Auditive Kraftfelder – Ann Cleare und Enno Poppe beim Musikfest Berlin 2021

Energie – Archäologie – Klang

Auditive Kraftfelder

Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021

Am 5. September konnte mit dem Ensemble Musikfabrik unter der Leitung von Aaron Cassidy mit den Kompositionen von Ann Cleare eine Entdeckung gemacht werden: Musik ist nicht nur ein auditives Ereignis. Bei Ann Cleare wird sie physisch und physikalisch, sie wird kommunikativ und verbindend. Insbesondere mit erweiterten Spieltechniken der Instrumente entweder als Bläserquintett oder als großes Ensemble mit Harfe lässt die irische Komponistin Klänge entstehen, die sich jenseits der traditionellen Klangspektren ausbreiten. Beispielsweise lässt sie die Saiten der Harfe mit einem runden Stein streichen statt zupfen. Dadurch werden die Saiten auf ganz andere Weise in Schwingungen versetzt, die Töne hervorbringen. Die Uraufführung von Fossil Lights unter der Leitung von Aaron Cassidy wurde vom Publikum gefeiert.

Das diesjährige Musikfest Berlin wird nicht zuletzt davon geprägt, dass die Uraufführungen oft wie bei Prozession von Enno Poppe bereits digital stattgefunden haben. Die durch die CoVid-19-Pandemie bedingten „digitalen Konzert(e)“ konnten offenbar doch nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Reichweite entfalten wie das Livekonzert auf dem Podium. Neben dem Konzertwissen und seinen Praktiken, auf die Enno Poppe nicht verzichtet, gibt es eine Art Alchemie des Konzerts, die nur mit Publikum stattfinden kann. Zwischen Studioaufnahmen und Livemitschnitten gab es immer einen hörbaren Unterschied. Die die einzelnen Instrumente im Ensemble Musikfabrik herausarbeitende Komposition wandelt den Prozess des Musikmachens um in eine Prozession. Enno Poppe dirigierte sein Werk selbst, das er als Auftragswerk des Ensemble Musikfabrik geschrieben hat.

© Adam Janisch

Für Ann Cleare wie Enno Poppe nehmen Auftragswerke für Ensembles eine entscheidende Funktion im Schaffen als zeitgenössische Komponist*innen ein. Die enge, oft wiederholte Zusammenarbeit eines Ensembles mit einer Komponist*in generiert eigene Effekte in der Spielpraxis der Instrumente und damit neue Klangspektren. So war bespielweise mire /…/ veins (2013) von Ann Cleare ein Auftragswerk des Ensembles Apparat, das ein reines Blechbläser-Ensemble war, und das nun von den Blechbläsern im Ensemble Musikfabrik gespielt wurde. Gleichwohl beschreibt die Komponistin für ihr Bläserquintett einen intensiven Prozess des Musikmachens, der nicht nur an die einzelnen Instrumentalisten gebunden ist. 2 Trompeten, Horn, Posaune und Tuba werden von Cleare so komponiert, dass ein kommunikativer Prozess im Quintett einsetzt:
„In contrast to the other chamber groups, the French Horn acts as an agent of communication and connection. It can blend into the activity of either group, transmitting and translating information and building a network between the insularity of both places, breathing new air into the stubborn impermeability of the two chamber groups.“[1]
(Im Kontrast zu den anderen Kammergruppen fungiert das Waldhorn als Kommunikations- und Verbindungsorgan. Es kann sich in die Aktivität einer der beiden Gruppen einfügen, Informationen übermitteln und übersetzen und ein Netzwerk zwischen der Abgeschiedenheit beider Orte aufbauen und der hartnäckigen Undurchlässigkeit der beiden Kammergruppen neue Luft einhauchen.)

Ann Cleare hat sich nicht nur mit ihren Titeln, vielmehr mit verschiedenen Verfahren aus der Physik kompositorisch auseinandergesetzt. Für ore (2016) notiert sie als einen Wink auf ihr Komposition, dass Erz ein mineralreicher Stein sei, aus welchem einige Materialien extrahiert werden könnten.[2] Michele Marelli, Klarinette, führte das Stück mit dem Streichtrio des Ensembles Musikfabrik auf. Klanglich situiert sich das Stück im Obertonbereich. Aus der Höhe der Klarinette und der Streicher ergibt sich ein Klang, aus dem sich metonymisch „various materials“ herausziehen lassen. Auch Fossil Lights (2020/21) ist kammermusikalisch mit Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier angelegt. Ähnlich wie bei ore geht es um ein physikalisches Verfahren und Denken, das in einer Komposition erprobt wird. Fossilien sind Versteinerungen von organischem Leben früherer Erdzeitalter. Doch wie lässt sich fossiles Licht denken? Wie materiell, physisch ist Licht, das sich ausgraben lässt? Ann Cleare knüpft dafür an den irischen Mythos „unzähliger ritueller Feuer, die einst von den Midlands aus die gesamte irische Insel mit spiritueller Energie versorgt haben sollen“.[3]

Irische Mythologie und physische Materialität werden in Fossil Lights zu einem Klangspektrum. Ann Cleare ist nicht zuletzt eine Klangforscherin, was an dieser Komposition deutlich wird. In einem poetologischen Verfahren werden auditive Bereiche kombiniert, die bislang kaum zusammen gedacht worden sind. Das macht die besondere Kompositionsweise der Komponistin deutlich. Immer geht es um Bereiche, die bislang nicht der Akustik zugerechnet wurden. Die irische Mythologie der „Mide“, einer verlorenen Mitte und Kraftzentrum sowie zugleich fünfte Provinz Irlands, wo sich die Menschen im Frühling zum Ritual der Erneuerung versammelten und Feuer entzündeten, wird nicht symphonisch erzählt, vielmehr wird ein auditives Verfahren erprobt, um „Fossil Light Pattern“ zu komponieren. Beethoven erzählte in der Pastorale etwa von einer Landpartie, während welcher eine ganze Gefühlsdramaturgie abgespielt wird, wie es Sir Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra vorgeführt hatte. Ann Cleare forscht:
„Ihr Forschungsmaterial waren Tonaufnahmen der legendären Orte und Fossilien. „Fossil Lights versucht diese verlorenen Orte, ihr Licht und ihren Geist auszugraben“, erklärt Cleare ihre spekulative Anverwandlung der Archäologie. Im Zentrum der Komposition steh ein „Fossil Light Pattern“, das aus der Verstärkung einzelner Töne der Feldaufnahmen aus den Midlands entstanden ist.“[4]

© Adam Janisch

Die auditive Archäologie, wie sie von Cleare formuliert und praktiziert wird, erinnert mich an die künstlerische Intervention und kreative „Feldforschung“ der bildenden Künstler*innen Helene von Oldenburg und Claudia Reiche, die für ihre Ausstellung wo es war – Ortsbestimmungen zu fünf Objekten im Landesmuseum Birkenfeld den erfolgreichen „Sondengänger“ Sascha Theis am 24. September 2020 auf einem Acker bei Hottenbach interviewt haben.[5] Denn es wäre vermutlich auch bei Fossil Lights die Frage, ob zuerst die Feldforschung betrieben wurde und dann Erzählung hinzukam oder umgekehrt. Der „Sondengänger“ Sascha Theis antwortet, wie vielleicht auch Cleare antworten würde:
„ST     Genau. Genau, das haben sie gebraucht, ja. So. Und das war jetzt… Also ich kenne die ganzen Aussprüche, aber wenn man jetzt hier die Gegend abschließt, ja… [lacht]. Dann ja hier oben, auf dem Höhenkamm, wo die Tannen stehen, also hier im linken Bereich schon im Höhenkamm, dort sind insgesamt sechs keltische Hügelgräber zu finden, also, wo dieser Kamm hier ist. Und wenn man den Kamm ganz nach rechts geht, wo diese Tannengruppe aufhört, dort ist auch nochmal ein Hügelgräberfeld mit Hügelgräbern, nicht? Ist halt eine Höhenstraße. Die keltischen Hügelgräber sind immer an Verkehrsverbindungen gebaut worden, ja. Die wollten sich präsentieren, ja. (…)
CR      Ja, das ist sehr beeindruckend. Es wächst richtig vor dem geistigen Auge, was hier früher gewesen sein könnte. Sie erzählen es so, weil Sie gehen auch so auf die Landschaft ein. Was hätte sich gut geeignet dafür? Also,… das kann man sich bestimmt sehr gut vorstellen, wenn man hier das so genau kennt wie Sie, und sich nochmal richtig mit den Einzelheiten des Bodens und der Winde und des Wetters auseinandersetzt…“[6]

Ann Cleare erzählt von ihren Kompositionsverfahren, aber nicht von den „Midlands“ mit den Feuern in ihren Kompositionen. Das unterscheidet sie als Komponistin in ihrer Feldforschung beispielsweise von einem „Sondengänger“ wie Sascha Theis. Erzählt man allerdings im Voraus ausführlicher von „Mide“ und den „Midlands“ als einer mytho-logisch „verlorene(n) Mitte“, die sich wenigstens in einer Erzählung suchen und finden ließe, dann könnte in einem auditiven Vorgang doch eine Art „Film“ – Tonfilm – entstehen, wie Claudia Reiche auf Sascha Theis‘ Erzählung entgegnet: „Ja, es ist wirklich so: Wo Sie es beschrieben haben, kam das ja alles so hier vorbei: mögliche Menschenzüge, die Münzen… Es ist eben schon so wie ein Film gewesen, was bei mir entstanden ist.“[7] Doch Cleare entwickelt keine Musiksprache, die erzählen wollte, vielmehr hält sie sich an den Grenzen der Wahrnehmung und Verortung. Das Klavier wird als Schlagzeug verwendet, die Klarinette wird auf virtuose Weise in Obertonlage versetzt. Das Quintett soll sich vielmehr „in eine Lichtskulptur oder Lichtmaschine, in der das Klavier das Trio um sich herum entzündet,“ verwandeln.[8] Auf diese Weise wird Fossil Lights zu einer klangenergetischen Komposition. 

Ann Cleare spricht von ihrer Komposition als eine Lichtskulptur, die insofern von der Klarinette, der Violine und dem Violoncello in einem Obertonbereich erzeugt wird. Zumindest in der Klanghöhe gibt es eine Anspielung auf eine auditive Darstellung von Licht. Den Instrumentalist*innen, Michele Marelli, Hannah Weirich und Dirk Wietheger sowie Ulrich Löffler am Klavier werden von der Komponistin virtuose Spielweisen abverlangt. Alle sind auch als Solisten tätig. Das Ensemble Musikfabrik wird für seine solistischen, virtuosen Fähigkeiten wertgeschätzt und gerühmt. Die Instrumente werden immer wieder auf neue Spielpraktiken ausgelotet. Aaron Cassidy dirigierte die Uraufführung von Fossil Lights sowie die Stücke the physics of fog, swirling (2018/2019) und on magnetic fields (2011/2012) energiereich. Auf diese Weise fand beim Musikfest Berlin die Uraufführung statt, die von der National Concert Hall, Dublin und The Office for Public Work, Irland, in Auftrag gegeben worden war.[9] Cleare erforscht mit Fossil Lights ebenso das Genre des Quartetts, das von ihr nicht nur instrumental neu kombiniert, sondern auch klanglich erweitert wird.

© Adam Janisch

Enno Poppe lässt mit Prozession mit dem Ensemble Musikfabrik und für dieses ein auditives Voranschreiten der Instrumente entstehen. Nach und nach werden die Instrumente – Flöte, Oboe, Klarinetten, Trompete, Hörner, Posaune Schlagzeug, Syntheziser, E-Gitarre, Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass – in erweiterten Spielweisen intoniert. Sie bauen ein Klangvolumen auf, um dann wieder einzeln hörbar zu werden. Neue Fassung von Prozession wurde am 22. November 2020 im Rahmen des Ensemblefestivals Leipzig als „digitales Konzert“ mit dem Ensemble Musikfabrik aufgeführt. Die Form des „digitalen Konzerts“ wäre noch einmal genauer zu erforschen. Sie hat sich irgendwo zwischen Rundfunk- und Fernsehübertragung angesiedelt, um allerdings ausdrücklich ein Konzert mit Publikum zu ersetzen.[10] Bereits 2015 hatte Enno Poppe eine 49minütige Fassung von Prozession komponiert.[11] Ob die neue Fassung des Stückes mit dem zumindest religiösen Titel in Bezug auf die Covid-19-Pandemie bearbeitet worden ist, entzieht sich der Kenntnis. Doch die üppige Besetzung des Ensembles mit 4 Spieler*innen am Schlagzeug sowie 2 Synthezisern gibt ein Wink auf einen orchestralen Anspruch.

Prozession baut sich sehr langsam zu symphonischen Klangwolken auf, die sich in Rhythmen bis zu Jazz und Tanzmusik entladen. Aus den Synthezisern kommen Orgeltöne, die an eine religiöse Klangtradition erinnern können, ohne dass ein religiöses Gefühl erzeugt werden soll. Poppe dirigiert, wie er komponiert: präzise, kantig, durchdacht. Prozession wird im September 2021 zu einem anderen auditiven Erlebnis als 2015. Die Wahrnehmung hält sich für mich zwischen einem Nachdenken über die Form der Orchestermusik wie der Prozession als religiöse Praxis. Wohl mag auch Poppes Musik Gefühle wecken, doch er schreibt und dirigiert keine Gefühlsmusik. Die Kombinatorik der Instrumente im Ensemble wie Koordinierung des Klangs machen Prozession zu einer symphonischen Klangperformanz intensiver Eigenart.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2021
noch bis 20. September 2021


[1] Ann Cleare: mire |…| veins For Brass Quintet. In: Ann Cleare: Works.

[2] Ann Cleare: ore for one high reed wind instrument (clarinet/oboe/saxophone) and string trio. In: Ann Cleare: Works.

[3] Zitiert nach Martina Seeber: Komponieren als taktile Tätigkeit. Über die Komponistin Ann Cleare. In: Musikfest Berlin (Hg.): Ensemble Musikfabrik I Porträt Ann Cleare & Ensemble Musikfabrik II Enno Poppe: “Prozession” 05.09.2021, S. 10.

[4] Ebenda.

[5] Helene von Oldenburg, Claudia Reiche: Feldforschung – GOTT In: dies.: wo es war Ortsbestimmung zu fünf Objekten im Landesmuseum Birkenfeld. 2021-2022. Birkenfeld 2021, S. 22-29. Auch: www.woeswar.de

[6] Ebenda S. 26.

[7] Ebenda.

[8] Zitiert nach Martina Seeber: Komponieren … [wie Anm. 3] S. 10.

[9] Vgl. zur National Concert Hall: Torsten Flüh: Dublin hören. Donncha Dennehys Crane und das Freitagskonzert von Raidió Teilifís Éireann. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 21, 2017 22:51.

[10] Vgl. dazu die Aufnahmen von „Prozession“ auf YouTube.

[11] Siehe Ricordi.

Berührt – Zu Ondřej Adámeks Where are You? und Ludwig van Beethovens 6. Symphonie

rwḥ – Gott – Gefühl

Berührt

Zur gefeierten Aufführung von Ondřej Adámeks Where are You? und der Pastorale von Beethoven mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle

Welch ein Konzert zu Rosch Haschana, zum Neujahr 5782! שנה טובה, Schana Towa, ein gutes, neues Jahr! Möge das neue Jahr alle vor einem weiteren Lockdown bewahren. Denn die Uraufführung von Ondřej Adámeks Where are You? musste am 6. März 2021 ohne Publikum und in reduzierter Besetzung in der Philharmonie in Gasteig München im Rahmen von musica viva mit dem Symphonie Orchester des Bayrischen Rundfunks als Livestream stattfinden. Gerade wenn das Stück mit nichts als dem erst kaum hörbaren, dann immer mehr anschwellendem Atem von Magdalena Kožená beginnt, der wie das aramäische rwḥ, das Wind und Geist heißen kann und auch im Hebräischen als rûaḥרוּ rwḥ חַ – gebraucht wird, einsetzt, wird die Gegenwart der Künstlerin unverzichtbar. Where are You? wurde am 7. September 2021 beim Musikfest Berlin eine Anrufung des Göttlichen und ein Covid-19-Requiem.

Sir Simon Rattle kombinierte das Stück des tschechischen Komponisten und Dirigenten mit der Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 von Ludwig van Beethoven, die als Pastorale bekannt geworden ist und die eine Gefühlslandschaft entwirft. Beethoven: Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande. (…) Szene am Bach. (…) Lustiges Zusammensein der Landleute. (…) Gewitter. Sturm. (…) Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. Die Dramaturgie der Sechsten könnte durchaus auf den September 2021 zumindest in Europa zutreffen, wenn nicht bei wenigstens 40 Prozent der Bevölkerung „Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm“ fehlen würden. Doch wer nicht gänzlich unempfindlich war, musste von Simon Rattles Dirigat mit dem London Symphony Orchestra berührt werden. Rattle, der große Zauberer, weckte wenigstens ab dem 2. Satz, Gefühle der Dankbarkeit – und Trauer.

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Bislang ist kein Konzert des Musikfestes Berlin 2021 – und auch dessen von 2020 – so sehr in die noch immer global wütende Covid-19-Pandemie verwoben gewesen. Im September 2020 gab es nach der ersten Welle der Pandemie keimende Hoffnungen auf einen Impfstoff, doch längst noch keine berechtigten Erwartungen. Heute gibt es nicht nur einen wirksamen Impfstoff, sondern fast ein Dutzend zwischen russischem Sputnik, chinesischem Sinovac, kubanischem Abdalla für den Iran und deutsch-amerikanischem Comirnaty, worüber wiederholt berichtet wurde. Die Wirksamkeit ist unterschiedlich hoch, doch bislang gab es nur unglückliche Einzelfälle, bei denen Menschen durch die Impfung geschädigt wurden oder gar gestorben sind. Trotzdem gibt es in Orchestern wie in der Bevölkerung so besondere Individuen, die sich durch vermeintlich alternatives Wissen auf keinen Fall impfen lassen wollen. Im Konzert aber ging es um Nähe, Atmen wie Atem und nach dem aramäischen Peshita Manuskript um Awoon dwashmeya – our Dearest, You are everywhere.

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Kožená zelebriert das Atmen gleich einer Priesterin. In einer Zeit, in der nichts als das lebensnotwendige Atmen zu einer tödlichen Gefahr geworden ist – außer den Bläser*innen tragen alle Orchestermitglieder schwarze FFP2-Masken und das Publikum muss diese ebenfalls in der Philharmonie Berlin aufbehalten –, wird Ondřej Adámeks Komposition zu einem Zeitstück und Versprechen. Obwohl Adámeks Komposition 2020 entstanden ist, erwähnt die Musikjournalistin Martina Seeber in ihrem Essay für das Abendprogramm mit keinem Wort Sars-Cov-2 und die Pandemie.[1] Dabei wurde Tschechien mit 1,68 Mio. Fällen und 30.413 Todesopfern (9. September 2021) ab Oktober 2020 besonders heftig von der Pandemie betroffen. Geht es Adámek nur um ein Komposition, die losgelöst ist von historischen und sozialen Entstehungsbedingungen?

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Das zweite von elf Liedern beginnt auf Tschechisch mit der Frage: „Kde jsi?“ Magdalena Kožená, die in Brno (Brünn) geboren wurde und wo sie am Konservatorium Mezzosopran studierte, spricht Tschechisch. – Wo bist Du? – Die Frage und Suche nach Gott hat nicht nur die christliche Menschheit seit jeher in schweren Krisen und Kriegen bewegt. Zweifelsohne wurde von manch einer Regierungschef*in wie z. B. Emmanuel Macron „Corona“ der „Krieg“ erklärt. In Italien, in Bergamo, starben im März 2020 die Corona-Kranken ohne Sterbesakramente und viele Priester gleich mit. Soll der Militärkonvoi mit den Toten vom 18. März 2020, der im Fernseher und in den Zeitungen um die Welt ging, Adámek nicht bewegt haben? Die Pandemie hatte Ausmaße angenommen, die die Frage nach der Abwesenheit Gottes nicht nur für religiöse Menschen aufdrängte.

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Adámek verarbeitet und kombiniert für seinen Liederzyklus in Aramäisch, Tschechisch, Mährischem Dialekt, Spanisch, Englisch und Sanskrit für großes Symphonieorchester mit 4 Posaunen und dreiundzwanzig Streicher*innen Lieder unterschiedlicher Herkunft. Aus dem Atem und dem Atmen gehen die Sprachen hervor, die mit dem Gebrauch und der Kombination der Worte Erzählungen generieren. Adámek setzt bei diesem gleichsam schöpferischem Prozess an, indem er sich von alttestamentarischen Texten wie dem ersten Buch der König 19:11 inspirieren lässt. Dafür wird der Vers transformiert, um die eröffnende Frage zu formulieren.
11Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg von den HERRN! Und siehe, der HERR ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.“

Das apokalyptische Szenario eines Windes, „der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach“, und eines Erdbebens zugleich, erschüttert alle Sicherheiten und alles Wissen. Der elfte Vers im neunzehnten Abschnitt des Buchs der König nimmt gegenüber dem aramäischen Manuskript mit seiner Ambiguität der ersten Worte eine Differenzierung vor. Denn רוּחַ, der „Wind“, bezeichnet nunmehr nicht zugleich den Geist und Gott. Vielmehr war „der HERR aber (…) nicht im Winde“. Die Allgegenwart Gottes wird angesichts katastrophischer Ereignisse ausdifferenziert. Denn noch im aramäischen Peshita Manuskript – „Awoon dwashmeya“ (unser Liebster, Du bist überall) – war auf monotheistische Weise eben diese behauptet worden.
„… blíž …                … close …
… nejblíž …             … closest …
náš Nejbližší            our closest
náš Nejdražší          our dearest
náš Nejdveˇrneˇjší   our most loyal
náš Nejduveˇrneˇjší our most confidential
Zroditeli náš            our birther
Vdechovateli náš      our inhaler
Stvorˇiteli náš         our creator
Dárce náš života nášeho our giver of our life
Vesmíre náš            our universe
Otcˇe náš               our Father
Matko náše             our Mother
Sílo života našeho    force of our life
Dechu náš              our breath
Duchu náš              our spirit“

© Adam Janisch

Die Ambiguität der ersten Worte des Awoon-Manuskripts wird vom Komponisten zu einem ersten Lied verarbeitet. Damit wird das Wissen von Gott zugleich vielfältig und porös. Adámek listet, sozusagen, die Bedeutung der ersten Worte auf, um die anfängliche Mehr- und Vieldeutigkeit durch die Übersetzung ins Tschechische auditiv darzustellen. Das lässt sich sowohl als eine philologische Geste wie eine auditive Montage verstehen. Es geht um die Entstehung von Musik aus dem Atem. Dieser wird nicht nur von der Mezzosopranistin hörbar gemacht, er findet auch im Orchester auf einzelnen Instrumenten ein Echo. Wo beginnt die Musik? Der polylinguale Ansatz des Liederzyklus‘ lässt sich nicht nur als eine Kombinatorik auffassen, vielmehr gibt er einen Wink auf die Musik in mehreren Sprachen als Forschung. Adámeks Komposition präsentiert nicht einfach Wissen über das Göttliche, stattdessen forscht er ihm in mehreren Kulturen nach und spielt deren Elemente in den elf Liedern durch:
“I.      Slotha – setting a trap for divine
II.      Where are You?
III.     Peter sent me back
IV.      Sharp point
V.       Saeta
VI.      Confession
VII.    Ecstasy
VIII.   Levitation
IX.      You are not there
X.       Gentle whisper
XI.      Everywhere“  

Die elf Teile des Liederzyklus entwickeln eine Dramaturgie des Göttlichen. „Setting a trap for divine“ wird im Programmheft der Uraufführung mit „Das Göttliche einfangen“ übersetzt.[2] Doch wörtlich müsste man es eher mehrdeutig, mit dem Göttlichen eine Falle stellen, übersetzt werden. Was das Göttliche ist, bleibt in Ondřej Adámeks Where are You? offen. In der polylingualen Dramaturgie werden allerdings zwischen der Frage und dem „Everywhere“ Modi der göttlichen Erfahrung zwischen „Petrus schickte mich wieder fort“ über „Scharfe Spitze“ und „Pfeil“ über „Bekenntnis/Beichte/Geständnis“ (Confession) und „Ekstase“ und „Schwebe“ bis zu einem buddhistischen „Überall“ entfaltet. Insbesondere das mährische Volkslied über Petrus trägt komische, wenn nicht ironische Züge, wenn es heißt: „Wer Wein trinkt/und Musiker bezahlt,/der kommt in den Himmel,/heilige Engel, alle mit Hörnern, bringen ihn dorthin.“ Ironischer Weise greift die Sängerin auch gegen Schluss zu einem Megafon, als genüge ihr singen nicht, um verstanden zu werden. Adámek spielt insofern verschiedene Artikulationsweisen und Modi des Göttlichen durch. Levitation/Schwebe bleibt bezeichnenderweise rein instrumental, weil sie sich schwer artikulieren lässt. Um das Göttliche erfahrbar zu machen, kann Sprache eine Barriere sein.

© Adam Janisch

Wenn Sir Simon Rattle dirigiert und Magdalena Kožená singt, dann darf man von einer hohen Intensität ausgehen. Ob Bachs Matthäus Passion[3] oder das finale Waldbühnenkonzert[4], nie wird das Konzert etwa nur unterhaltend. Rattle analysiert die Werke, die er dirigiert, genau. Und Where are You? ist sogar ihm und Magdalena Kožená neben Iris vom Komponisten gewidmet. Hatte er bei der Uraufführung im März mit dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks Olivier Messiaens Et exspecto resurrectionem mortuorum als Auferstehungsversprechen Where are You? zur Seite gestellt, so folgte nun Beethovens Pastorale, die eine ganz andere Form des Göttlichen in der Landschaft und den Gefühlen ankündigt und zelebriert. Während es bei Adámek um eine intensive Befragung und ein Suchen nach dem Göttlichen geht, entwirft Ludwig van Beethoven eine panoramatische Landschaft der Klänge, Signale etwa der Jagd und Gefühle als Seelsorge.

Die bürgerliche Seele soll im Konzertsaal erheitert, beruhigt, aufgewühlt und befriedet werden. So ließen sich Beethovens Satztitel lesen. Das „Land“ wird 1807/08 bei Beethoven zum Sehnsuchtsort einer bürgerlichen Stadtgesellschaft, die gleichwohl mit den Widmungen an den Fürsten Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz und dem russischen Grafen Rasumowski anempfohlen wird. Gefühle machen Geschichte und Gefühle haben Geschichte, wie Benno Gammerl in Anknüpfung an Ute Frevert sagen würde.[5] Gefühle sind nicht geschichtslos oder immer die gleichen. Die Geschichten können sehr persönlich und kaum artikulierbar, erzählbar sein oder sie werden in einem bestimmbaren Zeitraum, durch bestimmte, oft neuartige Medien geweckt wie der Hass in sogenannten sozialen Medien. Gefühle müssen allerdings auch geweckt und angesprochen werden. Beethoven verwandelt 1807/08 Landschaften in Empfindungen und „Frohe und dankbare Gefühle“. Das gelingt ihm durch Klangfarben und Melodien.

Allerdings bedarf es eines Dirigenten und eines Orchesters, der die Klangfarben und Melodien intensiv herauszuarbeiten versteht. Schon im zweiten Satz – „Szene am Bach“ – übermannte den Berichterstatter ein durch und durch geschichtliches Gefühl der Dankbarkeit vermischt mit einem Glücksgefühl, die Musik so konzentriert hören zu dürfen und zu können. Zum ersten Mal seit über 18 Monaten hörte er in der Philharmonie wieder ein großes und großartiges Symphonieorchester. Wie sehr er es vermisst hatte, was genau er vermisst hatte und warum es gerade Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra gelang, diese Gefühlsschicht so intensiv anzusprechen, lässt sich schwer sagen. Denn er hatte die 6. Symphonie von Beethoven schon oft gehört. Doch niemals weckte sie derart intensive Gefühle. Ein Geschenk.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2021
bis 20. September 2021


London Symphony Orchestra
Sir Simon Rattle
Adámek | Beethoven
On Demand bis 18. September 2021, 16:00 Uhr    


[1] Martina Seeber: Die Suche nach dem Göttlichen jenseits der Religionsgrenzen. In: Musikfest Berlin (Hg.): London Symphony Orchestra – Sir Simon Rattle – Adámek | Beethoven 07.09.2021.

[2] Bayrischer Rundfunk/musica nova (Hg.): Philharmonie im Gasteig, Samstag, 6. März 2021, S. 16.

[3] Siehe Torsten Flüh: Ein Licht in der Dunkelheit. Zu Bachs Matthäus-Passion als Eröffnung der Festtage in der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 21, 2013 00:16.

[4] Siehe Torsten Flüh: Zum Finale ein Feuerwerk der Ironie. Das Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker als Finale der Ära Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 27, 2018 21:18.

[5] Siehe Torsten Flüh: Gefühlsechte Geschichte/n. Zur Queer Lecture und Buchvorstellung von ANDERS FÜHLEN im taz TALK mit Jan Feddersen und Benno Gammerl. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. April 2021.

Händels gefeierte Hass-Kantate

Hass – Kolonialismus – Barock

Händels gefeierte Hass-Kantate

Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021

Die finale Aufführung der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel durch die English Baroque Soloists und den Monteverdi Choir unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner reißt das Publikum von den Sitzen, Bravorufe und Standing Ovations. Entsetzt blieb der Berichterstatter sitzen. Nach der Kantate Donna, che in ciel di tanta luce splendi von Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bachs Christ lag in Todes Banden hatte Gardiner die am 16. Juli 1707 in Rom uraufgeführte Kantate Dixit Dominus nach Psalm 110 als Abschluss der drei Barockkantaten gewählt und kraftvoll aufgeführt. „Setze dich zu Meiner Rechten, bis Ich dir/deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege“, beginnt die Kantate, die sich bis in den „zerschmettern(den)“ Hass als Zorn Gottes steigern wird. – Ist die Aufführung einer derartig sanktionierten Hass-Kantate kommentarlos noch zeitgemäß? Oder war das ein Skandal?

Doch ich möchte, sozusagen, von vorn beginnen, nämlich mit der Rückkehr zum klassischen Konzertformat nach dem Eröffnungskonzert mit A House of Call von Heiner Goebbels. Nachdem sich der Berichterstatter seit Montagabend intensiv mit der Uraufführung beschäftigt hatte, befremdete ihn am Donnerstag beim Konzert des Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Sir George Benjamin die ganze Praxis. Es war als sei nichts geschehen. Die Türen zum Podium sprangen auf, damit das Orchester seine Plätze einnehmen konnte. Begrüßungsapplaus wurde freundlich gespendet. Beim Auftritt des Dirigenten ebenso. Eine Sondereinlage wegen der aus Covid-19-Schutzgründen ausfallenden Pause bot der hydraulische Auftritt aus dem Raum unter dem Podium des Konzertflügels für die Pianistin Tamara Stefanovich, die mit dem Orchester Igor Strawinskys späte Komposition Movements von 1958/1957 spielte. – Aber nach dem Freitagabend und der Kantate Dixit Dominus steht für mich das Konzertformat und seine Aufführungspraxis erneut und verschärft in Frage.

©Astrid Ackermann

Die beiden Programme lassen sich vergleichen und überdenken. In der Abfolge der Musikstücke, die in einem Konzert gespielt werden, steckt eine mehr oder weniger deutliche Dramaturgie. Der Dirigent kombiniert i.d.R. mehrere Stücke, die miteinander in Verbindung gebracht werden, was meistens ein Musikwissenschaftler oder Musikjournalist ausführlicher im Programmheft erklärt. Im Konzert mit George Benjamin ging es, wie Paul Griffith erläutert, um Vorbilder und Freundschaften.[1] Der Komponist und Dirigent George Benjamin möchte uns einerseits auf die Musik seines 2018 früh verstorbenen Freundes Oliver Knussen mit The Way to Castle Yonder aufmerksam machen. Andererseits bietet er mit Kompositionen von Henry Purcell und dem späten Strawinsky einen Einblick in sein, sagen wir, musikalisches Material, mit dem er arbeitet. So hat George Benjamin Three Consorts von Henry Purcell für Kammerorchester 2021 transkribiert. Als Deutsche Erstaufführung wurden diese Transkription und sein Concerto for Orchestra gespielt, das am 30. August 2021 bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall in London mit dem Mahler Chamber Orchestra seine Uraufführung erlebte.

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George Benjamin ist kein Unbekannter beim Musikfest Berlin, seitdem er 2018/2019 Composer in Residence bei den Berliner Philharmonikern war. 2018 dirigierte George Benjamin die Uraufführung seines „lyrische(n) Theater(s)“ Into the Little Hill mit dem Mahler Chamber Orchestra.[2] Komponist*innen arbeiten meistens mit einem vertrauten Orchester zusammen. So ist denn auch eine enge Beziehung zwischen George Benjamin und dem Mahler Chamber Orchestra entstanden. Dass die Transkription der Three Consorts keine historische Aufführungspraxis des englischen Barock-Komponisten Purcell verfolgt, sondern durchaus mit Benjaminschen Klangfarben versehen ist, zeigt der Einsatz Koreanischer Tempelglocken. Benjamin versteht sich als Bewunderer wie als Forscher der Kompositionen und der „komplexen Polyphonie“ von Henry Purcell.[3] Denn Purcells Gamben-Consorts haben nicht zuletzt eine Sonderstellung in der englischen Musikgeschichte und Benjamin ist als Henry Purcell Professor of Composition seit 2001 am King’s College London gewissermaßen der akademische Experte für Purcell.

Benjamins Programm bot insofern einen Einblick in sein eigenes Komponieren. Mit Knussen hatte er 1995 zusammen die Fantasias von Henry Purcell bearbeitet. Und das Concerto for Orchestra ist Oliver Knussen postum gewidmet, worauf Benjamin großen Wert legt.[4] Im Konzert lassen sich denn auch Hinweise auf das die Transkription hören. So ist es denn wohl nicht zuletzt so, dass Igor Strawinskys spätes Kompositionsverfahren einen Wink gibt. Strawinskys Hinwendung zu neuesten Kompositionsverfahren in den Movements korrespondiert mit der Verknüpfung von Barock und Moderne bei Benjamin. Aufgeführt wurden die Stücke mit einer intimen Kenntnis der Werke, die Benjamin mit dem exzellenten Mahler Chamber Orchestra und Tamara Stefanovich erarbeitet hatte. Der Barock Henry Purcells und seine Polyphonie wirkt im Concerto for Orchestra fort und hört sich dennoch anders an.     

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John Eliot Gardiner hat mit seinen Barock-Programmen das Musikfest Berlin in den vergangenen Jahren wiederholt mit unvergesslichen Aufführungen auf historischen Instrumenten bereichert. Die Produktionen Gardiners haben Weltniveau und werden zu Referenzaufnahmen wie 2017 mit Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea von Claudio Monteverdi[5] oder 2019 mit Benvenuto Cellini von Hector Berlioz[6] – weitere ließen sich ergänzen. Wenn sich Gardiner einem Komponisten zum Jubiläumsjahr widmet, dann werden die historischen Aufführungspraktiken akribisch rekonstruiert und die Produktionen z.B. zum Monteverdi Jubiläumsjahr nach Venedig, London und New York übernommen. John Eliot Gardiner ist zu einer Marke und einer Erfolgsmaschine geworden. Die untrügliche Qualität und der kluge Humor seiner Einstudierungen genießen weltweites Ansehen, was sich nicht zuletzt in dem internationalen Publikum seines Kantaten-Konzerts am Freitagabend bestätigte. Denn die liturgische Form der Kantate lockte ganz bestimmt nicht das Publikum in die Philharmonie.

©Astrid Ackermann

Gardiner will uns mit seinem Programm etwas über die Zeitgenossenschaft von Bach und Händel als Kantatenkomponisten vermitteln.[7] Denn beide sind 1685 geboren und werden die Musik des Barock bis in die 50er Jahre des 18. Jahrhunderts prägen. Gardiner gilt als Bach-Experte und stellt diesem nun Händel gegenüber. Händel hatte als Musiker und Komponist bereits Erfahrungen an der Oper in Hamburg gesammelt, als er 1706 nach Italien, nach Rom aufbricht, wo die beiden aufgeführten Kantaten für die katholische Liturgie entstehen, d.h. sie wurden im Rahmen eines Gottesdienstes aufgeführt. Händel wird 1727 gar englischer Staatsbürger und prägt die bürgerliche Barockoper in London, wo sich das Empire durch Kolonialismus, Sklavenhandel, Rassismus und christlichen Glauben zur vorherrschenden Weltmacht aufschwingt. In seinen Kompositionen wird Händel ausgesprochen innovativ, so dass er an einem neuartigen bürgerlichen Gefühlshaushalt mitarbeitet. Beispielsweise wird in der Opera seria Orlando 1733 in London erstmals der Wahnsinn als Arie vorgeführt.[8]

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Während Johann Sebastian Bach 1707/1708 mit Christ lag in Todes Banden ein traditionelles Osterlied volkstümlichen Ursprungs von Martin Luther zur Kantate ausarbeitet, komponiert Georg Friedrich Händel insbesondere mit dem Psalm 110 als Dixit Dominus eine für liturgische Zwecke neuartige Gefühlsdramatik, die es mit dem Text des Psalms zu bedenken gilt. Demgegenüber hält sich die narrative Kantate Donna, che in ciel di tanta luce splendi für Sopran, Ann Hallenberg, und Chor zur „Dankliturgie“ für den 2. Februar im Rahmen vergleichbarer Kirchenmusiken.[9] Die Kantatenkompositionen werden heutzutage kaum noch aufgeführt, geschweige denn in einem Gottesdienst verwendet. Insofern leistet John Eliot Gardiner hier einen wichtigen Beitrag zur Kantatenforschung. Wenn in Deutschland zu Ostern Bach aufgeführt wird, dann werden die Johannes-Passion[10] oder das Osteroratorium gespielt. Mit Christ lag in Todes Banden stellt uns Gardiner nun allerdings einen äußerst fröhlichen, fast volkstümlichen Bach vor, der schon wegen dem beschwingten Lutherversdeutsch – „Christus“ als „Kruste“ – zum Schmunzeln anregt.
„Christus will die Kruste sein
und speisen die Seel‘ allein,
der Glaub‘ will keins andern leben.
Halleluja!“

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Theologisch wird der Psalm 110 auf verschiedene Weise ausgelegt. Strittig ist, wer spricht. Ist es Gott? König David? Oder ein beliebiger Herrscher, der zu wem spricht? Spricht er zu mir als Hörer, zur Gemeinde? – „Dixit Domino Dominus meo“ – Obwohl ich nicht ganz kirchenfern bin, ist mir Psalm 110 bislang nicht begegnet. Die Psalmen werden heute noch in einem zwischen Kantor und Gemeinde wechselndem Sprechgesang gebraucht. Sie sind Bestandteil der Gesangbücher der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es entsteht oft eine Dramaturgie von Frage, Antwort und Wiederholung, die stark normiert ist. Psalm 110 wird im Alten Testament dem König David zugeschrieben. Im Neuen Testament wird er häufig als prophetischer Text zitiert. Insofern formuliert er ein Vorwissen über Jesus Christus, der als Herrscher der Welt angekündigt wird. Mit anderen Worten: Psalm 110 formuliert ein christologisches Herrschaftswissen über die Welt. Durch die liturgische Praxis des wechselseitigen und gemeinsamen Sprechens wird einerseits eine Art Gemeinsamkeit und Teilhabe am Gottesdienst hergestellt. Andererseits wird durch die gemeinsamen Wiederholungen ein Wissen eingeübt, erinnert und bestätigt. In den Reformierten Kirchengemeinden wurden außer Psalmen keine Lieder gesungen. Das Wissen der Psalmen ist heutzutage weitgehend erodiert.  

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Weiterhin möchte ich für die Analyse von Dixit Dominus vorausschicken, dass im Barock die Artikulation von Psalmen und das Wissen von ihnen, ein Psalmenwissen, die Konfessionen spaltet. Für die unterschiedlichen Liturgien in reformierter, evangelischer, anglikanischer und katholischer Kirche spielen die Psalmen eine prominente Rolle. Die Blüte der Kantatenkompositionen im 18. Jahrhundert verweist nicht zuletzt auf einen Bedarf an neuen musikalischen Gestaltungsformen, weil sich die Konfessionen und Kirchen gegeneinander abgrenzen wollen. Schon im 17. Jahrhundert wird Paul Gerhardt zum prägenden Dichter von Kirchenliedern, der nicht zuletzt in Berlin ein erstes evangelischen Gesangbuch zusammenstellt. Georg Friedrich Händel wird in Hamburg ebenfalls Kantaten gehört haben. Doch Händels Reise nach Italien um 1700 entspricht gerade keinem Urlaubsversprechen, wie Schrammek in seinem Essay nahelegt, sondern dem Bildungsprogramm der Grand Tour, die John Brewer für das 18. Jahrhundert einmal als einen Wechsel von „aristocratic erudition to bourgeois sentiment“, von aristokratischer Gelehrsamkeit zum bürgerlichen Gefühl beschrieben hat.[11] Georg Friedrich Händel komponiert nun vermutlich in Venedig eine neue Musik und Artikulationsweise für die lateinische/katholische Fassung des Psalm 110.

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Wie kann die Aufgabe der Komposition eines Psalms gedacht werden? Psalm 110 ist verschiedentlich komponiert worden. Als Kantate wird der Psalm allerdings nicht mehr von oder mit der Gemeinde gesungen, vielmehr kommt ihm nun eine neue Funktion zu. Er wird für die Liturgie aufgewertet durch eine intensive Aufführung. Georg Friedrich Händel macht aus dem Psalmentext ein musikalisches Drama, das machtvoll beeindrucken soll. Die Komposition besteht darin, dass der Text rhythmisiert, intoniert, auf mehrere Stimmen verteilt, wiederholt und variiert wird. Das Ausgangsmaterial der Kantate ist insofern ein kanonischer Text der Liturgie in der evangelischen wie katholischen Kirche. Georg Friedrich Händel wird der Text mehr oder weniger vertraut gewesen sein, vermutlich hat er seine Verwendung während seiner Reise im Gottesdienst gar in einer Kirche in Italien gehört.
„Dixit Dominus Domino meo: sede a dextris meis,
donec ponam imimicos tuos
scabellum pedum tuorum.”  

Es ist nicht so, dass der Berichterstatter von vornherein gewusst hätte, was ihn mit Händels Dixit Dominus erwarte, vielmehr hörte und las er sich mit Hilfe der Textanzeige über dem Podium, an den Seiten und Rückwänden in der Philharmonie ein. Es gibt erste Höreindrücke, die im Programmheft notiert werden: „militaristisch, überheblich“ – „… bis Ich dir deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege“, ließ ihn schon aufmerken. Starker Stoff. Wer soll hier unterworfen werden? Und wie hörten es die Menschen zu Beginn des 18. Jahrhundert? Der Psalm 110 entfaltet eine Rhetorik der Feindschaft und Herrschaft bzw. Dominanz: „… dominare in medio/inimicorum tuorum“, was von einer Altstimme arios gesungen wird. Es hört sich im Text wie in der Musik nach einer emotionalen Steigerung an, die im göttlichen Zorn, lateinisch „irae“, ausbricht: „Dominus a dextris tuis/confregit in die irae sua reges.“ Die feindlichen Könige werden am Tag seines Zorns „zerschmettert“ werden. Psalm 110 benutzt nicht nur eine Drohungs- und Kriegsrhetorik, er sanktioniert diese zugleich durch den „Herren“. Händel komponiert diese Rhetorik zur mitreißenden, persönlichen und von höchster Stelle gerechtfertigten Gefühlsaufwallung.
„Judicabit in nationibus, implebit ruinas:
Conquassabit capita in terra multorum./
Er wird richten unter den Heiden. Er wird häufen die Toten.
Er wird zerschmettern das Haupt über große Lande.“

Händels Dixit Dominus lässt sich als ein wichtiges Scharnier in der Gefühlsgeschichte des Zorns auffassen. Da der Berichterstatter erst im Dezember über die Reihe Zorn – Geschichte eines politischen Affekts der Mosse-Lectures berichtet hatte, wurde er sogleich an Ute Freverts Mosse-Lecture zum Zorn und Hass erinnert, in dem auch auf den lateinischen Begriff „ira“ eingegangen worden war. Zorn, Wut und Hass liegen nah beieinander.[12] Johannes F. Lehmann setzt den Wechsel vom Zorn zum Hass um 1800 an. Der biblische Zorn Gottes wird im Psalm 110 als Bestrafung eines Fehlverhaltens sanktioniert. Doch Händel nimmt mit seiner Komposition und den intensiven Koloraturen auf „irae“ im Chor eine gefühlsgeschichtliche Verschiebung vor. Der Zorn findet nicht mehr als eine äußere Angelegenheit Gottes statt, vielmehr werden Zuhörer*innen vom Zorn in der Musik mitgerissen. Sie werden enthusiasmiert und angestachelt. Statt eines Sprechgesangs in der Liturgie wird Dixit Dominus zu einem dramatischen Gefühlsereignis, dem sich die Zuhörer*innen nur schwer entziehen können.

Der Zorn Gottes oder des Herrn entspringt in der gleichwohl poetischen Erzählung des Psalm 110 einer Suprematie, die bereits im 17. Jahrhundert den europäischen Kolonialismus sanktioniert. Die Überleitung allerdings in einen Gefühlshaushalt nicht nur des spanischen Adels, vielmehr noch des niederländischen und englischen Bürgertums geschieht in einer neuartigen Interpretation des Psalm 110. Nun wird Georg Friedrich Händels Dixit Dominus wahrscheinlich nicht ständig aufgeführt worden sein, so dass er eine große Wirkmächtigkeit entfalten konnte, vielmehr könnte er als ein Symptom für die Veränderung der politischen Gefühle wie Zorn des 17. und 18. Jahrhundert gelesen werden. Nicht zuletzt hat sich die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften in Vorbereitung des Kant-Jahres zum 300. Geburtstag um die Jahreswende 2020/2021 intensiv mit der Frage befassen müssen, ob Immanuel Kant ein Rassist war: „Kant – Ein Rassist?“, worüber berichtet wurde.[13] Unter Philosophen und Wissenschaftshistorikern konnte die Frage nicht eindeutig beantwortet werden. Als, sagen wir, Kind des 18. Jahrhunderts war Kant eher ein Rassist, der beispielsweise das frühe „Barbados-Prinzip“ inklusive Sklavenhandel und Ausbeutung von Sklaven bis in den Tod, das Sven Beckert beschrieben hat, ignoriert hat.[14] Kant ringt in seiner frühen Schrift von 1775 um einen Begriff der Rasse.

Dass die heftigen Gefühle des Dixit Dominus in der Musik diese im Publikum zu wecken vermögen, wurde mit den sofortigen Bravos und Standing Ovations mehr als bestätigt. Was war gehört worden? Lässt sich die Musik ganz vom Text lösen? Gefühle verfangen schnell und sind politisch. Dem Hass verdankt sich eine ganze politische Bewegung, die sich insbesondere die Rückeroberung bzw. Installation einer autoritären Kultur auf die Fahnen geschrieben hat. Georg Friedrich Händels Dixit Dominus inszeniert einen maximalen Hassausbruch aus einem geschlechtlich männlichen Überlegenheitsdenken, der mit der Musik für den achten Vers beruhigt und als berechtigt bestätigt wird. „Er wird trinken vom Bach auf dem Wege;/darum wird Er das Haupt emporheben.“ Mit dem Gloria des neunten Verses wird der heftige, selbstgerechte Gefühlsausbruch als göttliches und nunmehr menschliches, ja, genuin christliches Recht bestätigt. Ist das ein Bravo wert? Oder sollte das überdacht werden:
„Gloria Patri, et Fillio, et Spiritui Sancto:“
„wie es war im Anfang, so jetzt und alle Zeit
und in Ewigkeit. Amen.“

Torsten Flüh

PS: Im Jahr 2019 wurde das Aktionsbündnis Hass schadet der Seele begründet und ergänzt durch Liebe tut der Seele gut.

Musikfest Berlin
Mahler Chamber Orchestra
Sir George Benjamin
On Demand bis 13. September 2021, 16:00 Uhr.

English Baroque Soloists
Monteverdi Choir
John Eliot Gardiner
On Demand bis 14. September 2021, 16:00 Uhr.


[1] Paul Griffith: Von Vorbildern und Freundschaften. In: Musikfest Berlin: Mahler Chamber Orchestra – Sir George Benjamin. Berlin 02.09.2021, S.10-13.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Aufgespürte Stimmungen. Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 17, 2018 16:50.

[3] Paul Griffith: Von … [wie Anm. 1] S. 11.

[4] Ebenda S. 12.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Von der Wahrheit des Karnevals. Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea von Claudio Monteverdi beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 9, 2017 16:56.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[7] Vgl. Bernhard Schrammek: Zur gleichen Zeit in Rom und Mühlhausen. In: Musikfest Berlin: English Baroque Soloists, Monteverdi Choir – John Eliot Gardiner. Berlin 03.09.2021, S. 13-15.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Furioser CAMP im Campingbus. Orlando von Georg Friedrich Händel an der Komischen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 27, 2010 10:59.

[9] Bernhard Schrammek: Zur … [wie Anm. 5] S. 15.

[10] Zur Johannes-Passion siehe: Herzenssache. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion der Berliner Philharmoniker auf DVD und Blu-Ray. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 10, 2014 20:32.

[11] Siehe Torsten Flüh: Reisen mit Wissen und Gefühl. John Brewers Vortrag The eighteenth century Grand Tour: from aristocratic erudition to bourgeois sentiment im Wissenschaftszentrum Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 15, 2010 23:33.

[12] Siehe: Torsten Flüh: Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis. Zwischenlese zur digitalen Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Zorn – Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Dezember 2020.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[14] Siehe ebenda.

Le Bonheur du concert – Zur Uraufführung von Heiner Goebbels A House of Call

Konzert – Orchester – Stimme

Le bonheur du concert

Zur Uraufführung von Heiner Goebbels‘ A House of Call. My Imaginary Notebook mit dem Ensemble Modern Orchestra beim Musikfest Berlin

Wann beginnt ein Konzert? – Die beiden älteren Konzertbesucherinnen in der Reihe vor mir unterhalten sich angeregt, als die ersten Musiker*innen des Emsemble Modern Orchestra sich nach und nach auf ihre Plätze begeben. Der Dirigent des Abends Vimbayi Kaziboni dirigiert bereits ohne viel Aufhebens die ersten Takte. Kein Begrüßungsapplaus hatte die sicherlich versierten Konzertbesucherinnen aus ihrem Gespräch gerissen. Kaziboni dirigiert seitlich von rechts, während weitere Orchestermitglieder ihre Plätze einnehmen. Die Sitzordnung des Orchesters ist in die Waagerechte verrückt. Die Harfe ist rechts leicht hinter dem Dirigenten positioniert. Welch merkwürdige Orchesterordnung. Alles ist anders. Das Konzert hat ohne den Großteil seiner Rahmungen kaum merklich begonnen. Wenn der Begriff nicht gerade so furchtbar stumpfsinnig missbraucht würde, ließe sich sagen, dass nicht nur das Orchester quer zum Publikum angeordnet ist. 

Die Uraufführung von Heiner Goebbels A House of Call ist eine Glücksstunde des Konzerts und des Orchesters geworden. Die Komposition hat keine Genrebezeichnung. Es erinnert unterdessen an Musiktheater. Die Musiker*innen und Techniker*innen sind beim Schlussapplaus derart von der Arbeit mit dem Komponistenregisseur begeistert, dass sie vor Glück trampeln und stehend Ovationen spenden. Auf ebenso ausgeklügelte wie weithin unterhaltsame Weise hat Heiner Goebbels die Konstruktion eines Konzerts, wie es sich seit Ludwig van Beethovens Symphonien im eurozentrischen Konzertbetrieb herausgebildet hat, erforscht, durchleuchtet und nachgehört. Denn das Projekt ist nicht zuletzt Nachhall des Beethoven-Jahres 2020 und wurde gefördert im Rahmen von BTHVN 2020. Winrich Hopp, der Künstlerische Leiter des Musikfestes Berlin, setzt mit Heiner Goebbels A House of Call eine Art Schlussakkord zum Nachdenken über Beethoven.

In A House of Call reflektiert das Orchester über sich selbst. Winrich Hopp hatte bereits mehrfach den Orchesterapparat, wie er sich im 19. Jahrhundert herausbildet, beim Musikfest Berlin in die Aufmerksamkeit gerückt. So wurde John Eliot Gardiner zu einem gern gesehenen Gast wie 2019 mit Hector Berlioz Benvenuto Cellini, in dem eine Ophicleide zum Einsatz kam.[1] In diesem Jahr wird John Eliot Gardiner am 3. September mit seinen English Baroque Solists und dem Monteverdi Choir wieder dabei sein.[2] Geht es Gardiner um eine Rekonstruktion des Orchesters vor seiner Normalisierung, Normierung und Ökonomisierung im 19. Jahrhundert, so setzt Heiner Goebbels mit Ironie in seinem Musiktheaterstück radikaler an. Wenn Orchester und Konzert ein Format der Performance sind, dann können sie auch anders aufgeführt werden, um auf die Konventionen aufmerksam zu machen. Das Orchester betrachtet sich buchstäblich selbst, wenn in einer Sequenz alle Violinen das Konzertpodium verlassen und nach einiger Zeit wieder hereinkommen, um mit dem Rücken zum Publikum das Orchester zu betrachten.

Ein Orchester, das die Aufführungspraktiken reflektiert, muss ein besonderes sein. Die eingeübten Praktiken des Konzertformats sind ein Regime, das andere Stimmen marginalisiert. Heiner Goebbels macht jene, wenn nicht explizit hörbar, so doch erahnbar. Die Aufführungspraktiken gehören so sehr zum Musikwissen, dass sie quasi unhörbar und unsichtbar werden. Alles beginnt damit, dass sich der Beginn kaum festlegen lässt. Kein Kammerton a wird an- und abgestimmt, wie es vor dem Auftritt des Dirigenten im Konzertbetrieb üblich ist. Trotzdem spielt sich das Ensemble Modern Orchestra auf geheimnisvolle Weise bis zum Rhythmus der Tanzmusik ein. Was fehlt? – Es fehlt die Textanzeige, wie sie heute auf Opern- und Konzertbühnen üblich geworden ist. Sie fehlt, obwohl es viel Text gibt. Heiner Goebbels hat sie gewiss abhängen lassen, weil die Zuhörer*innen der so vermittelten Form von Musik- und Textwissen nicht aufsitzen sollen. Goebbels geht es um eine andere Form des Musikverstehens.

©Astrid Ackermann

Trotzdem sind es bestimmte, gleichsam programmatische Musikstücke und Texte, die zitiert und komponiert werden. Was habe ich gehört? Das ist eine Frage nach dem Musikwissen, das das Hören bei Goebbels nicht einfach überdecken soll. Das Hören lässt sich u.a. seit Roland Barthes als eine sehr individuelle Angelegenheit bedenken. Der Komponist bietet ziemlich üppiges Material zum Hören, das sich auf unterschiedliche Weise hören und sehen lässt. Heiner Goebbels hat mit Hendrik Borowski eine aufwendige Lichtregie erarbeitet, die auf das Hören einwirkt. Statt eines Textbuches wird eine „Materialausgabe“ zusätzlich zum Programm angeboten.[3] Das Material geht weit über ein Textbuch hinaus. Es bietet vielmehr eine Textur, die im Forschungsprojekt der Georg Büchner-Professur am Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem Internationalen Forschungskolleg „Interweaving Performance Cultures“ an der Freien Universität Berlin entstanden ist.[4]

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Die Materialausgabe formuliert die Frage nach der Musik und ihrem Wissen von sich selbst tiefer. Heiner Goebbels selbst hat von A House of Call als Orchesterzyklus gesprochen.[5] Als Prélude lässt er in der Materialsammlung „die frühste erhaltene Version der „Roderick O’Connor“-Passage aus Finnegans Wake“ von James Joyce abdrucken.[6] Der „(h)andschriftliche Entwurf“[7] präsentiert eine eng beschriebene Papierseite, auf der nicht nur mehrere Blöcke in unterschiedlichen Schriftgrößen beschrieben sind. Vielmehr gibt es viele Striche zwischen den und über die Zeilen, als sollten sie Verknüpfungen, Durchstreichungen, Hervorhebungen oder Abgrenzungen herstellen. Eine Art Textur, die sich nur schwer linearisieren und entziffern lässt. Aus dieser Textur extrahiert Goebbels „die Zeile“ „a prolonged visit to a house of call”, um sie sogleich anders und neu zu verknüpfen.
„unweit des onomatopoetischen „roaratorio“, das dem Hörstück von John Cage den Namen geben sollte. Ein Hörstück, das mich nachhaltig geprägt hat, weil sich John Cage inmitten eines Stroms vieler Stimmen, Mesostichon für Mesostichon, durch die 628 Seiten des Romans liest – wie ein „gesungenes Schreiben der Sprache“. So hat Roland Barthes die Rauheit (Körnung) der Stimme beschrieben und diese Rauheit – le grain de la voix – macht das Gemeinsame der Stimmen aus, die sich in meinem imaginären Notizbuch eingefunden haben.“[8] 

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Heiner Goebbels knüpft in dieser Formulierung, die den Orchesterzyklus vermeintlich erklärt, nicht nur an James Joyes, John Cage und Roland Barthes an. Der erklärende Text bleibt auch höchst rätselhaft. Denn die Onomatopoesie zielt nicht auf einen Sinn oder eine Aussage, eine Erzählung gar, vielmehr geht es um die Transformation von Lautmalerei, Klang- und Schalleffekte durch Sprache. Im „roaratorio“ ließe sich sowohl ein Brüllen (roar) wie ein Oratorium als Musikgenre wie als Redekunst oder auch ein Betsaal lesen und hören. Das Mesostichon liest den Text denn auch nicht in Zeilen, sondern „Spalten“, die hier durchaus mehrdeutig verstanden werden dürfen.[9] Auf der Mitte der Zeile von oben gelesen ergibt sich nach einer Praxis des Barocks ein Name oder ein verschlüsselter Sinn. John Cage hat eine derartige Praxis des Senkrechtlesens auf Finnegan’s Wake mit „roaratorio“ angewendet. Das „gesungene() Schreiben der Sprache“ unterläuft wissenstiftende Narrative, die zumindest für Joyes‘ Roman noch auf der Zeile gesucht werden. 

©Astrid Ackermann

Das englische Notebook ist nicht nur ein Notizbuch oder kleiner, handlicher, mobiler Computer, vielmehr spielt Heiner Goebbels mit dem „imaginären Notizbuch“ auf die reiche Ambiguität des Begriffs note im Französischen an, wie es Roland Barthes für sein letztes Buch La chambre claire – Note sur la photographie benutzt hat.[10] Denn note weist im Französischen und bei Roland Barthes an der Grenze von Essay und Wissenschaft die Mehrdeutigkeit von Notiz, Zeichen, diplomatischer Mitteilung und Musiknote etc. auf.[11] Der Orchesterzyklus zielt auf keine Erzählung ab, sondern auf das Inkommensurable der Stimmen im mehrfachen Sinne ab. Es sind Stimmen unterschiedlicher Herkunft, Sprachen und Artikulationsweisen ebenso wie Stimmen im Kosmos der Meinungen oder auch Stimmen wie die von Pierre Boulez mit seinem Stück Répons. Doch die Körnung der Stimme – „le grain de la voix“ –, von der sich schwer sagen lässt, was sie ist, hebelt eingeübte Wissensprozesse aus. In Roland Barthes‘ grain ist nicht nur die Rauheit oder Körnung angelegt und mitgedacht. Ebenso wird damit auf den Samen angespielt, der etwas werden lässt.[12] Im „imaginären Notizbuch“ als eine Art Partitur von A House of Call wird die Mehrdeutigkeit zum Kompositionsverfahren.

©Astrid Ackermann

Die Materialausgabe lässt sich als ein wunderbarer Kommentar zum vierteiligen Orchesterzyklus lesen. Heiner Goebbels beschreibt sein Material detailliert. Soll man die Materialausgabe vor einer Aufführung gelesen haben, damit man die Musik besser versteht? Keinesfalls. Dann ginge die Rauheit wohl gar verloren, die nicht zuletzt immer etwas geheimnisvoll ist. Doch A House of Call generiert sich ebenso aus all jene sich überschneidenden Stimmen, die für Heiner Goebbels bei der Montage als Kompositionsverfahren eine Rolle gespielt haben. Als ich den ersten Teil in der Uraufführung höre, weiß ich nicht, welche Rolle die „endlos geloopte(), barock anmutende() Orgelkadenz“ im Leben des Komponisten gespielt hat und auf was sie für ihn verweist:
Ein anderer Anfang. 1981 erwerbe ich für eine Theatermusik auf Kampnagel in einem Hamburger Secondhand Shop eine billige Heimorgel. Im Jahr darauf entstehen zwei Stücke, deren Charakteristik von der in der Orgel eingebauten Rhythmusmaschine geprägt ist: DIE LETZTE BUCHE (Frau K. erzählt vom Bau der Startbahn West) und O Cure Me, ein Stück der Gruppe Cassiber, mit einer endlos geloopten, barock anmutenden Orgelkadenz, zu der ich „Ach heile mich, du Arzt der Seelen“, einen Text von Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 135, mitbringe. Christoph Anders ruft ihn auf Englisch – uraufgeführt anläßlich unseres ersten Konzerts beim Frankfurter Jazzfestival in der Alten Oper 1982. Das deutsche Original dieser Anrufung, gesprochen von Alfred Harth, taucht 1984 auf unserem zweiten Album The Beauty and The Beast in dem Stück Ach Heile Mich noch einmal auf.“[13]   

©Astrid Ackermann

Die unendliche Ambiguität von A House of Call, die sich mit der Materialausgabe in immer wieder neuen Erzählungen zur Produktion ankündigt, klingt bereits an den wiederholten Benennungen des Stücks als Orchesterzyklus, „Liederbuch für Orchester“[14] oder Musiktheater und noch vielmehr an. Glaubte man, dass man dieses Orchesterwerk mit einer dieser Benennungen hätte, es gleichsam begriffen und erfasst hätte, müsste man eingestehen, dass es immer wieder weitere Schichten und Geschichten gibt, die in die Produktion als Material eingegangen sind, um damit wieder alles umzuschreiben.
Bei einer ersten Probenphase mit dem Ensemble Modern Orchestra im März 2019 spielen wir zu diesem Loop Teile aus Réponse von Pierre Boulez. Als ich Winrich Hopp, dem künstlerischen Leiter des Musikfest Berlin und der Münchner musica viva, danach von diesem Versuch berichte, erinnert er sich, wie er die Uraufführung der ersten Fassung 1981 live im Radio miterlebt hat, aber nach wenigen Minuten die Übertragung abrupt abbrach. Erst nach einer längeren Pause konnte Réponse von Neuem und dann komplett gespielt werden. Der für das Introitus vorgesehene Ausschnitt endete zufällig genau dort, wo in Donaueschingen der Blitz eingeschlagen hatte.[15]   

©Astrid Ackermann

 A House of Call generiert sich nicht zuletzt aus der Musik-, Lebens- und Produktionsgeschichte seit den 1980er Jahren. Sie ist gleichfalls ein Stück Technikgeschichte der Musik im 20. Jahrhundert, wenn Tod Machover darauf aufmerksam macht, dass mit Répons eine neue „Digitaltechnik“ zum Einsatz kam. Die Pointe bei der Uraufführung lag nun darin, dass die „Digitaltechnik“ nicht nur im Rundfunk durch den Blitzeinschlag lahmgelegt wurde, wie sich Winrich Hopp erinnerte, sondern dass die Stromunterbrechung die Computer in Donaueschingen selbst stillstehen ließ. Es war Pierre Boulez‘ „erste(s) Werk, das er am Pariser IRCAM realisiert hatte, und (…) das erste, in dem die neueste Generation der Digitaltechnik zum Einsatz kam“.[16] Der „Anfang“ von A House of Call setzt insofern mit einem Moment der Technikgeschichte in der Musik des 20. Jahrhunderts ein. Man könnte durchaus sagen, bei allen Stimmen und dem Orchester geht im Werk Heiner Goebbels‘ gleich auf mehrfache Weise um die Technikgeschichte der Musik, weil es mit einer „billige(n) Heimorgel“ und der neuen Digitaltechnik aus dem IRCAM, dem Institut de recherche et coordination acoustique/musique verknüpft ist.

©Astrid Ackermann

Die allerneueste Musiktechnik spielt nicht zuletzt deshalb in der Berliner Philharmonie mit A House of Call eine Rolle, weil auf diesem Konzertpodium der Berliner Philharmoniker sonst keine bzw. eine andere, ältere zum Einsatz kommt, die in gewisser Weise fetischisiert wird. Zur Instrumentation gehört nicht nur ein „Sampler (EXS24 kompatibel)“, sondern neben „Elektrischer und akustischer Gitarre (mit E-Bow, Bottle Neck, Octaver/Pitch Shifter und Distortion)“ sowie „Klavier (mit 2 E-Bows)“ eine „komplette() Mikrofonierung und Verstärkung aller Instrumente“.[17] A House of Call ist mit seinen Zuspielungen und akustischen Bearbeitungen nicht zuletzt elektronische oder elektroakustische Musik, wie sie wohl bei MaerzMusik, beim ultraschall festival oder kleineren Festivals wie KONTAKTE[18] in der Akademie der Künste aufgeführt und erforscht wird, aber nur in Ausnahmefälle in der Philharmonie zur Aufführung kommt. Ausgeweitete Spieltechniken und Elektronik sind ein Gerüst für das Orchesterwerk.  

Die rhetorische Figur der Ironie spielt für A House of Call eine wichtige, wenn nicht strukturierende Rolle. Sie ließe sich vermutlich in mehreren Sequenzen aufspüren. Mit der Ironie geht es zunächst einmal um eine Vortäuschung, Täuschung oder Verstellung, die humorvolle Züge annehmen kann, um etwas Gegenteiliges auszusagen oder darzustellen. Dass Heiner Goebbels mit der Figur der Ironie arbeitet, wurde mir spätestens gegen Schluss klar, als Vimbayi Kaziboni sehr präzise dirigierte, doch nicht ein einziges Instrument im Orchester gespielt wurde, sondern der Ton aus dem Sampler kam. Der „Sampler (EXS24 kompatibel)“ ist in der Instrumentation ausdrücklich aufgeführt. Es ist paradox und höchst ironisch für die Position des Dirigenten, elektronisch gesampelte, elektronisch erzeugte Musik zu dirigieren. Das Programm macht die Musik und nicht der Dirigent. – Da es während dieser Sequenz zu keiner hörbaren Äußerung des Publikums kam, kein Kichern, Schmunzeln war wegen der FFP2 über Mund und Nase nicht zu sehen, dem Sampler-Pult wurde gar nicht applaudiert, geht der Berichterstatter davon aus, dass ein Großteil des Konzertpublikums die Ironie gar nicht mitbekommen hat.

Am Schluss stimmt der Dirigent Vimbayi Kaziboni einen Sprechgesang an, in den die Orchestermitglieder einstimmen. Das wirkt sehr berührend. Nachdem für einen Moment die Stimmen verklungen sind, das Publikum noch nicht genau weiß, ob die Aufführung beendet ist, setzt tosender Applaus ein. Da die fünf Teile und ihre Sätze attacca aufeinander folgten, war das Konzert wie sonst üblich von keinem Applaus unterbrochen worden. Es ließen sich noch viele Passagen aus der Materialausgabe zitieren und verarbeiten. Auch könnte der Berichterstatter, noch über den einen oder anderen persönlichen Höreindruck schreiben. Doch das bleibt aufgespart. Viel wichtiger erscheint, dass Heiner Goebbels mit dem Ensemble Modern Orchestra und Vimbayi Kaziboni sowie der Technik ein faszinierendes und geheimnisvolles Orchesterwerk produziert hat, das einzigartig geworden ist. – Es wird in mehreren Städten aufgeführt werden.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2021
bis 20.9.2021

Musikfest on Demand
Eröffnungskonzert
Ensemble Modern Orchestra
Aufzeichnung des Konzerts vom 30. August 2021
On Demand verfügbar vom 31. August 2021, 16:00 Uhr bis 10. September 2021, 16:00 Uhr

Ensemble Modern Orchestra
A House of Call. My Imaginary Notebook
Konzerttermine bis 29

English Baroque Soloists
Monteverdi Choir – John Eliot Gardiner, Leitung
Händel | Bach
3. September 2021


[1] Siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[2] Musikfest Berlin: English Baroque Soloists, Monteverdi Choir – John Eliot Gardiner, Leitung – Händel | Bach 3. September 2021.

[3] Heiner Goebbels: A House of Call. Materialausgabe. Berlin: Neofelis, 2021.

[4] Siehe ebenda ohne Seitenzahl (S. 3).

[5] Siehe Heiner Goebbels: Biography.

[6] Heiner Goebbels: A … [wie Anm. 3] ohne Seitenzahl (S. 7)

[7] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 8)

[8] Musikfest Berlin: Eröffnungskonzert Heiner Goebbels „A House of Call“. Berlin 30.08.2021, S. 7.

[9] Heiner Goebbels: A … [wie Anm. 3] S. 13.

[10] Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, Le Seuil, 1980.

[11] Siehe das französische Wiktionary für note.

[12] Siehe das französische Wiktionary für grain.

[13] Heiner Goebbels: A … [wie Anm. 3] S. 21.

[14] Ebenda S. 11.

[15] Ebenda S. 21.

[16] Ebenda S. 23.

[17] Musikfest Berlin: Eröffnungskonzert … [wie Anm. 8] S. 6.

[18] Siehe z.B. Torsten Flüh: Von der Rückkehr des Nullstrahlers. Zu KONTAKTE ’17, der 2. Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN October 2, 2017 19:13.

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Leben durch Entgrenzungspraktiken

Ein Rückblick auf die Retrospektive zu Yayoi Kusama im Gropius-Bau und als Digitaler Guide

Die vielfältige Kunst von Yayoi Kusama lässt sich mit immer wieder neuen und anderen Entgrenzungspraktiken formulieren. In ihrer Malerei spielt die Entgrenzung seit der ersten Ausstellung 1952 in ihrer ländlichen Heimatstadt Matsumoto eine strukturierende Rolle. Sie könnte bereits in der Zeichenkombination 弥生, Yayoi, angelegt sein. Denn der nach westlicher Schreibweise vorangestellte Vor- oder Beiname klingt für Japaner*innen oder den dem Japanischen kundigen Semiotiker Götz Wienold nicht nach einem persönlichen Namen. Vielmehr hört er darin sogleich 弥生時代, Yayoi jidai, das Yayoi Zeitalter, das zu Beginn des europäischen Neolithikums anbricht, die Bronzezeit und den Beginn der Eisenzeit überdauert. Es wird vom 10. bis ins 6. Jahrhundert vor Christus angesetzt.[1] Das erste Zeichen von 弥生 wird mit neu übersetzt, das zweite mit Leben.[2]

Die Überschneidung des weiblichen Vornamens mit einer Epoche der japanischen Frühgeschichte lässt beim Hören und Lesen das Subjekt des Wissen zwischen Name und Menschenzeitalter schwanken. Gleichzeitig wird mit dem „neuen Leben“ eine Zäsur angeschrieben. Historisch gesehen beginnt mit Yayoi ein intensiver Reisackerbau und die Sesshaftigkeit der vormals nomadischen Kulturen. Das „neue Leben“ ist aus japanischer Perspektive ein Wendepunkt der Humangeschichte. Der Name als Versprechen könnte Yayoi Kusama zu all jenen Praktiken ermuntert haben, die das Leben beispielsweise in biomorphen Formen in Malerei und Skulptur, aber ebenso in Stoffpenissen, Spiegelkabinetten und Happenings der späten 60er Jahre in New York feierte. Nicht zuletzt revolutionierte sie die Kunst wie die Lebensformen auf neuartige Weise, wie sie selbst einmal formulierte: „I wanted to start a revolution“.[3]

Die Retrospektive im Gropius Bau eröffnete mit einer neuen, raumfüllenden Skulptur, die das Biomorphe feiert. Magentafarbene Tentakel füllen den zentralen Lichthof des Gropius Baus aus und reichen bis in den ersten Stock. Ihre Form wird durch ein hörbares Gebläse erhalten. Die Haut der Tentakel könnte aus Fallschirmseide oder einem ähnlichen Material angefertigt worden sein. Das Magenta ist von schwarzen Punkten übersät. Yayoi Kusama nennt die raumgreifende Installation „A Bouquet of Love I Saw in the Universe”. Leben die Tentakel, die aus dem ebenfalls magentafarbenem, gepunkteten Museumsboden herausragen? Was wollen sie ertasten? Sie bohren sich in den Raum. Sie penetrieren ihn. Die eigens für den Gropius Bau geschaffene Installation konnte von den Besucher*innen durchwandert werden.

Auf der Webseite zur Ausstellung kann der Lichthof mit seiner Installation als 3D-Raum  und Virtual Reality erforscht werden. Mit Oculus Quest lässt sich der Raum als Virtual Reality erleben. Die ganze Ausstellung steht auf der Website als Virtual Reality wohl nicht zuletzt wegen der Covid-19-Pandemie und dem anhaltenden Lockdown im ersten Halbjahr 2021 zur Verfügung. Am 22. April 2021 fand die Eröffnung im Livestream als Digital Opening statt. Diese Verknüpfung der Ausstellung mit den neuartigen Technologien der Künstlichen Intelligenz und Virtual Reality, wie sie schon im Juni 2018 mit Cyprien Gaillards 3-D-Film oder Nonny de la Peñas After Solitary in der Ausstellung Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren am gleichen Ort zum Zuge kamen[4], gehört zur Aktualität Yayoi Kusamas. Ihre neue Installation mit dem Versprechen, das Universum zu sehen, knüpft an ihre früheren immersiven Räume an und generiert als Virtual Reality ähnliche Effekte.

Wie wird die Unendlichkeit visuell erzeugt? Virtual Reality kann ebenso durch geschlossene Räume wie die Gefängniszelle von Nonny de la Peña wie endlose und unendliche Räume durch Künstliche Intelligenz generieren. Der auf gleiche Art wie die Tentakel ausgelegte Museumsboden bietet in der Lichthof-Installation visuell keinen Boden. Allerdings lässt er sich begehen und täuscht so darüber hinweg, dass die Installation visuell endlos ist. Der Modus der durch Spiegel erzeugten Wiederholung lässt einen unendlichen Raum entstehen, wie es Thomas Oberender in seinem Grußwort formuliert.:
„Spiegel lassen virtuelle, scheinbar unendliche Räume entstehen, sie sind eine Reise in den Kosmos, galaktische Bilder eines uns umgebenden Sternenmeers. Ich freue mich daher besonders, in Kusamas Einzelausstellung im Gropius Bau in einen neuen Infinity Mirror Room einzutauchen.“[5]

Die Immersion wird weniger als eine körperliche als vielmehr eine Praxis des Eintauchens insbesondere durch visuelle und taktile Wahrnehmungen geübt. Das Eintauchen wird schon seit dem 17. Jahrhundert nicht nur als Praxis der Veränderung gebraucht wie etwa von Adelung als „(d)as Tuch eintauchen, in die Farbe“[6], vielmehr kennt schon der frühbarocke Dichter Paul Melissus 1572 in seiner „psalmenübersetzung“ aus dem Latein „einteuchen“ als Gefühlsregung, wenn er dichtet „des stirn durch uner eingeteucht/mit schamröt sie belaist“.[7] Die Immersion verändert Wahrnehmungen plötzlich durch Gefühle. Yayoi Kusama hat seit den 1950er Jahren zunächst mit ihrer Malerei diesen Bereich der Wahrnehmung z.B. 1950 mit Earth of Accumulation auf einem Saatgutsack erforscht.[8] Sowohl die visuellen Motive der Tentakel wie auch der Punkte auf deren Oberfläche, die sie später „Polka dots“[9] nennen wird, werden hier in opaker Weise ausprobiert. Zugleich verwendet Yayoi Kusama für dieses Bild einen Saatgutsack statt Papier oder Leinwand als Maluntergrund, der mit seiner organischen Struktur das Biomorphe zwischen Fauna und Flora ankündigt. Wir wissen nicht, ob Earth of Accumulation mit dem Saatgutsack bereits ein visuelles Programm ankündigen soll oder ob der Maluntergrund ein Zufall war.

Der Begriff der AkkumulationEarth of Accumulation – wird seit 1950 bis in die Titel für jüngste Arbeiten wiederholt verwendet. Er gibt einen Wink auf das Netz der Begriffe, mit denen die Künstlerin immer wieder über ihre Arbeiten gesprochen hat. Insofern werden mit dem Gemälde auf Saatgutsack all jene Begriffe ihrer visuellen Sprache angekündigt, die ihr Künstler*innenleben bis auf den heutigen Tag ausmachen. Zu sehen sind indessen keine Anhäufungen, die einen Haufen oder Hügel bilden, vielmehr dehnt sich die Ansammlung der gepunkteten Tentakelformen im Querformat vor einer Art Horizont ins Endlose aus. Die Tentakelformen werden in einer Weise angehäuft, dass sie sich überlagern. Die Ambiguität von earth im Englischen gibt ebenso einen Wink auf den earthworm, dem Regenwurm, wie die visuelle Welt. Der Begriff accumulation wird gleichfalls in vielfältiger Weise für Anhäufung wie für Vermehrung in ökonomischer, geologischer wie rhetorischer Hinsicht gebraucht.[10] Die Accumulatio schließlich ist u.a. eine rhetorische Figur der Wiederholung.

Yayoi Kusama entwickelt frühzeitig eine visuelle Rhetorik der Accumulatio und Variation, die eine ganz eigene Kosmographie generiert. Sucht sie einen Kosmos oder hat sie durch ihre visuelle Rhetorik einen „eigenen“ Kosmos geschaffen? Diese Frage wurde und wird von Rezensenten wiederholt gestellt. Im Katalog wird allerdings nicht von visueller Rhetorik, wohl aber „Bildsprache“[11] geschrieben, obwohl die Rhetorik als ein verknüpfendes Regelwerk bei der Wahrnehmung und Würdigung des Werks beitragen könnte. Mit Earth of Accumulation ließe sich formulieren, dass der Kosmos nicht einfach in einem Draußen zu suchen wäre. Vielmehr kommen Formen der Rhetorik zum Einsatz, um beispielsweise mit den Infinity Nets, die sie erstmals 1958 in der New Yorker Brata Galery präsentierte[12], einen solchen zu generieren. Stephanie Rosenthal zitiert in ihrem Katalogessay einen Rezensenten, der das Narrativ der Suche vorzieht:
„Ein Rezensent der Zeitung Komei würdigte die Bandbreite der ausgestellten Arbeiten und feierte die Schau als gute Gelegenheit, etwas über die Entwicklung von Kusamas OEuvre seit den 1950er Jahren zu erfahren. Für den Autor sei Kusama auf der Suche nach dem universellen Register; sie postuliere die Auslöschung des Körpers in den Weiten des Kosmos: „Es ist nichts anderes als ein Bild des ‚Wucherns‘, doch andererseits stellt Kusama uns auch Menschen und diese Erde vor, und nur ein Punkt verschwindet in den Weiten dieses riesigen Universums.“[13]   

Das Verschwinden durch Akkumulation lässt sich als eine Figur der visuellen Rhetorik bei Yayoi Kusama beschreiben. Ob es die zunehmend lustigen Punkte als „Polka Dots“ oder die Tentakel als Penisse sind, immer verschwinden die einzelnen Punkte oder Penisse in der Vielzahl ihres Auftretens bzw. im Modus der Akkumulation. Die Akkumulation bringt die Gefühle zwischen Schrecken und Lächerlichkeit ins Schwanken. Die Akkumulation trägt als Aggregation: One Thousand Boats Show (1963) zur Ambiguität bei. Akkumulation und Aggregation lassen sich synonym verwenden. Gleichzeitig tauchte die Künstlerin in ihr Environment physisch selbst ein, worauf Stephanie Rosenthal aufmerksam macht:
„Ihr Interesse an einer buchstäblichen Verschmelzung mit ihren Werken kommt in den Fotografien der Ausstellung zum Ausdruck. Auf einem Foto sitzt sie nackt auf der Bootskante und macht so die Körperlichkeit des Werks nur noch sinnfälliger. Wenn sie sich physisch in diese Installationen versetzt, dann um den Besucher*innen das Werk durch körperliche Wahrnehmung nahezubringen.“[14]

1965 hat Yayoi Kusama zum ersten Mal in der Castellane Galery, New York, die Penisse mit den Punkten in einem Spiegelraum kombiniert. Wird der Spiegel gewöhnlich zur Überprüfung des Aussehens als Selbstpraxis verwendet, geht es der Künstlerin wiederum um das Eintauchen als Praxis des Verschwindens durch Akkumulation der Spiegelbilder von sich selbst. Die Installation Infinity Mirror Room – Phalli’s Field stellt einen Raum her, der sich noch an dem Boden orientiert. Der Spiegelraum wird mit seinen roten Punkten, die ins Endlose vervielfältigt werden, für Yayoi Kusama entgegen herkömmlicher Praktiken zu einem Versuch der „Selbstauslöschung“. Sie will im roten Anzug zu einem Punkt unter anderen werden. Zugleich soll der Spiegelraum von den Betrachter*innen nicht nur angeschaut werden, vielmehr sollen sie selbst als Punkte teil der Installation werden.
„„Mit Phalli’s Field wollte ich zeigen, dass ich eines der Elemente bin – einer der Punkte unter den Millionen von Punkten im Universum. Wenn ich mich in dieser Arbeit in den unendlichen Punkten vergrabe, wird meine geistige Kraft als Punkt gestärkt.“ (…) Die Spiegel vervielfachten nicht nur die skulpturalen Werke und Kusamas eigene Form, sondern machten das Publikum in einer Mise en abyme zum Teil der Umgebung. Das Werk war an sich partizipatorisch, da es die Besucher*innen zum Thema eben dieses Werks machte.“[15]

Die Retrospektive wird selbst zu einer immersiven Erlebnisform, insofern chronologisch die wichtigsten Ausstellungen durch forschungsbasierte Archivarbeit im Gropius Bau rekonstruiert werden. Die Besucher*innen betreten immer wieder Räume, die aus den Archiven rekonstruiert worden sind. Es ist eine Art Parcours durch die Zeiten der Ausstellungen geworden, die schließlich in einen neuen, immersiven Infinity Mirror Room mit dem Titel „The Eternally Infinite Light of the Universe Illuminating the Quest for Truth“ führen. Die Besucher*innen können sich selbst in einem kosmischen Spiegelkabinett aus Punkten/Kugeln und Stangen erleben und sehen. Doch ist diese Form der Immersion wirklich stärker als der finale Ausstellungsraum, indem die sowohl seriellen wie auch singulären Arbeiten „der bis heute andauernden Serie von Gemälden, die mit Acryl auf Leinwand gemalt werden,“[16] vielzählig bis unter die Decke übereinander und nebeneinander gehängt werden? Die Besucher*innen finden sich geradezu eingetaucht in My Eternal Soul. Lässt sich eine stärkere Immersion vorstellen, als in die ewige Seele von Yayoi Kusama einzutauchen?

In der Fülle der Variationen von Punkten, Linien und pulsierenden Farben wird die bloße Wiederholung aufgebrochen und zugleich durch die Serialität bestätigt. Die Formate variieren. Die Farben und Linien arbeiten gegen die Wiederholung. Es ist, als habe sich das Diktum vom Wunsch des Verschwindens umgekehrt. In den Netzen, Punkten und Phalli herrschte die Wiederholung. Nun erscheinen Sonnen und höchst variable Muster, um sie als „Eternal Soul“ zu benennen. Nicht ein Bild wird wiederholt. Immer wieder erscheinen neue Muster, was durchaus einen Wunsch zur Variation verrät. Denn wie leicht geschieht es, dass man sich wiederholt in Erzählungen und Bildern. Diese serielle Diversität der Seele fasziniert und fordert das Eintauchen, weil ein Kunstwissen von den Variationen unterlaufen wird. Der Katalog und die digitalen Formate der Retrospektive machen sie weiterhin zu einer besonders intensiven Forschung an der Schnittstelle von Malerei, Skulptur, Kunst und Virtual Reality.

Torsten Flüh

Gropius Bau
Yayoi Kusama: Eine Retrospektive
A Bouquet of Love I Saw in the Universe
Online

Katalog:
Stephanie Rosenthal (Hg.):
Yayoi Kusama
草間彌生
Eine Retrospektive.

München: Prestel, 2021
Hardcover, Pappband, 352 Seiten, 22,0 x 28,0 cm, 361 farbige Abbildungen, 107 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-7913-7828-2
€ 45,00 [D] inkl. MwSt.
€ 46,30 [A] | CHF 61,00 * (* empf. VK-Preis)


[1] Die chinesisch-japanische Altertumsforschung geht von 10. bis 6. Jahrhundert aus, während die deutsche Forschung nach Wikipedia von 300 vor bis 300 nach Christus bis ins 20. Jahrhundert ausgeht. Die aktuelle Altertumsforschung für den chinesisch-japanischen Raum hat sich offenbar auf den früheren Zeitraum geeinigt. Vgl. dazu „Yayoi-Zeit“ (de.wikipedia.org) und „Yayoi period“ (en.wikipedia.org).   

[2] Wiktionary kennt 弥生 auch als weiblichen Vornamen, obwohl er als solcher offenbar nicht allzu häufig vorkommt. (en.wiktionary.org)

[3] Zitiert nach Stephanie Rosenthal: Vorwort. In: Stephanie Rosenthal (Hg.): Yayoi Kusama 草間彌生 Eine Retrospektive. München: Prestel, 2021, S. 5.

[4] Siehe Torsten Flüh: Sinn und Sinnlichkeit im Sensodrom. Zur Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren im Gropius Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN  Juni 17, 2018 21:34.

[5] Thomas Oberender: Grußwort. In: Stephanie Rosenthal (Hg.): Yayoi … [wie Anm. 3] S. 4.

[6] Siehe: „Eintauchen“, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, (Wörterbuchnetz).

[7] Siehe: EINTEUCHEN“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, (Wörterbuchnetz) und zur Quelle Schede, Paul (gen. Melissus) Bd. 33, Sp. 796.

[8] Vgl. Stephanie Rosenthal (Hg.): Yayoi … [wie Anm. 3] S. 38.

[9] Antje von Graevenitz: Kusamas Schlüsselbegriffe Infinity Net und Self-Obliteration. Ungleiche Gemeinsamkeiten im Europa der 1960er Jahre. In: Ebenda S. 68.

[10] Vgl. dazu: Akkumulation in Wiktionary.

[11] Stephanie Rosenthal: Yayoi Kusama. Alle Werke um mich herum. In: dies.: Yayoi … [wie Anm. 3] S. 12.

[12] Ebenda.

[13] Ebenda S. 29.

[14] Ebenda S. 13.

[15] Ebenda S. 17.

[16] Zitiert nach Ausstellungstexte der Website zur Retrospektive.

Elefantöses Vorspiel

Elfenbein – Provenienz – Elefant

Elefantöses Vorspiel

Zur Premieren-Ausstellung des Humboldt Forums schrecklich schön – Elefant – Mensch – Elfenbein

Beim ersten Besuch des Humboldt Forums landete ich schließlich auf der Suche nach einer Sanitäranlage im Foyer am Eingang der Ausstellung schrecklich schön. Sanitäre Anlagen sollten übrigens immer bei einem ersten Besuch eines neuen Gebäudes erkundet werden. Die Ausstellung schrecklich schön wird fast versteckt, gleich neben dem großartigen Foyer mit Kosmograf und Eosanderportal verschwindet sie fast in einem Ausstellungstrakt für Sonderausstellungen auf ganzer Länge des Foyers und des Portals. Es war Mittwochabend und ich hätte eigentlich einer (kostenlosen) Zeitfensterkarte bedurft. Schon wollte ich mich wieder ins Foyer begeben, um mit etwas Glück ein Ticket zu ergattern, schaute die freundliche Ordnungskraft auf ihr elektronisches Besucherdichtemessgerät und deutete mir an, ich könne zu dieser Zeit schnell hineinschlüpfen.

schrecklich schön lässt sich als ein programmatisches Vorspiel auf die bevorstehende Eröffnung des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum betrachten. Denn die ausgestellten Sammlungsbestände stammen vor allem aus diesen Museen, werden durch hochkarätige Leihgaben z.B. des Musée du quai Branly, Paris, dem Urgeschichtlichen Museum, Blaubeuren, dem Archäopark Vogelherd oder dem British Museum London ergänzt und damit kombiniert, um ein breit aufgefächertes Wissen über Elfenbein in der Kunst und dem Kunstgewerbe bis zur seriell-industriellen Produktion zu befragen. Das Staunen vor der menschlichen Kunstfertigkeit wird zugleich von der Frage nach der Provenienz und der fast vollständigen Ausrottung des Elefanten in Afrika und Asien im 20. und 21. Jahrhundert störend durchdrungen. Durch den Ausstellungsraum hallen die Atemzüge eines schlafenden Elefanten.

Das Material Elfenbein und seine Herkunft wird selbst in der Volksrepublik China von einem epochalen Wissenswandel ergriffen. Mit dem etwas zweifelhaften Titel Chinas plündernde Elefantenherde ist auf dem Heimweg berichtete der SPIEGEL am Dienstag von dem Verhalten der Herde außerhalb ihres Schutzgebietes in der südwestchinesischen Provinz Yúnnán.[1] Galten noch vor vielleicht 20 Jahren Essstäbchen aus Elfenbein als besonders kostbar und schick, so war dem chinesischen Fernsehen nun das Bild der schlafenden Elefantenherde mit einem Kalb in der Mitte wichtiger. Der Handel mit Elfenbein ist weltweit als illegal geächtet worden. Offenbar ist es den Provinzbehörden gelungen, die Elefantenherde ein Jahr lang in dichter besiedeltem Gebiet vor verärgerten Bauern und Wilderern zu schützen. Die South China Morning Post aus Hongkong berichtete am 20. Juli 2021 ausführlich über ein Warnsystem vor Mensch-Elefant-Konflikten.[2] Beschrieben wird die Elefantenherde allerdings im SPIEGEL als Eindringling und Plünderer, obwohl es der Mensch sicher auch in jener Region Chinas war, der in die Lebensräume der Tiere eingedrungen ist.

Meine Besprechung der Ausstellung beginne ich mit dem Schrecken industriell gefertigter Billardkugeln und Champagnerquirls aus Elfenbein, die in der Ausstellung aus dem Musée du quai Branly gezeigt werden. Der Billardkugel und dem Champagnerquirl als gewiss luxuriöse, doch ebenso massenhaft gefertigte Gebrauchsgegenstände wohnt der Schrecken der allein wegen eben dieser Dinge, dieses Schnickschnacks massenhaft getöteten Elefanten inne. Die Produzenten der Luxusgegenstände ließen sich stolz in Bergen von Billardkugeln aus Elfenbein portraitieren. Die Aufwertung der Gebrauchsgegenstände durch das Material entsprang noch in den 1930er Jahren einer zynischen Entwertung des Lebens von Elefanten. Hartmut Dorgerloh und Laura Goldenbaum beziehen in ihrer Einleitung zum opulenten Katalog der Ausstellung Position zur Verwendung von Elfenbein:
„Die Elfenbeinschnitzkunst gehört der Vergangenheit an. Gleich einem Menetekel ist stattdessen seit einigen Jahren das Leiden des zusammenbrechenden Giganten zum universellen Symbol einer erkrankten Welt geworden, einer tiefen, weltumspannenden Verunsicherung, …“[3]

Doch die Elfenbeinschnitzkunst ist seit den Urzeiten „der ersten Periode in Südwestdeutschland, die mit dem Auftreten des modernen Menschen in Verbindung gebracht wird, (dem Schwäbischen Aurignacien)“[4] ebenso mit dem Menschen und einer conditio humana eng verknüpft. Das Mammutfigürchen aus dem Aurignacien bei Vogelherd aus Mammutelfenbein mit einer Miniaturlänge von 3,7 cm[5] zeugt zugleich von den menschlichen Fähigkeiten des Schnitzens und der Wahrnehmung, die in ein Bildnis von Ähnlichkeit übersetzt wird. Am Mammutelfenbein erscheint sozusagen der erste „moderne() Mensch()“. Doch das weltweite Ende der Elfenbeinschnitzkunst zeigt nicht zugleich das des Menschen an. Das internationale Handelsverbot mit Elfenbein 1989 brachte diese Schnitzkunst zum Erliegen.[6] Aber „Analysen des Elephant Trade Information System (ETIS) zufolge wurden zwischen 2008 und 2017 über 390 Tonnen Elefantenelfenbein konfisziert“.[7] Trotzdem hat das Inkrafttreten eines Gesetzes des Vereinigten Königreichs über den „Verkauf oder Kauf von Gegenständen aus Elfenbein“ 2019 zu „hitzigen Debatten geführt: über den Schutz des kulturellen Erbes und die Frage des verantwortungsbewussten Umgangs mit den Hinterlassenschaften der Kolonialzeit in europäischen Museumssammlungen wie auch über den Schutz der Tier- und Pflanzenwelt und die Ausweitung von Tierrechten.“[8]

Am Elfenbein wird das Geschlecht des Menschen und des Mannes erprobt und bestimmt. In afrikanischen Kulturen wie der des Königreichs Benin war „die Tätigkeit des Elfenbeinschnitzens … ausschließlich Männern vorbehalten“[9]. Die „erkrankte Welt“ der Gattung Menschen wurde schon 1968 als eine des Mannes vom französischen Schriftsteller Romain Gary in einem literarischen Brief formuliert. In der Fiktion, dass „Herr Elefant“ den Brief lesen könne, in der Fiktion einer Vermenschlichung wird von Gary ein Wissen vom Elefanten als Materiallieferant durchbrochen. Er stellt als einer der Ersten eine Verbindung zwischen der „Auslöschung“ des Elefanten und der Selbstauslöschung des Menschen/Mannes her:
„»In meinen Augen, lieber Herr Elefant, stellen Sie in Vollkommenheit dar, was heute von Auslöschung bedroht ist: im Namen des Fortschritts, der Effektivität, des integralen Materialismus, einer Ideologie oder sogar der Vernunft, denn ein bestimmter abstrakter, unmenschlicher Gebrauch der Vernunft wird immer mehr zu einem Komplizen unserer mörderischen Narretei. Heute scheint es gewiss, dass wir uns anderen Gattungen und besonders der Ihren gegenüber so verhalten haben, wie wir im Begriff sind, es mit uns selbst zu tun.«“[10]

Anthropologie, Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, Kunstgeschichte und Zoologie der Urzeit als wissenschaftliche Disziplinen werden mit einem Schlag an dem „Mammutfigürchen“ denkbar. Das macht es nicht nur einzigartig, vielmehr werfen sich an ihm all jene Fragen auf, die für das Verhältnis von Mensch, Mann, Urelefant und Elfenbein entscheidend sein werden. Die Ausstellung wird mit dem „Mammutfigürchen“ streng auf eine Chronologie der Geschichte des Elfenbeins und der „Elfenbeinschnitzkunst“ ausgerichtet, als könne dies das porb. Durch den elfenbeinzeitlichen Ansatz – „Die Elfenbeinzeit“ (Conard) – wird allererst eine Geschichte des Aurignaciens seit dem 19. Jahrhundert erzählt. Wir wissen nicht, welche Funktion das „Mammutfigürchen“ hatte. Nicholas J. Conard geht im Katalog davon aus, dass es sich um „Schmuck“ handelt.[11] Oder ist die Schmuckfunktion eine Projektion aus dem 19. Jahrhundert auf das Aurignacien vor 40.000 bis 31.000 Jahren? Auf der Suche nach dem „modernen Menschen“, auf der Suche des Homo sapiens nach sich selbst und seiner Geschichte wird das Elfenbein und anfangs das „Mammutelfenbein“ zum Zeugnis seines Denkens und handwerklichen Handelns.
„Letztlich trifft die Verwendung als Schmuck auch auf einige der Kleinkunstwerke aus Elfenbein zu, wie etwa das 1931 gefundene Mammut aus der Vogelherd-Höhle, das mit Durchlochungen zwischen den Beinen eine Funktion als Anhänger oder Amulett besaß (…): mobile Objekte in einer mobilen Jäger- und Sammler-Gemeinschaft.“[12]

Die Ausstellung im Humboldt Forum kann keinen neuartigen Wissenschaftsdiskurs eröffnen. Sie setzt stattdessen auf ein interdisziplinäres Konzept von Kunstgeschichte und Älterer Urgeschichte über die Ethnologie bis zur Provenienzforschung. Die zahlreichen internationalen und nationalen Leihgeber sprengen eine Fokussierung auf die eigenen Sammlungsbestände, durch die leicht der Eindruck entstehen könnte, die Staatlichen Museen zu Berlin wollten wie zu herzoglichen Kunstkammerzeiten nur zeigen, was sie besitzen. Denn eben dieser Verdacht spielt bei der Diskussion vor der Eröffnung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum eine argumentative Rolle, wenn Götz Aly am 29. Juli 2021 noch einmal nachschiebt: „Doch, es gibt keinen Zweifel: Das wichtigste Ausstellungsstück des neuen Humboldt Forums in Berlin, das Luf-Boot, wurde geraubt…“[13] Alys Kritik betrifft die Provenienz, die durch Raub unrechtmäßige Herkunft des Bootes. In der Ausstellung schrecklich schön wird die Provenienz einzelner Ausstellungsstücke bereits thematisiert, diskutiert und so weit möglich geklärt. Ähnliches wird für das Luv-Boot zu erwarten sein.

Die Frage der Provenienz, die zuerst durch das Verbrechen der nationalsozialistischen Enteignung von jüdischem Besitz wie der Kunstsammlung der Familie Mosse[14] diskutiert worden ist und die durch die Künstlerin Maria Eichhorn in ihrer Konzeptkunst bearbeitet wird[15], betrifft nicht zuletzt den aggressiven Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Provenienzforschung schreibt mit dem Kolonialismus deshalb zugleich die Eigentumsgeschichte in der Moderne bis zu Immanuel Kants Rassebegriff um.[16] Sie ist eine zutiefst moralische Forschung um das Recht am Eigentum. Ob es um die Benin-Bronzen oder das Luv-Boot oder Elfenbeinobjekte in der ethnologischen Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin geht, steht die Frage des rechtmäßigen Eigentums an entscheidender Stelle. Die Geschichten der Herkunft und der ästhetischen Bewertung außereuropäischer Kunstwerke stehen, wie die Ausstellung Unvergleichlich 2018 im Bode-Museum gezeigt hat, auf dem Prüfstand.[17] So sind die National Museums of Kenya an einem „Forschungs- und Datenbankprojekt“ beteiligt, „das die Provenienz kenianischer Kunstwerke in Kulturinstitutionen rund um die Welt erforscht“.[18]

Dass die Ausstellung nicht auf die Sammlung des Ethnologischen Museums beschränkt bleibt, ist ihre Stärke. Sie bietet keinen Abschluss, vielmehr reißt sie Debattenfelder auf. Denn die Konstellation von Mensch, Elefant und Elfenbein erweist sich schnell als zu komplex, um abschließende Urteile zu fällen. Ab September werden Führungen und Workshops, ab Oktober eine Filmreihe und eine Diskursreihe angeboten werden.[19] Die Ausstellungsstücke ließen sich auf vielfältige Weise erweitern. In den Berliner Sammlungen gibt es mehr Elfenbein, als sich zunächst denken lässt. Sodann rückt das Elfenbein an Musikinstrumenten insbesondere dem modernen Klavier seit dem 19. Jahrhundert in die Aufmerksamkeit. Wieviel Elfenbein ließe sich im Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung an der Philharmonie finden? In der Schausammlung des Berliner Musikinstrumenten-Museums springen schon bei erster Durchsicht weiße Leichenteile als Tasten wie Zierelemente hervor.[20]

Der Elefant steht im Raum. Mit der Ausstellung schrecklich schön macht das Humboldt Forum ein Fass auf, wie eine deutsche Redewendung es formuliert, im Englischen sagt man: „the elephant in the living room“. Im Wohnzimmer (living room) stört der Elefant mehr als in einem sonstigen Raum oder Zoogehege. Im Zoo gehört er zu den Lieblingstieren. Der Berichterstatter erinnert sich, als Kind gar bei Hagenbeck in Hamburg auf einer Bank auf einem Elefanten gesessen zu haben. Nicht zu vergessen die unzähligen Zirkuselefanten, deren Geschicklichkeit und Intelligenz beklatscht wurde und wird. Spätestens im 19. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert ist eine semantische Operation gelungen, die das Elfenbein vom Tod des Elefanten insbesondere in Europa abtrennte. Diese bedenkenswerte, zuspitzende Operation liegt nun auf dem Tisch europäischer Museumssammlungen. Sie lässt sich nicht in einem Nebenraum abhandeln. Und das wird auch gar nicht erst versucht.  

Gegen Ende des Ausstellungsparcours werden mehrere Elefantenmasken aus dem Ethnologischen Museum in einer Vitrine gezeigt. Damit wird das außereuropäische Verhältnis von Mensch und Elefant noch einmal auf andere Weise in den Blick gerückt. In den „modernen“ afrikanischen Gesellschaften geht es wie bei der „Elefantenmaske der Kuosi-Gesellschaft, Kamerun, 20. Jahrhundert, Bast, Baumwolle und Glasperlen“, eines „(m)ännliche(n) Bamileke-Künstler(s)“ vor allem um das Verhältnis von Mann und Elefant, wobei der Elefant eine materielle (importierte Perlen) und visuelle (Mund) „Vermenschlichung“ erfährt. Über die ethnografische Erzählung hinaus, wäre noch genauer nach den Menschen- und Elefantenbildern zu fragen.[21]
„Das Volk der Bamileke in Kamerun erschafft mit den Darbietungen der Kwosi-Gesellschaft sogar eine Art aristokratischer Herde, die aus ausgewählten Mitgliedern der königlichen Familie und einflussreichen Stammesführern besteht: Elefantenmasken bekräftigen hierbei den hohen Status der Mitglieder im Rahmen der halbjährlich stattfindenden Feierlichkeiten, bei Bestattungen und Gedenkfeiern“.[22]

Die Ethnologin Nanette Snoep, die bis 2014 die historische Sammlung des Musée du quai Branly in Paris geleitet hat, fordert im Katalog nicht weniger als einen „radikalen Paradigmenwechsel“ in der Präsentation von Ausstellungsstücken in den Vitrinen ethnologischer Museen.[23] schrecklich schön bereitet diesen vor. Doch sollten nicht ebenso andere Museen mit Elfenbeinbestand wie das Musikinstrumenten-Museum oder das Liebighaus in Frankfurt am Main mit der „weltweit bedeutendste(n) Sammlung an Elfenbeinschnitzereien aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die der Kunstsammler Reiner Winkler der Liebighaus Skulpturensammlung“ 2019 zu einem „mäzenatischen Preis“ mit den Mitteln der Kulturstiftung der Länder überlassen hat, überdacht werden?[24] Der Kunstsammler und -kenner spaltet seit Jahrhunderten sein Wissen von der Herkunft des Materials ab. Das 17. und 18. Jahrhundert sind nicht zuletzt jene europäischen Jahrhunderte, in denen die Kolonialisierung durch die Niederlande[25] intensiviert wird. Lassen sich die Elfenbeinschnitzereien aus jener Zeit vom Kolonialismus kunstsinnig trennen?

Nanette Snoep grenzt ihre Forderung nach einem Paradigmenwechsel nicht auf „ethnografische Sammlungen“ ein, vielmehr nimmt sie das Museum als Institution in den Blick. Wenn sie schreibt, dass das „Museum (…) nicht einzig und allein dem Zweck der Konservation zu dienen“ habe, „sondern (…) auch ein Ort der Konversation“ sei. „Seine Aufgabe besteht darin, Geschichten erstehen zu lassen, Erzählungen, Augenzeugenberichte, inspiriert durch Objekte, in denen sich die Kulturen kreuzen. Es ist ein Raum, in dem die Anekdote Platz hat, das Ungewöhnliche oder Einzigartige. Statt sich der wissenschaftlichen Ordnung der Welt zu verschreiben, würde es vielmehr versuchen, ihre Kakophonie wiederzugeben. Es wäre eine große Tribüne“.[26] schön schrecklich harmonisiert nicht, sondern lässt eine Kakophonie entstehen, die einen Wink gibt auf falsch(!) erzählte Geschichten, darunter Erfolgsgeschichten der Ökonomie und Europas, die sich in Verbrechen umkehren. Das stört und ist sehenswert.

Torsten Flüh

Humboldt Forum
schrecklich schön
Elefant – Mensch – Elfenbein
bis So, 28. November 2021

Katalog:
Stiftung Humboldt Forum
im Berliner Schloss (Hg.):
schrecklich schön.
Elefant – Mensch – Elfenbein.
München: Hirmer, 2021, 200 Seiten, 180 Abbildungen
29,90 €


[1] Chinas plündernde Elefantenherde ist auf dem Heimweg. In: Der Spiegel 10.08.2021, 14.44 Uhr.

[2] Avery Choi: China launches early-warning system in Yunnan to prevent human-elephant conflict. In: South China Morning Post July 20, 2021.

[3] Hartmut Dorgerloh/Laura Goldenbaum: Das Elfenbein und sein Elefant. In: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hg.): schrecklich schön. Elefant – Mensch – Elfenbein. München: Hirmer, 2021, S. 14.

[4] Nicholas J. Conard: Die Elfenbeinzeit. In: Ebenda. S. 24.

[5] Ebenda S. 27.

[6] Katharina Trump: Der Afrikanische Elefant – Bedeutung und Bedrohung. In: Ebenda S. 129.

[7] Ebenda.

[8] Hartmut Dorgerloh/Laura Goldenbaum: Das … [wie Anm. 3] S. 12.

[9] Kathy Curnow: Prestige und Reinheit. Elefanten und Elfenbein im Königreich Benin und andernorts in Afrika. In: Ebenda S. 59.

[10] Nicholas J. Conard: Die … [wie Anm. 4] S. 24.

[11] Ebenda S. 33.

[12] Ebenda.

[13] Götz Aly: Die alten Lügen leben noch. In: DIE ZEIT Nr. 31/2021, 29. Juli 2021.

[14] Siehe dazu: Torsten Flüh: George L. Mosses Erinnerung an den Klippen Europas und 50 Jahre Stonewall. Zur Konferenz Mosse’s Europe im Deutschen Historischen Museum und in der W. Michael Blumenthal Akademie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2019.

[15] Siehe: Torsten Flüh: Eine Kunst des Eigentums. Zur Mosse-Lecture von Maria Eichhorn und Sabeth Buchmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Juni 2019.

[16] Siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[17] Siehe: Torsten Flüh: Afrikanische Kunst praktisch gesehen. Zur Ausstellung Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode-Museum bis auf weiteres. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 23, 201822:06.

[18] Lydia Kitungulu: Elfenbein im Museum. Die National Museums of Kenya. In: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hg.): schrecklich … [wie Anm. 3] S. 176.M

[19] Humboldt Forum: schrecklich schön (online)

[20] Musikinstrumenten-Museum – Staatliches Institut für Musikforschung – Preußischer Kulturbesitz. Schausammlung.

[21] Kathy Curnow: Prestige … [wie in Anm. 9] S. 49

[22] Ebenda S. 48.

[23] Nanette Snoeb: Objekte aus Elfenbein im Elfenbeinturm. In: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hg.): schrecklich … [wie Anm. 3] S. 192.

[24] Kulturstiftung der Länder: Liebieghaus Skulpturensammlung erhält bedeutende Sammlung von Elfenbeinskulpturen. In: Kulturstiftung der Länder 21. Februar 2019.

[25] Vgl. zu Elfenbeinschnitzereien aus dem 18. Jahrhundert auch Kat. V.1 und Kat V.2 mit Skulpturen von Christoph Maucher aus der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer in der Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin. Bernd Wolfgang Lindemann: Die Kunst in Berlin zu Zeiten Friedrichs. In: Hans-Ulrich Kessler (Hg.): Andreas Schlüter und das barocke Berlin. München: Hirmer, 2014, S. 83-85.
Zur Kolonialgeschichte der Niederlande siehe auch: Torsten Flüh: Eine grandiose, kulturhistorische Tiefenschau. Zur Ausstellung Rembrandts Orient im Museum Barberini. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2021.

[26] Nanette Snoeb: Objekte … [wie Anm. 23] S. 192.

Angenommen – Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums

Museum – Geschichte – Architektur

Angenommen

Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums sowie Durchlüften – Open Air im Schlüterhof

Seit dem 20. Juli 2021 ist das Humboldt Forum geöffnet. Einen Pressetermin gab es wegen „Corona“ und dem defätistischen Geraune im deutschen Feuilleton nicht. Gleichsam todesmutig hatten die Akteur*innen beschlossen, trotz Kolonialismus-, Provenienz-. Geschichts- und Rückgabe-Debatte jetzt einfach einen der größten Museumsneubauten Europas, wenn nicht der Welt zu eröffnen. 15 Tage später am Mittwoch, den 4. August so um sechs Uhr herum ist das Humboldt Forum gut frequentiert. Nicht überlaufen, aber einige Hundert, wenn nicht an die Tausend Besucher*innen verteilen sich angenehm auf dem Schlüterhof und in den Museumsfluchten. Eintausend Menschen verschwinden fast mühelos in der Skulpturensammlung, der Humboldt Ausstellung, der Berlin Ausstellung, den Sonderausstellungen und der Ausstellung schön schrecklich Elefant – Mensch – Elfenbein. – Vielleicht hat das deutsche Feuilleton das Humboldt Forum noch nicht angenommen. Die wohl überwiegend touristischen Besucher*innen haben es.

Wie soll man sich dem Museumsbau mit barocker Schlossfassade und neobarocker Kuppel nähern? Was lässt sich denn nun jenseits einer gewissen Debattenwut anlässlich der Eröffnung des Humboldt Forums sehen, ergehen und erfühlen? Das Berliner Schloss ist vor allem kein Schloss mehr wie Schloss Charlottenburg und all die anderen Schlösser in und um Berlin herum. Geschichte und Geschichten stecken in allen Ecken, Nischen und barocken Gewandfalten der Allegorien im Schlüterhof zum Beispiel. Wiederholt lassen sich blinde Fenster in der Fassade entdecken, die ein wenig Ruinenästhetik einstreuen. Gleichzeitig bleibt die funktionale Moderne des Museumsbaus immer gegenwärtig. Sodann sind die sechs Portale zu erkunden, von denen vier – Nikolaiviertel, Breite Straße, Lustgarten und Berliner Dom – zum Durchgang offen sind. Keine Gitter, keine Eisentore. Ich spaziere einfach durch die Portale hindurch. Das verändert alles. Erst sehr viel später komme ich zum Eosanderportal vor dem Portal Kuppel.

Am 16. Dezember 2020 ab 19:00 Uhr fand die „Digitale Öffnung des Humboldt Forums“ auf Facebook und YouTube im Livestream mit Mitri Sirin als Moderator statt.[1] Livestream ist anders als Leben und das Spazieren durch ein, nennen wir es, Gebäude- und Architekturensemble. Der Livestream zu Beginn des zweiten Lockdowns gehorchte einer Nachrichtenmagazin-Ästhetik, die ich kaum aushalten konnte. Dennoch wurde zwischenzeitlich das Video über 26.300 aufgerufen. Gerade die Größe der 96.356 m² Brutto-Geschossfläche lässt sich nur in der Praxis erkunden. Kamerafahrten und -schwenks können eben doch nicht den ergangenen Raum vermitteln. Ohne zuvor das Architekturdossier, mit des Architekten, Franco Stella, Programmatik, gelesen zu haben, wurden die Portale für mich zur Signatur des Gebäudes. Offene Portale locken an.
„Durch die Rekonstruktion werden die Beziehungen zwischen den prominentesten Orten und Bauten der Mitte Berlins wieder erlebbar und verständlich. Durch die offenen Portale verbinden sich die Plätze rund um das Schloss und seine inneren Höfe miteinander zu einem großzügigen öffentlichen Raum im Herzen Berlins.“[2]

Die städtebauliche Funktion des Humboldt Forums in der Rekonstruktion des Berliner Schlosses ist Stella gelungen. Es ist paradox, dass das Berliner Schloss einerseits in Teilen rekonstruiert worden ist, um zugleich hinter seiner Funktion als Humboldt Forum zu verschwinden. Denn eigentlich sollte sich die Rekonstruktion an ein Geschichtsgefühl wenden, das die Leere eines riesigen Freiraums und vorherigen sozialistischen Palastbaus stopfen musste. Das Geschichtsgefühl schwankte selbst bei Angehörigen der Familie Hohenzollern um 2009 , wie der Berichterstatter einmal im Gespräch mitbekam, ob das Schloss wieder aufgebaut werden solle. Über die Funktion, die der Schlossbau haben sollte, machte man sich kaum Gedanken. Nun ist es Stadtraum, Architekturraum und Museum geworden.

Vielleicht ging es um die Schönheit der barocken Fassaden und ihrer skulpturalen Elemente, während der Berliner Dom vom Ende des 19. Jahrhunderts doch nur mit einem Neobarock aufwarten konnte. Vielleicht ging es darum, den Palast der Republik loszuwerden. Vor allem erwies sich das Geschichtsgefühl als ambig, vieldeutig und vermischt. Eifer erzeugte es schon damals, der sich heute nun im Feuilleton völlig umgekehrt hat. Die Geschichte schlägt zurück. Bis zum 12. November – die ersten 100 Tage – ist der Eintritt in alle Ausstellung und die Ausleihe des Medienguides kostenlos. Doch zunächst muss man in gar keine Ausstellung, weil die barocke Fassade selbst eine ist. Wie lässt sich die Fassade lesen? Wie lässt sich die Architektur erkunden?  

Das teilweise rekonstruierte Berliner Schloss ist reine Gefühlssache, die sich vor allem deshalb schwer ergründen und beherrschen lässt, weil sie vielfältig und widersprüchlich zugleich ausfällt. Ich ging also von Unter den Linden durch das Portal Berliner Dom in den Schlüterhof und über das Portal Nicolaiviertel wieder hinaus auf den Schlossplatz. Durch die Portale ergeben sich Rahmungen der Alten Nationalgalerie z.B. oder des Alten Museums (Portal Lustgarten). Die Portale werden zu historischen Rahmungen, die so vielleicht nie zuvor existiert haben oder wahrgenommen worden sind und trotzdem eine Art historischen Blick erzeugen. Durch das Portal Lustgarten joggt gerade eine Läuferin, während ein Fahrradfahren sich die Präsentation zu den „300 Modelle(n) aus Ton und Gips in Originalgröße“ anschaut. Sie sind sozusagen das Kernstück der Geschichte am Schloss. Die Läuferin und der Fahrradfahrer, der nur einmal so vorbei gekommen zu sein scheint, verraten viel darüber, wie das Humboldt Forum angenommen wird.

Die Architektur des Humboldt Forums ringt um Geschichte und mit ihr. Das wird gleich an mehreren Orten deutlich. Im Portal Berliner Dom wird die „Geschichte des Ortes“ mit „Spur 08“ wachgerufen. Erinnert wird mit einer Zeichnung und zwei Fotos an die „Revolutionen 1848, 1918 und 1989“. Das Schloss wird als Ort der Macht thematisiert. Barock trifft auf Revolutionsgeschichte. Denn der Barock von Andreas Schlüter aus den Jahren 1695-1702 lässt sich nicht zuletzt mit einem neuartigen Machtkonzept des Herrschers bedenken. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg und Herzog von Preußen hatte Ambitionen auf noch mehr Macht. Am 18. Januar 1701 ließ er sich selbst zu König Friedrich I. von Preußen in Königsberg krönen. Ein diplomatischer Streich. Das barocke Bauprojekt fällt insofern genau in die Phase seiner machtpolitischen Selbstermächtigung gegen Kaiser Leopold I. in Wien. 
„Über Jahrhunderte Zentrum herrschaftlicher Machtausübung, war dieser Ort gerade deshalb auch Ziel von Protesten und Umbruchsversuchen. Im März 1848 kämpften rund um das Schloss Bürger für eine Verfassung und die politische Einheit. Nach dem Ende der Monarchie im November 1919 wurde das Schloss Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen um die politische Neuausrichtung. Während im Herbst 1989 die Staatsführung der DDR im Innern des Palastes der Republik den 40. Jahrestag der Staatsgründung feierte, forderten draußen Demonstranten Freiheit und Reformen.“[3]  

Geschichte, Machtpolitik und Revolutionen überschneiden sich nicht nur an dem „Ort“, vielmehr werden sie selbst in der Architektur gleichsam materialisiert. Es geht jeweils um Gesten der Selbstermächtigung in ihrer Ambivalenz. Das Schloss war nicht zuletzt deswegen von der Staatsführung der DDR weggesprengt worden, weil sie ihre Macht und ihren Fortschritt im 1973-1976 erbauten „Palast der Republik“ verkörpert sehen wollte. Die Öffentlichkeit und die Bürger wurden immer auch aus diesen Verkörperungen der Macht kontrolliert und ausgeschlossen. Deshalb ist das Berliner Schloss als Humboldt Forum zum ersten Mal ein Ort, dessen Portale nicht mehr der Kontrolle und Machtausübung dienen, sondern frei zugängig sind. Es ist ein demokratischer Ort für die Debatten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geworden. Aus der Geschichte der Macht an diesem Ort springt zum ersten Mal die der Bürger oder eines Spaziergängers hervor. Er wird überall durchgelassen. Der Umzug des Ethnologischen Museums und das Aufbrechen der Kolonialismusdebatte gehören aus dieser Perspektive zu einem anderen Fragenkomplex. Sie sind nicht die Hauptsache.

Die Geschichte des Ortes lässt sich ebenso online mit 148 Objekten erkunden. Doch das ist nicht das selbe wie beim Spazierengehen. Die Fotos und Zeichnungen im Portal Berliner Dom haben eine andere Geschichtlichkeit, als die Objekte, die bei den Bauarbeiten vor Ort gefunden wurden und in der Sammlung „Geschichte des Ortes“ online einzusehen sind. Zwischen überraschend vielen Spinnwirteln fand sich unter anderem ein „Sterbetaler“ Friedrich II., zu dem es heißt, dass „(s)chon immer (…) Menschen Geld verloren (haben), so auch an diesem Ort“. „Münzfunde aus dem 13. bis 19. Jahrhundert“ belegten das. „Wer sein Geld nicht verloren hatte, konnte 500 Meter weiter südlich auf dem Petriplatz oder – ein paar Jahrhunderte später – bei den Buden rund um das Schloss einkaufen gehen.“[4] Mit der archäologischen Geschichte des Ortes ändert sich noch einmal das Narrativ zum Beispiel durch das Emailleschild „Öffentlicher Fernsprecher“, zu dem es heißt:
„Das amtliche Schild der Deutschen Reichspost kennzeichnete öffentliche Fernsprecher. Es stammt aus den 1930er Jahren, als das Schloss einem breiten Publikum zugänglich war. In dem Gebäude mit weit über tausend Räumen zeigten solche Schilder Mietern and Besuchern, wo sie telefonieren konnten.“[5] 

Neben der Pracht der rekonstruierten Skulpturen als Allegorien auf die Macht im Schlüterhof gibt es das Fragmentarische, das daran erinnert, dass es sich um eine – gewiss – hochkarätige Rekonstruktion handelt. Ein Fenster bleibt blind. Ein Torbogen wird nicht ausgeführt, bleibt Kulisse und, ja, die Westseite des Schlüterhofs „in der rationalistischen Architektursprache Stellas greift die Bauordnung der barocken Baukörper auf und versteht sich als deren zeitgenössische Vervollständigung“.[6] Die barocke Architektur bleibt allerdings ein wenig unterbelichtet. Stehen die Skulpturen nur zur Zierde da? Ist das einfach hübsch? Unvermittelt gibt eine Inschrift im Sockel des Nikolaiportals einen Hinweis: „Bertold Just (1963-2018) hat als Leiter der Schlossbauhütte von Beginn an maßgeblich die Rekonstruktion der historischen Fassaden ermöglicht. Die Portalfigur „Klugheit“ ist ihm gewidmet.“

Die Allegorie der Klugheit schürzt ihren Kleiderrock ein wenig beim Schreiten. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sich die anderen drei barockgewandeten Damen in keiner Gehbewegung befinden. Die Klugheit setzt mit dem rechten Bein zum Schritt an und hebt ihren Rock, um nicht darüber zu stolpern. Sie sollte zur Komposition einer Allegorie der Macht gehören, obwohl Guido Hinterkeuser bezweifelt, dass Andreas Schlüters Skulpturenprogramm für das Berliner Schloss im Schlosshof, dem jetzigen Schlüterhof, auf den Schmalseiten „bei allen Figuren um Tugendallegorien handeln würde“.[7] Die Inschrift am Portalsockel ist auch ein wenig verwegen, indem sie den jung verstorbenen Leiter der Schlossbauhütte ehrt. Vielleicht ein etwas eigenwilliger Zug der Stiftung. Sie durchbricht die Konventionen des Bauens und bestätigt sie zugleich, wenn mit der Inschrift an einen Schlüsseltext der deutschen Architektur- und Literaturgeschichte erinnert wird. Denn es war 1772 Johann Wolfgang Goethe, der in seinem Text Von deutscher Baukunst an Erwin von Steinbach, dem vermeintlichen Erbauer des Straßburger Münsters, erinnerte, indem er nach dem „Stein suchte“ und ihn nicht fand.[8]  

Welche Geschichte wollte uns bzw. dem König und seinem Hof sowie den herrschaftlichen Besuchern und Gesandten Andreas Schlüter im Schlosshof mit der Architektur und den Skulpturen erzählen? Von Hinterkeuser wird diese Frage nicht formuliert. In seiner historischen Erzählweise verschwindet sie einfach. Mit den weiblichen Skulpturen der Portale an den Schmalseiten korrespondieren die nackten männlichen Göttergestalten des Risalits des Großen Treppenhauses und Hofportals. Der Gott des Handels, Hermes, steht gleich neben dem mit einer großen Keule bewaffneten wilden Mann, der zugleich Herkules verkörpern wie aus dem Wappen des Kurfürstentums Brandenburg entnommen sein könnte. Die beiden wilden Männer aus dem Wappen der Kurfürsten von Brandenburg werden 1701 in domestizierter Weise in das Wappen des Königreichs Preußen transferiert. Die Skulpturen sind keinesfalls beliebig. Denn sie erzählen zur Bauzeit vom Machtanspruch Friedrich I.

Die Fassaden und Skulpturen erzählen eine Geschichte der Macht. Während gebaut wird, entsteht die Geschichte, die in Zukunft erzählt werden soll. Davon sprechen die Inschriften, die den Architekten verschweigen, um in emblematischer Form die Transformation des Berliner Schlosses und den Beginn einer neuen Zeit, eines neuen Jahrhunderts, eines preußischen anzukündigen. Architektur und Machtanspruch verschmelzen z.B. in der Fassade zum Schloßplatz so sehr, dass über dem rechten oberen Saalfenster des neugeschaffenen Portalrisalits eine Inschrift angebracht wurde und wieder steht:
PERFECTA . ANNO
NOVI . SECVLI . REGNI
PRUSSICI . PRIMO
(Fertiggestellt im ersten Jahre des neuen Jahrhunderts des preußischen Königtums).[9]

Das Foyer mit dem Haupteingang zu den Ausstellungssälen ist in seiner Kombination der schlichten Moderne von Franco Stella mit dem barocken Hauptportal für König Friedrich I. von Johann Friedrich Eosander spektakulär und programmatisch geworden. 1708 bis 1713 wurde das Portal erbaut und nun rekonstruiert. Tageslicht flutet vom Glasdach ins Foyer, das sich über 4 Etagen erstreckt. Der LED-Kosmograph im Foyer erstreckt sich ebenfalls bis in die Höhe des vierten Stocks. Das Eosanderportal wird so von innen musealisiert. Diese Musealisierung des Schlosses in seiner Rekonstruktion ist geglückt und eine kluge architektonische Lösung. Nach mehr als einhundert Jahren kam König Friedrich Wilhelm IV. mit eigenen Entwürfen und im Austausch mit Friedrich Schinkel auf den Gedanken, eine Kapelle auf das Eosanderportal zu setzen. Um 1840 hatte sich alles verändert in Berlin. Auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor entstanden die ersten Eisengießereien und Dampfmaschinenfabriken als Folge der Gründung der Königlich Preußischen Eisengießerei und Maschinenbauanstalt, die 1805 von Friedrich Wilhelm III. gegründet worden war. August Borsig, der als Zimmermann aus Schlesien nach Berlin gekommen war, hatte 1837 direkt vor dem Oranienburger Tor seine Eisengießerei und Maschinenbauanstalt gegründet. 1844 war Borsig in der Lage, die erste deutsche Lokomotive mit dem Namen – Lokomotiven hatten in der vorseriellen Phase Namen wie Schiffe – Beuth.

Der neobarocke Kuppelbau auf dem Eosanderportal mit prerafaelitischen Engeln aus Gusseisen von 1844 bis 1857, unter dem sich eine Kapelle befand, ist nicht einfach ein christliches Symbol, obwohl sich insbesondere Friedrich Wilhelm III. mit den sogenannten Schinkel-Kirchen – St. Elisabeth, St. Paul, Nazareth, St. Johannes – vor der Stadtmauer in den 1830er Jahren dafür eingesetzt hatte, dass die arme Bevölkerung vor dem Rosenthaler Tor von evangelischen Geistlichen, Pastoren betreut und beaufsichtigt wurde. Zur Zeit des Kuppelbaus hat die Industrialisierung durch die Maschinenbauer vor dem Oranienburger Tor und in Moabit erheblich an Fahrt aufgenommen. Der Bau der Kuppel als Eisenkonstruktion vor allem durch Friedrich August Stüler und Albert Dietrich Schadow fällt in die gleiche Zeit, in der Stüler mit dem Neuen Museum durch Eisenkonstruktionen eine neuartige, leichtere Bauweise erprobt. Die Eisenkonstruktionen für das Neue Museum wurden bei Borsig auf der Chausseestraße gegossen und per Loren auf Schienen zur Museumsinsel befördert. Insofern ist der Kuppelbau vor allem ein Zeugnis der Industrialisierung Berlins, durch die die Residenzstadt zur Metropole im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufstieg.

Kosmograph: A PLACE OF WORK

Albert Geyer stellt in seiner Geschichte des Schlosses zu Berlin 1936 keinen Kontext zur Industrialisierung her. Für ihn entsteht der Kuppelbau im zweiten aus dem Nachlass veröffentlichten Band aus einem Plan Friedrich Wilhelm IV., der mit Schinkel abgestimmt wird. Geyers Geschichte wurde 2010 im Zuge der Rekonstruktionsarbeiten als maßgebliches Werk zum Schloss wieder und überhaupt erst aufgelegt. Stülers Anteil an dem Kuppelbau und seine Konstruktion wird zugunsten des Königs als Baumeister regelrecht unterschlagen, wenn es zum Beispiel heißt:
„Wie sorgfältig der König den Bau der Kapelle verfolgte und überwachte, beweist eine im Schloßarchiv vorhandene Zeichnung (…), die einen Vergleich der Berliner Schloßkuppel mit der Kuppel der berühmten Kirche S. Maria della Salute in Venedig veranschaulicht. Beide Kuppellinien sind Kreisbögen, deren Mittelpunkte in der Zeichnung angegeben sind, beide haben an ihrem Fuß denselben Durchmesser. Die Abweichungen sind nur gering die Berliner Schloßkuppel ist etwas höher, dagegen hat die Laterne der [Kirche S. Maria] della Salute einen größeren Umfang in Breite und Höhe.“ [10]

Kosmograph: A PLACE OF WORK (1950)

Die Form der Architekturgeschichte macht Albert Geyer geradezu blind. Verglichen werden nämlich zwei Kuppeln und Kirchenbauten, die unter gänzlich anderen Konstruktionsbedingungen entstanden sind. Zur Geschichte des Schlosses und seiner Architektur wie seiner Rekonstruktion, gehören auch falsche Fährten und blinde Flecken. Die blinden Flecken entstehen beispielsweise, wenn „Kuppellinien“ verglichen und wichtiger werden als die Möglichkeiten ihrer Konstruktion. Am ganzen Schloss gibt es kein besseres Zeugnis für die Industrialisierung Berlins insbesondere mit dem Dampfmaschinen- und Lokomotiven- sowie Eisenbahnstreckenbau, für den der König teilweise Finanzierungsmodelle fand, die nicht zu seinen Ungunsten waren. Es sollte allerdings auch transparent gemacht werden. Der schon fast konspirative Entwurf für die Kuppel von König und Schinkel unterschlägt, dass Karl Friedrich Schinkel bereits mit der Bauakademie, dem Eisernen Kreuz und Grabmalen aus Eisen sowie skulpturalen Bauelementen zum Designer einer standardisierten und seriellen Herstellung zum Beispiel in der Königlich Preußischen Eisengießerei und Maschinenbauanstalt auf der Invalidenstraße geworden war.

Torsten Flüh

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Fassade, Architektur und Skulptur
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Hg. Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
Beiträge von K. Lange, B. Lindemann, F. Stella, P. Stephan, B. Wolter
Fotografien von Leo Seidel
160 Seiten, 226 Abbildungen in Farbe
24 x 30 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3762-0

Fortsetzung folgt: SCHRECKLICH SCHÖN – Elefant – Mensch – Elfenbein

Humboldt Forum
Durchlüften
bis 11. September 2021


[1] Humboldt Forum: Digitale Öffnung. Einblicke ins Humboldt Forum. 16.12.2020 auf YouTube.

[2] Zitiert nach: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss: Architektur Pressedossier. Berlin 2020, S. 3.

[3] Zitiert nach Schild „Spur 08“.

[4] Humboldt Forum: Sammlungen Online: Münzenkollektion: „Sterbetaler“ Friedrich II. 1786 online.

[5] Ebenda Emailleschild „Öffentlicher Fernsprecher“ online.

[6] Stiftung Humboldt Forum …: Architektur … [wie 2] S. 8.

[7] Guido Hinterkeuser: Andreas Schlüters Skulpturenprogramm für das Berliner Schloss. In: Hans-Ulrich Kessler (Hg.): Andreas Schlüter und das barocke Berlin. München: Hirmer, 2014, S. 296.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 38-54.

[9] Zitiert nach: Guido Hinterkeuser: Andreas Schlüter und das Berliner Schloss: Die Architektur. In: Hans-Ulrich Kesller (Hg.): Andreas … [wie Anm. 7] S. 263

[10] Albert Geyer: Die Geschichte des Schlosses zu Berlin. Zweiter Band. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 2010, S. 79.

Redet freundlich miteinander

Queer – Kirche – Homosexualität

Redet freundlich miteinander

Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“

Diese Besprechung zur Erklärung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zur Schuld an queeren Menschen im Rahmen des Gottesdienstes am Vorabend des Christopher Street Days am 23. Juli 2021 durch Bischof Dr. Christian Stäblein ist eine persönliche – und in Respekt. Die Losung für den 24. Juli „Josef tröstete sie und redete freundlich mit ihnen“ aus dem ersten Buch Moses teilen die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, obwohl Josef im Koran nicht so ausführlich wie im Tanach und der Genesis beschrieben wird. In Martin Luthers Übersetzung lässt sich die alttestamentarische Formulierung des freundlichen Redens von Josef fast überlesen oder, zur Losung bestimmt, hervorheben. Das freundliche Reden wird sich so oder anders auch im Hebräischen, Altgriechischen, Lateinischen und Arabischen finden. Freundlichkeit lässt sich als eine rhetorische Form des Respekts denken, die immer seltener geübt wird.

Bischof Stäblein hielt seine persönliche Predigt auf der von Andreas Schlüter in den gotischen Bau eingefügte Kanzel der Kirche St. Marien zu Berlin. Unter einem Wolkengebirge, aus dem Putten mit Trompeten hervordrängen, vor einem Strahlenkranz hängt die marmorne Kanzel, die von zwei Engeln getragen wird. Sie wirkt, in den Pfeiler eingefügt, schwerelos und zugleich von geheimnisvoller Tragkraft. Der Gegensatz von Schwerelosigkeit und Stabilität durch die auf Podesten schwebenden Engel, deren Kleiderfalten eine Bewegung, einen Luftzug verraten, fasziniert und erregt Aufmerksamkeit für das gesprochene Wort. Bischof Stäblein erregte zu Beginn ein verhaltenes Lachen in der Gemeinde, als er die Losung zitierte und hinzufügte, dass der Satz „auf den ersten Blick erst einmal nicht so spektakulär“ sei. Doch dann machte er darauf aufmerksam, dass das „in die Weite und Tiefe unserer Zeit geschaut ein wichtiges Wort“ sei, wenn man an den Hass denke. Die Predigt nahm mit einem persönlichen Schuldbekenntnis das offizielle der EKBO als Institution vorweg.

Foto: Mathias Kauffmann/EKBO

Wie kündigt sich ein Wechsel in der Geschichte, ein historischer Moment an? Die Gemeinde hatte nicht damit gerechnet, dass Bischof Stäblein nicht nur freundlich, vielmehr über seine persönliche Position in der evangelischen Theologie überdenkend sprechen würde. Die Predigt von der Kanzel herab, die sprichwörtlich als autoritäre Geste gerade nicht geschätzt wird, nahm so eine ganz andere, persönliche Wendung als Vorbereitung auf die Verlesung der institutionellen Erklärung. Eine derartige Predigt und Erklärung hat es weltweit in den protestantischen Kirchen wohl bislang nicht gegeben. In der katholischen Kirche wäre sie wegen der Position des Papstes als überragende Autorität gar nicht möglich. Denn mit den Formen der Predigt und der Erklärung geht es theologisch um nicht weniger als die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, insbesondere der Gemeindeglieder. Diese Predigt und Erklärung sind nicht weniger als ein rhetorisches Meisterwerk im Wechsel von persönlicher und institutioneller Redeweise.

Foto: Mathias Kauffmann/EKBO

Die Predigt gehört seit der Reformation und Martin Luther, der über 2.000 Predigten gehalten haben soll, zum Kernstück der protestantischen Theologie. Der „Kultur der Predigt“ wird von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit einem verstärkten „Qualitätsbewusstsein“ gedacht.[1] Erst kürzlich hat Roland M. Lehmann seinen Beitrag zur Evangelischen Theologie mit „Luther als Reiseprediger“ veröffentlicht.[2] Sowohl der Kanzel als Ort der Predigt im Kirchenbau wie der Form und Praxis der Predigt werden in jüngerer Zeit kulturhistorische Aufmerksamkeit geschenkt. Bereits Friedrich Niebergall hatte 1929 die „moderne Predigt“ kulturgeschichtlich und theologisch betrachtet.[3] Die Predigt befindet sich an der Schnittstelle von Theologie, Literatur/Dichtung und Privatem bzw. persönlicher Ansprache, wenn der Humanist Eobanus Hessus, der Luther am 7. April 1521 in der Erfurter Augustinerkirche gehört hatte, elegisch dichtet, es seien von der „»Gewalt seiner Verkündigung die Herzen geschmolzen wie Schnee vom Hauch des Frühlings«“.[4]

Foto: Mathias Kauffmann/EKBO

Eobanus Hessus‘ ebenso poetische wie treffende Formulierung von den geschmolzenen Herzen kann auch aktuell noch als Aufgabe einer professionellen Predigt gelten. Die biographischen Erzählungen spielten nach Lehmann schon bei Martin Luther gerade auf seinen Reisepredigten eine entscheidende Rolle. Für Lehmann „liegt (es) nahe, dass Luther in seinen Reisepredigten auch über seine eigene jeweilige Lebenssituation intensiver reflektierte und diese somit für seine Biografie, seine theologische Entwicklung und den jeweiligen zeitlichen Kontext von Interesse“ waren.[5] Von sich selbst in der Predigt zu sprechen, von eigenen Irrtümern und neuen Erkenntnissen zu berichten, ist gewissermaßen in der Form der Predigt seit Luther im Protestantismus angelegt. Das unterscheidet sie von der katholischen Predigt. Nicht jeder evangelischer Geistliche wirft sich selbst, seine Biografie, in seiner Predigt in die Waagschale. Doch sie trug schon um 1500 dazu bei, Luthers Position zwischen „rebellische(m) Ketzer oder prophetische(n) Heilsbringer einer neuen Zukunft“[6] zu klären und quasi menschlicher zu werden. Dies gilt um so mehr für ein theologisches Bekenntnis von Schuld.

Screenshot aus dem Livemitschnitt der EKBO, T.F.

Die barocke Kanzel der St. Marienkirche von Andreas Schlüter verwandelte den katholischen Kirchenraum aus dem 14. Jahrhundert in einen „Predigtsaal“[7], weil die Predigt im Protestantismus ein anderes Gewicht erhält. „Anders als in katholischen Kirchen erfuhr das Langhaus in protestantischen Bauten grundsätzlich eine auf die Kanzel ausgerichtete Zentralisierung, bildete doch die Predigt das zentrale Element des Gottesdienstes“[8], schreibt Claire Guinomet zur Kanzel in der Berliner Marienkirche. Statt der Darstellung von Heiligen wird durch Schlüters Kanzel 1702/03 auf neuartige Weise eine visuelle Allegorie auf die Predigt inszeniert. Gleich der Engel Trompeten soll das Wort des Predigers in die Ohren der Gemeinde dringen und weitergetragen werden wie die überlebensgroßen Engelfiguren die Kanzel tragen. Statt von der Kanzel herab wird ein neuartiges Verhältnis der Gemeinde zum Prediger und vice versa inszeniert. Die Gemeinde soll im wahrsten Sinne des Wortes angesprochen werden. Auf diese Weise predigte auch Bischof Stäblein nicht etwa belehrend oder strafend von der Kanzel herab, vielmehr sprach er von seinem theologischen Irrtum, seinem Umdenken und der Freundlichkeit der Gemeinde.
„Und sie reden heute dennoch freundlich mit mir. Sie sind geblieben in dieser Kirche. Danke. Sie sind diese Kirche. Haben sie von innen verändert mit freundlichen Reden. Aber nicht nur nett. Nein, nett geht nicht und ist nicht angesagt heute. Es brauchte Mut. Es brauche kritische, hartnäckige, ins Risiko gehende Worte. Verstehe man freundlich niemand falsch. Klar und wahrhaftig haben sie das Evangelium von der Liebe Gottes erstritten und erkämpft.“[9]      

Screenshot aus dem Livemitschnitt der EKBO, T.F.

Die Predigt von Bischof Stäblein verwandelte das Mea culpa (durch meine Schuld) aus dem Confiteor, dem Schuldbekenntnis der katholischen Kirche, in ein Bekenntnis der Schuld der evangelischen Kirche gegenüber queeren Gemeindegliedern, die zum „Gottesdienst in multireligiöser Gastfreundschaft anlässlich des Christopher-Street-Days/Gay Pride“ zumindest in so großer Zahl erschienen waren, dass unter den geltenden Regeln „zum Schutz Ihrer Gesundheit“[10] mit ausgezeichneten Plätzen auf Abstand in jeder zweiten Bankreihe die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war. Als Schuld zu bekennen ging es nicht zuletzt darum, sexuelle Gedanken und Taten mit dem gleichen Geschlecht zu bekennen. Dass der Gottesdienst so gut besucht war, heißt zweierlei. Erstens trägt der Gottesdienst am Vorabend des CSD zur Pride, zum Stolz, zur Selbstachtung queerer Menschen bei. Zweitens hat so nach über zehnjähriger Praxis die EKBO die gesellschaftliche Relevanz dieses Gottesdienstes und der ihn organisierenden queeren Menschen anerkannt. Begründet wurde diese Praxis durch den damals neuen Superintendenten des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte, Dr. Bertold Höcker.

Screenshot aus dem Livemitschnitt der EKBO, T.F.

Das Motto des Gottesdienstes lautete korrespondierend mit der Losung: LIEBE TUT DER SEELE GUT. Sie wendet sich wie das freundliche Reden gegen jene Formen des Hasses und der in sozialen Medien verbreiteten Hassrede, die Menschen ausschließen sollen. So wird das Versprechen der Liebe für die Seele als Wohltat deutlich ergänzt durch das Motto HOMOPHOBIE SCHADET DER SEELE. Beide Mottos wurden als Aufkleber während des CSD-Marsches von der Leipziger Straße über den Potsdamer Platz am Brandenburger Tor und der Siegessäule vorbei zur Urania an der Ecke Kleiststraße. Die Initiative zur Kampagne LIEBE TUT DER SEELE gut geht ebenfalls auf Bertold Höcker zurück. Und so war es nur folgerichtig, dass er während einer kurzen Ansprache vor dem Start des CSD-Marsches von einem Truck, erwähnte, dass er sich „seit 40 Jahren in der Evangelischen Kirche für die vollständige Gleichstellung queerer Lebensformen“ engagiere. Er forderte dazu auf:
„Bitte helft mit, Fundamentalismus in allen Religionen entgegenzutreten und denen, die gegen Gleichstellung sind, das Argument aus der Hand zu schlagen, die Heiligen Texte sagten etwas gegen queere Lebensformen. Das ist nämlich Unsinn. Wir alle sind Kinder Gottes und damit berufen, Liebe und daraus folgend Respekt und Toleranz zum Maßstab unseres Zusammenlebens zu machen. Darum demonstrieren wir heute als Evangelische Kirche hier in Berlin unter dem Motto „Liebe tut der Seele gut“. Diese Liebe wünsche ich euch allen.“[11]

Foto: Mathias Kauffmann/EKBO

Auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gibt es Fundamentalismus bzw. fundamentalistische Strömungen, die gegen andere als heteronormative Lebensweisen agitieren. Deshalb kommt der Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen eine große Bedeutung innerhalb der evangelischen Kirche bei.[12]. Nachdem Bischof Stäblein eingangs zum stillen Gedenken der Opfer durch die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen aufgefordert hatte, er die Schuld in ein Verhältnis zu seiner theologischen Biografie gestellt und um Vergebung gebeten hatte sowie die Wichtigkeit der Erklärung für die evangelische Kirche erläutert hatte, stieg er von der Kanzel herab und verlas sie vor dem Altar und unter dem Kunstwerk „Collective heart“ der slowenischen Multimediakünstlerin Eva Petric.

Foto: Mathias Kauffmann/EKBO

Die Frage der Gottesebenbildlichkeit ist eine entscheidende nicht nur im Christentum. Sie spielt auch im Judentum und im Islam eine Rolle, wenn es darum geht, Menschen Rechte zu- oder abzuerkennen. Seyran Ates als Imamin, Initiatorin und Mitbegründerin der Ibn Rushd-Goethe Moschee und Rabbiner Lior Bar Ami von der Jüdischen Liberalen Gemeinde Wien – Or Chadasch erteilten zusammen mit Superintendent Bertold Höcker den Segen in jüdischer, christlicher und muslimischer Tradition. Denn mit der Erklärung der EKBO hat Bischof Stäblein die Gottesebenbildlichkeit queerer Menschen anerkannt.
„Mit tiefem Respekt erkennen wir, welches Durchhaltevermögen dazu gehörte, als geoutete Pfarrperson in dieser Kirche zu arbeiten, nicht selten dazu gedrängt, gegenüber kirchenleitenden Personen sich wiederholt zu ihrer Lebensweise zu erklären. So haben queere Menschen in der evangelischen Kirche Diskriminierung erlebt. Sie wurden stigmatisiert und ausgeschlossen. Dies wurde durch eine Theologie befördert, die queeren Menschen eine Gottesebenbildlichkeit absprach oder diese in Frage stellte.“ (S. 3)

Foto: Mathias Kauffmann/EKBO

2017 wurde im Vorfeld der Bundestagswahl die Kampagne „Hass schadet der Seele – Liebe tut der Seele gut“ aus Sorge um die zunehmende Menschenfeindlichkeit und Kälte in der deutschen Gesellschaft vom Evangelischen Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte ins Leben gerufen. In der anhaltenden Covid-19-Pandemie gibt es eine erschreckend breite Bewegung menschenfeindlicher Entsolidarisierung durch die sogenannten Querdenker*innen, die nicht nur Regeln zur Eindämmung der Pandemie missachten und bekämpfen, sondern nun auch noch eine Schutzimpfung ablehnen. „Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes und soll erfahren können: Liebe tut der Seele gut.“ So vertritt es die Kampagne, die sich gegen Homophobie richtet. Die Haltung, dass „jeder Mensch … ein Ebenbild Gottes“ sei, wird von Querdenker*innen auf eine harte Probe gestellt. Sie vereinnahmen nicht zuletzt den Begriff queer als einen des Unterschieds und der Abweichung. Gleichzeitig erheben sie einen Anspruch auf unbegrenzte Freiheiten wie das Reisen ins Ausland. Queere Menschen schaden keiner Solidargemeinschaft, Querdenker*innen schon. Wir sollten freundlich mit ihnen reden und nicht in ihren Hass hineinziehen lassen.

Torsten Flüh

Multireligiöser Gottesdienst
am Vorabend des Christopher Street Days
23. Juli 2021, 18:00 Uhr auf YouTube.


[1] Wolfgang Huber: Vorwort. In: EKD (Hrsg.): Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009. (Online)

[2] Roland M. Lehmann: Reformation auf der Kanzel. Luther als Reiseprediger. Tübingen: Mohr Siebeck, 2021.

[3] Friedrich Niebergall: Die moderne Predigt: kulturgeschichtliche und theologische Grundlage, Geschichte und Ertrag. Tübingen: Mohr, 1929.

[4] Zitiert nach ebenda S. 1.

[5] Ebenda S. 2.

[6] Ebenda.

[7] Siehe Baugeschichte der St. Marienkirche.

[8] Claire Guinomet: Die Kanzel in der Berliner Marienkirche. In: Hans-Ulrich Kessler (Hg.): Andreas Schlüter und das barocke Berlin. München: Hirmer, 2014, S. 346.

[9] Transkribiert nach dem Video: Multireligiöser Gottesdienst am Vorabend des Christopher Street Days vom 23.07.2021 auf YouTube ca. 58:15.

[10] So die Sprachregelung im ausgebenden Programm des Gottesdienstes vom 23. Juli 2021, 18:00 Uhr.

[11] EKBO: Superintendent Bertold Höcker hielt anlässlich des #CSDBerlin2021 eine Ansprache von einem der Trucks an die Teilnehmer. Facebook 25. Juli um 12:00.

[12] EKBO: Bitte um Vergebung: Erklärung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zur Schuld an queeren Menschen. Veröffentlicht am Montag, 26. Juli 2021, 18:00 Uhr.

Geschwindigkeit und Entsetzen im Parforceritt

Erzählung – Recht – Name

Geschwindigkeit und Entsetzen im Parforceritt

Zu Simon McBurneys Inszenierung des Michael Kohlhaas an der Schaubühne

Der Regiestar Simon McBurney hat an der Schaubühne nach gut siebenmonatiger Verzögerung am 1. Juli 2021 statt am 2. Dezember 2020 seine Theaterinszenierung von Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas auf die Bühne gebracht. Im Michael Kohlhaas-Text überschlägt und verschachtelt sich die Syntax. Sie wird selbst zum dramatischen Geschehen des Erzählens von Recht und Ordnung, als sei der Text daraufhin komponiert. Aber ist das ein Text fürs Theater? Wenn Texte, die nicht für das Theater geschrieben wurden, inszeniert werden wie z.B. Thomas Manns Roman Der Zauberberg von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater Berlin, dann wird aktuell von postdramatischem Theater gesprochen. Simon McBurneys Michael Kohlhaas ist hyperdramatisch. Ein Parforceritt durch den Text.

Simon McBurney entfacht mit seinem Team und den Schauspieler*innen Robert Beyer, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, David Ruland, Genija Rykova, Renato Schuch eine Hyperdramatik, die die Kunst des Timings inklusive des Suspence‘ durch Verzögerung kennt. Dafür wird der Text in seiner Syntax, u.a. nach Kommasetzung unter den Schauspieler*innen aufgeteilt, intoniert, Rollen werden von ihnen nur angedeutet und sie verwandeln sich mit Krücken in knöcherne „Schindmähren“, wie es im Text steht. Sie traben, galoppieren und steppen wie Pferde, weil sich alles um die „Wiederherstellung der Pferde“ und das Rechtbekommen dreht. Aus dem Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800 wird der Parforceperformanz des Textes rätselhaft und beziehungsreich im November 2020 das Zitat vorangestellt: „Ich soll thun was der Staat von mir verlangt, u doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist.“

Im Juli 2021 könnte das Publikum in der Schaubühne fast vergessen, dass die Inszenierung von Michael Kohlhaas auf Verlangen des Staates wegen des zweiten Lockdowns nicht am 2. Dezember 2020 vor Publikum stattfinden durfte. Anders als bei Sebastian Hartmanns Inszenierung von Der Zauberberg entschieden sich Regieteam und Theaterleitung dafür, nicht live ohne Publikum im Theater die Inszenierung zu streamen.[1] Die Inszenierung hätte sonst sicher das Zeug gehabt, zum digitalen Theatertreffen 2021 eingeladen zu werden. Die mediale Aufrüstung der Bühnen mit Livecams und zum Teil verschiebbaren Projektionsflächen lässt sich durchaus vergleichen. Doch dazu später. Im November 2020 ließ sich Kleists Formulierung über den Staat inmitten steigender Inzidenzwerte neu und anders lesen. Joseph Pearson hat in seinem Essay Eine Antwort auf Abstand halten: »Michael Kohlhaas« vom 18. November einen paradoxen Moment protokolliert:
„»Haben wir nicht Glück?«, lächelt Co-Regisseurin Annabel Arden, seine langjährige Mitarbeiterin und Mitbegründerin von Complicité. Sie blickt auf die Bühne: »Es ist uns wichtig zu sagen, wie viel uns das Publikum bedeutet und wie wir das menschliche Bedürfnis geltend machen, uns zu versammeln und gemeinsam zuzuhören«.“[2]

Diese Inszenierung ist, was womöglich schnell vergessen werden wird, auch eine in und aus den Zeiten der Covid-19-Pandemie, die ohne den nicht enden wollenden Winterlockdown, der Versammlungen und gemeinsames Zuhören unmöglich machte, anders ausgefallen wäre. Sie bietet fast den ganzen Kohlhaas-Text und fügt ihm nicht viel hinzu. Im Hintergrund wird der sicher schon lange vorher geplante Michael Kohlhaas mit der Frage von Recht und Ordnung zu einem über die Frage des Rechts während der Pandemie. Im Gespräch mit Pearson hat McBurney den Kleist-Text sehr deutlich auf die „Corona-Pandemie“ bezogen, obwohl kein Wort dazu auf der Bühne gesagt wird. Das Bühnenbild spiegele die Welt von Michael Kohlhaas wider, sagt er.
„»… Wenn er eine Ungerechtigkeit erleidet, wird die Ordnung der Dinge gestört, und seine Welt beginnt, in Fragmente zu zerspringen. Die Strenge des Buches spiegelt sich in der Strenge des Bühnenbilds und in den Bildern der Fragmentierung und des Zerbrechens wider. Indem man alles entfernt, ist alles im Hier und Jetzt. Das ist genau so, wie es in diesem Moment sein muss, in einem Moment der Corona-Pandemie, im Chaos der Welt. Corona verstärkt das Gefühl der Trennung, aber es ist ein Teil der Gesellschaft, in der wir leben…“[3]

Das „Gefühl der Trennung“ sollte lange, sehr lange dauern. Jetzt in der ersten Hälfte des Juli 2021 wird an dem Abend, als ich mir die Inszenierung ansehe, freundlich, aber unüberwindbar an der Corona-Kontrolle ein Herr abgewiesen. Er legt einen gelben Impfpass mit Impfeinträgen vor, hat aber kein Ausweisdokument dabei. Eine Theaterkarte hat er. Aber der Impfpass in Papier oder der digitale CovidPass nach EU-Norm muss durch einen Ausweis oder Führerschein authentifiziert werden. Der Mann kommt an der Kontrolle nicht vorbei. Er erhält kein Einlassband. Ohne an diesem Abend gelbem Einlassband am Handgelenk kommt kein Zuschauer an der Kartenkontrolle vorbei in die Säle der Schaubühne. Das ist eine Rechtsfrage. Und die Schaubühne ist da dankenswerter Weise und anders als die UEFA im Wembley Stadion knallhart. – Ob es nun eine Dummheit oder Täuschungsabsicht des Herren war, den Impfpass nicht authentifizieren zu können, mag dahingestellt bleiben. Er hätte auch die Möglichkeit gehabt, einen negativen Antigentest vorzulegen. Aber der hätte ebenfalls authentifiziert werden müssen. Es wird auf allen Ebenen weiterhin aus einem Rechtsgefühl Widerstand gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie geben. – Ich weiß nicht, wie dem Mann weiter geschah.

Die Frage des Rechts – und eigentlich hätte sich der Theaterbesucher darüber informieren können, dass diese Frage den ganzen Text Michael Kohlhaas zutiefst strukturiert und bewegt, ihn am Laufen hält, –  zeigt sich bisweilen von äußerster Härte. Michael Kohlhaas wird zum Rechtsbrecher, weil er sein Recht auf die „Wiederherstellung der Pferde“ verlangt und es am Schluss auf paradoxe Weise gar erhält, ohne dass es ihm nützt. Er wird entsetzlich, wie es im Eröffnungssatz heißt: „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ Rechtschaffenheit und Entsetzen werden von Kleist von Anfang an gegeneinander ins Spiel gebracht. Wie kann ein Mensch „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten“ werden? Könnte Rechtschaffenheit zum Entsetzen führen? Als Heinrich von Kleist den Text schrieb und 1810 in Buchform mit zwei weiteren Erzählungen in Berlin veröffentlichte, war das Verb entsetzen anders als heute „in einer dreyfachen Bedeutung üblich“[4], die einmal angerissen werden muss.

Michael Kohlhaas schafft und verschafft sich nicht nur Recht, vielmehr sorgt er für das Entsetzen von Amtspersonen ebenso wie er Entsetzen über seine Taten auslöst, womit nicht zuletzt das Rechtschaffen entsetzlich werden kann. Statt von entsetzen wird heute eher von entheben wie beim „Amtsenthebungsverfahren“, dem englischen impeachment, gesprochen. Das Entsetzen lässt sich insofern als ein Rechtsakt verstehen. Damit hat ein Wandel stattgefunden, wenn die „Bedeutung“ angeschrieben werden soll
„(v)on einem Amte setzen, eines Amtes berauben, mit der zweyten Endung der Sache und der Voraussetzung eines begangenen Fehlers. Jemanden seines Dienstes, seines Amtes entsetzen, in der anständigen Schreib- und Sprechart, für das niedrige absetzen. Der Hofmarschall, der Bürgermeister ist entsetzet, oder seiner Würde entsetzet worden.“[5]
Damit wird die Koinzidenz von Rechtschaffenheit und Entsetzen, wie sie am vermeintlich historischen „Menschen“ von Heinrich von Kleist mit der Eröffnungsformulierung in Szene gesetzt wird, von vornherein angesprochen. Die Abgleichung des Rechts wird mit Michael Kohlhaas als gleichursprüngliches Problem von Rechtschaffenheit und „Entsetzlichkeit“ (Adelung) formuliert.

© Gianmarco Bresadola 2020 – Schaubuehne am Lehniner Platz, ‘’MICHAEL KOHLHAAS” von Heinrich von Kleist, Regie: Simon McBurney, Co-Regie: Annabel Arden, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Moritz Junge, Sounddesign: Benjamin Grant, Mitarbeit Sounddesign: Joe Dines, Video: Luke Halls, Mitarbeit Video: Zakk Hein, Dramaturgie: Maja Zade, Produktionsleitung London/ GB: Judith Dimant /Wayward Productions, Licht: Erich Schneider.

Die Abgleichung des Rechts wird von Kleist nicht zuletzt mit der Erzählung als ein sprachliches Problem der Ambiguität vorgeführt. Eindeutige Aussagen lassen sich kaum erzielen. Immer haben die Worte mehrere Bedeutungen, die sich nicht einfach ausblenden lassen. Je verschachtelter die Syntax der Erzählung wird, desto hastiger wird nach der Bedeutung der Worte gesucht, die sich in einem ständigen Wandel befinden. In der Inszenierung hält der Schauspieler, der über weite Passagen die Figur Michael Kohlhaas verkörpert, eine Handbibel hoch, wie es während der Kulturrevolution in der Volksrepublik China Mitte der 1970er Jahre in Fernsehaufnahmen auf dem Platz vor dem Tiananmen zu sehen war. Doch ein Buch unterliegt der Ambiguität der Worte ob als Luther- oder Mao-Bibel oder Erzählungen-Buch. Simon McBurney hat den „nüchternen, distanzierten Stil, der aber auch eine unglaubliche Geschwindigkeit, Unvermeidlichkeit und Kraft hat“[6], von Kleists Erzählung wahrgenommen. Deshalb sprechen, performen die Schauspieler*innen den Text auch mit starken Betonungen in großer Hast. Bedeutung blitzt auf, bis an einer bestimmten Stelle abgebrochen wird. Darin liegt wohl der größte Gewinn dieser Inszenierung. Die Hast überdeckt die gefährliche Ambiguität.

© Gianmarco Bresadola 2020

Michael Kohlhaas als Name und Titel handelt nicht nur von einem individuellen Problem eines einzelnen Menschen, vielmehr setzt er das Problem des Rechts in der Moderne scharf in Szene. Die Frage nach dem Recht wird von der Ambiguität der Worte unterlaufen. Trotzdem oder gerade deshalb wird nicht erst seit Martin Luthers Übersetzung der Bibel zum besseren Verständnis im Namen der Bücher und Bibeln gestritten. Die Spaltung der christlichen Kirche durch die Übersetzung und Verdeutschung der Bibel in Protestantismus und Katholizismus ist nicht zuletzt eine durch die Ambiguität der Worte, die Luther auszumerzen versucht. Dieses Problem im Michael Kohlhaas wird von Wilhelm Grimm wenige Jahre später am 20. April 1815 in einem Brief an Carl von Savigny formuliert. Denn die Methode der „Ableitung“ führt nicht etwa zur Eindeutigkeit, sondern zur Ambiguität. Wilhelm Grimm behagt das nicht, wenn er nie „fertig“ mit einem Wort wird und schreibt:
„ … je weiter ich in diesem Studium fortgehe, desto klärer wird mir der Grundsatz: daß kein einziges Wort oder Wörtchen bloß eine Ableitung haben, im Gegenteil jedes hat eine unendliche und unerschöpfliche. Alle Wörter scheinen mir gespaltene und sich spaltende Strahlen eines wunderbaren Ursprungs, daher die Etymologie nichts tun kann, als einzelne Leitungen, Richtungen und Ketten aufzufinden und nachzuweisen, soviel sie vermag. Fertig wird das Wort nicht damit.“[7]

© Gianmarco Bresadola 2020

Die Methode der „Ableitung“ wird von Wilhelm Grimm in zeitlicher Nähe zur Kohlhaas-Erzählung zu „einzelne(n) Leitungen, Richtungen und Ketten“ verschoben. Die Gespaltenheit der Wörter führt u.a. dazu, dass sich das Recht auf „Wiederherstellung der Pferde“ nicht einfach ableiten und gegenüber den Machthabern durchsetzen lässt. Wovon lässt sich das Recht des einzelnen Menschen im Staat ableiten? Die Methode der Ableitung spielt für Michael Kohlhaas vor allem in der Sequenz mit Martin Luther eine entscheidende Rolle. Wird Martin Luther kraft seines Namens doch selbst zu Rechtsfigur, wenn er „ihn der Ungerechtigkeit zieh […] unterzeichnet von dem teuersten und verehrungswüdigsten Namen, den er kannte, von dem Namen Martin Luthers!“. Martin Luther richtet und spricht Recht, er verkörpert das Recht über Kohlhaas im Namen des Staates, indem er die „Gemeinschaft des Staats“ beschwört.
„Welch eine Raserei der Gedanken ergriff dich? Wer hätte dich aus der Gemeinschaft des Staats, in welchem du lebtest, verstoßen? Ja, wo ist, so lange Staaten bestehen, ein Fall, daß jemand, wer es auch sei, verstoßen worden wäre?“

© Gianmarco Bresadola 2020

Doch Luthers Rede mit der dreifachen Frage als Figur der Rhetorik gibt einen Wink. Es sind rhetorische Frage. Eine Antwort erwartet Luther nicht auf sie. Denn sie lassen sich kaum beantworten. Aber sie demonstrieren in seiner Rede seine Macht. Tendiert der mit einem Fragezeichen markierte erste Satz – „Welch eine Raserei der Gedanken ergriff dich?“ – doch eher zu einer Aussage über die Unrechtmäßigkeit der Gedanken. Richtet Luther Kraft der Art und Weise wie er spricht und nicht, weil er etwa mehr von „der Gemeinschaft des Staats“ verstünde? Die Rhetorik als Formenlehre des Sprechens und als Sprachpraxis wird von Kleist in die Aufmerksamkeit gerückt. Martin Luther kannte als Augustinermönch und Theologieprofessor sehr wohl die Rhetorik und ihre Formen. Die Häufung von drei aufeinander folgenden Fragen, die schon deshalb nicht beantwortet werden sollen und können, weil sie aneinandergereiht werden, wird in der Erzählung zu einem Exempel der Rhetorik. Behauptet wird mit den rhetorischen Fragen von Luther eine „Gemeinschaft des Staates“. Doch den „Staat“ im modernen Gebrauch von um 1800 gibt es „um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts“ noch gar nicht. Deshalb fällt Adelungs „Ableitung“ in der „Anm.“ äußerst instabil im Konjunktiv aus.

© Gianmarco Bresadola 2020

Als Übersetzer und Leser der Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers wankt Adelung zwischen dem „Franz. Etat“ und dem „Getöse, Geräusche“, das Kleist mit Luther zugleich in Szene setzt. Die Formulierung einer „Gemeinschaft des Staats“ korrespondiert mit der „communauté“ in dem mehrseitigen Artikel von einer Vielzahl von Autoren wie Formey, Jaucourt, Baron d’Holbach, Boucher d’Argis, Aumont zum état der Encyclopédie.[8] Die deutschsprachige Ableitung zum Getöse bleibt dort aus. Doch Adelung versucht sie mit Ausgriffen bis zum Schwedischen und Niedersächsischen aufrecht zu erhalten.
„Anm. Im Ital. Stato, im Franz. Etat. Es leidet in dieser letzten Bedeutung mehr als Eine Ableitung. Es kann von stehen abstammen, und eine in einer bestimmten Gegend auf eine beständige oder bleibende Art verbundene bürgerliche Gesellschaft bezeichnen, zum Unterschiede von einem unstäten, herum schweifenden Volke. Indessen scheinet die Ableitung von dem Getöse, Geräusche, welche eine Menge Menschen macht, auch ihre und vielleicht noch mehr Wahrscheinlichkeit zu haben, und würde alsdann Staat nur durch den vorgesetzten Zischlaut von dem alten Theut, Thiot, Diet, Volk, dem Gothischen Thiudan, Reich u. s. f. gebildet seyn. Zu der allgemeinen Bedeutung des Lautes, Tones, Geräusches gehören noch das Schwed. tuta, tönen, das Angels. thutan, heulen, das Oberd. Gethiode, Gethiute, Sprache, das Nieders. düten oder tüten, auf einem Horne blasen, und andere mehr, welche insgesammt Onomatopöien eines gewissen bestimmten Lautes sind.“[9]  

Auf der Theaterbühne wird der Text nicht zuletzt mit dem Getöse des Trampelns effektvoll in Szene gesetzt. Das kommt Kleists Text sehr nah und ist Schauspielkunst. Mit großer Dramatik wird die Schlussszene, in der Kohlhaas einen Zettel aus einer Kapsel verschlingt – „überlas ihn: und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet, der bereits süßen Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und verschlang ihn.“ – und auf dem Schafot unter dem Beil des Scharfrichters fällt, ausgespielt. Kohlhaas isst den Zettel nicht nur, verschlingt ihn auch mit der Geste und dem Gefühl der Macht. Bei Kleist kann „verschlang“ zweierlei heißen: essen und mit Bedeutung versehen, verketten. Der Text wird bis auf Doppelpunkt, Kommata und Punkte performt. Der in Berlin und Tokyo lebende Autor, Literaturwissenschaftler und Semiotiker Götz Wienold hat 2018 mit Michael Kohlhaasens letzte Speise – Von der Schwierigkeit der Literatur sich in der Welt ihr Recht zu verschaffen darauf hingewiesen, dass die Kapsel wie sprichwörtlich das Leben an „einem seidenen Faden“ Kohlhaas um den Hals hängt.     

Wienold prüfte in seinem Vortrag nach, wieweit und ob überhaupt Kleists Erzählung mit historischen Quellen übereinstimmt. Doch wie mit der Luther-Sequenz bleiben die historischen Quellen bei Kleist marginal. Sie werden literarisch verarbeitet und beziehen sich auf den Horizont der Enzyklopädie. Kohlhaas verschlingt schließlich den Zettel vor den Augen des Kurfürsten. Die Geschichte mit dem Zettel ist eine Erfindung Kleists; mit der literarischen Figur, die die Rache am Fürsten dem eigenen Leben vorzieht, stellt Kleist eine Figur dar, die mit Einsatz des eigenen Lebens sich der ungerechten Herrschaft und Willkür der Fürsten und der Aristokratie widersetzt. Lesen und Wissen werden von Kleist als die ultimative Machtausübung, wenn der Zettel mit dem Zukunftswissen einer Weissagung von Kohlhaas einer kurzen Aneignung des Wissens – „überlas ihn“ – vor den Machthabern verschlungen wird. Das Überlesen des Zettels nützt Kohlhaas nichts. Er liest ihn für nichts, weil er die Machtlosigkeit als Ohnmacht des „Mann(es) mit blauen und weißen Federbüschen“ vorführen will:
„Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank, bei diesem Anblick, ohnmächtig, in Krämpfen nieder.“

Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Covid-19-Pandemie und dem Staat, gegenüber einem Unwissen vom Virus und der staatlich geförderten Impfstofftests spielte und spielt bis heute eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung der Welt.[10] Namen spielen wie in Kleists Erzählung – Michael Kohlhaas, Martin Luther – eine wichtige Rolle. Ob Kleists Namensgebung mit dem Vornamen Michael auch auf den Erzengel Michael anspielt, wissen wir nicht. In anderen Teilen der Welt wie in Kuba wird der für die Islamische Republik Iran mitentwickelte Impfstoff kurzerhand Abdala genannt.[11] Das ist ein Politikum. Denn der arabische Männername عبد الله, aus Abd und Allah von rechts nach links gelesen, heißt Knecht und Gott bzw. Knecht oder Diener Gottes. Im Arabischen reicht die pure Kombinatorik und Abfolge der Worte, um beispielsweise das Genitiv-Verhältnis mit dem Namen Abdalla abzurufen. Fragt man sich, warum der Covid-19-Impfstoff des kubanischen Pharmakonzerns HeberFeron Abdala heißt, dann erwähnt euronews am 11. Juli 2021 nicht, dass der islamische Name, der auch als Nachname gebraucht wird, vor allem für den Iran bestimmt ist, in dem erst ca. 10% der Bevölkerung mit chinesischem, russischem oder koreanischem Impfstoff versorgt worden sind. Der koreanische Impfstoff erweist sich dann nach dem Erfahrungswissen exiliranischer Freund*innen als politisch heikler englisch-schwedischer mit dem Namen AstraZeneca.

Die Namenspolitik spielt nicht nur in Kleists Michael Kohlhaas eine politische Rolle, wenn dieser einen vermeintlich historischen Hans Kohlhaas in Michael umbenennt und der Name „Martin Luther“ der „teuerste() und verehrungswüdigste() Name(), den er kannte,“ benutzt wird. Der Name wird selbst zum Gegenstand des Wissens und der Macht. An dem etwas fragwürdigen Namen Abdalla für einen kubanischen Impfstoff spiegeln sich nicht zuletzt Machtverhältnisse zwischen Ohnmacht und Weltmacht. Es ist das Verdienst der Inszenierung von Simon McBurney, dass der Kohlhaas-Text mit den aktuellen Mitteln und Medien mehr ausgelotet als interpretiert wird. Keine Psychologie wird strapaziert und keine plumpe Aktualisierung versucht. Michael Kohlhaas trägt über weite Phasen eine Puppe als Kind mit sich rum. Den Text ein wenig zum Klamauk aufbrechend wird ein Portrait von Franz Beckenbauer als „Kaiser“ unter die Projektionskamera gelegt und verschwindet schnell wieder, weil selbst dieser „Kaiser“ sich selbst demontiert hat mit Rolex-Uhren oder so. Ja, die herrlich sprach- und körpergewandten Schauspieler*innen mit allen Tricks der Sprechakrobatik muss man ganz vis à vis in der Schaubühne ca. 110 Minuten gesehen, gehört, erlebt haben.

Torsten Flüh

Schaubühne
Michael Kohlhaas
14.07.2021, 20.00 – 21.50
15.07.2021, 20.00 – 21.50
16.07.2021, 20.00 – 21.50
17.07.2021, 20.00 – 21.50
18.07.2021, 20.00 – 21.50
17.08.2021, 20.00 – 21.50
18.08.2021, 20.00 – 21.50
19.08.2021, 20.00 – 21.50
20.08.2021, 20.00 – 21.50
21.08.2021, 20.00 – 21.50
22.08.2021, 20.00 – 21.50


[1] Zu Der Zauberberg siehe: Torsten Flüh: Körperschlachten. Zu Sebastian Hartmanns Der Zauberberg beim digitalen Theatertreffen 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Mai 2021.

[2] Joseph Pearson: Eine Antwort auf Abstand halten: »Michael Kohlhaas«. Pearson’s Preview 18. November 2020.

[3] Ebenda.

[4] Siehe Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801): Entsetzen, Bd. 1, Sp. 1835.

[5] Ebenda. Vgl. ebenfalls den Bedeutungswandel von Entheben bei Adelungs Entheben Bd.1, Sp. 1826.

[6] Joseph Pearson: Eine … [wie Anm. 2].

[7] Zitiert nach Startseite von Wörterbuchnetz.

[8] Siehe : État in : Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 1751 (Tome 6, p. 16-30).

[9] Johann Christoph Adelung: Grammatisch …. [wie Anm. 4] Bd. 4, Sp.258.

[10] Vgl. zur Frage der Macht von Wissen und Unwissen während der Pandemie: Torsten Flüh: Nebenwirkungen erwünscht. Zu Testzentren, einem Erfahrungsbericht und Nebenwirkungen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Juni 2021.

[11] Euronews: Kuba lässt ersten eigenen Impfstoff „Abdalla“ zu. 11.07.2021.

Grenzfragen an Europa

Europa – Grenze – Vielfalt

Grenzfragen an Europa

Zu Diversity United in Hangar 2 und 3 des Flughafens Tempelhof zweiter Teil

Wo verläuft die Grenze Europas? Gehört das Vereinigte Königreich nach dem Austritt aus der Europäischen Union noch dazu? Gehört Russland zu Europa, wenn Diversity United in Moskau gezeigt werden soll? Gilbert & George aus Italien und Großbritannien haben jedenfalls einen eigenen Raum in der Ausstellung im Hangar 2. Währenddessen wird in der der Shoppingmall CITTI PARK in Kiel mit einem Plakat an der Tür zur New Yorker-Filiale für Diversity United in Berlin geworben. Das Braunschweiger Bekleidungsunternehmen New Yorker mit über 1.000 Filialen in ganz Europa und darüber hinaus bis Ägypten, die Arabischen Emirate und ins Shopping Center Malyj GUM in der Svetlanskaya St. 45 von Wladiwostok richtet sich an Käufer*innen zwischen 12 und 39 Jahren mit dem Slogan „Art meets Fashion“.[1] Von Island bis ins östliche Russland reicht zumindest das Netz der New Yorker-Filialen.[2]

Die Literaturwissenschaftlerin und Mitbegründerin der Post Colonial Studies Gayatri Spivak sprach in ihrer Mosse-Lecture 2013 von dem Winzigen und Europa. Ist Europa winzig, wenn es sich für das Bekleidungsunternehmen New Yorker im Westen von Reykjavik bis Wladiwostok im Osten erstreckt und keine einzige Filiale in Großbritannien hat? Die Empirie der New Yorker-Filialen gibt einen anderen Hinweis. Europa ist riesig und winzig zugleich. Im Vereinigten Königreich hat die Kette nie eine Filiale eröffnet. Gayatri Spivak hat in ihrer Kolonialismuskritik der Post Colonial und Subaltern Studies insbesondere „heterogene, marginalisierte Subjektposition zu beschreiben“ versucht.[3] New Yorker wirbt nun mit dem Slogan „Dress for the moment“. Und für 9,99 € gibt es zur Ausstellung das T-Shirt „AMISU GEORG BASELITZ“ mit Lenin beim Telegraphen (Grabar) 1999 von Georg Baselitz.

Georg Baselitz kommt in der Ausstellung in der Sequenz Krise & Widerstand vor, die mit der Frage „Glückliches Europa?“ eröffnet wird. Lenin beim Telegraphen von Igor Grabar gibt es bei ebay für einen US-Dollar als Sonderbriefmarke.[4] Baselitz verkehrt das waagerechte Format des Gemäldes bzw. der Briefmarke in die Senkrechte. Igor Grabar gehörte als Maler zu den Funktionären des Sozialistischen Realismus. Wann und wo Baselitz das Bild gesehen hat, wissen wir nicht. Doch es entsteht im Kontext seiner „Russenbilder“, die in der DDR bis hin zum Briefmarkenmotiv aus der UDSSR die Wahrnehmung und Geschichtsdarstellung prägten.[5] Was als realistische Darstellung von Geschichte und europäischer Fortschrittserzählung gesehen werden sollte, lässt sich nun erst erkennen, wenn man den Kopf zur Seite legt. Die Anordnung von diktierendem Lenin, einem den Telegraphenstreifen lesenden Militärangehörigen und dem telegraphierenden Mitarbeiter wird von Baselitz übernommen.[6] Doch das realistische Ölgemälde wird mit Punkten und Zeichenstrichen nur angedeutet.
„Aufgrund meiner Vergangenheit und Herkunft war Selbstbehauptung für mich getrennt vom russischen Diktat schwierig. Deshalb habe ich mir diese Bilder vorgenommen. Ich arbeite meine Geschichte ab.“[7]   

Lenin beim Telegraphen erinnert einerseits auf gespenstische, undeutliche Weise an ein kanonisches Bild des Sozialistischen Realismus‘, andererseits übt Baselitz 1999 gegen die im Volksmund „Russenbilder“ genannten Geschichtsdarstellungen, gegen den Kanon Widerstand. Zugleich hat sich Baselitz offenbar durch die pointilistische Malweise mit dem Werk Igor Grabars auseinandergesetzt. Denn 1904 begann Grabar pointilistisch zu malen.[8] Das zunächst in der Senkrechten schwer erkennbare, großformatige Gemälde, das in einer Serie von 58 „Russenbildern“ in großer Malgeschwindigkeit zwischen 1998 und 2005 entstanden ist, erweist sich auf den zweiten Blick vielschichtiger als gedacht. Denn es wird nicht nur das Bild als Motiv verdreht, vielmehr wird Grabar auch in seinen widerstreitenden Malweisen gegen den Sozialistischen Realismus reflektiert. In einem Video mit Georg Baselitz über eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen lässt sich wie im Kontext weiterer „Russenbilder“ wie In the Days of War (Korzhey), Tursunoi Akhumova, the First Female Uzbek Tractor-Driver, Teaching a Friend (V. M. Petroy) etc. erkennen, dass die pointilistische Malweise selten verwendet wird.[9]

Kris Martin bringt die Grenzfrage mit seiner Installation Narrenschiff, 2020 auf ebenso direkte wie brutale Weise ins Spiel. Einerseits gehört das Narrenschiff zu jenen erzählerischen und visuellen Motiven, die seit dem Mittelalter durch Sebastian Brant (1457-1521) in der europäischen Kultur bearbeitet werden. Brants Moralsatire kritisiert die Moralpolitik in Europa und wird zugleich zu dessen Utopie. Als Satire ist das Narrenschiff dem Motiv der Spiegelung verschrieben. Denn die überzeichneten kulturellen Praktiken sollen als lächerlich und falsch erkannt werden. Sebastian Brants Narrenschiff im fortschrittlichen Buchdruck mit Holzschnitten wurde zum erfolgreichsten Buch seiner Zeit in Europa. Die Form des Narrenschiff von Kris Martin erinnert allerdings weniger an eine mittelalterliche Kogge als vielmehr an ein Flüchtlingsboot.

Provokant hängt eine viel zu kleine Suppenkelle über dem Spiegel, die an provisorische Schöpfwerkzeuge erinnern kann, wie sie bei leckgeschlagenen Schlauchbooten nach Europa Flüchtenden benutzt werden. Martin zitiert und kombiniert alltägliche Gegenstände mehr, um mit seiner Kunst an einen europäischen Krisendiskurs nicht nur über Europas Außengrenzen, sondern auch an Aufnahmegrenzen von Geflüchteten zu erinnern. Auf eine ähnliche Weise reagierte Katharina Sieverding schon 1992 mit ihrer Arbeit Deutschland wird deutscher auf Abgrenzungsbestrebungen nationalistischer, „rechte(r), euroskeptische(r) Tendenzen in Deutschland“ wie sie Roger de Weck in der Wochenzeitung Die Zeit am 6. März 1992 kurz vor der Neugründung der Europäischen Union beschrieben hatte.[10] Die Grenzfragen als wiederkehrendes Krisennarrativ geben insofern einen Wink auf die Ambivalenz der Grenzen Europas. Sie stellen eine Einheit her, die zugleich in Frage gestellt wird, weil sie immer wieder zu Ausschlüssen führen.

Lucy und Jorge Orta machen mit ihrer umfangreichen Installation und Intervention Antarctica, die seit 2006 ständig erweitert worden ist, auf die Utopie eines Territoriums, das den wirtschaftlichen und nationalen Interessen entzogen worden ist, aufmerksam. Durch den internationalen Antarktis-Vertrag über die ausschließlich friedliche Nutzung des antarktischen Kontinents vom 1. Dezember 1959 wurde der Kontinent den nationalen Interessen entzogen. Die Bundesrepublik Deutschland trat am 22. Dezember 1978 per Gesetz dem Vertrag bei.[11] Im Hangar 2 haben Lucy und Jorge Orta nicht nur mehrere ihrer 50 „dome dwellings“ oder Iglozelte aufgestellt, die sie 2007 nach einem Flug mit einer Hercules KC130 gegen Ende des Sommers auf der südlichen Erdhalbkugel platziert hatten.[12] Sie nannten ihre Installation: Antarctic Village No Borders. Die mit nationalen Flaggen handbestickten Zelte, mit Teilen von Bekleidung, Gurtband und Siebdrucken versehenen Oberflächen thematisieren die Grenzen, indem sie nicht beansprucht werden.

Für Diversity United hat das Künstlerduo 2021 neue Antartica World Passports[13] als Ausweispapiere entworfen, die in einer Passstelle – „Passport office“ – ausgefertigt werden. 15.000 World Passports aus der sechsten Ausgabe sind auch virtuell über https://www.antarcticaworldpassport.com/en/ zu beantragen. Visuell und materiell arrangiert und inszeniert das Passport office Gegenstände, wie sie auf einer Flucht verwendet werden. Lucy Orta stempelt die Pässe in der Ausstellung ab. Die bürokratisch-hoheitliche Praxis des Grenzübertritts und der Einreise wird so künstlerisch vorgeführt. Mit dem gültigen Pass wird man Mitglied der Weltgemeinschaft von Antartica. Mit anderen Worten:
Lucy und Jorge Orta „begründeten eine weltweite Gemeinschaft, die die antarktische Staatsbürgerschaft erlangen kann, ohne dafür nationale Grenzen überqueren zu müssen. Als Bürger:innen der Antarktis verpflichtet man sich, den sozialen Fortschritt zu unterstützen, Umwelt und Menschwürde zu schützen und für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden einzutreten.“[14]      

Welche Gefühle erzeugen Grenzen? Wie fühlen sie sich an? Sie erzeugen nicht nur Widerstand, vielmehr bieten sie zunächst einmal einen körperlichen Widerstand für unsere Körper selbst. Ahmet Öğüt hat sich mit The Swinging Doors, 2019-2020 nicht zuletzt der körperlichen Erfahrung von Grenzen gewidmet. Die Schwingtüren aus transparenten Polizeischutzschildern verkörpern auch das Gewaltmonopol des Staates. Mit den Polizeischutzschildern sollen sich die Polizisten nicht nur gegen Gewalt schützen, sie zeigen Demonstrierenden oder Flüchtenden vor allem Grenzen auf. Drängen die widerständigen Körper ab im Namen des Staates und seiner Politik zur politischen Meinungsäußerung wie zur Einwanderungspolitik bzw. der Aufnahme von Flüchtenden. Die Schwingtüren in der Ausstellung sind zugleich elastisch und hart. Man muss für den Durchgang in der Ausstellung den eigenen Körper – Hände voraus oder den Brustbereich – einsetzen, um die Polizeischutzschilder als Verkörperung vom Staat gezogener Grenzen zu fühlen.

Vielleicht war es nichts als Trotz, weshalb die Figur von Fernando Sánchez Castillos Installation Memorial (2020) die Arme vor der Brust verschränkte und nicht wie Hunderte um ihn herum mit dem ausgestreckten Arm den Hitlergruß zeigte. Trotz hat mehr mit Gefühlen als mit Wissen zu tun. Für die Trotzigen ist eine gefühlte Grenze erreicht oder auch ein Grenzgefühl. Castillo hat dieser Grenzfigur ein Denkmal errichtet, indem er den Mann mit den verschränkten Armen von einem Foto vom 13. Juni 1936 „(a)ls kleine Kunststofffigur fünftausendfach reproduziert“ hat.[15] Das Foto wird von Castillo in seiner Installation an einem Pult gezeigt, an dem man auf einem quadratischen, gelben Post-it-Zettel „einen persönlichen Kommentar“ zum Thema Widerstand und Zivilcourage schreiben kann. Der Künstler lebt und arbeitete in Madrid, doch wenn er nicht im Internet oder einem Buch auf das Foto gestoßen ist, könnte er es im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in der Niederkirchnerstraße in Berlin gesehen haben.

Castillo hat sich wiederholt mit dem Thema Denkmal und dem Gedenken kreativ auseinandergesetzt. Am Denkmal stellt sich die Frage, wem wie gedacht wird oder gedacht werden sollte. 2012 stellte Castillo in Madrid seine Arbeit Síndrome de Guernica aus. Die Zerstörung der widerständigen Stadt durch die deutsche Luftwaffe am 26. April 1936 im Spanischen Bürgerkrieg als Unterstützung General Francos hat bereits Picasso in formalistischer Weise bearbeitet und dadurch ein ikonisches Arrangement von nicht nur spanischer, sondern europäischer Reichweite geschaffen. Picassos kubistisches Guernica Gedenkbild wird zumindest von außerhalb als Bild Europas wahrgenommen wie z. B. das rituelle Sandbild – statt eines Standbildes – von Lee Mingwei letztes Jahr im Gropius Bau zeigte.[16] Castillo will mit seinem Memorial den Trotz in Widerstand verwandeln und einen kommunikativen demokratischen Prozess anstoßen. Während Denkmäler i.d.R. darauf ausgerichtet sind über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte unversehrt erhalten zu bleiben, soll und kann sich Castillos Memorial zerstreuen:
„Gegen einen persönlichen Kommentar zu diesem Thema (Zivilcourage oder Widerstand, Anm. T.F.) oder zur eigenen Auffassung von Demokratie, geschrieben auf einem Post-it-Zettel, der an der Museumswand hinterlassen wird, können die Besucher:innen je eine Figur mit nach Hause nehmen.“[17]

Wenn die Besucher:innen eine Figur mit nach Hause nehmen können, dann werden mit dieser Aktion zur Frage von Demokratie und Widerstand auch die Grenzen der Ausstellung von Kunst gesprengt. Eine Ausstellung generiert sich gerade dadurch, dass sie wenigstens für ihre Dauer bleibt, wo sie ist. Denkmal und Ausstellung sind auf Dauer angelegt. Doch Fernando Sánchez Castillo will wie schon Lucy und Jorge Orta mit dem Antartica Project die Ausstellungsbesucher*innen in einen kommunikativen Prozess einbinden, der das Kunstwerk erst in seiner Wirkungsweise zur Geltung bringt. Die historische Figur, wahrscheinlich August Langmesser in seiner Trotzhaltung, soll als Kunststofffigur quasi eine ins Gesellschaftliche reichende Bewegung auslösen:
„So klein die Figur auch sein mag, im heimischen Wohnzimmer ist sei eine stete Erinnerung an die Bedeutung von Zivilcourage und Resilienz. Denn wie Hannah Arendt feststellte: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.““[18]

Effektvoll hat Patricia Kaersenhout ihre ebenfalls seriell angelegte Arbeit Mea Culpa für Diversity United in einem Schwarz-Weiß-Kontrast von schwarzem, spiegelndem Tisch und einer großen Anzahl weißer Figuren auf der Oberfläche als Kolonialismuskritik angelegt. Sie arbeitet seit vielen Jahren in Amsterdam, aber auch in Berlin am Gorki Theater konzeptuell an der Kritik zum europäischen Kolonialismus in der Welt. Während Bonaventure Soh Bejeng Ndikung aktuell die Sonsbeek Biennale in Arnheim kuratiert und den Kolonialismus der Niederlande erforschen lässt, bringt Patricia Kaersenhout mit Mea Culpa eine geradezu verführerisch designte Inszenierung der weißen Macht und ihrer Schuld zum Ausdruck. Der große, spiegelnde, schwarze Tisch mit den Männerfiguren in Anzug und Krawatte auf allen Vieren wirkt erst einmal so schick, dass die Grausamkeiten des Kolonialismus weit entfernt bleiben. Aus dem Bild erschließt sich Kritik am niederländischen Kolonialismus nicht sogleich.

Patricia Kaersenhout setzt mit Mea Culpa auf eine visuelle Ambiguität. Die Geste der Unterwerfung, sich auf Knien in Anzug mit Krawatte zu bewegen, lässt sich auch im pornographischen Genre des BDSM finden. „Bürohengste“, die sich zur Stimulation unterwerfen bzw. unterwerfen lassen. Kaersenhout hat derartige sexualpraktische Implikationen in der Wahrnehmung von Kolonialismus und Kolonialismuskritik durchaus im Blick. Mit Mea Culpa spielt sie die visuelle Ambiguität von sexualisierten Praktiken im gewiss nicht nur niederländischen Kolonialismus besonders stark aus. „Anzugspiele“ als Machtszenarien gehören zu den weit verbreiteten Szenarien von Sexualitäten, die etwa in Fifty Shades of Grey seit 2011 oder Basic Instinct (1992) wiederholt popularisiert worden sind und im Pornobereich in allen erdenklichen Variationen und großer Diversität durchdekliniert werden.

Die schwarze, spiegelnde Lackoberfläche geht ambig über eine reine Spiegelfunktion hinaus, wenn sie sich beispielsweise mit schwarzem Lackleder als fetischisierte Macht assoziieren lässt. Es geht nicht nur darum, dass sich die Betrachter*innen in der spiegelnden Oberfläche als Teil einer weißen, männlichen „heutigen Elite der Macht“ erkennten. Deshalb greift Sonia Boyce‘ Formulierung im Katalog auf bigotte Weise viel zu kurz, wenn sie nur auf die „christliche Tradition der Sühne durch das Ertragen körperlicher Drangsal während ritueller Pilgerfahrten“ verweist.[19] Als Schwarz-Weiß-Kontrast angelegt wird mit Mea Culpa dieser durchaus ambig unterlaufen. Nun ist es ganz und gar nicht so, dass der Berichterstatter die Ambiguität nicht zuletzt des Spiegelns auf den ersten Blick erkannt hätte, vielmehr störte der spiegelnde, schwarze Lacktisch. Erst im visuellen Erforschen der Installation von Patricia Kaersenhout lässt sich die Ambiguität formulieren.

Eva Kot’átkovás Installation Place for speaking out (Place for making the private public), 2018 gehört zu jenen Kunstwerken, die in der Ausstellungsarchitektur nahezu verschwinden. Während es der tschechischen Künstlerin mit ihrer Arbeit und dem programmatischen Titel darum geht, Grenzen des politisch Sagbaren in Europa – man denke nur an die Zensurgesetzgebung von Victor Orbáns rechtsnationaler Fidesz-Regierung in Ungarn gegen Publikationen mit homosexuellen Inhalten und die transgender-feindlichen Äußerungen des tschechischen Präsidenten Milos Zeman – zu überschreiten, wird der Metallkäfig mit mundartigem Schlitz und seitlich herabhängenden weißen Stoffärmel in Hangar 3 vor einem historischen, kleinen Rundbunker zwischen Nil Yalters multimedialen Textarbeiten und Constant Dullaarts Target Audience mit Standarten präsentiert. Der massive Rundbunker dominiert die Ausstellungsfläche derart, dass er zu einem visuellen Problem wird.

Die Quantität als Masse von „90 Künstler:innen aus 34 Ländern“ wird zu einem Problem der reflexiven Qualität der einzelnen Kunstwerke, auf die man sich einlassen sollte. Constant Dullaarts Wimpel, die wie in einem mittelalterlichen Rittersaal als Trophäen aufgereiht sind, thematisieren und inszenieren fiktive Instagram Profile mit Anspielungen auf die Nationalflagge wie der USA, Türkei oder dem Union Jack des Vereinigten Königreichs. Die Visualität der Instagram Profile von Target Audience generiert eine Bilderflut, die sich dennoch formal in den Motiven zum Verschwinden gleicht. Das visuelle Blogformat Instagram, durch das Stars aus Fußball und Entertainment mit Haarschnitt und Haarfärbung ihre Fangemeinden vor allem unter 12- bis 39-jährigen generieren, und das mittlerweile von TikTok an Popularität übertroffen wird, was schon die massive Bandenwerbung während der EM zeigt, stellt in der Vielzahl eher keine Vielfalt her. Es mag die grenzenlose Verfügbarkeit von immer wieder neuen Bildern sein, die sich kaum noch ordnen lassen, aber gleichen, die einen puren Krieg der Bilder von Europa und der Welt freisetzen, in dem das Einzelne und das Individuelle weder interessieren noch gewürdigt werden. – Trotzdem hingehen, aber nicht alles sehen wollen.

Torsten Flüh

Diversity United
Zeitgenössische Kunst aus Europa
bis 19. September 2021
Flughafen Tempelhof Hangar 2 + 3


[1] Diversity United in New Yorker https://www.newyorker.de/is/lifestyle/diversityunited/

[2] Stores in New Yorker https://www.newyorker.de/is/stores/

[3] Siehe Torsten Flüh: Das Winzige und Europa. Gayatri Chakravorty Spivaks große Mosse-Lecture. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 2, 2014 20:30.

[4] Russia 4187,CTO. Michel 4228 Bl.94. Lenin at the Telegraph,by Igor Grabar.1974. ebay.

[5] Daniela Papenberg: Georg Baselitz. Russenbilder. In: Portal Kunstgeschichte 22. November 2007.

[6] Siehe “Lenin at the direct line, 1933” (Wikipedia)

[7] Baselitz zitiert nach Walter Smerling/Tina Rudolph: Georg Baselitz. In: Walter Smerling (Hg.): Diversity United.  Zeitgenössische Kunst aus Europa. Köln: Wienand 2021, S. 134.

[8] Wikipedia: Igor Grabar.

[9] Deichtorhallen Hamburg: GEORG BASELITZ über seine Ausstellung in den Deichtorhallen Hamburg 12.12.2007. Siehe auch Katalog S. 137.

[10] Kay Heymer: Kathrina Sieverding. In: Walter Smerling (Hg.): Diversity … [wie Anm. 7] S. 100.

[11] Gesetz zum Antarktiks-Vertrag vom 1. Dezember 1959. In: Bundesanzeiger online.

[12] Siehe Studio Orta: Antartic Village No Borders 2020 – 2007.

[13] Siehe https://www.studio-orta.com/en/artwork/786/antarctica-world-passport

[14] Camille Morineau: Lucy + Jorge Orta. In: Walter Smerling (Hg.): Diversity … [wie Anm. 7] S. 62.

[15] Hilke Wagner: Fernando Sánchez Castillo. In: Ebenda S. 84.

[16] Siehe Torsten Flüh: Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ. Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Mai 2020.

[17] Hilke Wagner: Fernando … [wie Anm. 15].

[18] Ebenda.

[19] Sonia Boyce: Patricia Kaersenhout. In: Ebenda S. 248.