweise in biomorphen Formen in Malerei und Skulptur, aber ebenso in Stoffpenissen, Spiegelkabinetten und Happenings der späten 60er Jahre in New York feierte. Nicht zuletzt revolutionierte sie die Kunst wie die Lebensformen auf neuartige Weise, wie sie selbst einmal formulierte: „I wanted to start a revolution“.[3]
Die Retrospektive im Gropius Bau eröffnete mit einer neuen, raumfüllenden Skulptur, die das Biomorphe feiert. Magentafarbene Tentakel füllen den zentralen Lichthof des Gropius Baus aus und reichen bis in den ersten Stock. Ihre Form wird durch ein hörbares Gebläse erhalten. Die Haut der Tentakel könnte aus Fallschirmseide oder einem ähnlichen Material angefertigt worden sein. Das Magenta ist von schwarzen Punkten übersät. Yayoi Kusama nennt die raumgreifende Installation „A Bouquet of Love I Saw in the Universe”. Leben die Tentakel, die aus dem ebenfalls magentafarbenem, gepunkteten Museumsboden herausragen? Was wollen sie ertasten? Sie bohren sich in den Raum. Sie penetrieren ihn. Die eigens für den Gropius Bau geschaffene Installation konnte von den Besucher*innen durchwandert werden.
Auf der Webseite zur Ausstellung kann der Lichthof mit seiner Installation als 3D-Raum und Virtual Reality erforscht werden. Mit Oculus Quest lässt sich der Raum als Virtual Reality erleben. Die ganze Ausstellung steht auf der Website als Virtual Reality wohl nicht zuletzt wegen der Covid-19-Pandemie und dem anhaltenden Lockdown im ersten Halbjahr 2021 zur Verfügung. Am 22. April 2021 fand die Eröffnung im Livestream als Digital Opening statt. Diese Verknüpfung der Ausstellung mit den neuartigen Technologien der Künstlichen Intelligenz und Virtual Reality, wie sie schon im Juni 2018 mit Cyprien Gaillards 3-D-Film oder Nonny de la Peñas After Solitary in der Ausstellung Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren am gleichen Ort zum Zuge kamen[4], gehört zur Aktualität Yayoi Kusamas. Ihre neue Installation mit dem Versprechen, das Universum zu sehen, knüpft an ihre früheren immersiven Räume an und generiert als Virtual Reality ähnliche Effekte.
Wie wird die Unendlichkeit visuell erzeugt? Virtual Reality kann ebenso durch geschlossene Räume wie die Gefängniszelle von Nonny de la Peña wie endlose und unendliche Räume durch Künstliche Intelligenz generieren. Der auf gleiche Art wie die Tentakel ausgelegte Museumsboden bietet in der Lichthof-Installation visuell keinen Boden. Allerdings lässt er sich begehen und täuscht so darüber hinweg, dass die Installation visuell endlos ist. Der Modus der durch Spiegel erzeugten Wiederholung lässt einen unendlichen Raum entstehen, wie es Thomas Oberender in seinem Grußwort formuliert.:
„Spiegel lassen virtuelle, scheinbar unendliche Räume entstehen, sie sind eine Reise in den Kosmos, galaktische Bilder eines uns umgebenden Sternenmeers. Ich freue mich daher besonders, in Kusamas Einzelausstellung im Gropius Bau in einen neuen Infinity Mirror Room einzutauchen.“[5]
Die Immersion wird weniger als eine körperliche als vielmehr eine Praxis des Eintauchens insbesondere durch visuelle und taktile Wahrnehmungen geübt. Das Eintauchen wird schon seit dem 17. Jahrhundert nicht nur als Praxis der Veränderung gebraucht wie etwa von Adelung als „(d)as Tuch eintauchen, in die Farbe“[6], vielmehr kennt schon der frühbarocke Dichter Paul Melissus 1572 in seiner „psalmenübersetzung“ aus dem Latein „einteuchen“ als Gefühlsregung, wenn er dichtet „des stirn durch uner eingeteucht/mit schamröt sie belaist“.[7] Die Immersion verändert Wahrnehmungen plötzlich durch Gefühle. Yayoi Kusama hat seit den 1950er Jahren zunächst mit ihrer Malerei diesen Bereich der Wahrnehmung z.B. 1950 mit Earth of Accumulation auf einem Saatgutsack erforscht.[8] Sowohl die visuellen Motive der Tentakel wie auch der Punkte auf deren Oberfläche, die sie später „Polka dots“[9] nennen wird, werden hier in opaker Weise ausprobiert. Zugleich verwendet Yayoi Kusama für dieses Bild einen Saatgutsack statt Papier oder Leinwand als Maluntergrund, der mit seiner organischen Struktur das Biomorphe zwischen Fauna und Flora ankündigt. Wir wissen nicht, ob Earth of Accumulation mit dem Saatgutsack bereits ein visuelles Programm ankündigen soll oder ob der Maluntergrund ein Zufall war.
Der Begriff der Akkumulation – Earth of Accumulation – wird seit 1950 bis in die Titel für jüngste Arbeiten wiederholt verwendet. Er gibt einen Wink auf das Netz der Begriffe, mit denen die Künstlerin immer wieder über ihre Arbeiten gesprochen hat. Insofern werden mit dem Gemälde auf Saatgutsack all jene Begriffe ihrer visuellen Sprache angekündigt, die ihr Künstler*innenleben bis auf den heutigen Tag ausmachen. Zu sehen sind indessen keine Anhäufungen, die einen Haufen oder Hügel bilden, vielmehr dehnt sich die Ansammlung der gepunkteten Tentakelformen im Querformat vor einer Art Horizont ins Endlose aus. Die Tentakelformen werden in einer Weise angehäuft, dass sie sich überlagern. Die Ambiguität von earth im Englischen gibt ebenso einen Wink auf den earthworm, dem Regenwurm, wie die visuelle Welt. Der Begriff accumulation wird gleichfalls in vielfältiger Weise für Anhäufung wie für Vermehrung in ökonomischer, geologischer wie rhetorischer Hinsicht gebraucht.[10] Die Accumulatio schließlich ist u.a. eine rhetorische Figur der Wiederholung.
Yayoi Kusama entwickelt frühzeitig eine visuelle Rhetorik der Accumulatio und Variation, die eine ganz eigene Kosmographie generiert. Sucht sie einen Kosmos oder hat sie durch ihre visuelle Rhetorik einen „eigenen“ Kosmos geschaffen? Diese Frage wurde und wird von Rezensenten wiederholt gestellt. Im Katalog wird allerdings nicht von visueller Rhetorik, wohl aber „Bildsprache“[11] geschrieben, obwohl die Rhetorik als ein verknüpfendes Regelwerk bei der Wahrnehmung und Würdigung des Werks beitragen könnte. Mit Earth of Accumulation ließe sich formulieren, dass der Kosmos nicht einfach in einem Draußen zu suchen wäre. Vielmehr kommen Formen der Rhetorik zum Einsatz, um beispielsweise mit den Infinity Nets, die sie erstmals 1958 in der New Yorker Brata Galery präsentierte[12], einen solchen zu generieren. Stephanie Rosenthal zitiert in ihrem Katalogessay einen Rezensenten, der das Narrativ der Suche vorzieht:
„Ein Rezensent der Zeitung Komei würdigte die Bandbreite der ausgestellten Arbeiten und feierte die Schau als gute Gelegenheit, etwas über die Entwicklung von Kusamas OEuvre seit den 1950er Jahren zu erfahren. Für den Autor sei Kusama auf der Suche nach dem universellen Register; sie postuliere die Auslöschung des Körpers in den Weiten des Kosmos: „Es ist nichts anderes als ein Bild des ‚Wucherns‘, doch andererseits stellt Kusama uns auch Menschen und diese Erde vor, und nur ein Punkt verschwindet in den Weiten dieses riesigen Universums.“[13]
Das Verschwinden durch Akkumulation lässt sich als eine Figur der visuellen Rhetorik bei Yayoi Kusama beschreiben. Ob es die zunehmend lustigen Punkte als „Polka Dots“ oder die Tentakel als Penisse sind, immer verschwinden die einzelnen Punkte oder Penisse in der Vielzahl ihres Auftretens bzw. im Modus der Akkumulation. Die Akkumulation bringt die Gefühle zwischen Schrecken und Lächerlichkeit ins Schwanken. Die Akkumulation trägt als Aggregation: One Thousand Boats Show (1963) zur Ambiguität bei. Akkumulation und Aggregation lassen sich synonym verwenden. Gleichzeitig tauchte die Künstlerin in ihr Environment physisch selbst ein, worauf Stephanie Rosenthal aufmerksam macht:
„Ihr Interesse an einer buchstäblichen Verschmelzung mit ihren Werken kommt in den Fotografien der Ausstellung zum Ausdruck. Auf einem Foto sitzt sie nackt auf der Bootskante und macht so die Körperlichkeit des Werks nur noch sinnfälliger. Wenn sie sich physisch in diese Installationen versetzt, dann um den Besucher*innen das Werk durch körperliche Wahrnehmung nahezubringen.“[14]
1965 hat Yayoi Kusama zum ersten Mal in der Castellane Galery, New York, die Penisse mit den Punkten in einem Spiegelraum kombiniert. Wird der Spiegel gewöhnlich zur Überprüfung des Aussehens als Selbstpraxis verwendet, geht es der Künstlerin wiederum um das Eintauchen als Praxis des Verschwindens durch Akkumulation der Spiegelbilder von sich selbst. Die Installation Infinity Mirror Room – Phalli’s Field stellt einen Raum her, der sich noch an dem Boden orientiert. Der Spiegelraum wird mit seinen roten Punkten, die ins Endlose vervielfältigt werden, für Yayoi Kusama entgegen herkömmlicher Praktiken zu einem Versuch der „Selbstauslöschung“. Sie will im roten Anzug zu einem Punkt unter anderen werden. Zugleich soll der Spiegelraum von den Betrachter*innen nicht nur angeschaut werden, vielmehr sollen sie selbst als Punkte teil der Installation werden.
„„Mit Phalli’s Field wollte ich zeigen, dass ich eines der Elemente bin – einer der Punkte unter den Millionen von Punkten im Universum. Wenn ich mich in dieser Arbeit in den unendlichen Punkten vergrabe, wird meine geistige Kraft als Punkt gestärkt.“ (…) Die Spiegel vervielfachten nicht nur die skulpturalen Werke und Kusamas eigene Form, sondern machten das Publikum in einer Mise en abyme zum Teil der Umgebung. Das Werk war an sich partizipatorisch, da es die Besucher*innen zum Thema eben dieses Werks machte.“[15]
Die Retrospektive wird selbst zu einer immersiven Erlebnisform, insofern chronologisch die wichtigsten Ausstellungen durch forschungsbasierte Archivarbeit im Gropius Bau rekonstruiert werden. Die Besucher*innen betreten immer wieder Räume, die aus den Archiven rekonstruiert worden sind. Es ist eine Art Parcours durch die Zeiten der Ausstellungen geworden, die schließlich in einen neuen, immersiven Infinity Mirror Room mit dem Titel „The Eternally Infinite Light of the Universe Illuminating the Quest for Truth“ führen. Die Besucher*innen können sich selbst in einem kosmischen Spiegelkabinett aus Punkten/Kugeln und Stangen erleben und sehen. Doch ist diese Form der Immersion wirklich stärker als der finale Ausstellungsraum, indem die sowohl seriellen wie auch singulären Arbeiten „der bis heute andauernden Serie von Gemälden, die mit Acryl auf Leinwand gemalt werden,“[16] vielzählig bis unter die Decke übereinander und nebeneinander gehängt werden? Die Besucher*innen finden sich geradezu eingetaucht in My Eternal Soul. Lässt sich eine stärkere Immersion vorstellen, als in die ewige Seele von Yayoi Kusama einzutauchen?
In der Fülle der Variationen von Punkten, Linien und pulsierenden Farben wird die bloße Wiederholung aufgebrochen und zugleich durch die Serialität bestätigt. Die Formate variieren. Die Farben und Linien arbeiten gegen die Wiederholung. Es ist, als habe sich das Diktum vom Wunsch des Verschwindens umgekehrt. In den Netzen, Punkten und Phalli herrschte die Wiederholung. Nun erscheinen Sonnen und höchst variable Muster, um sie als „Eternal Soul“ zu benennen. Nicht ein Bild wird wiederholt. Immer wieder erscheinen neue Muster, was durchaus einen Wunsch zur Variation verrät. Denn wie leicht geschieht es, dass man sich wiederholt in Erzählungen und Bildern. Diese serielle Diversität der Seele fasziniert und fordert das Eintauchen, weil ein Kunstwissen von den Variationen unterlaufen wird. Der Katalog und die digitalen Formate der Retrospektive machen sie weiterhin zu einer besonders intensiven Forschung an der Schnittstelle von Malerei, Skulptur, Kunst und Virtual Reality.
Torsten Flüh
Gropius Bau
Yayoi Kusama: Eine Retrospektive
A Bouquet of Love I Saw in the Universe
Online
Katalog:
Stephanie Rosenthal (Hg.):
Yayoi Kusama
草間彌生
Eine Retrospektive.
München: Prestel, 2021
Hardcover, Pappband, 352 Seiten, 22,0 x 28,0 cm, 361 farbige Abbildungen, 107 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-7913-7828-2
€ 45,00 [D] inkl. MwSt.
€ 46,30 [A] | CHF 61,00 * (* empf. VK-Preis)
[1] Die chinesisch-japanische Altertumsforschung geht von 10. bis 6. Jahrhundert aus, während die deutsche Forschung nach Wikipedia von 300 vor bis 300 nach Christus bis ins 20. Jahrhundert ausgeht. Die aktuelle Altertumsforschung für den chinesisch-japanischen Raum hat sich offenbar auf den früheren Zeitraum geeinigt. Vgl. dazu „Yayoi-Zeit“ (de.wikipedia.org) und „Yayoi period“ (en.wikipedia.org).
[2] Wiktionary kennt 弥生 auch als weiblichen Vornamen, obwohl er als solcher offenbar nicht allzu häufig vorkommt. (en.wiktionary.org)
[3] Zitiert nach Stephanie Rosenthal: Vorwort. In: Stephanie Rosenthal (Hg.): Yayoi Kusama 草間彌生 Eine Retrospektive. München: Prestel, 2021, S. 5.
[4] Siehe Torsten Flüh: Sinn und Sinnlichkeit im Sensodrom. Zur Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren im Gropius Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 17, 2018 21:34.
[5] Thomas Oberender: Grußwort. In: Stephanie Rosenthal (Hg.): Yayoi … [wie Anm. 3] S. 4.
[6] Siehe: „Eintauchen“, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, (Wörterbuchnetz).
[7] Siehe: EINTEUCHEN“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, (Wörterbuchnetz) und zur Quelle Schede, Paul (gen. Melissus) Bd. 33, Sp. 796.
[8] Vgl. Stephanie Rosenthal (Hg.): Yayoi … [wie Anm. 3] S. 38.
[9] Antje von Graevenitz: Kusamas Schlüsselbegriffe Infinity Net und Self-Obliteration. Ungleiche Gemeinsamkeiten im Europa der 1960er Jahre. In: Ebenda S. 68.
[10] Vgl. dazu: Akkumulation in Wiktionary.
[11] Stephanie Rosenthal: Yayoi Kusama. Alle Werke um mich herum. In: dies.: Yayoi … [wie Anm. 3] S. 12.
[12] Ebenda.
[13] Ebenda S. 29.
[14] Ebenda S. 13.
[15] Ebenda S. 17.
[16] Zitiert nach Ausstellungstexte der Website zur Retrospektive.