Queere Geschichte nach Fotos

Queer – Geschichte – Deutschland

Queere Geschichte nach Fotos

Zu Benno Gammerls empfehlenswerten Buch Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Die Form von Queer ist anders. Benno Gammerl stellt in seinem neuen Buch jedem historischen Abschnitt ein Foto voran. Kaiserreich – Weimarer Republik – Nationalsozialismus – Nachkriegsdekaden in Ost und West – Bewegungen seit den 1970er Jahren – Neue Normalitäten seit den 1980er Jahre – Diversifizierung seit den 1990er Jahren bilden historische Ab- und Einschnitte, in denen queeres Leben nicht zuletzt durch deutsche Straf-, Ehe-, Personenstands- und Familiengesetze kriminalisiert, terrorisiert, gelockert und schließlich in Vielfalt normalisiert wurde, um sogleich durch religiöse und rassistische Randgruppen angegriffen zu werden. Queer heißt weiter ein Leben in Unruhe. Queer stört weiterhin.

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Benno Gammerl kann derzeit im Horizont der akademischen Lehre als führender Historiker für die queere deutsche Geschichte angesehen werden. Mit Queer legt er nun ein gut lesbares, ebenso unterhaltsames wie fundiertes Buch vor, das nicht nur von queeren Menschen zur Selbstvergewisserung ihrer Geschichte, sondern von einer breiten Öffentlichkeit gelesen werden sollte. Wenn wir uns in diesen Monaten und Wochen das enthemmte patriarchale Gestammel inklusive Flugzeugabsturz aus dem Kreml anhören müssen, das sich mit alten Begriffen und Stereotypen gegen ein nicht zuletzt queeres Europa aufbäumt, dann wird klar, dass Queer als „ein(e) deutsche Geschichte“ zum Herz eines Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses von Deutschland und Europa gehört. – Was erzählen Fotos vom queeren Leben?

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In dieser Buchbesprechung im Format Blog erscheinen Fotos aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Der Berichterstatter hat die Fotos in mehreren kleinformatigen Alben nach dem Tod seiner Großtante Alice vor 30 Jahren geerbt. Die Personen auf den Fotos, so lebendig sie wirken, sind – wie es gerade auf einer Einladung zu einer Vernissage in Hamburg heißt – hinüber. Auf den Fotos sind Alice, Walter und Erich, soviel lässt sich sagen, oft in den Dünen von Westerland oder Timmendorfer Strand, Grömitz oder Travemünde zu sehen. Genaue Ortsangaben gibt es nicht. Strandidyllen. Irgendwo ist „Das Kleeblatt“ auf die Rückseite eines Fotos mit Bleistift geschrieben. Junge Menschen. Drei junge Menschen, sagen wir, in den 30er Jahren. – Was sollte an diesen Fotos mit Strandsand, Dünen, Himmel queer sein? 

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Mit diesen Fotos wird an Benno Gammerls Geschichtsverfahren angeknüpft. Die Fotos sind Zeugnis. Aber wir müssen erst einmal beginnen zu sehen, was bzw. wer uns aus einem Foto entgegenspringt. Sie faszinieren ohne ganz und gar sichtbar zu sein. Es hat in der Praxis des Fotografierens und des Fotografiertwerdens immer Formen der Selbst-Inszenierung gegeben. Oft haben diese wie auch andere Fotos Eingang in Archive gefunden. Gammerl würdigt in seiner Einleitung „die entscheidende und herausragende Arbeit, die queere, schwule, lesbische und trans* Archive leisten“.[1]

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Die adjektivischen Benennungen queer, schwul, lesbisch, trans und inter für geschlechtliche Praktiken verschafften und verschaffen weiterhin die Möglichkeit zur Fremdbezeichnung wie zur Selbst-Bestimmung von Menschen. Der Begriff schwul erreichte vor allem in den 80er Jahren bis zu Beginn der 90er seine höchste Gebrauchsfrequenz in Zeitungen. Seither hat sich der Gebrauch auf einem hohen Niveau von 3345 Nennungen 2022 eingependelt.[2] Im Vergleich dazu beginnt mit 1991 ein steiler Anstieg des Begriffes queer mit 1461 Nennungen im Jahr 2022.[3]

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Der Gebrauch eines Begriffs, um eine Lebensform zu benennen, schafft ein sprachliches Feld für Debatten um diese und deren Ausgestaltung.[4] Gegenüber queer wird in deutschsprachigen Zeitungen schwul immer noch mehr als doppelt so häufig verwendet. Die Benennung verspricht, dass ein breites und vielfältiges Wissen zu schwul kursiert, während queer „als Sammelbezeichnung für nicht heteronormative sexuelle und geschlechtliche Praktiken und Subjektivitäten“ sich noch nicht „durchsetzen“ konnte.[5] Praktiken der Benennung und ihres Gebrauchs geben einen Wink auf historische Verschiebungen. Gammerl macht deshalb auf „Kritiken an allzu eindeutigen Vorstellungen von geschlechtlicher und sexueller Identität“ aufmerksam.[6]
„Denn zwischen gleich- und andersgeschlechtlichem Begehren kann man nur dann klar unterscheiden, wenn zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht eine klare Grenze verläuft. Bisexuelle verwirren diese Ordnung ebenso wie intergeschlechtliche Menschen, die sich seit 2018 nach dem deutschen Personenstandsrecht als divers bezeichnen können.“[7]   

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Der Begriff queer eröffnet nicht zuletzt durch die Ausdifferenzierung im deutschen Rechtssystem wie aktuell mit der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, in der Alice Schwarzer in EMMA mit „biologische(n) Fakten“ argumentiert[8], eine inklusive Geschichte der Sexualitäten und des Empfindens. Der am 23. August vorgestellte Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes „soll das Leben für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen erleichtern“.[9] Bei Drucklegung von Queer konnte Benno Gammerl diese neueste Wendung im Feld der Lebensformen noch nicht absehen. Während Bundesfamilienministerin Lisa Paus den „Schutz lang diskriminierter Minderheiten“ als einen „gesellschaftspolitische(n) Fortschritt“ hervorhebt, betont Bundesjustizminister Marco Buschmann den „Geist des Grundgesetzes“.[10] Die Debatte gibt mit den „biologische(n) Fakten“ einmal mehr einen Wink darauf, wie lebendig biologistische Argumentationsmuster im Feld der Geschlechter weiterhin sind.

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Das Foto mit den 5 Frauen, eine mit Hut, eine mit schwarzer Haube und jeweils einem Bleistift in ihrer rechten Hand, dessen eines Ende sie an ihr Unterkinn legen, als erwüchsen daraus Bärte der Gelehrsamkeit, dabei den Blick leicht angewinkelt in die Kamera gewendet, wird von Benno Gammerl dem Kapitel Unterdrückung, Aufklärung und Skandalisierung. Das Kaiserreich vorangestellt. Er beschreibt das Foto ein wenig anders und nennt sie „Frauenaktivistinnen“.[11] Die Handhabung des Stiftes durch die Frauen dürfte um 1900 eine provokative Geste gewesen sein. Nicht nur, dass sie als Frauen schrieben und sich in Debatten schriftlich zu Wort meldeten, vielmehr finden sie mit den sich selbst ermächtigenden Stiften in einer Zeit zusammen, in der ein Bleistift wie in Thomas Manns Roman Der Zauberberg als phallisches Symbol kursieren konnte.[12] Gammerl erzählt vom Kaiserreich anders, als es bislang vor allem wegen der Homosexuellengesetzgebung, dem § 175 Strafgesetzbuch, historisch betrachtet wurde.
„So verschieden diese Strategien waren – und man sollte sich davor hüten, sie alle vorschnell als progressiv zu beklatschen –, so teilten sie doch einen sexualreformerischen Kern. (…) Unser Bild dieser Periode ist eher von ihrem Anfang geprägt, den wir bestens zu kennen meinen: Preußen, militärischer Triumph, der Spiegelsaal in Versailles, viele Männer in Uniformen mit Ordensglitter und hohen Lederstiefeln – Kaiserkrönung.“[13]

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Spätestens mit dieser Formulierung zum Geschichtswissen über das Kaiserreich wird deutlich, dass Benno Gammerl mit Queer die landläufige Geschichtsschreibung in Frage stellt, wenn nicht angreift. Man könnte das Geschichtsschreibungsverfahren mit den Fotos ein mikrologisches nennen. Plötzlich bricht mit einem mutig inszenierten Foto von 5 Frauen das Verständnis einer ganzen Epoche auf. Wie kommen die Frauen in einem Münchner Fotoatelier überhaupt dazu? Minna Cauer, Lily von Gizycki verheiratete Braun, Anita Augspurg, Marie Stritt und Sophia Goudstikker sprengen das Geschichtsbild nicht zuletzt durch ihre Lebensweisen. Anita und Sophia nutzen das noch junge Medium Fotografie für eine kalkulierte Inszenierung eines Frauenbildes.
„Anita Augsprug und Sophia Goudstikker waren ein Paar. Sie trennten ich 1899 und lebten danach mit anderen Partnerinnen zusammen.“[14]

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Benno Gammerl arbeitet mit Queer die Widersprüche und Brüche in der deutschen Geschichte heraus. Denn seine Geschichten orientieren sich an dem Alltäglichen und der Herausbildung von Wissenschaften, an Einzelschicksalen und politischen Parteien. Es gibt keine bruchlose Geschichte vom queeren Leben. Die Verfolgung durch den § 175 StGB gehörte ebenso zum Kaiserreich wie die Entstehung einer Vokabulars und diverser Rollenmodelle. Auf diese Weise zeigt sich, dass Queer als Geschichtsschreibung breiter angelegt ist, als es Herrschaftsgeschichten bislang getan haben. Geschichte ist keinesfalls eine Abfolge von gekrönten Häuptern – Elisabeth II., Charles III. –, wie es immer noch gern erzählt wird.
„Queeres Leben war damals immer auch, aber nie nur von Verfolgung und Stigmatisierung geprägt. Die Sorge war sozusagen eine ständige Begleiterin, aber zugleich kämpften Aktivist*innen couragiert für eine Verbesserung der Lebenssituation von Homosexuellen, Transvestiten und anderen Menschen, die wir heute als queer bezeichnen würden. Neben den Emanzipationsbewegungen spielten die Wissenschaft und der aufklärerische Impetus eine wichtige Rolle sowie der subkulturelle Alltag mit seiner Lust und Unübersichtlichkeit.“[15]

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Zum Kaiserreich gehörten auch die Burschenschaften. Wie sich kürzlich mit einem MeToo-Schlaglicht gezeigt hatte, gehört zu den studentischen Verbindungen eine spezifische Geschlechtspraxis, die weder in der Homosexuellen-, noch Schwulen- oder Queerforschung berücksichtigt worden ist. Das liegt an ihrer klandestinen Organisationsform. Dennoch wäre hier einer wichtigen Spur nachzuforschen, die gesellschaftliche Relevanz hat. Die Geschlechtspraxis der Burschenschaften reicht hinüber in den Nationalsozialismus[16], den Benno Gammerl von Anfang an mit der Plünderung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933 und der prominenten Verbrennung einer Büste Magnus Hirschfelds als „entgrenzte Verfolgung“ benennt.[17] Die Verstrickungen des mannmännlichen Begehrens im Nationalsozialismus bis hinauf zu dessen Elite, wenn man es so nennen will, werden auch von Gammerl noch zu wenig berücksichtigt.
„Trotzdem ist es wichtig, den homosexuellen Alltag im Blick zu behalten, wenn man von der queeren Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland spricht. Man sollte sich nicht allzu ausschließlich auf die Verfolgung männerbegehrender Männer konzentrieren und deren Leiden nicht allzu sehr ins Schreckliche übersteigern. So entscheidend dieser Teil der Geschichte ist, bei Weitem nicht alle queeren Menschen gerieten in die Fänge von SS und Gestapo, kamen ins KZ und wurden dort ermordet. Gleichgeschlechtlich begehrende und gender-non-konforme Menschen wurden zu Opfern, konnten aber auch Täter*innen sein. Manche wurden vermutlich beides zugleich.“[18]

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Queer eröffnet eine andere und weitreichende Geschichtsschreibung auf mehreren Ebenen. Indem Begehrensverhältnisse und Lebensformen in großer Vielfalt bis in die jüngste Zeit berücksichtigt werden, erhält die Frage des Geschlechts für die Geschichte eine neue Dimension. Denn es ist keinesfalls so, dass das Geschlecht für die Geschichtswissenschaft keine Rolle gespielt hätte. Vielmehr dreht sich bei ihr alles um das Geschlecht ob im Sinne von Genealogien oder eine vermeintlich biologische Normalität. Benno Gammerls Queer ist mit 233 Seiten plus Hinweisen zum Nach- und Weiterlesen ein überschaubarer Geschichtsband geblieben. Monographien zu einzelnen Herrschaftspersönlichkeiten bringen es in dieser Wissenschaft locker auf das Doppelte bis Vierfache. Insofern wird Queer nicht wegen seines schieren Umfangs, sondern wegen seiner Methodik zum Standardwerk. Es setzt einen neuen Standard in der Geschichtswissenschaft bezüglich der Geschlechterfrage.

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Und das Kleeblatt – Walter, Erich und Alice? Sie könnten vermutlich auch andere Namen haben. Es wird wohl ein vierblättriges Kleeblatt gewesen sein. Denn eines musste die anderen drei fotografieren. Während eine weibliche Person auf Westerland neben Walter im Strandsand sitzt, hat dieser sich seitlich Erich und der Kamera zugewandt. Walter und Erich waren heimlich ein Paar in Hamburg. Walter bewahrte den Taschenkalender 1938 von Erich bis zu seinem Tod auf. Schwer entzifferbare Einträge deuten gemeinsame Unternehmungen an. Erich fiel an der Westfront 1939, wie man sagt. Walter überlebte unter dem Schutz seines Vorgesetzten in der Wehrmacht den Krieg. In den 50er und 60er Jahren gab es wilde Feste. Vielmehr ist nicht überliefert. – Die Alben befinden sich im Archiv des Schwulen Museum.

Torsten Flüh

Benno Gammerl
QUEER – Lesung
Prinz Eisenherz
Datum: Samstag, 16. September 2023
Uhrzeit: 20:30 Uhr
Adresse: Motzstr. 23
Eintritt: 7,-

QUEER – Lesung
Stadtbibliothek Erlangen – Innenhof
Datum: Freitag, 22. September 2023
Uhrzeit: 19:00 Uhr
Marktplatz 1
91054 Erlangen

Benno Gammerl
Queer
Eine deutsche Geschichte
vom Kaiserreich bis heute
24,- €


[1] Benno Gammerl: Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München: Hanser, 2023, S. 21.

[2] Siehe: DWDS: schwul – Verlaufskurve. (Verlaufskurve)

[3] Ebenda: queer – Verlaufskurve (Verlaufskurve)

[4] Zum Begriff schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (siehe PDF unter Publikationen)

[5] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 19.

[6] Ebenda S. 20.

[7] Ebenda S. 20 – 21.

[8] Emma: Trans-Debatte. (Website)

[9] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bundeskabinett beschließ den Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz 23.08.2023.

[10] Ebenda.

[11] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 27.

[12] Siehe auch Thermometer in Der Zauberberg in: Torsten Flüh: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[13] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 31.

[14] Ebenda S. 28.

[15] Ebenda S. 58.

[16] Siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[17] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 97.

[18] Ebenda S. 124.

Puppe wird Mensch

Frau – Maschine – Mensch

Puppe wird Mensch

Zum ebenso witzigen wie verstörenden Anti-Patriarchat-Film Barbie

Um es gleich vorwegzuschreiben: Barbie wird aus dem Reich der Babypuppen, begleitet von der Eröffnungssequenz von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra als Über-Mensch und dessen Karikatur geboren.[1] Der Film beginnt, um es einmal sozusagen, wenig zartbesaitet und mädchenhaft mit einem Massaker im Mädchenzimmer. Puppenköpfe werden zertrümmert. Schluss mit den lebensreformerischen, pausbäckigen Käthe-Kruse-Puppen zur Einübung des Mütterlichen als Schauspiel. Her mit den überzeichnet langen Beinen und Füßen in High Heels, Wespentaille und Blond. Pumps oder Birkenstock (Productplacement) ist nicht die Frage. Seit dem 9. März 1959 müssen sich kleine Mädchen und solche, die eine Frau werden wollen, strecken und blondieren. Barbie war schon 1959 die perfekte Drag Queen.  

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Greta Gerwig als Drehbuchautorin wie Regisseurin und Margot Robbie als Barbie-Hauptdarstellerin wie Mitproduzentin dürften die Filmgeschichte soweit kennen, dass mit genau der Über-Mensch-Musiksequenz Stanley Kubricks Science Fiction-Film 2001: A Space Odyssey (1968, in UHDTV 2018) eröffnet. Das Mädchenzimmer – Set design: Sarah Greenwood und Katie Spencer – wird als schroffe Wüste eines leeren Planeten vorgeführt. Barbie-Puppe: Über-Mensch: Künstliche Intelligenz: Maschine – und dann geht es so um und bei 110 Minuten für Barbie darum, nicht nur Mensch, sondern geschlechteter Mensch zu werden, wenn sie sich, all ihren Mut zusammenraffend, an der – O-Ton – „Gynecologist“-Rezeption anmeldet. Tatsächlich lässt sich der Film Barbie mit 2001 lesen bzw. sehen. Denn in beiden Filmen wird der Schrecken von mechanischer Puppe – Barbie – oder KI – HAL 9000 – und dem Menschlichen verhandelt.

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Barbie ist nicht mehr und nicht weniger als ein Musicalfilm mit einer Fülle von Anspielungen auf die Pop- und Filmgeschichte ebenso wie die Schrecken und Ängste einer aktuellen globalen Welterfahrung. Im Takt der schnellen Schnitte – Schnitt: Nick Houy – blitzen Aha- und Kenn-ich-Effekte auf, um sogleich wieder vergessen zu werden. Nick Houy hat bereits mehrfach mit Greta Gerwig zusammengearbeitet. Erstaunlicherweise werden keine Kreativen für Special Effects in den Castlisten für den Film genannt. Die Barbieland-Szenen dürften indessen nicht nur Atelierbauten sein. Wenn Barbie aus dem ersten Stock ihres Fünfziger-Jahre-Traumhauses in ihr Cabrio schwebt und der Stoff ihres mehrlagigen Faltenrocks wie ein Fallschirm für Sekunden aufbläht, dann wird die Szene heute gewiss nicht mehr mit Seilen im Studio gefilmt, sondern digital bzw. durch eine KI perfekt aufbereitet worden sein.

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Aktuelle Musicalfilme oder früher Revuefilme wie bei Erich von Sternbergs Blonde Venus (1932) mit Marlene Dietrich sind Maschinen.[2] Auf das Blond der Blonde Venus wird zurückzukommen sein. In Barbieland werden fast ununterbrochen Maschinen vorgeführt. KIs sind für die Perfektion der Barbies geschrieben worden. Doch das Spielzeug-Barbieland leugnet in seiner pinken Perfektion jeglichen digitalen Eingriff. Denn die Puppe als Model der Maschine soll vergessen werden. Seit E.T.A. Hoffmanns Olympia werden Maschinen bzw. Automaten geschaffen und konstruiert, um verkannt und geliebt zu werden. Denn Nathanael verliebt sich in der Erzählung Der Sandmann (1815) in Olympia.[3] Um in die „Real World“ zu gelangen, müssen Barbie und Ken mit Auto, Boot und Flugzeug durch Maschinenlandschaften fahren. Die Bühnenmaschinerie bewegt weder Auto, Boot noch Flugzeug von der Stelle weg. Stattdessen ziehen Wolken, Möwen und Wellen aus Plastik vorbei. Es lebe die alte Illusionsbühne mit Maschinerie.[4]

  

In einer Reihe von islamischen Staaten wie Ägypten, Algerien, Libanon, Irak, Kuwait etc. wurde der Film entweder bereits aus dem Kinoprogramm verbannt oder wird ein Verbot wegen dargestellter Homosexualität diskutiert.[5] – Wie schwul ist Barbieland? Und was macht das mit dem Patriarchat? – Viel expliziter als gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern wird der Wechsel vom matriarchalen „Barbieland“ in ein patriarchales „Kenland“ vorgeführt. Das patriarchale Kenland muss allerdings in seiner ebenso mädchenhaften wie albernen Ken-Genealogie als Nachkommen der Pferde scheitern. In der „Real World“ begehrt die Spielzeug-Barbie gegen das patriarchale Management des Konzerns Mattel auf. Das patriarchale Gesellschaftssystem wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Insofern legt der von Frauen inszenierte und produzierte Barbie-Film seine Spur in die Krise des Patriarchats zwischen Hollywood und Hilla am Ufer des von der Türkei ausgetrockneten Euphrat, dem alten Babylon.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Das temporäre Patriarchat in Barbieland dockt ebenso an stereotype Vorlieben von Mädchen für Pferde an wie der Werbewirklichkeit männlichen Alkoholkonsums und Zigarrenrauchens. Denn – so könnte die These lauten – das Patriarchat ist kapitalistischer als das Matriarchat. Ken wird zum Boss des Patriachats, weil er sich selbst als defizitär wahrnimmt, was in I’m Just Ken von Ryan Gosling gesungen wird. Die Selbsteinschätzung trifft offenbar einen Nerv der Zeit und der Männer. Denn Ryan Gosling kommt damit in die 100 der Billboard Hot 100. Wie die insgesamt 16 Songs von Ava Max über Dua Lipa und Billie Eilish bis zu Sam Smith – Man I Am – bieten die Songs eine Storyline. In den Songs mehr noch als in den Dialogen werden die Mythen der Männlichkeit und patriarchaler Herrschaft erzählt. Kens narzisstische Kränkung neben Barbie immer nur die Nummer Zwei zu sein, führt zu einer Entdeckung seiner „Kenergy“ als Männlichkeit und Verbrüderung mit anderen Männern:
„I’m just Ken (and I’m enough)
And I’m great at doing stuff
So, hey! Check me out, yeah, I’m just Ken
My name’s Ken (and so am I)
Put that manly hand in mine
So, hey! World, check me out, yeah, I’m just Ken
Baby, I’m just Ken (nobody else, nobody else, nobody)”[6]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Männlichkeit von Ken (Ryan Gosling) und seinen Doubles existiert nur nach den Regeln des Patriarchats und denen der Puppe. Was es heißt Mann zu sein, wird vom britischen Singersongwriter Sam Smith mit Man I Am nach I’m Just Ken, Nummer 8, im Soundtrack an Position 11 beantwortet. Das heißt zweierlei: erstens haben die Produktionsfirmen zwischen Mattel Films und Margot Robbies LuckyChap Entertainment die Superstars der Singersongwriter mit Billie Eilish und Sam Smith als geschlechtliche Identifikationsfiguren für den Soundtrack eingebunden. Billie Eilish ist immer die weibliche Identifikationsfigur der Generation Z bis zum Trip, durch die What Was I Made for? absolut credible rüberkommt. Sam Smith wendet sich explizit an die männliche Hörerschaft: „This is for the boys“. Dazu gehört auch die Verleugnung, schwul zu sein: „No, I’m not gay, bro“. Sam Smiths Ken ist nicht schwul, was nur deshalb bemerkenswert ist, weil Barbie nicht sagen muss: „No, I’m not lesbian, sis“. Dramaturgisch kommt Man I Am zum Zuge, wenn es um die Einsetzung des Patriarchats geht:
„It’s time you realize
That in this world we’ve all been taught a lie
You think that women rule the world
But, baby, where I’ve been
All the things I’ve seen
This Ken has crossed the borderline”[7]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie lässt sich nicht leicht in ein Filmgenre einordnen. Obwohl ab 6 Jahre freigegeben, handelt es sich allein schon wegen seiner Überlänge von fast 2 Stunden und Dialoge um keinen Kinderfilm (59 Minuten). Ebenso die verbale Verhandlung von Matriarchat, Patriarchat, Kommerz, Kapitalismus und Geschlecht adressiert sich schwerlich an Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahre. Barbie könnte dem Genre der Screwball Comedy entsprechen, die ihre Ursprünge in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat. Zu deren Praxis gehören: „respektloser Humor, schneller Rhythmus, Dialogorientiertheit, exzentrische Charaktere und d(ie) battle of sexes“.[8] Die Schlacht der Geschlechter im Film zwischen Barbie und Ken etc. entgeht einem Publikum aus Kindern. Stattdessen ließen sich am Kino in der Kulturbrauerei Jugendliche sehen, die sich anscheinend wie Figuren des Films gekleidet hatten. Insofern könnte Barbie eine Rezeptionspraxis anstoßen, wie sie in den 70er Jahren für die Rocky Horror Picture Show (1975) entwickelt wurde. Das Publikum imitiert die Filmfiguren und nimmt ihre Identität für die Dauer der Filmvorführung an. Der Berichterstatter sah den Film in der Kulturbrauerei auf Einladung zu einem 65. Geburtstag in Begleitung eines emeritierten evangelischen Pfarrers und einer emeritierten Professorin für Islamwissenschaften. Anders gesagt: Greta Gerwig schafft es mit Barbie, nicht nur einen „fantasy comedy film“, was nicht das Gleiche wie ein Spielfilm im Genre der Komödie ist, gedreht zu haben. Eher schon ließe sich mit seinem außerordentlich breiten Erfolg von einem spaßigen, hoch präzisen Debattenfilm sprechen.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie trägt durchaus Züge eines Historienfilms, wenn „Based on Barbie by Mattel“ als Quelle angegeben wird. In mehrfacher Hinsicht verhandelt der Film das 20.Jahrhundert und die Utopien der 50er Jahre. Barbieland orientiert sich in der Architektur, den Einrichtungsstücken des Traumhauses, dem Auto, den Frisuren und der Mode an der amerikanischen Moderne zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In den 50er Jahren gab es mehr Zukunft als heute mit der Generation Z bzw. der Letzten Generation.[9] Zur amerikanischen Moderne der 50er Jahre gesellt sich die Abfolge der Barbie-Editionen, die im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr Berufsfelder für Barbie als Frauenmodel erschließen. Doch Barbies Berufskleidung wird im Spielzeugland nicht zur Arbeit angezogen. Sie arbeitet nicht, aber konsumiert endlos. Zwischen Kapitalismuskritik und einem utopischen Kapitalismus bleibt die Barbie-Geschichte in der Schwebe. Dazu gehört auch, dass Barbie in einer pinken Bonbonwirklichkeit schlank bleibt. Die Abwesenheit der Arbeit und arbeitender Menschenpuppen legt nicht zuletzt nah, dass die Befreiung von der Arbeit durch Computer, Roboter und Künstliche Intelligenz geschieht.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die visuelle Absenz von Arbeit in Barbieland lässt sich nicht nur als kindliche Utopie auffächern, denn Barbie muss vielmehr eine geradezu mythologische Arbeit aufnehmen, wenn sie in der „Real World“ nach dem spielenden Mädchen suchen muss, das auf sie Todesgedanken und Plattfüße übertragen hat. Die Billie Eilish-Frage „What Am I Made For?“ verpasst insofern das Problem der Übertragung von Gedanken auf eine Puppe im mehr oder weniger therapeutischen Spiel. Identität und Übertragung rücken erstaunlich nah zusammen. Gleich einem märchenhaften oder mittelalterlichen Ritter muss Barbie aufbrechen, um durch Arbeit ein Identitätsproblem zu lösen bzw. eine Identität zu finden. Die blonde Barbie wird allerdings von einer schwarzhaarigen, älteren Latina gespielt und gedacht. Sie hegt Todesgedanken, weil ihre Tochter (America Ferrera) erwachsen wird. Die Arbeit mit der Latina lässt sich schwer auflösen, generiert allerdings eine Latina-Familie für Barbie. Paradoxerweise wird Barbie durch das familiale Übertragungsproblem von der geschlechtslosen Puppe zum weiblichen Menschen in der Gynäkologie-Praxis transformiert.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Barbie-Geschichte des Spielzeug-Konzerns Mattel wird in einer Art Traumszene mit der Erfinderin Ruth Handler (Rhea Perlman) im Headquarter des Konzerns verklärt. Denn in der neuartigen Puppe für Mädchen überschneiden sich unterschiedliche Puppenmodelle. Einerseits entspricht Barbie einer Anziehpuppe für Modeentwürfe en minature, andererseits wird Barbie zu einem mehr oder weniger pädagogischen Model für die Einübung der Rolle der Frau. Puppen sind sozusagen role models insbesondere für Mädchen – gelegentlich auch für Jungs. Historisch stand ebenso der Bild-Karikaturist Reinhard Beuthien mit seiner Figur Lilli für Barbie von Ruth Handler Pate. Von Anfang an überschneiden sich in der Barbie-Puppe mit blondem Pferdeschwanz als Produkt überzeichnete Körpermaße und eine Lust am Kleiderwechsel. Aus Ruth Handlers Prototyp-Barbie generieren sich bis auf den heutigen Tag alle Barbie-Modelle, um ein ebenso buntes, pinkes wie diverses Barbieversum zu generieren.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Barbie setzt nun insbesondere den Prototyp mit Margot Robbie als einer Schauspielerin in Szene, die dem Prototyp zumindest in der Maske (Oscar-Kategorie Best Makeup) des Films zum Verwechseln ähnlich wird. Wer für das Makeup verantwortlich zeichnet, wird bislang nicht angeführt. Ob das Makeup weitgehend digital in Barbie und Barbieland eingesetzt worden ist, wird noch nicht verraten. Doch Margot Robbie wie Ryan Gosling agieren mit makellosen, prototypischen Körpern, die ständig zwischen Puppen- und Menschenkörpern oszillieren. Als Barbie/Margot Robbie und Ken/Ryan Gosling in der „Real World“ von Venice Beach Skatepark in Los Angeles ankommen, verwechselt ein Passant auf der Promenade sofort den Puppenkörper von Barbie mit einem Frauenkörper, indem er ihr auf den Hintern schlägt. Barbie lädt zu übergriffigem Verhalten ein, um es in ihrer Unschuld mit einer Backpfeife zu quittieren. Eine Backpfeife, die Filmgeschichte werden könnte. Wenig später wird Barbie zu – stereotyperweise – Bauarbeitern sagen, dass sie keine Genitalien habe.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Konzerngeschichte als eine Quelle für das Drehbuch von Greta Gerwig und Noah Baumbach spart genau dort mit Humor und Ironie pophistorische Spuren aus, wo es mehrdeutig und schwierig wird.[10] Ken wird zwar zu einer mehr als komischen Figur, aber die durchaus witzige Ebene seiner Herkunft wird unterschlagen. Es geht um den boy als doll oder im Deutschen den Jungen als ambige Puppe. Unschlagbar in der Mattel-Firmengeschichte ist 1961 die nur für Kinderohren unzweideutige Werbung für Ken mit „HE’S A DOLL“.[11] Die Mattel-Werbung machte Ken zu einer Puppe mit blonden Haaren und blauen Augen im blauen Sakko. Ein männlicher Barbie-Clon, der fortan ihr geschlechtsneutraler Boyfriend sein sollte. Bereits 1959 traute so manch eine Gay-Person ihren Ohren nicht, als Cliff Richard seinen Hit Living Doll sang: „Got myself a cryin‘, talkin‘, sleepin‘, walkin‘, livin‘ doll/Gonna do my best to please her just ‚cause she’s a livin‘ doll.” Cliff Richard stand Pate für Ken. Der Maler David Hockney regte der Song 1960 dazu an, seinen DOLL BOY mit dem Zusatz „Queen“ in Öl auf Sackleinen zu versehen.[12]

Barbie – Screenshot Official Trailer

Das Problem der Mechanik wird im Song Living Doll von Cliff Richard zum Symptom der Liebe. Das Ich ist zu einer Living Doll geworden, die sich und ihre Gefühle nicht beherrschen kann. Es wird von den Gefühlen beherrscht. Noch bevor Mattel Ken herausbringen konnte als einen neuartigen Typus von Puppe und Boyfriend, hatte David Hockney sich in einen „Doll Boy“, einen Puppenjungen verliebt oder sein Begehren als prekär gemalt. Diese ebenso popkulturelle wie begehrensökonomische Überschneidung in der Figur Ken, er soll von den Barbie-Mädchen gekauft werden, wird in ihrer Tragweite im Film und den Songs von Ryan Gosling und Sam Smith nicht einmal angerissen. Das Dilemma der Homosexualität, wie es nicht zuletzt von Muslimen mit dem Film debattiert wird, ist nicht nur in der körperlichen Ähnlichkeit von Barbie und Ken, sondern ebenso im Feld der Sprache angelegt, wenn Puppe und Junge sich gegeneinander abgrenzen müssen.

Barbie – Screenshot Official Trailer

Die Haarfarbe Blond hält ebenso in dem Revuefilm Blonde Venus ein Versprechen bereit. Im Unterschied zu Barbie war der Film kein großartiger Erfolg an den Kinokassen. In dem Film von 1932 wird eine Evolutionsszene als Revuenummer karikiert: ein Mensch in einem Gorilla- bzw. Menschenaffenkostüm wird wie aus dem Dschungel Afrikas zu rhythmischer Trommel-Musik an einer Kette von afrikanisch-gekleideten Revuegirls mit schwarzen Afroperücken auf die Bühne geführt, um nach einigen schwankenden Bewegungen zunächst die Affenhandschuhe von weißen Frauenhänden zu ziehen. Zum Song Hot Voodoo – “Hot voodoo, black as mud/Hot voodoo, in my blood/That African tempo, has made a slave…” – entkleidet sich Marlene Dietrich des Affenkostüms und setzt sich demonstrativ eine blonde Afroperücke mit funkelnden Amor-Pfeilen auf ihre blonden Haare.[13] Das gleich mehrfach wiederholte und gesteigerte Blond macht den verführenden Anspruch komisch statt erotisch. Das überreizte Blond wird im Kontext zeitgenössischer Evolutions- wie Rasseideologien als lächerlich entlarvt. Barbie und Ken waren immer blond und geschlechtsneutral

Barbie – Screenshot Official Trailer

In einer Welt, in der sich die Debatte um Texterzeugungsprogramme und Künstliche Intelligenz, über Sprachsoftware und Intelligenz, über Rechte am Bild und digitaler Verwertung von Schauspieler*innen in den letzten 5 Jahren zugespitzt hat, wird mit dem Film Barbie mit echten Schauspieler*innen weniger eine Spielzeugpuppe verhandelt als vielmehr die beunruhigend, brüchige Grenze von Puppe bzw. Künstlicher Intelligenz und Mensch. Der vermeintliche Mangel an Intelligenz von blonden Menschen wird im Film offensiv vorgeführt und in Dialogen witzig thematisiert. Ruth Handler wusste möglicherweise sehr genau, was sie mit den kleinen, weißen, blonden und blauäugigen Puppen tat, als sie sie in Serienproduktion gab. Als Anziehpuppen im Mädchenzimmer verloren die großen, sich als überlegen gebenden Blondundblauäugigen den Schrecken, den sie noch kurz zuvor bei der Selektion an der Rampe von Auschwitz verbreitet hatten. – Ob Barbie in der Debatte ebenso den Schrecken vor dem Patriarchat und der KI nehmen kann, bleibt offen.    

Torsten Flüh

Barbie (2023)
frei ab 6 Jahre
im Kino in Ihrer Nähe


[1] Zu Nietzsches Buch Also sprach Zarathustra siehe auch: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[2] Siehe zur Revue als Maschine: Torsten Flüh: Traumheftig! Die neue Grand Show THE ONE im Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2016 (als PDF unter Publikationen).

[3][3] Zur Figur der Olympia siehe: Torsten Flüh: Aus Beethovens Geisterreich. Zur Uraufführung von Hoffmanns Erzählungen als Stummfilm mit der Musik von Johannes Kalitzke im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2021.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[5] Zu Homosexualität und Staat siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[6] Google: I’m Just Ken. Lied von Ryan Gosling. (Suchergebnis).

[7] Zitiert nach Genius: Man I Am. Sam Smith (21. Juli 2023)

[8] Hans Jürgen Wulff: Screwball Comedy. In: Filmlexikon der Universität Kiel: 2022/03/23 01:17.

[9] Siehe zur generationellen Wahrnehmung: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[10] Siehe: Matel: History (18.08.2023).

[11] Ebenda History 1960s.

[12] The David Hockney Foundation: Doll Boy, 1960-1961. (online).

[13] Siehe: Internet Archive: Blonde Venus (1932) by Josef von Sternberg ca. 26:16.

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Polizei – Homosexualität – Staat

Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde.

Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau

Im Lesecafé der Stadtbibliothek Spandau hielt Ralf Kempe am 10. Juli 2023 seinen Vortrag zum „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vom 24. April 1945.[1] Die Rote Armee kämpfte seit dem 16. April mit einem „Zangenangriff“ in den Straßen von Berlin[2], als der vermeintlichen Gerechtigkeit durch den „geheimen Führererlass“ vom 15. November 1941 Genüge getan werden musste. 4 wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftete Polizisten wurden von einem Polizeioberleutnant und weiteren Kollegen zu einer Grube geführt und von einem Polizisten per Genickschuss hingerichtet. Die Befehlsketten der Polizei im weitgehend in Trümmern liegenden Berlin hatten noch einmal funktioniert. Ralf Kempe lässt seit Jahren der Gedanke nicht los, dass er auf dem Polizeiübungsgelände in der Pionierstraße über den sterblichen Überresten dieser schwulen Polizisten nach Dienstanweisung trainiert haben könnte.

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Für Ralf Kempe als Teil der Polizei Berlin geht es um Respekt, Vielfalt, Würde, Totenruhe und eines von wahrscheinlich viel mehr Verbrechen gegen homosexuelle Polizisten etc. in Berlin und dem Deutschen Reich, die seit dem 15. November 1941 vollstreckt und sehr häufig vergessen wurden, weil sie vergessen werden sollten. Wer mitgemacht hatte, schwieg. Die Verurteilung des Polizeimeisters der Schutzpolizei Otto Jordan erfolgte nicht nur nach dem § 175 StGB, dem sogenannten Homosexuellenparagraphen, der ab 1935 zu einer „totalen Kriminalisierung“[3] gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Männern führte und am 11. Juni 1994 abgeschafft wurde, sondern nach einem „geheimen Führererlass“. Die anderen drei Polizisten wurden ohne Urteil erschossen. Ralf Kempe als Erster Polizeihauptkommissar wird von seiner obersten Dienstherrin der Polizeipräsidentin Dr. Barbara Slowik bei der Aufarbeitung des historischen Verbrechens unterstützt.

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Im Oktober 2021 und Frühjahr 2022 unterstützte der Volksbund mit dem Umbetter Joachim Kozlowski und dem Leiter der Polizeihistorischen Sammlung Berlin Jens Dobler Kempes Suche nach den „Gebeine(n)“ der 4 ermordeten Polizisten.[4] Dennoch konnten keine sterblichen Überreste gefunden werden. Luftbilder aus dem betreffenden Zeitraum sind schwer zugänglich. Ralf Kempe hat die Vorarbeiten der SPDqueer Spandau und der AG Rosa Winkel zu Otto Jordan[5] vertieft und durch systematische Archivsuche sowie internationale Korrespondenz erweitert. Es ist ihm, als Ansprechperson LSBTI der Direktion 2, eine ebenso persönliche wie polizeihistorische Angelegenheit, dass das Verbrechen an Otto Jordan, Reinhold Hofer, Willi Jenoch und Erich Bautz nicht vergessen wird. Für Reinhold Hofer konnte Kempe erst im Oktober 2021 dessen Schicksal und den richtigen Namen klären, denn dessen Ehefrau hatte ihn im April 1945 als vermisst gemeldet. Seit 1945 wurde er als vermisst vom Suchdienst des DRK geführt und konnte nun nach mehr als 75 Jahren durch Kempes Nachforschungen gelöscht werden. Er hat sich dafür eingesetzt, dass nunmehr folgender Wortlaut auf der Tafel am Polizeidienstgebäude in der Moritzstraße 10 steht:

Zum Gedenken
und zur Mahnung
Die Polizeibeamten
Otto Jordan
Reinhold Hofer
Willi Jenoch
Erich Bautz
wurden in den letzten Kriegstagen
in der Polizeiarrestanstalt Moritzstraße inhaftiert,
weil ihnen Homosexualität angelastet wurde.
Am Abend des 24. April 1945 wurden sie zur
Polizeiübungsanlage Pionierstraße
verbracht, erschossen
und dort namenlos vergraben.
Sie sind unvergessen.[6]

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Es ist vermutlich allein der Witwe Erna Jordan zu verdanken, dass es 1947 und 1948 überhaupt zu einem Prozess vor dem Schwurgericht Berlin gegen die Täter, den Revieroberleutnant Alfred Wandelt und den Landgerichtsrat Simon (Gerichtsherr beim Reichsführer SS) im April 1948 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kam. Damit wurde das Verbrechen aktenkundig. Zeitungsartikel erschienen im Tagesspiegel und dem Spandauer Volksblatt. Denn die Witwe Jordan brauchte nicht nur einen Totenschein, sondern hoffte auch auf Entschädigung und Pension. Der Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, auf den allein Alfred Wandelt als schuldig erkannt und zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er keinesfalls absitzen musste, ist schwierig zu verifizieren. Welche Gesetzesnorm galt? Das Grundgesetz trat erst 1949 in Kraft. Vom 20. September 1945 bis 1949 galt das alte Reichstrafgesetzbuch, das natürlich kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorsah. Insofern herrschten die alten Gesetze. Spandau gehörte zum Britischen Sektor der in 4 Sektoren geteilten Stadt: Sowjetischer, Britischer, Amerikanischer, Französischer Sektor.

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Homosexualität als Grund für die Verhaftung der 4 Polizeibeamten erscheint in den Zeitungsberichten nicht. Anscheinend geht es bei der Verhandlung des „Verbrechen(s) gegen die Menschlichkeit“ allein um die Frage nach der Verantwortlichkeit in der Befehlskette. Denn in „der Verhandlung drehte es sich nun um die Frage, wie weit Simon an der Erschießung beteiligt war“. „Simon hatte keine Entscheidungen zu treffen, und ein Telefonat mit Wandelt, das zu der Hinrichtung führte, konnte ihm nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Simon wurde daher freigesprochen.“[7] Der Vizepräsident des Landgerichts Berlin Dr. Blasse spricht im Jahr 1948 als „Polizistenmord in Spandau“ kursierenden Fall ausgerechnet den „Gerichtsherr(n) beim Reichsführer SS“ Simon frei, weil das entscheidende „Telefonat … nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden“ konnte? Der „Polizistenmord“-Prozess wie die entsprechende Berichterstattung – „Die SS-Verbände haben nicht nur gegen die herannahenden Truppen zu kämpfen, sie müssen sich auch des „inneren Feindes“ erwehren.“ (P.J.B. Tagesspiegel) – bringen durchaus an das Verständnis der Leser*innen appellierend die SS ins Spiel.

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Die (Berliner) SS als Machtelite geistert durch den „Polizistenmord“-Prozess und mit dem als Zitat markierten „inneren Feind()“ wird an ein weithin bekanntes Wissen in der Bevölkerung appelliert. Innerhalb der SS muss es somit einen „Feind“ gegeben haben. Welche Rolle spielt dieser Feind? Und wird dieser „innere() Feind()“ noch heute nicht geradezu permanent ins Spiel gebracht, wenn es um eine bedrohliche Lage der Machtelite und damit die Macht selbst geht? Ralf Kempe umgeht eine genauere Analyse des „geheimen Führererlass(es)“, weil er dem nationalsozialistischen Gedankengut keinen Raum geben will. Ihm geht es um die Kollegen. Doch die Homophobie, die mit dem „geheimen Führererlass“ formuliert wird und der die 4 Polizisten in Spandau zum Opfer fallen, verdient eine genauere Analyse. August Heißmeier war von 1933-1945 als Chef des SS Hauptamtes und General der Waffen SS zuständig für den Polizeibereich Berlin-Brandenburg.

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Ralf Kempe stellte in einem Organigramm zugleich Wolf-Heinrich Graf von Helldorf als Polizeipräsident in Berlin von 1935 bis 1944 vor. Helldorfs Beteiligung an der Organisation des Attentats vom 20. Juli 1944 gilt als äußerst ambivalent. Er wurde dennoch in Plötzensee am 15. August 1944 hingerichtet. Er wird häufig als Abenteurer und Spieler charakterisiert, der mehrfach durch Adolf Hitler und Josef Goebbels mit hohen Geldsummen entschuldet wurde. Auf einem Foto von 1933 posiert er in Polizeiuniform neben Goebbels, Karl Ernst, Hans Meinshausen und Albert Speer.[8][9] Die Verstrickung des Berliner Polizeipräsidenten Graf von Helldorf nicht nur im Widerstand gegen Adolf Hitler, sondern in Machtkämpfe auf allerhöchster Ebene 1944 musste eine Schwächung der Staatsorganisationen und somit des Staates selbst in Berlin zur Folge haben. Die verschärfte Verfolgung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten im Prozess des Machtverlustes gibt einen Wink auf ein Konstrukt von Geschlecht und Macht.

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Woher kommt der unbändige Hass auf die 4 Polizeibeamten in unterschiedlichen Funktionen, der zu ihrer Erschießung führt, während 10 weitere inhaftierte Polizisten freigelassen wurden, um sich im Kampf zu bewähren? Im Bewusstsein eigene Kollegen zu töten, wird Simons Befehl ausgeführt. Die „Homosexualität (, die ihnen) angelastet wurde“, macht im Moment der Auflösung von Machtstrukturen derartige Angst, dass nur eine Auslöschung als Linderung angesehen wird. Der als „Streng vertraulich!“ ausgegebene „Erlass des Führers zur Reinhaltung der SS und Polizei vom 15. November 1941“ ist ein ebenso rhetorisches wie verräterisches Schriftstück.
„Um die SS und Polizei von gleichgeschlechtlich veranlagten Schädlingen reinzuhalten, bestimme ich:
I.
Für die Angehörigen der SS und Polizei tritt an Stelle der § 175 und 175a des Strafgesetzbuches folgende Strafbestimmung:
Ein Angehöriger der SS und Polizei, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit dem Tode bestraft.
…“

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Der als „Streng vertraulich!“ eingestufte Führererlass wird anscheinend in der Forschung zur Homosexuellen-Sonder-Gesetzgebung wenig beachtet. Schwule Polizisten und SS-Angehörige haben es weiterhin schwer als Opfer wahrgenommen zu werden. Doch die Formulierung der „Erlass zur Reinhaltung“ lässt sich nicht nur mit einer persönlichen Marotte Adolf Hitlers oder Heinrich Himmlers, der 1936 zum Leiter der gesamten deutschen Polizei ernannt worden war, erklären. Mit der „Reinhaltung“ wird vielmehr eine Reinheit vorausgesetzt, die gerade nicht existiert. Hitler formulierte nicht zuletzt in Absprache mit Himmler ein staatstheoretisch bedenkenswertes Verhältnis von Geschlecht und Staat. Denn Himmler sprach bezüglich des sogenannten Dritten Reiches schon 1937 von einem „Männerstaat“, der dadurch gefährdet würde, dass gleichgeschlechtliche Kontakte nicht etwa die Ausnahme seien, sondern „in der SS“ einmal „pro Monat“ aufgedeckt würden.[10] Die SS als Elite des „Männerstaat(es)“, zu der ebenso die Polizei gehört, generiert gewissermaßen die eigene Gefährdung, weil sie einen Männerkult betreibt. Körperliche Merkmale werden als erstrebenswert und begehrenswert in Machtverhältnissen gesetzt.

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Slavoj Žižek sagte einmal über das Begehren, dass uns gezeigt werden müsse, was wir begehren sollen. In dieser Begehrensökonomie erweist sich der „Männerstaat“ als ein Paradox. Dieses Paradox durchzieht den „Männerstaat“ rechter Ideologien und Organisationen bis auf den heutigen Tag. Das Begehren wird insbesondere mit den Uniformen der SS und Polizei geweckt und gleichzeitig aufs Schärfste mit dem Tode bestraft, wenn dem Begehren (zu sehr) nachgegeben wird. Hinter einem vermeintlichen Leistungsprinzip – „rein nach Leistung“ – verbirgt sich bei Heinrich Himmler eine Begehrensökonomie, die seit seiner Jugend eingeübt worden ist. Begehrt werden soll nicht zuletzt die Macht, die zum Mitmachen anstachelt. Die Teilhabe an der Macht erfordert insbesondere ein Kartell des Schweigens. Himmler formulierte das frühzeitig mit anderen Worten.
„In dem Augenblick aber, wo dieses Prinzip, nicht rein nach Leistung auszusuchen, sondern (…) ein geschlechtliches Prinzip im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstörung des Staates. (…)“[11]

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Heinrich Himmler hielt seine Rede zur Homosexualität, in der er „ein paar Gedanken entwickel(te)“,[12] am 18. Februar 1937 vor den „Gruppenführern“ der SS.[13] Der „Männerstaat“ wird einerseits historisch mit den „germanischen Völker(n)“ gegen den „Frauenstaat“ der „Amazonenreiche“ und der Königin in „Holland“ in Verbindung gebracht, andererseits werden ökonomische, bevölkerungspolitische und SS- bzw. SA-spezifische Argumente bei Karrieren angeführt. Das Trauma des Röhm-Putsches vom Juni/Juli 1934 wirkt in der Rede explizit nach. Denn schließlich hatten altgediente Kameraden auf ihresgleichen schießen müssen, um das Begehren zu kontrollieren. Himmler erwähnt ausdrücklich „den homosexuellen SA-Gruppenführer Heines und de(n) homosexuellen Gauleiter und Oberpräsidenten Brückner“. Um das eigene Begehren zu kontrollieren, wird das ungezügelte Begehren auf die SA als einen äußeren Konkurrenten um die Macht und „inneren Feind“ projiziert. Denn selbst 1937 gibt es weiterhin sogenannte Fälle „von Homosexualität“.  
„Wir haben in der SS heute immer noch pro Monat einen Fall von Homosexualität (…) Diese Leute werden selbstverständlich in jedem Fall degradiert und ausgestoßen und werden dem Gericht übergeben. Nach Abbüßung der vom Gericht festgesetzten Strafe werden sie in ein Konzentrationslager gebracht und werden auf meine Anordnung auf der Flucht erschossen. Das wird (…) von mir durch Befehl bekanntgegeben.“[14]

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Der von Heinrich Himmler propagierte „Männerstaat“ gibt nicht zuletzt einen Wink auf seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft Apollo von 1865, der in die Franco-Bavaria München aufging.[15] Die Burschenschaft trägt die Farben Schwarz Rot Gold und wirbt heute mit „800 Akademiker im Kartell“. Burschenschaften wurden nicht nur gegründet, um günstige Studentenzimmer für Mitglieder zur Verfügung zu stellen, vielmehr bilden Burschenschaften „Kartelle“ aus Alten Herren, die das „Bündnishaus“ und berühmtberüchtigte Trinkgelage durch ihre Beiträge finanzieren und zugleich mit einem sogenannten Leporello Karrierewege im „Männerstaat“ öffnen. Die rein männlichen Trinkgelage führen geradezu prototypisch zu mehr oder weniger sanktionierten sexuellen Übergriffen, die unter dem Begriff der Enthemmung verbucht werden. Anders gesagt: die Burschenschaft Apollo bereitete Himmler ab dem 14. Juni 1920 nicht nur auf das „arische Prinzip“[16] vor, vielmehr erlernte er gewissermaßen Karriere- und Verschwiegenheitspraktiken, die niemals unter „Homosexualität“ verbucht werden mussten. Dass sich jüngst der Alte Herr der Burschenschaft Franco-Bavaria München, der CSU-Politiker Peter Raumsauer, mit „Ungeziefer“ für Geflüchtete einen Lapsus erlaubte, erscheint in der Konstellation der Burschenschaftspraktiken eben nicht zufällig. Heinrich Himmler studierte vom Herbst 1919 bis Sommersemester 1922 an der Technischen Hochschule München.[17]

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Während aus deutschen Burschenschaften gleichgeschlechtliche Übergriffe oder auch Freundschaften selten an die Öffentlichkeit dringen[18], veröffentlichte Der Standard im Zuge der MeToo-Debatte 2020 das Protokoll Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“[19] Die männerstaatlichen Strukturen funktionieren über Begehrens- und Machtstrukturen, die den Missbrauch mit einschließen. Exemplarisch wird vom männerstaatlich erzogenen Vater im Protokoll die Frage gestellt, ob der Sohn „jetzt schwul“ sei. Obwohl oder gerade weil der Vater die Praktiken der Burschenschaft kennt, droht er dem Sohn. In Schlagenden Verbindungen gehört zugleich die Körperverletzung als Körpererfahrung von Nähe und Distanz zum guten Ton – „Ich habe drei Mensuren gefochten, zwei Mal wurde ich abgeführt mit einem „Lappen“ und riesengroßen Schmissen und einmal mit einem „Scherzerl“.“[20] Der „Scherzerl“ ist eben kein Scherz, sondern ein abgetrennter „Hauptlappen“.
„Warum ich meinem Vater nichts sagen konnte? Schon, als im Internat etwas Ähnliches passiert war, kam die Frage, ob ich jetzt schwul sei. Das war nicht der einzige Vorfall, wo ich seine Homophobie gespürt habe. Deshalb hatte ich Angst, wegen des Übergriffs so gesehen zu werden. Jetzt bin ich mit einer Frau verheiratet und selbst Vater. Noch dazu konnte ich nie etwas gegen seine „heilige“ Burschenschaft sagen.“[21]

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Die Überlänge der Rede Heinrich Himmlers[22], der lediglich als Diplom-Landwirt sein Studium abschloss, weil er gleichzeitig bereits in paramilitärischen Diensten und Organisationen aktiv war, bevor er im August 1923 Mitglied der NSDAP wurde, verrät eine zumindest ausgiebige Beschäftigung mit der „Homosexualität“ und ihren Abgrenzungen. Als Diplom-Landwirt gehörte Himmler bestimmt nicht zu den führenden Alten Herren – und wurde dennoch einer. Obwohl die Burschenschaft Apollo 1936 sich selbstauflöste, existierten die Verbindungen weiter. Das allerhöchste Gebot der Verschwiegenheit, wie es noch im Protokoll von 2020 wiederklingt, wird von Himmler mit der Sünde der „Lüge“[23] und dem Verbrechen eines „unstillbare(n) Mitteilungsbedürfniss(es) auf allen Gebieten“[24] konterkariert. Das Verschwiegenheitsgebot der Burschenschaften als Karrierepraxis ist Heinrich Himmler zutiefst vertraut, trotzdem spricht er zu viel von der Homosexualität. Die Elastizität seiner Rede speist sich aus einem Erfahrungs- und Eigenwissen zwischen Bildung und Halbwissen wie insbesondere des Wissens um das eigene Begehren. Darin liegt vor allem ihre rhetorische Kunst: unablässig über Homosexualität zu sprechen, um das eigene Begehren zu zügeln. Die Rede zur Homosexualität in der SS wird selbst zum Indiz für ein „unstillbares Mitteilungsbedürfnis“ und wird vier Monate später in weiten Teilen wiederholt.[25]

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Ralf Kempe hat mit seiner in Uniform und damit als Vertreter der Polizei wie des Staates das Verbrechen gegen schwule Polizisten vom 24. April 1945 in die Aufmerksamkeit der Queer Studies gerückt. Er zitierte abschließend eine Formulierung von Theodor W. Adorno: „Die Wertschätzung von Vielfalt bedeutet, ohne Angst anders sein zu können.“ Bis zum allerletzten Moment – und noch einige Jahre darüber hinaus – musste ein homogener „Männerstaat“ verteidigt werden, der insbesondere rechten Parteien mit einer patriarchalen Führungsfigur strukturell und keinesfalls zufällig als Vorbild dient. Dass sich nun gerade eine weibliche Führungsfigur als rechte Parteichefin in Deutschland, aber auch in Frankreich und Ialien hervortut, ist keinesfalls ein Widerspruch. Vielmehr lässt sich Begehren zwischen den Geschlechtern übertragen. Das Paradox des „Männerstaates“ und ob die Parteien dann eines Tages nicht „reingehalten“ werden müssen, wird sich nicht auflösen lassen. Ralf Kempe geht davon aus, dass die 4 schwulen Polizisten von Berlin und ihre Ermordung kein Einzelfall waren. Die Rede Himmlers von 1937 und der Führererlass von 1941 geben Grund genug für die Annahme, dass sehr viel mehr SS-Angehörige und Polizisten nach den gleichen Regeln zur „Homosexualität“ ermordet worden sind.

Torsten Flüh  


[1] Der Rechtsbegriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wird heute im Völkerstrafrecht anders gebraucht, als es der Tagesspiegel vom 21.04.1948 gebrauchte: „Wandelt und Simon werden sich in wenigen Tagen wegen dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu verantworten haben.“

[2] Siehe: Deutsches Historisches Museum (DHM): Arnulf Scriba: Die Schlacht um Berlin 1945. Berlin, 14. Mai 2020.

[3] LSVD: Paragraph 175 StGB: Verbot von Homosexualität in Deutschland. (Online)

[4] Diane Tempel-Bornett: Geschichte ist eine Bürde und Pflicht. Volksbund hilft bei der Suche nach ermordeten Polizisten aus Spandau. 01/07/2022.

[5] Carola Gerlach/Bernd Grünheide: Otto Jordan (Polizeibeamter), ohne Anklage und Urteil ermordet am 24.4.1945. (AG Rosa Winkel).

[6] Transkription nach im Vortrag gezeigtem Foto.

[7] Ohne Namen: Der Polizistenmord in Spandau. Zehn Jahre Zuchthaus für Wandelt. In: Spandauer Volksblatt v. 30.04.1948.

[8] Wikipedia: Wolf-Heinrich Graf von Helldorf: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ernsthelldorfhanke.jpg

[9] Zur Frage der Machteliten siehe auch: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[10] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich Himmler: Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen. Frankfurt am Main: Propyläen, 1974, S. 95.

[11]Ebenda.

[12] Ebenda S. 94.

[13] Ebenda S. 291, Fußnote 133.

[14]  Ebenda S. 97-98.

[15] Siehe das Foto nach S. 64 ebenda. Und: Wikipedia: Münchner Burschenschaft Franco-Bavaria. (Wiki) und (Internet-Auftritt)

[16] Ebenda.

[17] Siehe Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 10] S. 264.

[18] Aus den Erzählungen eines Freundes des Berichterstatters, der zumindest für eine kürzere Zeit ein Zimmer in einem Kieler Bündnishaus bezog, wurden gleichgeschlechtliche Praktiken mit Burschenschaft-Bewohnern als üblich mitgeteilt.

[19] Fabian Schmid: Missbrauch in der Burschenschaft: „Mach jetzt mit, sonst …“. In: Der Standard vom 2. März 2020.

[20] Ebenda.

[21] Ebenda.

[22] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

[23] Ebenda S. 96.

[24] Ebenda S. 97.

[25] Bradley F. Smith (Hg.): Heinrich … [wie Anm. 13].

Im Netz der Literaturen

Jugend – Sprache – Liebe

Im Netz der Literaturen

Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel

Die Spinnennetze in den Büschen und zwischen den Pfeilern der Balustrade zum Großen Wannsee des Literarischen Colloquiums Berlin drohten unter stürmischen Regenböen zu zerreißen. Nachdem Michel Decar aus seinem Text und Künstlerroman Kapitulation, der am 1. September 2023 im Verlag März erscheinen wird, auf der Seebühne unten im Garten fünfzehn Minuten gelesen hatte, zog eine Regenwand heran. Die Mikrofone und das Mischpult wurden von den Technikern des LCB abgebaut. Stecker raus. Fortsetzung nach 30 Minuten Pause und Ortswechsel in den Saal mit der Ausstellung LCB-Editionen 1968-1989 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Assemblage – 60 Jahre Literatur intermedial. Das LCB feiert sein sechzigjähriges Bestehen und zum 18. Mal Kleine Verlage.

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Literarische Texte lassen sich dehnen und verweben wie Netze der fleißigen Spinnen. Texte bilden Texturen, Romane als fleißig und oft gegen die Zeit ausgelegte Gespinste. Sigrid Behrens wird von ihrem Hamburger Verleger von MTA (Minimal Trash Art) mit dem Roman Gute Menschen angekündigt. Lesepremiere des neuen Buches. Fünfzehn Minuten. Die Fünfzehn dauern meistens länger. Danach betritt Friedrich Kröhnke die Lesebühne innen. Er liest aus seinem gerade im Rimbaud Verlag aus Aachen erschienenen Roman Spinnentempel die Passage, als der Ich-Erzähler den Spinnentempel der Baha’I von Battambang besucht. Dann denkt er auf einem Bett im Hotel liegend über sein Leben nach. Sehr viel später liest Christoph Geiser fünfzehn Minuten aus seinem Caravaggio-Roman Das geheime Fieber, der gerade als Teil der Werkausgabe bei Secession in Berlin erschienen ist. Alle Lesungen lassen sich gar nicht hören und bedenken, sie hinterlassen schon so im Flash ein eigentümliches Gespinst.

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Es ist ja nicht so, dass sich alle Besucher*innen, Autor*innen, Lektor*innen und Verleger*innen auf der Seewiese versammelt hätten, um z.B. dem Autor Michel Decar aufmerksam zu lauschen. Viele tummeln sich gleichzeitig oben an der LCB-Villa um die Verlagsstände draußen. Vielmehr geht es bei diesem Event ebenso um ein Sehen und Gesehenwerden, Streunen und Blättern an den Verlagsständen, Signaturensammeln eines Autors, um die Bücher einer oder einem Lieben mit Widmung zu schenken oder, durch das Autogramm aufgewertet, auch nur antiquarisch zu verkaufen. Die veganen Speisen vom Grill oben am Eingang links sind schnell ausverkauft. Bratwurst und Nackensteak werden eher als Drohung wahrgenommen. Frischhaltedosen werden auf der steil abschüssigen Wiese ausgepackt und mit Familien, der oder dem Liebsten geteilt, bis das Wetter doch zu ungemütlich wird.  

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Die kleinen Verlage aus vielen Teilen des Leselandes Deutschland sind besonders eigentümlich, eigenwillig und oft auf ein bestimmtes, von den großen Publikumsverlagen wie Suhrkamp vernachlässigtes Lesepublikum spezialisiert. So das Credo. MTA wirbt mit „MTA ist für die Kunst, nicht für den Profit.“[1] März gibt sich „immer radikal, niemals konsequent“, und schreibt seine Geschichte seit 1967 dem „Vormärz“ mit seinem Verleger Jörg Schröder.[2] Bernhard Albers gründete und leitet seit 1981 die Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH mit dem Credo „zeitgenössische Lyrik und Prosa“[3], der Name des Lyrikers Arthur Rimbaud gibt einen Wink nicht zuletzt auf das komplizierte Verhältnis zu dem zehn Jahre jüngeren Paul Verlaine oder umgekehrt. 1995 spielte Leonardo DiCaprio, gerade 21, Arthur Rimbaud in Agnieszka Hollands Total Eclipse – Die Affäre von Rimbaud und Verlaine.   

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Das allerdings wollte der Berichterstatter gar nicht so genau erzählen, das schlich sich vielmehr ins Erzählen ein. Das Einschleichen ganz anderer Erzählungen macht unterdessen Literaturen unterschiedlicher Genres aus. Heute wird fast jeder Text zum Roman. Die kürzere Form der Erzählung erscheint immer seltener unter dem Titel. Ein Roman soll es schon sein. Romane waren einst lang bzw. dick bis sehr, konnten wie bei Proust keine Grenzen und kein Ende finden. Heute sind sie eher kurz, versprechen aber eine komplexe Geschichte über eine gewisse Zeitspanne. Kapitulation – Roman[4], Gute Menschen – Roman[5], Spinnentempel – Roman[6], Das geheime Fieber – Roman[7]… Der Romantitel ist eine eigene Formulierungskunst. „Noch wach?“[8], der Roman des Benjamin von Stuckrad-Barre über Julian Reichelt und Bild traf voll die What’s App-Sprach- und Aufreiß-Praktiken aller Menschen, die What’s App nutzen – und das sind fast alle. Nur Verkopfte gendern, Reichelt und Stuckrad-Barre nie:
„Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden.“[9]

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Kapitulation ist auch gut – aber wer möchte schon seine eigene Kapitulation – vor was auch immer – erleben oder eingestehen müssen. Bei „Noch wach?“ wollen alle Leser*innen – aus welcher Perspektive auch immer, Frauen, gar Feministinnen – durch das Messanger-Schlüsselloch gucken. Von der Lesebühne am Wannsee werden Satzfetzen von Michel Decar herangepeitscht, als sich der Berichterstatter nähert. Es geht um die Literaturpreisverleihung einer Kreissparkasse, die mit irgendwelchen Nazis ganz früher oder auch schon nicht mehr so ganz früher ihr Preisgeldvermögen angelegt haben könnte oder hat. Der Schriftsteller im Künstlerroman gerät in einen Konflikt. Die Verlagsbeschreibung klingt fast gleich: „Als die Preisverleihung im Wolfsburger Ritz-Carlton zur Farce gerät …“[10] Preisgeld von altem Geld oder gar kein Geld – zum Überleben als Künstler? Passt. Künstler-Tristesse funktioniert heute so oder auch schon länger, wenn man an den Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung-Fall Fritz Martini von 1966 denkt.[11]  

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Der Gute Menschen-Romantext wird im Saal schon nicht mehr so brutal von der Witterung zerfetzt. Gedränge im Saal. Es treibt auch die zuvor wandelnden Besucher*innen vor Platzregen oder doch nur Schauer ins LCB-Innere. Bevor Sigrid Behrens zu lesen beginnt, erklärt sie. Zeitverlust. Bei der Lesung soll vor allem der neu publizierte Text, in diesem Fall ein Milieuroman, sprechen. Kann man nicht erklären, muss der Text selbst machen. Verlagsbeschreibungen sogenannte Klappentexte verfehlen i.d.R. den Roman oder wecken bedenkliche Identifikationswünsche. Und „Idylle“ ist fast wie Kitsch schon immer falsch.
„Eine Frau geht. Sie verlässt die jugendlichen Kinder, den loyalen Ehemann, das schöne Haus, das sie über Jahre hinweg gestaltet hat, die liebenden Familien und den innig verbundenen Freundeskreis. Sie verlässt eine Idylle, sie bricht ins Ungewisse auf. Warum? Wofür?“[12]   

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Der Stich der 15-Minuten-Stechuhr beendet die Lesung. Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und die schöne, farbige Frau, die sich aus den knapp 100 Bänden der LCB-Editionen von 1968 bis 1989 nicht recherchieren lässt, bleiben aus der temporalen Ferne ungerührt der Kamera zugewandt. Wong May veröffentlichte Wannsee-Gedichte (1975), György Konrád Gesicht und Maske (1978), und Jiří Kolář Suite (1980). Regine Ehleiter, die an der Freien Universität den Exzellenzcluster Temporal Communities leitet, hat die Ausstellung LCB-Editionen, 1969-1989 – eine Re-Lektüre kuratiert.[13] Ab 1974 gingen die Editionen aus dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) hervor. Die Wannsee Poems der 1944 geborenen Wong May wurden von Nicolas Born, der im LCB aktiv war, ins Deutsche übersetzt. Die Ausstellung läuft noch bis zum 31. Oktober 2023 und wurde begleitet von einem Festival im Juni.

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Temporal Communities könnte beinahe zum Spinnentempel von Friedrich Kröhnke überleiten, weil der Roman um die verlorene Zeitlichkeit von Gemeinschaften kreist, könnte ich schreiben im Hinüberwerfen des Fadens. Kröhnkes Roman vom Ich, das sich wiederholt an die Leser*innen adressiert – „Sie sagen, das sind beliebige und oberflächliche Eindrücke, und wie in allem will ich Ihnen ja gar nicht widersprechen.“[14] – webt sich aus Erinnerungen wie Literaturen z.B. Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas und gibt sich, in der vor May, Konrád, Kolář und der Schönen gelesenen Passage, ironisch. Die Passage befindet sich schon im 4. Teil der mit Versen aus Leonard Cohens Song So long, Marianne als Motto versehenen 5 Teile des Romans.
„… Oh you are really such a pretty one.
I see you’re gone and changed your name again …
In den weiteren Jahren meines Lebens habe ich kaum etwas getan. Eigentlich bin ich nur herumgereist.“

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Der Spinnentempel und das Spinnen werden von Kröhnke in vielfältiger Weise durchkomponiert. Baha’I-Tempel, Paris, die OCI erinnern an Spinnen und insbesondere Taranteln, die sprichwörtlich wie von einer Tarantel gestochen, was eigentlich gebissen heißen müsste, den Gebissenen in Ekstase versetzen. In Battambang übernachtet und überlebt der Ich-Erzähler Fips für „lachhaft geringe Summen in geradezu prächtigen Hotels“ gelegentlich gegenüber einer Markthalle:
„Die Markthalle war ein weiterer Anziehungspunkt. Frühstück gab es keins im Hotel, und  ich frühstückte in der Markthalle. Sie war spinnenförmig, ein Bau im Stil des Art Déco aus der französischen Kolonialzeit. Man genoss das bunte Treiben, die Geräusche und Gerüche unter einem Kuppeldach, das sich in alle Himmelsrichtungen verzweigte, ihre Seiteneingänge waren Spinnenarme, …“[15]

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Friedrich Kröhnke liest in einem lakonischen Tonfall, der mit der sprachlichen Ironie das Publikum mehrfach zu einer amüsierten Reaktion reizt. So schon bei der Begründung des Aufenthalts in Battambang für „lachhaft geringe Summen“. Die dem Namen der kombodschanischen Verwaltungshauptstadt inhärente Alliteration wird lakonisch gelesen komisch. In Battambang überkreuzen sich für Fips mehrere Erinnerungsstränge an seine frühe Jugend wie den Spinnentempel der Baha’I in Langenhain im Taunus, einer Jugendliebe und die Kommunistische Internationale nicht zuletzt an das kommunistische Regime in Kambodscha. Ein Verbrechen. Kröhnke beherrscht einmal mehr die kompositorischen Verfahren der Themensetzung, ihrer Wiederholung und Variation. In Battambang und im Kröhnke-Tonfall wird die Religionsfrage im Alter bittere Ironie:
„Ich war sechzig und wollte noch einmal etwas anderes in meinem Leben. Einer religiösen Richtung anzugehören! Da hat man doch ein gutes Recht drauf: im Alter religiös zu werden.“[16]  

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Der Roman Spinnentempel entwickelt in seiner Verdichtung einen eigenen Sound zwischen Velosolex-Knattern, dem Allegro con fuoco oder feurig schnell des 4. Satzes aus Antonín Dvořáks Aus der Neuen Welt, der Internationale und So long, Marianne. Geräusche tragen zum Sound bei. Nicht zuletzt der „so süße(), schöne(), melodische() Gesang, der über die Dächer ringsum schwebte“[17] in Jerusalem – der Ruf des Muezzin. Das Fips genannte Ich, das einen Zwillingsbruder namens Falk hat, verliebt sich sechzehnjährig in den fünfzehnjährigen Tibor Teichmann in „der sogenannten Wissenschaftsstadt“.[18] Sie besuchen auf Fahrrad und Velosolex im Jahr 1972 den Spinnentempel, weil eine „spinnerte alte Dame über Baha Ulla undsoweiter geredet hatte“.[19] Frühzeitig setzt Kröhnke die Ambiguität von Spinnen und spinnen zur literarischen Komposition ein. An den Grenzen der Fakten wird entlang erzählt, so dass die Erzählung wie am Faden einer Spinne in der Schwebe und elastisch bleibt. Anders formuliert: Spinnentempel lässt sich ebenso als Literatur-Roman lesen. Als Roman von der literarischen Produktion.[20]

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Die Jugendliebe zu Tibor Teichmann wird vom Erzähler Fips mit dem Wunsch, „von diesen jungen Lehrern anerkannt zu sein“, verknüpft.[21] Diese jungen Lehrer waren links. ’68 hinterließ seine Spuren und Fips und Falk waren mittendrin. Sie wurden Trotzkisten, genauer Lambertisten „nach ihrer führenden Persönlichkeit, Pierre Lambert“.[22] Fips‘ Erzählung wird zu einer generationellen Geschichtserzählung von Reisen nach Paris in die Faubourg St. Denis, wo die Organisation Communiste Internationaliste, kurz OCI ihre Zentrale hatte, die sogleich literarisch mit Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas verwoben wird:
„die Zentrale der OCI, Michael Kohlhaas‘ „Sitz unserer provisorischen Weltregierung“. Wir waren müde und bekamen gleich unsere Lager zugeteilt: nebeneinander zu zehnt oder so kampierten die nach und nach nachts Eintreffenden auf Matten oder in Schlafsäcken auf den unsauberen Fußböden der großen Büroräume, welche Namen hatten, Salle Rosa Luxemburg, Salle Friedrich Engels, Salle Léon Sedow…“[23]   

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Es geht nicht nur um „Tagträume … und Träume“[24], die erzählt werden, vielmehr um ein Trauma zugleich. Das Trauma des Verlusts einer Jugendliebe durch Verbot und gesellschaftlicher Ächtung, weil gleichgeschlechtlich, und durch eine kaderförmige Organisation.  Aus den Romanen und Erzählungen von Friedrich Kröhnke können die Leser*innen wissen, dass er und sein Bruder Karl sich als Gymnasiasten euphorisch in „eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte(n)“.[25] – Wie eine Sprache finden für das, was einem angetan wurde beziehungsweise wo man mitmachen musste? – 1977 schrieb Friedrich Kröhnke zum ersten Mal über Zweiundsiebzig. Als er es 1987 veröffentlichte, hatte er im August 1986 in einer „Nachbemerkung“ vermerkt:
„Ich habe das alles nämlich zu einer Zeit geschrieben, als ich mich in eine trotzkistische Klein-Partei gesperrt hatte, geradezu heimlich geschrieben, denn „Subjektives“ war nicht angesehen.“[26]

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Ist das Subjektive Kitsch? Das wiederholte Einräumen, dass die subjektive Erzählung von Tibor Teichmann ebenso wie von der OCI Kitsch sein könnte, gibt einen Wink. – „Das alles, sagen Sie, ist offensichtlich ein Kitsch.“[27] – Nicht Fips sagt, dass es ein Kitsch ist, sondern eine imaginäre/r Leser*in, die angeschrieben wird. Wer die imaginäre Leser*in sein könnte, wissen wir nicht. Das heimlich Subjektive und der Kitsch durchziehen den Roman thematisch.[28] Seit 1986 ist schon eine gewisse Zeit vergangen. Ist die imaginäre, lambertistische Leser*in eine Art Über-Ich, das zensiert und zugleich den Kitsch für notwendig hält, wenn es um das Subjekt Fips geht, das als Ich erzählt? Wenn man die Zweiundsiebzig in Anschlag bringt, dann kehrt 50 Jahre später 2022 ein Liebesobjekt wieder, das zuvor schon vielfach abgewandelt worden war. Transformiert in immer wieder neue, eher flüchtige Verhältnisse mit Fünfzehnjährigen. Die Jugendliebe zweier Jungen, die man heute queer benennen würde, schwul gar, scheitert nicht zuletzt am – autoritären – Medium Festnetztelefon, das zwischenzeitlich immer weniger, kaum noch genutzt wird. Über das Festnetztelefon übten die Väter und Mütter ihre Autorität aus.
„Es gab noch keine Mobiltelefone und kein What’s App, nichts von alledem. Wenn ich bei seinen Eltern oder in der Arztpraxis anrief, wurde auf der anderen Seite aufgelegt.“[29]

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Wie schwul ist ein Roman, in dem das Lemma nicht einmal vorkommt? Schwul ist nicht irgendein Lemma. Im Caravaggio-Roman Das geheime Fieber (1987!) wird schwul zwar nicht in der Passage verhandelt, die Christoph Geiser am Nachmittag der Kleine(n) Verlage am Großen Wannsee zu fortgeschrittener Zeit mit Wong May, György Konrád, Jiří Kolář und der schönen, farbigen Frau im Rücken vorliest, aber sonst geradezu um Legitimation ringend im kunsthistorischen Kontext bearbeitet. Ein Restaurator gebraucht schwul eher abwertend, wenn Maler „noch das von Michelangelo kopiert (hätten)“. Lässt sich schwul kopieren?
„Schwul, sagt der Restaurator, waren doch auch seine Nachfolger, diese Manieristen, fast eine Mode, als hätten sie noch das von Michelangelo kopiert – aber ins Süßliche verkehrt; der ist wenigstens nicht süßlich, nicht einmal süß, auch darum ist es kein Kitsch, sondern eine Provokation, gegen diese Moden, diese Idealisierung.“[30]

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Mit der Restaurator-Szene zum Gemälde Amor als Sieger, der in der Berliner Gemäldegalerie hängt, wird der Roman über Caravaggio und schwul eröffnet. In zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung des Romans hatte 1986 Derek Jarmans biografischer Film Caravaggio Premiere. Die vom Restaurator formulierte „Provokation“ in der Darstellungsweise eines fünfzehn- oder sechzehnjährigen, fast noch kindlichen nackten Jungen umgeben von allegorischen Instrumenten wie einer Violine, einer Laute, einem Winkel und Zirkel, aber auch zwei Pfeilen in der linken Hand, einer Schreibfeder und einem Teilen einer Rüstung, schließlich einer Art Himmelsglobus mit Sternen und einem Bogen für die Violine, die Flügel aus dunklen oder verschatteten Schwanenfedern nicht zu vergessen, wird vor allem durch ein angedeutetes Lachen im abgeschatteten Knabengesicht gestützt. Der Amorknabe provoziert. Er triumphiert nicht – Cupid as Victor. Das Gemälde ist eher dunkel als hell gehalten, doch der Körper, die Haut, das Glied sind hell ins Licht gerückt.[31]

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An der exponierten Nacktheit und dem Lachen brechen sich die Imaginationen und Identifikationen. Schuld oder Unschuld. Provokation oder Triumph. Religiöse Allegorie oder sich exponierender Junge aus dem Volk. Und was daran, an der Haltung und dem Verhalten ist schwul? Der Bogen aus dem italienischen 17. Jahrhundert ins emanzipative Schwul des 20. Jahrhundert lässt sich nicht so einfach schlagen. „Ich bin schwul“, wurde erst im 20. Jahrhundert in Berlin sagbar, wie es Robert Beachy mit W. H. Auden gezeigt hat. Im beginnenden 21. Jahrhundert, um die natürlich immer schleichende Transformation von Kulturpraktiken wie meist geübt in Jahrhunderten beizubehalten, ist der Amorknabe oder Cupidboy prekär geworden. 1987 war es eine Provokation:
„Ein nackter Bub auf einer Holzbank, nichts sonst, wenn ich mir die Zutat, das Stilleben wegdenke. Haut und Fleisch zum Greifen. Das ist nicht irgendeiner, das sind alle, alle zusammen in einem. Der Kopf eines Halbwüchsigen, fünfzehn-, sechzehnjährig, dem ich die Haare auf der Stirne streichen möchte, während er, ganz weggeräumt noch, lächelt geniert ein wenig, weil er sich einem wildfremden Schwulen hingegeben hat, in irgendeinem Hotelzimmer, einer einschlägigen Pension – amüsiert von der Erregung, aber befriedigt – versöhnlich nach dem geilen Spiel; das Schwänzchen eines Zwölfjährigen – nichts kommt, wenn es ihm beim Spielen plötzlich kommt – geil, aber verboten heute, auch in den größten Städten unberührbar, damals bloß ein wenig sündig; Pubertätsspeck an den Flanken, für die Gier der Hände, zum Kneifen wenigstens.“[32]

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Wie eine Sprache finden im Schreiben? Literaturen müssen sich immer eine Sprache erschreiben. Die Provokation, die emanzipatorische Geste, sich in einen Diskurs einschreiben oder gegen den Zeitgeist anschreiben haben immer die künstlerische, die literarische Produktion – um Amor als Sieger nicht zuletzt der Künste nachklingen zu lassen – beflügelt. Woher die Flügel genau kamen und kommen, wie lange sie tragen, über What’s App hinaus oder nur den Moment einer groß orchestrierten Hype der Ex-Freunde um eine Herrn Döpfner herum, der Medienturm exponiert, lässt sich auch bei kleinen Verlagen nicht so schnell entscheiden. Trash oder zeitgenössische Prosa? Kapitulation oder Spinnentempel? Gute Menschen oder das geheime Fieber? Der Roman Spinnentempel in seiner Ambiguität und Verdichtung zu einer lakonischen Sprache zwischen Schulverweis und Weltregierung fällt dann doch auf, vielleicht gar heraus. Queer history ist er allemal. Im 15-Minutes-Time-Slot fällt das noch nicht einmal so stark auf. Literaturen brauchen Zeit.

Torsten Flüh

Michel Decar
Kapitulation
Berlin: März, 2023.

Sigrid Behrend
Gute Menschen
Hamburg: Minimal Trash Art, 2022.

Friedrich Kröhnke
Spinnentempel
Aachen: Rimbaud, 2023.

Christoph Geiser
Das geheime Fieber
Berlin, Secession, 2023.

Literarisches Colloquium
LCB-Editionen, 1968-1989 – eine Re-Lektüre
bis 31. Oktober 2023.


[1] MTA: Über MTA.

[2] März-Verlag: Google Header.

[3] Rimbaud-Verlag: Google Header.

[4] Michel Decar: Kapitulation. Berlin: März, 2023. (Website)

[5] Sigrid Behrens: Gute Menschen. Hamburg: Minimal Trash Art. 2022. (Website)

[6] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel. Aachen: Rimbaud, 2023. (Website)

[7] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Berlin, Secession, 2023. (Website)

[8] Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2023. (Website)

[9] Ebenda S.

[10] Michel Decar: Kapitulation [wie Anm. 4] ebenda.

[11] Siehe: Torsten Flüh: Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt. Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juni 2023.

[12] Sigrid Behrens: Gute … [wie Anm. 5]

[13] LCB: https://lcb.de/programm/lcb-editionen-ausstellung/

[14] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 94.

[15] Ebenda S. 75.

[16] Ebenda S. 81.

[17] Ebenda S. 92.

[18] Ebenda S. 5.

[19] Ebenda S. 16.

[20] Zu weiteren Werken von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Der Mythograph

Ein Werkaufriss zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Friedrich Kröhnke. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[21] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 19.

[22] Ebenda S. 34.

[23] Ebenda S. 52.

[24] Ebenda S. 26.

[25] Friedrich Kröhnke: Zweiundsiebzig. Das Jahr, in dem ich sechzehn wurde. Frankfurt am Main: Materialis Verlag, 1987, S. 86.

[26] Ebenda.

[27] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 23.

[28] Zu weiteren Romanen von Friedrich Kröhnke siehe: Torsten Flüh: Farbenfroh wuchernde Sehnsucht. Friedrich Kröhnke feiert den 150. Geburtstag von Max Dauthendey mit dem paradoxwitzigen Text Wie Dauthendey starb Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2017. (Jetzt unter Publikationen)
Und: Torsten Flüh: Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur. Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Oktober 2018. (Jetzt unter Publikationen)

[29] Friedrich Kröhnke: Spinnentempel [wie Anm. 6] S. 27.

[30] Christoph Geiser: Das geheime Fieber. Zuerst: Zürich: Nagel & Kimche, 1987, S. 16.
Zum Lemma schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. Zuerst in: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (Jetzt unter Publikationen)

[31] Amor als Sieger von Caravaggio https://smb.museum-digital.de/object/60794?navlang=de

[32] Christoph Geiser: Das … [wie Anm. 30] S. 18.

Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse

Terror – Architektur – Staat

Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse

Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste

Der Saal 1 der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 wurde in der Zeit um 1943 zur Ausarbeitung eines Fassadenmodells im Maßstab 1:10 für die Nord-Süd-Achse von Albert Speers Hauptstadt Germania schon im Detail genutzt. Vier Männer in weißen Kitteln mit pomadisierten Haaren stehen auf einer Leiter oder sitzen auf einem Klappschemel mitten im Krieg und malen mit Pinseln an dem Holzmodell, wie auf einem Foto in der Ausstellung Macht Raum Gewalt zu sehen ist. Der Durchgang zur Verbindungshalle ist an seinem Bogen zu erkennen, von dem ein Teil in den Neubau der Akademie von Günter Behnisch ab 2005 integriert worden ist. Die planerische Tätigkeit der vier Männer im Jahr 1943 für das monumentale, die Dimensionen sprengende Bauvorhaben sind gespenstisch. Ab November 1943 war Berlin massiven Lustangriffen der Alliierten ausgesetzt. Am 23. November 1943 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zerstört.

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Gespenstisch monströs wirkt ebenso der Schwerbelastungskörper in der General-Pape-Straße in der Nähe vom Südkreuz oberhalb der Süd-Nord-Bahntrasse, die unter dem zerbombten Lehrter Bahnhof, dem neuen Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel entlang erst nach dem Hauptbahnhof wieder an die Oberfläche kommt. In einem Modell auf dem Aussichtsturm des Informationsortes Schwerbelastungskörper wird die massive Gewalt fühlbar, mit der sich die Achse der Staatsbauten in die Stadt hineingefräst hätte. Die Ausmaße als Versprechen von nationaler Größe im kleinen Modell mit einem 10 Mal größeren Triumphbogen als dem Arc de Triomphe de l‘Étoile in Paris auf der Avenue des Champs-Élysées verkehren sich in blanken Staatsterror. In der Akademie der Künste näherten sich nun Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze literarisch dem Unfassbaren des SCHWER BELASTUNGS KÖRPERs.

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Ab 1937 war der Sitz der Akademie der Künste am Pariser Platz von Albert Speer zum Ort des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ geworden. Dort wurden die nationalsozialistischen Bauten in Berlin geplant, gezeichnet, berechnet und wie mit dem Fassadenmodell detailliert vorbereitet. Der Planungsaufwand nicht nur für die Nord-Süd-Achse wurde derart vorangetrieben, dass das zweckentfremdete Akademiegebäude aufgestockt und erweitert werden musste. Zwar blieb die Aufschrift „Akademie der Künste“ bestehen, doch seither wurden weitere Gebäude am Pariser Platz und sogar Räume des beschädigten Reichstags für die totale Planung von der Reichskanzlei über die neuen Gebäude am Flughafen Tempelhof bis zur gigantischen „Großen Halle“ am Nordende der Hauptstadtachse entworfen. Der Neubau des Tempelhofer Flughafens war bei seiner Fertigstellung 1941 bereits das flächengrößte Gebäude der Welt.[1] Wenig später wurde das Pentagon in Washington das flächengrößte.

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Die Lüge der Größe verdeckte bereits beim Flughafen Tempelhof mit seinen riesigen Hangars aus Beton, Stahl und Glas die Funktion der Kontrolle. Der Beton der massiven Treppentürme an den Hangars wurde geradezu programmatisch mit Tengener Muschelkalkplatten verklebt.[2] Dadurch erhielt die Bauweise des „Weltflughafens“ programmatischen Charakter. Nur ca 1.000 Meter westlich der Flughafenhangars wurde der Schwerbelastungskörper zum Test für den Baugrund auf der Nord-Süd-Achse gebaut. Die versprochene Größe des Triumphbogens und anderer Bauten bis zur „Großen Halle“ erwies sich nicht nur als ein physikalisches Belastungsproblem durch Betonmassen, vielmehr sollte der Beton hinter Muschelkalk und ähnlichen Werkstoffen verschwinden, damit die Gebäude visuell historisiert werden konnten.

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Die nationale wie architektonische Größe wurde beim Flughafenbau wie beim Bau des Schwerbelastungskörpers exemplarisch durch systematische Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erreicht. Insofern lässt sich die Ambivalenz der Größe im Bauen immer zugleich mit Praktiken der Unterwerfung und der Ausbeutung bedenken. Für die Erzeugung der Größe beim Flughafenbau als „Infrastrukturanlage“ wurden bereits Zwangsarbeiter*innen in sklavenähnlichen Verhältnissen eingesetzt. Das Autorenkollektiv der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste formuliert die „Kernbotschaften“ ein wenig anders, was möglichweise mit der Größe als blindem Fleck zu tun hat:
„Die Ausstellung soll zeigen,

  • dass das Planen und Bauen im Nationalsozialismus alle Lebensbereiche durchdrang und sowohl der Integration der „Volksgenossen“ als auch dem völkisch-rassistischen Ausschluss und der Vernichtung von „Gemeinschaftsfremden“ diente;
  • dass als prägendes Ergebnis der Dynamik und Radikalisierung des Planens und Bauens im Nationalsozialismus weniger die meist nicht verwirklichten Repräsentationsbauten als vielmehr Wohnsiedlungen, Verwaltungsbauten, Rüstungskomplexe, Infrastrukturanlagen, Bauruinen, Baracken, Bunker und vor allem die zahllosen Zwangsarbeits- sowie die Konzentrations- und Vernichtungslager anzusehen sind;“[3]
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Die Ausstellung in der Akademie der Künste, zu der ein 320 Seiten umfassender Katalog mit ca. 420 Abbildungen erschienen ist, hat insbesondere hinsichtlich einer „Egalisierung“ der „Baufachleute und Bauunternehmer“ nach 1945 zu einigem Widerspruch geführt, den Friedrich Dieckmann in Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? formuliert hat. Die Ambiguität der Architektur in der Moderne führt zu einer Egalisierung von Menschen, die für das Planen und Bauen im Nationalsozialismus verantwortlich waren. Dieckmann kritisiert die Ausstellungspraxis von 150 Portraitfotografien alphabetisch aneinander gereihten, teilweise verfolgten „Baufachleuten“ scharf.[4]  

  • dass sehr vielen Baufachleuten und Bauunternehmern in allen Bereichen des Planens und Bauens eine Mitverantwortung für die Ausübung von Gewalt und Verbrechen zugeschrieben werden muss – nicht nur den wenigen bekannten Architekten. Viele Verantwortungsträger konnten nach 1945 ihre Karrieren fortsetzen.
  • dass Planen und Bauen auch im Nationalsozialismus eine internationale Perspektive besitzt und entsprechend betrachtet werden muss – mit Blick auf Rivalitäten, Einflussnahmen und Demonstrationen vermeintlicher Überlegenheit;
  • dass zur baubezogenen Erinnerung nach 1945 Verdrängungen, Verharmlosungen und Ausblendungen gehören und dass ein bewusster und angemessener Umgang mit dem gebauten Erbe des Nationalsozialismus eine herausfordernde Aufgabe bleibt.“[5]  
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Wäre ein Spaziergang in den Schluchten der staatlichen Großbauten vom Regime überhaupt erwünscht worden? An das Klima und die Hitzestauungen dachten ein Albert Speer und seine Planungsfanatiker natürlich nicht. Kerstin Hensel, seit 2021 Direktorin der Sektion Literatur in der Akademie der Künste, setzte im Plenarsaal am Pariser Platz den Begriff Spaziergang, zu dem sie mit der Lesung einlud. Cécile Wajsbrot habe sie schon vor einiger Zeit nach dem Schwerbelastungskörper gefragt, ob sie ihn kenne und schon einmal dort gewesen sei. Schwerbelastungswas …? Der Ort, der von Speers Hauptstadt Germania, übriggeblieben sei. Spazieren ist eine eher absichtslose Fortbewegungsart, die kein Ziel kennt, doch Wissen generieren kann. Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze nähmen uns mit auf einen Spaziergang zum Schwerbelastungskörper. Immerhin ein Ort, der durch einen eigens gebildeten Namen bezeichnet wird. In der bis dato einzigartigen Kombination physikalischer Begriffe von Schwere, Belastung und Körper benennt der Eigenname einen Ort und ein Bauwerk.

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Mit dem Schwerbelastungskörper ging es den nationalsozialistischen Bauingenieuren um die Vorbereitung der zentralen „Repräsentationsbauten“ in dem Maße, wie dieser selbst zur Repräsentation und noch bis in die 1970er technisch genutzt wurde. Denn für die Baufachleute repräsentierte der Testkörper bereits die in Planung befindlichen Bauten. Schriftsteller*innen sehen, fragen und formulieren anders. Sie generieren Wissen vom Corpus anders. So schreibt die in Paris geborene, französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot in ihrem essayistischen Text Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen zum Schwerbelastungskörper:
„Da haben wir ein solides Wort, ein Wort, das Gefühle wirkungsvoll eindämmt, ein Wort aus Fakten, Fakten … dieser Betonzylinder wurde 1941 von Kriegsgefangenen, oft aus Frankreich stammenden Zwangsarbeitern gebaut. Albert Speer, der Architekt des Dritten Reiches, wollte damit den Widerstand des Bodens testen, um herauszufinden, ob dieser die Übergröße des Triumphbogens aushalten würde, der als Abschluss der Nord-Süd-Achse zur Strukturierung der künftigen Hauptstadt Germania vorgesehen war – ein Triumphbogen, der als Zeichen der Revanche zehnmal so groß sein sollte wie der von Paris.“[6]

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Wajsbrot verfolgt in ihrem Text die vielzähligen Vernetzungen, in die der Schwerbelastungskörper über den Widerstand verwoben war oder ist und womöglich weiter vernetzt werden kann. Nicht nur der physikalische, vielmehr noch der politische Widerstand gegen die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Praktiken des „völkisch-rassistischen Ausschlusses“ kommen zum Zuge. Die Akademie der Künste, zu denen der Architekt Erich Mendelsohn in der Sektion Bildende Künste bis 1933 gehörte, wurde für Speers Projekte und seine Mitarbeiter*innen homogenisiert. Die paradoxe Gleichzeitigkeit der Messungen und Vermessungen als Strategie der Moderne nicht zuletzt im Krieg wird von Cécile Wajsbrot herausgearbeitet:
„Tausende von Kilometern weiter stand in einer anderen Zeitzone, in einer Wüste Utahs, 145 Kilometer von Salt Lake City entfernt, zu der Zeit, als man maß, wie tief der Betonzylinder in den Boden einsank, ein von dem Architekten Eric Mendelsohn entworfenes »Deutsches Dorf«. Erich Mendelsohn war jüdischer Herkunft und gleich 1933 nach Großbritannien ausgewandert, wo er seinen Vornamen ins englische Eric geändert hatte. Im Dezember desselben Jahres war er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen worden, baute jedoch zehn Jahre später Berlin in einem unwirklichen Landstrich von Utah nach, indem er ein Berliner Arbeiterviertel zu rekonstruieren half, sechs Mietskasernen mitten in der Wüste. (…) Es ging darum, den Widerstand dieser Gebäudeart zu testen, Teil der Vorbereitungen, die die amerikanische Armee für die Bombardierung deutscher Städte traf – insbesondere Berlin.“[7]  

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Die planerischen Praktiken, die Berlin auf brutale Weise neu strukturieren sollten, damit Kontrolle und Überwachung zwischen Massenaufmärschen und Verfolgung Einzelner in Gebäudefluchten optimiert werden könnten, führten sozusagen am anderen Ende der Welt mit einer widerständischen Geste Mendelsohns zur Planung der Auslöschung des Regimes. Die Vermessungspraktiken der Größe, die am Schwerbelastungskörper symmetrisch, glatt, massig in nie zuvor bekannten Ausmaßen erprobt wurden, generierten zugleich Szenenarien der Zerstörung. Bauen und zerstören: bauen, um zu zerstören. Cécile Wajsbrot spitzt die Ambiguität der Größe und ihres Schreckens in ihrem Text auf kaum auszuhaltende Weise zu.
„Zerstören, aufbauen. Nach Babi Yar, zum riesigen Massengrab in einer Schlucht am Rand von Kiew, die in Sergei Lozenitsas Film »Babi Yar. Context« auf den darin gezeigten Archivbildern weitab von jeder menschlichen Gegenwart zu liegen scheint, gelangt man heute mit der U-Bahn. Man muß ein Stück laufen, aber das ist nichts im Vergleich zu jener Wüste damals, die Zeugin von hunderttausend Toten wurde, jeder davon ein einzelner. Die Städte überdecken die Spuren, werden zum schwer entzifferbaren Palimpsest. Das etwas höher gelegene Viertel von Warschau, das die Ruinen des Ghettos überdeckt. Der Berliner Teufelsberg, unter dem Rester einer technischen Fakultät liegen, die ebenfalls zum Projekt Germania gehörte.“[8]

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In Yoko Tawadas Titel Der Zylinderpilz schwingt, wenn ich ihn lese, der Atombombenpilz über Hiroshima mit, der unter seinem Ausmaß der Zerstörung den II. Weltkrieg in Japan beendete. Umrundet man den Schwerbelastungskörper am Boden zeigt sich, dass der Versuchskörper fast freischwebend auf einer Betonsäule, die sich tief in den Boden hineinsenkt, steht. Für Tawada „verwandelte (die Zeit) ein Gebäude in ein organisches Wesen“[9], einen gewissermaßen unförmigen und atypischen Pilz. Pilze sprießen aus Rhizomen unter der Erde an die Oberfläche. Sie brechen hervor. Doch als Schriftstellerin bezweifelt sie, dass diesem Bauwerk, das den Rechenoperationen der „Vernunft“ entsprungen ist, wirklich mit der „Vernunft“ beizukommen ist. Vielmehr kommen in Tawadas Texten immer wieder plötzlich Wendungen aus einer Art Rhizom in den Text, die unter mehrfachen Drehungen des Sinns ganz anders Sinn machen.
„Er hat im weitesten Sinne die Form eines Pilzes. Um die Bezeichnung »Schwerbelastungskörper« zu vermeiden, nenne ich ihn zuerst Pilz. Wie jene Atompilze, die nach den Bombenexplosionen in den Himmel wuchsen. Vor einigen Jahren kurz vor Mitternacht hat ein Berliner Taxifahrer mich mit einer Frage überrascht: »Wußten Sie, daß es keine Atombomben gibt?« – »Wie meinen Sie das?« – »Ich meine es genauso, wie ich es Ihnen sage. Die Atombomben existieren nicht. Niemand hat es bis jetzt geschafft, solche Waffen zu bauen.« – »Wie kommen Sie darauf?« – »Wundern Sie sich nicht, daß die sogenannte Explosionswolke in Hiroshima auf jedem Foto anders aussieht? …«“[10]  

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Tawadas Berliner Taxifahrer speist seine Argumentation gegen die Atombombe aus dem Internet, das sich mit seinem frei flottierenden Wissen nach einer Recherche ebenso als kurzlebig erweist, weil die „Beiträge“ gelöscht werden. Yoko Tawada formuliert ihre „Fragmente zu einem Spaziergang“ von der Sprache her und fragt nach der Sprache, wie sie mit dem Schwerbelastungskörper Wissen generiert. Der Begriff Beton wird von ihr gewendet und befragt.
„Das Wort Beton kam aus dem Französischen, in seiner Wurzel entdeckte ich zwei weitere Wörter: Erdharz und Bergteer. Was in einem Text dicht zusammenwächst, ist konkret. So wie das Bauwerk vor meinen Augen steht, ist es zuerst nicht konkret genug. Erst muß durchs Schreiben ein Prozeß der Verdichtung stattfinden.“[11]

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Die höchst unterschiedlichen Texte zum verstörenden Spaziergang von Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze sind gerade im Junihelft von Sinn und Form – Beiträge zur Literatur erschienen. Wie lässt sich der Architektur in ihrer Mehrdeutigkeit von Baukunst, Baustil und Bauwerk sprachlich beikommen? Die Architektur kommt im 17. Jahrhundert im Deutschen in Gebrauch.[12] Sie wird insofern ein Projekt der Moderne, indem sich eine Matrix der Berechnungen und Vermessungen und Formen über Bauwerke, Städte, ganze Landschaften, legt. Im Schwerbelastungskörper findet die moderne Architektur zumindest der Größe nach einen End- und Schreckenspunkt. Nicht zuletzt werden Bauwerke von den Pyramiden bis zum Eiffelturm von den nationalsozialistischen Architekten bemüht, um die Größe ihrer Germania-Bauten als Höhe- und Endpunkt der Architekturgeschichte zu avisieren. Womöglich wäre der übergroße Beton-Triumphbogen im Berliner Urstromtal einfach umgekippt oder im Boden versunken, hätte man den Beton-Testkörper nicht gebaut. – Immerhin sind bereits Milliarden Euro in der Museumsinsel zur Stabilisierung des Baugrundes versenkt worden. Ganz zu schweigen von den Berechnungsproblemen beim Bau des BER, der einst einen Skywalk erhalten sollte.

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Das Problem der Architektur und die Probleme, die sie generiert, liegen zutiefst im Projekt der Erfassung der Welt in der Moderne. Die vermeintliche Berechenbarkeit folgt sehr oft, wenn nicht meistens einer Problemlösungspraxis, die sich nicht voraussehen lässt. Albert Speers Germania-Bauten waren keine Luftschlösser, sondern staatliche Kontrollregime und Rechenexempel der Moderne, die sich als Kunst und Geschichte maskierten. Im fünfzehnten und letzten Fragment ihres – literarischen – Spaziergangs kommt Yoko Tawada mit einer Ich-Formulierung an einen paradoxen Schluss.
„Ich werde versuchen, den Schwerbelastungskörper nicht umzubenennen. Ich werde seinen Namen beibehalten. Er klingt weiter unsinnig, lächerlich, furchterregend, belastend und schwer. Das war nicht die Absicht der Nationalsozialisten. Der Name enthält wie sein Bau eine Materialität, die nicht schnell veränderbar ist. Er wird uns die düstere Melodie des Namensgebers, die er unfreiwillig verraten hat, noch lange vorspielen.“[13]   

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Ingo Schulze wich in seiner Lesung mit einem neuen Manuskript am stärksten von seinem bereits zur Veröffentlichung freigegeben Text Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße ab.[14] Er schränkte die Gültigkeit seines Textes mit einem Kommentar ein und widmete sich verstärkt dem Konzept der englischsprachigen Mall als Vorbild für die brutale Nord-Süd-Achse. Weder dem Ausmaß des benannten Körpers noch dem SA-Gefängnis lassen sich erzählerisch leicht beikommen. Die Verschiebung des massig benannten Körpers, der kein menschlicher, vielmehr ein geradewegs entmenschlichender Körper sein sollte, zu Reflektionen über die National Mall in Washington, D.C., verfehlte den Spaziergang möglicherweise zurecht. National Mall wird meistens mit „Nationalpromenade“ ins Deutsche übersetzt. Im deutschen Wortschatz ist gar das Verb promenieren für spazieren gehen gebräuchlich.[15]

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Die National Mall in Washington ist 4,8 Kilometer lang und 500 Meter breit. Die Nord-Süd-Achse Germanias hätte vom Schwerbelastungskörper bzw. Triumphbogen bis ungefähr zum Europaplatz des Berliner Hauptbahnhofs schnurgerade durch die Stadt gefräst ungefähr die gleiche Strecke einnehmen sollen. Ungefähr 5 Kilometer sind indessen keine Distanz zum Spazierengehen. The Mall in London als Vorbild der historischen oder imperialen Malls ist gar nur 930 Meter lang. Da lässt sich dann promenieren oder spazieren. Nichts dergleichen lässt sich auf den Modellen für Germania erblicken. Ingo Schulze kontrastiert die Speer-Achse zur Mall wie folgt:
„Da die National Mall das Aufmarschgelände durch Rasenflächen und Wasserbassins ersetzt, wird der entscheidende Platz dem einzelnen eingeräumt, sei es bei der Teilnahme an der zeremoniellen Vereidigung eines neuen Präsidenten, beim Sonnenbad oder Spaziergang, sei es bei einer Demonstration oder dem Besuch der Museen oder Denkmäler.“[16]     

 

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Der Gestus der Erzählung, wie Ingo Schulze ihn vorführt, scheitert an der gespenstischen Einzigartigkeit des Bauwerks, für das ein eigener Name gefunden werden musste. Wie weit gehört das SA-Gefängnis in der gleichen Straße dazu? Welch monströse Schrecken mögen die Parzellen der Schrebergärten „Kolonie: General-Pape-Straße“ bergen? Lenken Sie nicht eher ab vom Beton und Schrecken? Auf dem Gelände des Informationsortes stehen im Sommer 2023 Bienenstöcke mit fleißig arbeitenden Fluginsekten. In den Hohlräumen des Bauwerks sind alte Messgeräte gleich einer Installation aufgestellt. Auf Fotografien von einstigen Synagogen-Standorten – Missing Synagogues – in Berlin kontrastieren Spielplätze, Kohlendepots etc. das Verschwinden der Synagogen mit der monströsen Präsenz des Betonzylinders. Melissa Gould schreibt 1991 dazu:
„(…) als ich die einzelnen Standorte auf meinem klapprigen Fahrrad abfuhr, wurde ich sehr bald von den Eindrücken der Erinnerung und den Fakten der Vergangenheit, kombiniert mit der leeren Trostlosigkeit der modernen Hässlichkeit, überwältigt. Da und dort waren einige Gedenktafeln angebracht, aber ein allgemeines Gefühl von Unwirklichkeit durchdrang die Präsenz des gegenwärtigen Alltagslebens (manchmal in Form eines Spielplatzes oder eines Kohlendepots), das sich so gelassen auf den früheren heiligen Stätten installiert hatte.“[17]  

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Das Bauen im Nationalsozialismus in einer Kombination aus Macht Raum Gewalt lässt sich schwerlich von der Architektur der Moderne abkoppeln. Der Berichterstatter hat mehr als 20 Jahre gebraucht, um den Informationsort Schwerbelastungskörper aufzusuchen. Freunde hatten teilweise mit einer gewissen Faszination von dem Bauwerk gesprochen. Diese Faszination war ihm unheimlich oder besser: fühlte sich unpassend an. In unzähligen Kontexten tauchten, die Fotos von Albert Speer mit Germania-Modellen wenigstens mit einer Größenfaszination auf. Mit der Weltpremiere von Speer Goes to Hollywood auf der Berlinale 2020(!)[18], einem Film, der dann bald wieder in den Archiven verschwand, rückte die Perfidität seines Protagonisten unangenehm näher. Doch warum der Architekt mit seinen Versprechen auf Größe keinesfalls Hitlers guter „Nazi“, sondern ein autoritärer, machtversessener und brutaler Haupttäter des Regimes war, wird erst und exemplarisch am Schwerbelastungskörper deutlich. Die Maske der Kunst und der Geschichte verbarg, das Projekt der Herrschaft durch Angst und Schrecken.

Torsten Flüh

PS: Eine Verlängerung der Ausstellung über den 16. Juli 2023 hinaus wäre wünschenswert.

Sinn und Form
Beiträge zur Literatur
Akademie der Künste (Hg.)
Heft 3/2023
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Akademie der Künste
Macht Raum Gewalt
Planen und Bauen im Nationalsozialismus
Pariser Platz 4
U/S-Brandenburger Tor
bis 16. Juli 2023    


[1] Zur Hangar-Architektur des Flughafens Tempelhof siehe: Torsten Flüh: Faszination und Versäumnis der künstlerischen Vielfalt Europas. Zur Großausstellung Diversity United in Hangar 2 und 3 des Tempelhofer Flughafens. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juni 2021.

[2] Ebenda.

[3] Siehe: Macht Raum Gewalt: Kernbotschaften und Themenfelder.

[4] Friedrich Dieckmann: Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? AdK: News 5.7.2023.

[5] Macht Raum Gewalt: … [wie Anm. 3].

[6] Cécile Wajsbrot: Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen. Aus dem Französischen von Esther von der Osten. In: Sinn und Form fünfundsiebzigstes Jahr, 2023, Drittes Heft, Juni 2023, S. 330.

[7] Ebenda S. 333.

[8] Ebenda S. 334-335.

[9] Yoko Tawada: Der Zylinderpilz – Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang. In: Sinn und Form. Ebenda S. 339.

[10] Ebenda S. 340.

[11] Ebenda.

[12] Siehe DWDS: Architektur.

[13] Yoko Tawada: Der … [wie Anm. 9] S. 347.

[14] Ingo Schulze: Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen ab. Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße. In: Sinn … [wie Anm. 6] S. 351.

[15] DWDS: promenieren.

[16] Ingo Schulze: Weisse … [wie Anm. 14] S. 361.

[17] Melissa Gould: Rooms of Memory: The Evolution Of An Idea. A biographical note on Floor Plan. 1991. Siehe: Melissa Gould A.K.A. MeGo. January 2012.

[18] Torsten Flüh: Bildgewaltige Faszination und Verstörung. Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2020.

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Juden – Antisemitismus – Reich

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag

Der Ort der Vorstellung der neuen, überarbeiteten und erweiterten Auflage des Berliner Antisemitismusstreits hatte es in sich: der Berliner Dom. Kaiser-Nostalgie und internationales Tourismus-Highlight. Im Berliner Dom predigte 1879/80 der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker. Nur wenige hundert Meter den Boulevard Unter den Linden hinauf geschlendert in der Berliner Universität hielt der Historiker Heinrich von Treitschke seine Vorlesungen über die Geschichte der Deutschen. Die räumliche Nähe in der noch jungen Hauptstadt des Kaiserreichs wurde zum Schnittpunkt eines qualitativ neuen Redens und Wissens über die jüdischen Bürger im Reich. Wilhelm von Treitschke dockte an den Begriff der „Antisemiten“ des Journalisten, Publizisten und Vereinsgründers Wilhelm Marr an, um ihn als einen akademisch-wissenschaftlichen Diskurs des „Antisemitismus“ auszuformulieren.

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Der Berliner Dom in seiner prunkvollen Architektur, wie sie durch die DDR in den 1980er Jahren restauriert worden ist, wurde 1905 geweiht. Stoecker predigte in seinem weniger ausladenden klassizistischen Vorgängerbau von Friedrich Schinkel. Nach der Reichsgründung 1871 war dieser Raum nicht mehr repräsentativ. Das Unbehagen des deutschen Kaisers aus dem Haus der Hohenzollern mit dem Dom korrelierte mit der Suche des dynastisch und nicht – wie 1848 versucht – demokratisch gebildeten deutschen Reiches nach sich selbst. Hof ebenso wie Kirche und Universität als Institutionen der Macht mussten, wie man heute sagen würde, ihre Meinungsführerschaft darüber, was das Deutsche am Reich sein sollte, beweisen. In dieses diskursive Vakuum hinein, begleitet vom sogenannten Gründerkrach 1873 in New York, Österreich-Ungarn, Deutschland, bricht der Berliner Antisemitismusstreit als ein neuartiges Wissen über die jüdischen Mitbürger.

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Der Altarraum des Berliner Doms war mit 4 Clubsesseln und einem Rednerpult zu einem Debattenraum für die Buchvorstellung umgewandelt worden. Thomas Sparr vom Suhrkamp Verlag, dem der Jüdische Verlag angehört, moderierte den Abend mit Nicolas Berg, Superintendentin Silke Radosh-Hinder und dem Schauspieler Garry Fischmann. Zuvor hatte Jonathan Landgrebe als Vorstandsvorsitzender der Suhrkamp AG einen historischen Überblick zur Situation um 1879/80 gegeben. Er verwies auf unterschiedliche Krisen in jener Zeit. Gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt der Begriff der Krise in entstehenden Zeitungen und Zeitschriften steil ansteigend in Gebrauch.[1] Die Wortverlaufskurve für Antisemitismus[2] zeigt deutlich eine Korrelation zwischen einem Beginn der Rede von Krisen noch im 18. Jahrhundert und dem Aufkommen wie Gebrauch des Antisemitismus‘ als Reaktion auf Krisendebatten.

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Welche Rolle spielte Adolf Stoecker als evangelischer Prediger der Hof- und Oberpfarrkirche, genannt Berliner Dom, für die Ausformulierung des Antisemitismus? Stoecker wollte sich ab dem 19. September 1879 vor allem parteipolitisch in der Debatte um Bismarcks Sozialistengesetz vom 19. Oktober 1878 positionieren. Mit dem Sozialistengesetz sollten im jungen 2. Reich vor allem die sozialen Konflikte der Industrialisierung neutralisiert werden, die Friedrich Wilhelm IV. schon 1848 durch Schüsse vor dem Berliner Schloss hatte bekämpfen lassen. Der Hofprediger Stoecker suchte sozusagen ein Ventil, um Dampf aus dem Kessel der Industrialisierung abzulassen. Bereits 1965 und 1988 hatte Walter Boehlich in seinem Nachwort zur Herausgabe der wichtigsten Dokumente wie Zeitschriftenartikel, Reden und Briefe zum Berliner Antisemitismusstreit die initiale Funktion des „Hofprediger(s) Adolf Stoecker“ für Heinrich von Treitschke – mit einem heute ganz anders klingenden Begriff – beschrieben: „Stoeckers öffentliches Auftreten zeigt einen Klimawandel an.“[3]  

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Die Verschiebung des Begriffes Klimawandel nach Walter Boehlich gibt einen Wink auf die sprachlich-rhetorischen Prozesse, mit denen Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke ein neuartiges Wissen von Nation und Reich, Juden und Deutschen sowie Parteipolitik und Antisemitismus erzeugten, in die Welt setzten und es bis auf den heutigen Tag beispielsweise durch den AfD-Politiker Alexander Gauland wiederholbar machten.[4] Sie schafften eine Redeweise für den Antisemitismus, die sich in ihrer elastischen, keinesfalls theologisch begründenden Art als hoch anschlussfähig für die unterschiedlichen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Biologie etc. erwies. Boehlichs „Klimawandel“ benennt einen Diskurswechsel, den Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke erzähl- und sagbar machten. Heute kursiert ein generationelles Wissen über den Klimawandel, der politische Debatten zutiefst strukturiert und mit der Generation Z bzw. Letzten Generation vermeintlich grenzenlos legitimiert.[5]

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Der Hofprediger und damit per Amt zugleich Seelsorger des Kaisers und seiner Familie Adolf Stoecker wird über die „Judenfrage“, wie er es nennt, zum theologischen Politiker. Den Begriff Antisemitismus verwendet er in seiner 1880 veröffentlichten Rede Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin nicht.[6] Gleichwohl führt Adolf Stoecker den Titel „Hof- und Domprediger zu Berlin“ auf der Titelseite. Im Untertitel wird sie als eine von „Zwei Reden in der christlich-sozialen Arbeiterpartei“ angekündigt. Die Grauzone von Prediger und Politiker bespielt Adolf Stoecker bewusst als theologisch legitimierender Parteipolitiker. Sie verschafft ihm allererst den Raum für seine Rede im Umfeld der kaiserlichen Macht in der Reichshauptstadt. Walter Boehlich hat das Zusammenspiel von Stoecker und Treitschke deutlich formuliert.
„Stoecker … schaffte (dem Antisemitismus) Einlaß in die Wahlversammlungen, er deckte ihn mit der Achtung, die einem Hofprediger durchaus entgegengebracht wurde, er machte ihn hoffähig. Aber hoffähig, das war nicht auch 1879 nicht genug. Sollte das Bildungsbürgertum für ihn gewonnen werden, dann konnte das nicht im Namen der Religion oder eines auch noch so verwaschenen Pseudo-Sozialismus geschehen; dann mußte der Antisemitismus nicht nur von der Kanzel, sondern vom Katheder verkündet werden. Diesen historischen Part hat Heinrich von Treitschke übernommen.“[7]

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Die „Judenfrage“ wird von Stoecker in der „christlich-sozialen Arbeiterpartei“ nicht zuletzt in einem marxistischen Diskurs von Kapital und Arbeit verhandelt[8], um den Sozialismus in einem anachronistischen, hierarchisch-monarchistischen Ständestaat zu neutralisieren. Insofern füllt die Beantwortung der „Judenfrage“ unter dem Namen „Antisemitismus“ eine Leerstelle in der Debatte um die sich mit der Industrialisierung zuspitzenden kapitalistischen Produktionsweisen, die sich im „Börsenkrach“ als reine Spekulation erwiesen hatten.[9] Die evangelische Kirche am Berliner Hof hatte mit Adolf Stoecker die Verpflichtung im mit den Hohenzollern evangelisch dominierten Deutschen Reich die Leerstelle der sozialen Frage im industriellen Kapitalismus zu besetzen. Nochmals mit einer Formulierung Walter Boehlichs:
„»Die Judenfrage, sagte Stoecker, ist schon lange eine brennende Frage; seit einigen Monaten steht sie bei uns in hellen Flammen.« »Unterdessen, schrieb wenig später Treitschke, arbeitet in den Tiefen unseres Volkslebens eine wunderbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selbst besänne …«“[10]    

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Die Evangelische Kirche in Deutschland formulierte am 19. Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, das hoch umstritten war. Damit bekannte sich die EKD halbherzig zur Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Erst „mit dem „Wort zur Schuld an Israel“, das im April 1950 auf der Synode in Berlin-Weißensee(!) beschlossen wurde, bekannte sich die EKD erstmals zur Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber Jüdinnen und Juden.“[11] Die initiale Rolle für den modernen Antisemitismus durch Adolf Stöcker hatte sie gar nicht im Blick, weil er durch den Diskurs nachgerade naturalisiert worden war. Nicht zuletzt deshalb kam der Buchvorstellung im Berliner Dom mit Superintendentin Silke Radosh-Hinder eine besondere Aufgabe zu. Am Schnitt- wie Brennpunkt des modernen Antisemitismus erklärte sie, dass Stoeckers Reden aus der Perspektive der EKBO und des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte eine „Sünde“ seien. Das Eingeständnis der Schuld als Sünde an diesem Ort hat für die Jüd*innen in Deutschland keine geringe Bedeutung. Sie ist allein dem persönlichen Engagement von Thomas Sparr und dem scheidenden Superintendenten Dr. Bertold Höcker zu verdanken.[12]

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Das Auf-sich-selbst-besinnen der Nation durch den Antisemitismus benennt zugleich dessen Leerstelle, die durch Treitschke formuliert und machtvoll benannt wird. Die Ursprungsfrage der deutschen Nation wird von Treitschke durch das Als-ob „sich auf sich selbst besänne“ mit dem Antisemitismus beantwortet. Boehlich trieb bei der Erstveröffentlichung 1965, wie Nicolas Berg schreibt, „die Sprachkritik“ an. Nach 1945 war die Sprache des Antisemitismus, die Treitschke entworfen hatte, nicht aus den Köpfen der Deutschen verschwunden. Vielmehr stieg der Gebrauch des Begriffs nach 1953 in den Zeitungen wieder an, um 1962 einen erneuten Höhepunkt zu erreichen. Ab 1963 bis 1974 fiel die Rede vom Antisemitismus wieder ab.[13] Nicolas Berg verweist darauf, wie sich nicht nur Worte und Formulierungen festsetzten:
„Viele der antisemitisch geprägten Formulierungen und Codewörter des 20. Jahrhunderts waren von Treitschke geprägt worden und hatten »im Kanon der Antisemiten geradezu sprichwörtliche Berühmtheit« erhalten, und Boehlich wollte mit diesen Denkfiguren brechen; zudem litt er auch an der fehlenden klaren Sprache über ihre Wirkung, die nach 1945 aber nötig geworden war, um die antisemitischen Formeln und Phrasen wieder aus der Sprache herauszubekommen.“[14]

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Die Sprachkritik Boehlichs betraf nicht zuletzt die Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland und damit die akademische Rede. Gleich einer pathologischen Amnesie war die Verschränkung von Ursprungsfrage der Deutschen mit dem Antisemitismus durch den Historiker Treitschke vergessen. Auf der Suche der Bundesrepublik nach sich selbst wurde der Antisemitismus entweder beschwiegen oder gar geleugnet wie bei dem befürchteten Büchner-Preis-Laudator Fritz Martini, der als ein „gerichtsnotorischer Nazi“ galt. Martini war seit 1954 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Als Beirat der Jury wirkte er 1957 an der Verleihung des Büchner-Preises an Erich Kästner mit.[15] Doch Boehlichs Befürchtung einer Laudatio von Fritz Martini wurde erst 1979 für den Friedrich-Gundolf-Preis an Zdenko Škreb wahr.[16] Zu einer Laudatio auf Wolfgang Hildesheimer kam es 1966 nicht, doch Fritz Martini war zum vollwertigen Jurymitglied aufgestiegen.[17]
„Bei Boehlich gehörte beides zusammen, und so schärfte er den Blick beim einen für das andere: Seine Kritik an Treitschke machte ihn hellsichtig und auch hellhörig für den Unwillen der bundesrepublikanischen Universitäten und des ganzen Politik- und Kulturbetriebs, eine angemessene Sprache für die eigenen Verfehlungen zu finden; der Ärger über die Martinis lenkte seinen historisch-editorischen Blick wieder zurück auf die Sprache der Quellen, sozusagen auf die sprachliche Verfasstheit des modernen Antisemitismus selbst, den er in der Nachfolge von Karl Kraus als Korrumpierung von Sprache und Denken, also als ein politisches Sprachereignis betrachtete.“[18]

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Die Veröffentlichung der Quellen des Berliner Antisemitismusstreits umfasste für Boehlich nicht nur Treitschkes folgenreichen Antisemitismus-Aufsatz, vielmehr ebenso „die Verteidigung der je eigenen Sprachidentität“ durch Joël, Bresslau, Lazarus, Cohen, Bamberger und Auerbach.[19] Nicolas Berg bringt Boehlichs Sprachkritik an Treitschke nun auf den Punkt:
„Generell gehörte das sprachlich-ideologische Hantieren mit absoluten Gegensätzen, Boehlich zufolge, zu Treitschkes Weltanschauungsstil; der hohe Aufwand Treitschkes, einander völlig ausschließende Wertewelten sprachlich zu konstruieren, die in religiösen oder nationalen Kollektiven verkörpert seien und sich unvereinbar gegenüber stünden – das eben war der Antisemitismus, darin bestand er, das war seine Intention, sein Ziel, seine Methode und seine sprachliche Form: Er produziert, verbreitet, legitimiert und politisiert Antinomien, Gegensätze und Ausschließlichkeit, Antisemitismus – das ist die Grenzziehung in und durch Sprache mit der Absicht, sie möge eine zweigeteilte Wirklichkeit in Wahrnehmung und Wissen, in Recht und Politik herstellen.“[20]

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Berg beschreibt Treitschkes Rhetorik des Antisemitismus nicht zuletzt deshalb genau, weil sie weiterhin kopiert wird und lebhaft kursiert. Treitschkes Sprache des Antisemitismus war in der Lesung durch Garry Fischmann kaum auszuhalten. Die Elastizität des „Sprachantisemitismus“ führt zur Sagbarkeit und zwingt „faschistisch“ zum Sagen und Aussagen, wie es Roland Barthes einmal in seiner Antrittsvorlesung am College de France formuliert hat. Mit der Geste des Wissens werden unablässig neue Antisemitismen formuliert, die nach Bejahung und Gebrauch lungern. Einmal gesagt, gehört oder gelesen zwingen sie zu Anschluss oder Widerspruch, der dem Wissen dennoch nicht entkommen kann.    
„Und es gehörten, drittens, auch schlicht rhetorische Tricks zu diesem Sprachantisemitismus, die Treitschke auch dort verrieten, wo er in »Unsere Aussichten« Beschwichtigungen vortrug, Distanzierungen vom Radauantisemitismus der Straße zum Beispiel. Antisemitismus, das machte bereits Boehlich deutlich, konnte somit zum bösen Sprachspiel werden, mit der »Behauptungen« aufstellen konnte, »für die er keinen einzigen Beweis« erbringen musste.“[21]

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Besonders eindrücklich war die Lesung der Briefe von Berthold Auerbach durch Garry Fischmann, in denen von „Judenhass“ und „Judenhetze“ nicht aber von „Antisemitismus“ geschrieben wird. Diese Briefe sind von Nicolas Berg in die Quellensammlung neu aufgenommen worden, weil durch das „Briefwerk … seit den 1870er Jahren mit der Aufmerksamkeit der Bruch in der öffentlichen Kommunikation und der Sprache aus der präzisen Sicht eines deutsch-jüdischen Schriftsteller dokumentiert“ werde.[22] Die andere Lexik der Briefe gibt einen Wink auf den Begriff und seine Konstruktion selbst. Dennoch wird der Begriff Antisemitismus heute ebenso für die antijüdischen Schriften Martin Luthers wie für einen ganzen Wissenschaftsbereich als Antisemitismus-Forschung gebraucht. Er hat sich zur Benennung von Schreibweisen und Verhalten festgesetzt, weil er paradoxerweise wissenschaftlich „klingt“. „Judenhass“ und „Judenhetze“ erheben gerade keinen Anspruch einer wissenschaftlichen Begründung.

Die Sprachforschung oder Linguistik gibt einen Wink auf die Wortteile, die ein Wissen ankündigen. Durch das Präfix anti- wird nicht nur eine gegnerische Haltung mit einem polarisierenden Element verkoppelt, vielmehr wird mit dem Suffix -ismus ein abwertendes Ideologem zusätzlich hinterhergeschickt, das den verfehlenden Mittelteil semit einschließt. Als semitische Sprachen wird seit dem 18. Jahrhundert eine Sprachfamilie benannt, die biblischen Ursprungs ist und die eine Genealogie erzeugen. Treitschke dockt allerdings an ein Wissen von den Sem an, das er zu einer rassischen Unterscheidung verwendet. Eingedenk der sprachlichen Fehlkonstruktion insbesondere bezüglich aller deutschsprechenden Jüd*innen, mag es verwundern, dass der Begriff weiterhin politisch als Wissen funktioniert. Umso mehr tritt Treitschkes diskursive Leistung als Verbrechen hervor.

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Das Imaginäre des Antisemitismus wird von dem Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke an der Berliner Universität im Dienste einer Nationenbildung als Reich formuliert. John Conolly hatte er vor kurzem das Imaginäre des Reichs in der American Accademy untersucht.[23] Das Feld des imaginären Reichs überschneidet sich mit dem Antisemitismus, der nicht etwa ein nebensächlicher Aspekt, sondern durch Treitschke ein konstitutiver wird. Durch seine Sprachoperationen gelingt es Treitschke mit dem Antisemitismus, eine Reinheit des Reiches unter rassistischen Vorzeichen zu konstruieren. Die vermeintlich christliche Reinheit „wurzelt“ paradoxerweise in einem heidnischen Germanentum, das an körperlichen Merkmalen sichtbar gemacht wird. Für das Reich spielt im 19. Jahrhundert Martin Luther als Autor, Übersetzer und Sprachentwickler eine entscheidende Rolle. Ab 1821 werden mit der historisierenden Luther-Statue von Schadow nach und nach Lutherdenkmäler im protestantischen Deutschland errichtet.

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Eine judenfeindliche Sprache im Deutschen hatte sich seit Martin Luther im 16. Jahrhundert tief in die deutschen Literaturen eingeschrieben. Luther und seine Sprache werden für das Reich eine einende Funktion einnehmen. Ob 1543 in seiner Schrift Von den Jueden und iren Luegen oder in der Vermahnung wider die Juden 1546, sie erfahren eine besondere Wahrnehmung.[24] Luthers Sprache, sein Deutsch pendelt zwischen Narrativen des Judenhasses und Sprachpoesie[25], wenn sich beispielsweise „Jueden“ und „Luegen“ reimen. Die Narrative bekommen Züge des Aberglaubens, wie Matthias Morgenstern 2017 ausgeführt hat:
„Wie Luther am 1. Februar 1546 seiner Frau Katharina schrieb, verdächtigte er die Juden, für seine gesundheitlichen Probleme, sein „Schwäche“, verantwortlich zu sein. Jedenfalls hatten sie ihn unterwegs „hart angeblasen“:
So sind hier in der Stadt Eisleben jetzt diese Stunde über fünfzig Juden wohnhaft. Und wahr ist’s, als ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen ein auf meinen Kopf, durchs Barett, als wollte er mir das Hirn zu Eis machen. Solcher mag mir zum Schwindel etwas geholfen haben.“[26]

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Luthers Ängste – im Berliner Dom steht er als Autorität hoch über dem Altar mit einer Art Genie-Frisur und der Bibel in der Rechten furchtlos wirkend – kurz vor seinem Tod am 18. Februar 1546 werden in den Juden narrativ verkörpert. Sie vermögen ihm das Denken einzufrieren – „mir das Hirn zu Eis machen“. Das alleinige An-ihnen-vorbeifahren wird als gesundheitliche/intellektuelle Gefahr bzw. als Machtverlust in Form der „Impotenz“, wie Morgenstern schreibt, imaginiert. Juden imaginiert Luther als feindliche Macht, die seiner Kraft zu schaden vermögen. Doch entspricht dieser Aberglaube und wirklich volkstümlicher Gegenglaube zum Christentum bei Luther dem modernen Antisemitismus Treitschkes? Die Redeweisen sind sehr unterschiedlich. Für das Deutsche Kaiserreich des 19. Jahrhunderts übernimmt die Figur Luther eine einigende Funktion, für die Redeweisen transformiert werden, um sie in den Diskurs des Antisemitismus einzuspeisen. Die Wissensformen Luthers wie sein Aberglaube unterscheiden sich signifikant vom elastischen Antisemitismus. – In der Architektur des Berliner Doms wird zumindest mit LUTHER die Lösung der Widersprüche der Industrialisierung behauptet. Finanziert von Industrie und Kirchenbauverein ist er mit dem elektrischen Fahrstuhl für die Mutter des Kaisers eine machtvolle Demonstration des Kapitals.  

Torsten Flüh

Hg.: Walter Boehlich, Nicolas Berg
Der Berliner Antisemitismusstreit
Klappenbroschur, 544 Seiten
978-3-633-54311-3
Jüdischer Verlag, 1. Auflage
28,00 € (D), 28,80 € (A), 38,50 Fr. (CH)
ca. 13,0 × 21,0 × 3,6 cm, 610 g


[1] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1600“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Krise.

[2] Ebenda Antisemitismus.

[3] Walter Boehlich: Der Berliner Antisemitismusstreit. In: Nicolas Berg (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Berlin: Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, 2023, S. 457.

[4] Zur Verkoppelung von Nation als Reich in Alexander Gaulands „Fliegenschiss-Rede“ siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[5] Zu generationellen Klimaprotesten siehe: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[6] Adolf Stöcker: Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin. O.O.: Wiegandt und Grieben, 1880. (Wikisource).

[7] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 457-458.

[8] Vgl. zum Kapitalismus und den Ökonomischen Schriften Karl Marx‘: Torsten Flüh: Der MEGA-Coup. Zum Abschluss der „Kapital-Abteilung“ der Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2013. (PDF unter Publikationen)

[9] Siehe zur Geschichte des Börsenkrachs und des Spekulierens: Torsten Flüh: Das Börsengesumse und das Rauschen des Eichwaldes. Ulrike Vedders Vortrag „Spekulieren und ruinieren.“ In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Januar 2010. (PDF unter Publikationen)

[10] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 458.

[11] Siehe: bpb: Kurz und knapp: Vor 75 Jahren: „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der Evangelischen Kirche. 16.10.2020.

[12] Zur Funktion der Schuldbekenntnisse in der EKBO siehe: Torsten Flüh: Redet freundlich miteinander. Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021.

[13] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1946“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Antisemitismus.

[14] Nicolas Berg: Einführung. In: ders. (Hg.): Der … [wie Anm. 3] S. 46.

[15] Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Erich Kästner.

[16] Ebenda Fritz Martini: Laudatio. Zdenko Škreb.

[17] Ebenda Walter Jens: Laudatio. Wolfgang Hildesheimer.

[18] Nicolas Berg: Einführung … [wie Anm. 14] S. 46-47.

[19] Ebenda S. 47.

[20] Ebenda S. 48.

[21] Ebenda S. 49.

[22] Ebenda S. 53.

[23] Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[24] Der Judenhass Martin Luthers wurde in der Ausstellung des DHM Der Luthereffekt marginalisiert. Siehe: Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[25] Siehe Torsten Flüh: Performative Sprachpoesie mit Luther. Zu Robert Wilsons faszinierender Luther-Collage mit dem Rundfunkchor Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[26] Matthias Morgenstern: Luther letzte Tage in Eisleben und seine „Vermahnung wider die Juden“ – Judenhass, Teufelsfurcht, Impotenz und Angst vor dem Jüngsten Gericht. In: Judaica : Beiträge zum Judentum. Band 73 (2017), S. 448. (Digital)

Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Quilombismo – Welt – Pluriversum

Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum

Zur Wiedereröffnung des HKW in der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Ausstellung und Freiluftkonzert

Welt macht jetzt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im HKW. Bona, wie ihn viele im Berliner Bezirk Wedding nennen, wo er 2009 SAVVY CONTEMORARY gründete, bald ins aufstrebende Kulturquartier silent green zog und er bis zu seiner Berufung zum Intendanten des HKW in einem Brutalismus-Bau an der Reinickendorfer Straße kuratierte[1], ist jetzt, wie Claudia Roth in ihrer Eröffnungsrede betonte, „aus der Unabhängigkeit von Savvy herausgetreten und in die staatlich geförderte Kultur eingetreten“[2]. Die Welt ist eine andere geworden. Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hatte schon bei seiner Vorstellung des neuen HKW-Teams am 14. März mutig  und lässig dazu aufgerufen, das Substantiv world zum Verb zu machen: „to unworld, to world, to reworld“. Das Universum wurde von ihm zum Pluriversum erklärt.[3]

Fannie Lou Hamer Spiegelteich – Semra Ertan Garten – Pavillon raumlaborberlin

Am 2. Juni nachmittags um 16:30 Uhr hatte sich eine noch eher kleine Schar vor dem Eingang des HKW versammelt, um einer afrikanischen Zeremonie mit Wasser, elektrischen Teelichtern, einem weißen Granulat und geheimnisvollen Ornamenten beizuwohnen. Zugleich begann damit das neue Jahr nach dem nigerianischen Kalender der Yoruba. Fernsehteams und Fotograf*innen waren anwesend. Freund*innen, Künstler-Freund*innen wie Ulrike Ottinger und queere Afrika-Aktivist*innen wie Mahide Lein waren gekommen, bevor die offiziellen Reden der Kulturstaatsministerin, des neuen Intendanten und weiteren Redner*innen gehalten werden sollten. Mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde zugleich die Ausstellung O Quilombismo eröffnet. Auf der Dachterrasse spielte abends der kongolesische, in Frankreich lebende Sänger Awilo Longomba ein umjubeltes Konzert mit einem ironischen Berlin-Josefine-Baker-Zitat. Zwei Tänzer*innen von Longomba tanzten in Bananen-Röcken auf der Bühne.

Itō Noe Eingang

Die Koinzidenz der Bühnenshow mit den mondänen Auftritten von Josefine Baker auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor 1926 und ihrem Burlesque-Auftritt mit Bananen[4] war gewiss kaum jemandem im rhythmisch tanzenden, überwiegend jungen Publikum bewusst. Vielleicht spielte Awilo Longomba auf Baker in seinem Song an, was sich indessen nicht so genau verstehen ließ. Eine „Pluralität der Kulturen“ und die „Zukunft der Wissenschaft“ sollen nach der Eröffnungsrede Setzen wir unsere eigenen Akzente! von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Programm des HKW bestimmen.[5] Ndikung, der in Biotechnik über Leukämie an der Technischen Universität Berlin 2006 promoviert wurde und die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, kennt auch die Wissenschaften und ihre Wissensverfahren in den Naturwissenschaften. Kulturen und Wissenschaften generieren Wechselwirkungen, die politisch gerne noch separiert werden. Eine Kulturstaatsministerin des Bundes gibt es noch nicht lange in Deutschland. Und das Bundeswirtschaftsministerium heißt seit der aktuellen Bundesregierung Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz!

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Gegenüber seinem Vorgänger und einstigem Goethe Institut-Mitarbeiter Bernd Scherer als Intendant des HKW ist der Posten für Ndikung weitaus politischer geworden. Die Debatten um Kulturen und Wissenschaften, Geschichten und Künste, Politiken und Erbe haben sich zugespitzt. Wie Claudia Roth in ihrer sehr persönlich gehaltenen Rede mitteilte, schrieb Ndikung vor knapp zehn Jahren seiner Mutter, dass er die Wissenschaften („sciences“) aufgegeben habe. Doch als Intendant befindet er sich nun mitten in den Debatten um Wissenschaften und Kulturen:
„Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie und zahlreiche Umweltkatastrophen haben gezeigt, wie begrenzt die uns bekannten Wissenschaften sind. Die Zukunft der Wissenschaft lässt sich daher nur aus ihrer Geschichte heraus verstehen, und diese Geschichte ist eng mit der Erfindung der Moderne und ihrem nahen Verwandten, dem Kapitalismus, verbunden. Sie ging auch einher mit dem Kolonialismus, einem wissenschaftlich verbrämten Rassismus und der Diskriminierung von Frauen. Welche alternativen – für den Menschen wie die Natur gerechteren – Wissenschaften gibt es und wie kann man ihren Erkenntnissen Raum verschaffen?“[6]    

Miriam Makeba Auditorium, 14. März 2023

Bernd Scherer versuchte, die Debatten um die Welt und die Kulturen im Anthropozän-Projekt zu bündeln.[7] Das Zeitalter des Menschen und seine Industrialisierung hatte alarmierende Klimaspuren hinterlassen, was um 2014 keinesfalls dazu führte, Wirtschaft und Klimaschutz in einem Bundesministerium zu bearbeiten. Lexikalisch erwies sich das Anthropozän als ein neuer Begriff, der kaum verbreitet war. Der unablässige Verbrauch der Ressourcen der Erde kündigte das Ende der Welt, wie wir sie kannten, an. Die Fakten über den Verbrauch der Ressourcen änderten wenig. Kaum zehn Jahre später spricht Ndikung von der Welt im Plural – „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ –, womit ein entschiedener Perspektivwechsel vollzogen wird:
„Wir brauchen Kraft und Inspiration für die Suche nach Antworten auf die virulente Fragen, was mir der Welt zu tun ist, und wissen: Wir dürfen nicht müde werden, sie zu stellen. Sie laut zu stellen.
Denn diese Welten sind unsere, for better or worse.“[8]   

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Gegenüber dem Philosophen und Kulturmanager Scherer knüpft Ndikung an einen Diskurs der Praxeologie an, wenn er formuliert: „Was tun mit der Welt – oder den Welten –, die wir geerbt haben?“ Das kulturelle und historische Erbe der Deutschen wurde denn auch wie Skylla und Charypdis von der Kulturstaatsministerin rhetorisch aufgebaut. Was sich leicht und flockig als Welten und Kulturen formulieren lässt, wird zu einer Gefahr, wenn gleichwertige Welten aufeinanderprallen. Roth wünschte sich ein „modernes Deutschland“ als „Einwanderungs- und Erinnerungsland()“. „Kurz: … eine() Kulturnation, die diesen Namen verdient.“[9] Als Intendant des Hauses der Kulturen der Welt muss Ndikung nun zwischen der Einwanderung aus vielen, heute islamisch geprägten Ländern Afrikas und der Erinnerung an die Shoa geradezu bundespolitisch navigieren. Ndikungs in häufigen Anzugswechseln zwischen Rosa, Blau und Schwarz performte, anerkennenswerte Lässigkeit im Unterschied zum Understatement eines Yamamoto-Schwarz ist erfrischend und gefahrvoll.

Prof Dr Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Staatsministerin Claudia Roth, Acts of Opening Again: Eine Choreografie der Konvivialität, Haus der Kulturen der Welt (HKW), Les Nana benz Terasse, © Marvin Systermans/HKW (Ausschnitt)

Das HKW wurde unter dem Namen „Kongresshalle“ als Geschenk der amerikanischen Regierung zur Interbau im Hansaviertel 1957 den Ideen und der Lebenspraxis Benjamin Franklins gewidmet. Die erst kürzlich restaurierten Widmungsinschriften auf Englisch und Deutsch werden nun durch Texte von Erna Brodber, Saša Stanišič, Ken Bugul, Hinemoana Baker und anderen auf farbigen Plexiglasplatten kontrastiert. Das Geschenk, englisch gift, war immer ambig. Die US-Regierung mit John Foster Dulles als Außenminister in der Regierung von Dwight D. Eisenhower und Richard Nixon als Vizepräsident war in eine ganze Reihe von Konflikten verstrickt. Allerdings stand für John Foster Dulles vor allem die Gefahr kommunistischer Regierungen in Nordafrika im Blickfeld. Die Institutionen der Moderne wie dem Museum gilt Hinemoana Bakers Kritik, die seit 2015 in Berlin lebt und väterlicherseits Maori-Angehörige ist.
„We’re carved into sky, born into museums. Marched into land, old money. We are layers and slayers and everywhere, all. Don’t ask me to speak for the nations, we shift the hate with the light from our fascinators.”
(Wir sind in den Himmel gemeißelt, in Museen hineingeboren. Ins Land marschiert, altes Geld. Wir sind Schichten und Jäger und überall, alle. Bitten Sie mich nicht, für die Nationen zu sprechen, wir vertreiben den Hass mit dem Licht unserer Faszinatoren.)

Alberto Pitta

Eine Reihe von Umbenennungen zur Wiedereröffnung des Hauses lässt einen Bruch mit seiner Geschichte erkennen: Itō Noe Eingang, Sylvia Wynter Foyer, Mrinalini Mukerjee Halle, Hedwig Dohm Eingang, Paulette Nardal Terrasse, Angie Stardust Foyer, Lili Elbe Garten, Anna Seghers Garten etc. und nicht zuletzt das Miriam Makeba Auditorium. Wohl allein die Magnus Hirschfeld Bar hieß schon vor dem Wechsel so. Das ist eine ziemlich plurale, feministische Raumverteilung zwischen der Frauenaktivistin Hedwig Dohm, der dänischen Transfrau Lili Elbe, der japanischen Feministin und Anarchistin Itō Noe, der jamaikanischen Schriftstellerin und Philosophin Sylvia Wynter, der indischen Bildhauerin Mrinalini Mukerjee, der südafrikanischen Sängerin, Komponistin, Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Miriam Makeba u.a.m. Die durch (weiße) Männer konstruierte Kongresshalle mit ihrer Benjamin Franklin-Widmung erhält mit den Namen ihrer Räume eine feministisch-diverse Widmung und Geschichte. Allein Magnus Hirschfeld als weißer, schwuler Mann, „jüdisch-deutscher Arzt, Sexualwissenschaftler, Empiriker und Sozialist“ bleibt in das Haus eingeschrieben:
„2015 nach Magnus Hirschfeld benannt, bewahrt die Magnus Hirschfeld Bar dessen zukunftsweisendes Erbe und wird künftig vom angrenzenden Lilie Elbe Garten ergänzt.“[10]      

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Die Ausstellung O Quilombismo führt wiederum einen nicht ganz neuen, aber in Deutschland zuvor kaum verwendeten Begriff von gesellschaftlichem Handeln ein, den Abdias do Nascimento 1980 als eine „Afro-Brazilian Political Alternative“ beschrieben hat. 2019 wurde in Sao Paulo postum eine größere Dokumentensammlung zum Quilombismo aufgelegt.[11] Ndikung hat seinem Vorwort eine längere Passage aus diesem Text vorausgeschickt. Das ist nicht ganz einfach zu lesen, weil die Leser*innen auf diese Weise direkt in die Begriffsbildung aus der Brasilianischen Sklaverei-Geschichte hineingestoßen werden. Nascimento formuliert den Begriff neu, um ein Gesellschaftsmodell zu konstruieren. „Quilombo“ bedeute keinesfalls „nicht entflohener Sklave“, vielmehr bedeute es „brüderliche und freie Wiedervereinigung oder Begegnung“.[12]
„Die quilombistische Gesellschaft verkörpert ein hochentwickeltes Stadium des soziopolitischen und menschlichen Fortschreitens im Sinne eines wirtschaftlichen Egalitarismus.“[13]

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Mit O Quilombismo vollzieht das HKW unter seinem neuen Intendanten eine Geste der Revolution. So zitiert Ndikung aus dem Manuskript Black Metamorphosis: New Natives in a New World von Sylvia Wynter als eine „Spirale … der Geschichte des Quilombismo“. Geschichte wird von ihm als Prozess von Häutungen formuliert. „Durch ihre Häutungen wird die Geschichte aufgefrischt, neu justiert, regeneriert und verjüngt, und gewinnt so stets einen weiteren Anfang, ein weiteres Ende hinzu.“[14] Das Häutungsparadigma steht jenem einer Erinnerungskultur an die Shoa vielleicht nicht entgegen, denn auch diese hat sich in Deutschland über einen längeren Zeitraum entwickeln müssen, aber es greift eine hegemoniale Geschichtsschreibung herrschender Klassen und Staaten an. Die 1928 in Holguin, Kuba, geborene jamaikanische Schriftstellerin Sylvia Wynter lebt als Professor Emerita an der Stanford University in Kalifornien. Sie war Vorsitzende für Afro-American Studies und kritisiert die „kulturelle Kolonisierung“.
„Jede Rückführung, ob symbolisch oder tatsächlich, war ein schwerer Schlag für die große kulturelle Mission der Revolution. […] Jedes Entkommen, jede Flucht war eine Form von Maroonage, diese Suche nach einem freien Ort, von dem aus die fortwährende Revolte gegen die kulturelle Kolonisierung seitens der unentwegt produktiven Bourgeoisie geführt werden konnte, die Amerika nach ihrem Abbild zu entwerfen suchte.“[15]

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Der von Sylvia Wynter verwendete Begriff der Maroonage kommt aus dem Spanischen von cimarron für entlaufenes Vieh, das in der Freiheit der Wildnis lebt und wird ebenso für Fluchtbemühungen von versklavten Afrikanern gebraucht. Insofern geht es Wynter um ein positives Verständnis von Flucht als ein ursprüngliches Recht auf Flucht. Wynter schreibt und argumentiert auf poetische Weise. Die Geschichte der Sklaverei in Brasilien, Jamaika wie Amerika schimmert deutlich als immer noch zu wenig bearbeitetes Thema programmatisch in der Ausstellung durch.[16] Freiheit artikuliert sich auch in den großformatigen, bunten, überschwänglich bedruckten Stofftüchern von Alberto Pitta, der 1961 in Salvador de Bahia geboren wurde und weiterhin dort lebt. Er leistet damit „einen wichtigen Beitrag zur afro-bahianischen Ästhetik, die mit Stickmotiven, spirituellen Symbolen der diasporischen Candomblé-Religion und Dokumentarfotografie dem Karneval ein ganz eigenes Gepräge  gibt. Nicht von Ungefähr würdigen Pittas Stoffe oft afro-bahianische Meister wie den Künstler und Candomblé-Priester Meister Didi.“[17]    

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Es ist ein Feuerwerk der visuellen Kulturen, das quasi überall im Haus mit der Ausstellung entfacht wird. Die Ausstellung erfordert allerdings auch das Handbuch, um die Skulpturen, Bilder, Videos, Stoffe näher erschließen zu können. Das günstige Handbuch in englischer und deutscher Version ist mit viel Sachverstand und Engagement zusammengestellt. Denn indigene Visualisierungen funktionieren häufig auf andere Weisen als die europäischen. In der Mrinalini Mukerjee Halle dominiert geradezu eine Art monumentaler Schlangenhahn Piwuchen (2023) von Bernardo Oyarzún den Raum.
„Im Kontext des Widerstandes der indigenen Mapuche-Kultur („Menschen der Erde“) in Chile und Argentinien thematisiert Bernardo Oyarzún in seiner Arbeit Erfahrungen mit Rassismus. Der Künstler, der selbst von den Mapuche abstammt, reaktiviert seit den 1990 Jahren ihre populären Praktiken und Ästhetiken, um das in ihnen geborgene Wissen zu bewahren – sei es in Handwerk, Erzählungen, kulinarischen Fertigkeiten, Ritualen oder Festivitäten. In Kilombo: Piwuchen nimmt er die mythologische  Gestaltwandler-Figur Piwuchen die allegorische Form eines Paradewagens an, wie er für die Welt des Karnevals typisch ist.“[18]

Bernardo Oyarzún: Kilombo: Piwuchen (2023)

Die Geschichten und Erzählungen zu den visuellen Installationen wie Transatlantic Stargate (2023) von Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic sind unerlässlich. In der Ausstellungshalle sind Arbeiten oft mehr oder weniger direkt für O Quilombismo angefertigt. Indigo-gefärbte Textilien mit unterschiedlichen Mustern lassen den aus Panama stammenden Guzman mit der in Jugoslawien geborenen Jankovic zu einem transatlantischen Projekt aufbrechen.
„Für O Quilombismo präsentieren sie ein neues Arrangement eigens hergestellter Textilien, die in der traditionellen Indigo-Blockdrucktechnik Ajtakh gefärbt wurden. Wie schon bei früheren Werken kooperieren Guzman und Jankovic mit dem Team von Sufiyan Ismail Khatri im indischen Ajrakhpur. Das 4.000 Jahre alte Ajrakh ist mehr als eine Drucktechnik; im Geiste des Quilombismo ist es eine Lebens- und Lernweise, die über Generationen hinweg mündlich weitergegeben wurde.“[19]

Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic: Transatlantic Stargate (2023)

Quilombismo zeigt sich in der Ausstellung als eine äußerst vielschichtige Strategie, die Queerness miteinbezieht. In der Magnus Hirschfeld Bar treffen wir auf den international agierenden philippinischen Tänzer, Performer und Aktivisten Joshua Serafin. Zwar wird die Performance VOID überwiegend nur als Film gezeigt, aber am 23. Juni soll sie live aufgeführt werden. Der spanische Kolonialismus des 17. Jahrhunderts hat mit der katholischen Mission und seinem Binarismus von Adam und Eva nach Serafin eine indigene Queerness zerstört.
„Serafins Beitrag zu O Quilombismo ist der Film VOID, Teil der Trilogie Cosmological Gangbang (2021-2024), der auf eine totale Nicht-Präsenz Bezug nimmt – und das damit verbundene Potenzial, etwas – was auch immer – zu werden: eine Situation, in der sich queere Subjektivitäten wiederfinden, wenn sie sich mit ihrer Tilgung aus Geschichte und Zukunft konfrontiert sehen. VOID ist eine Dualität: eine nicht-binäre, geisterhafte Gottheit mit Braunem Körper und alternativer Identität, sowie ihre eigene Repräsentation oder deren Fehlen. Sie bricht auf, findet Stärke in sich selbst und bietet Zuflucht in der indigenen Welt der Vorfahren und ihrer Queerness. Passender Modus hierfür ist der Mythos, der für die fluiden, vorkolonialen philippinischen Vorstellungen der Geschlechter charakteristisch ist, in einer mündlich über Generationen hinweg überlieferten Spiritualität.“[20]

Joshua Serafin: VOID (2023)

Das Handbuch in Englisch und Deutsch zur Ausstellung O Quilombismo ist nach dem Eröffnungswochenende vergriffen. Das ist erfreulich, weil es das große und intensive Interesse am – neuen – HKW zeigt. Aktuell wird das Handbuch bis zum Eintreffen der 2. Auflage als PDF zur Verfügung gestellt. Ein Ausstellungsbesuch hat immer mit Wissensformationen zu tun, die wir gemeinhin Interesse nennen. Allerdings werden meistens Kataloge wie zuletzt bei Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit publiziert, die das Vorwissen nicht leichter erweiterbar machen. Oft wird die visuelle Wahrnehmung schon als Wissen verkannt. Mit der Ausstellung und dem Handbuch ist es dem HKW-Team um Cosmin Costinaş und Paz Guevara gelungen, das Nichtwissen als eine Barriere durchlässig zu machen und Interesse zu wecken, indem sie das „Publikum“ dazu einladen, „sich ein Bild vom HKW als einem konvivalen, kollektiv organisierten und pluriversalen Haus zu machen. O Quilombismo folgt in seiner Komposition den Rhythmen der ästhetischen Welten, die das Projekt versammelt.“[21]

Olu Oguibe: DDR: Decarbonize, Decolonize, Rehabilitate (2023)

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat mit dem Eröffnungswochenende die Rede vom Pluriversum als eine Praxis von Vielfalt in der Welt eindrucksvoll vorstellen können. Vielleicht haben am Eröffnungstag einige Besucher*innen das Handbuch nur genommen, weil es kostenlos auslag. Entscheidend ist allerdings, ob sie sich von den Texten begeistern lassen. Die geradezu homerischen Gefahren – Skylla und Charybdis – der Intendanz sind nicht zuletzt deshalb von der Kulturstaatsministerin angesprochen worden, weil Kulturpolitik an politischer Brisanz in einer pluralen Welt gewonnen hat, wie der BDS-Skandal um die documenta fifteen im Sommer 2022 gezeigt hat. Die Hegemonie der „westlichen“ von amerikanischen Konzernen zwischen Warner Bros. Discovery, Netflix oder Amazon dominierten Kultur, ganz zu schweigen von einer kulturdeutschen Akademismus, steht exemplarisch mit O Quilombismo wenigstens zur Debatte.

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Auf der Paulette Nardal Terrasse waren nicht nur die Fahnen des Dichters und bildenden Künstlers Olu Oguibe mit Anspielung auf das deutsche Schwarz, Rot, Gold und Grün mit den Buchstaben D, D, R gehisst. In der Nähe zum Kanzleramt und dem Regierungsviertel konnte diese Buchstabenfolge für Irritationen sorgen. Doch „Oguibes Fahnen (…) mit den Buchstaben DDR bestickt, die hier für Dekarbonisieren, Dekolonisieren, Reparieren (Rückführen oder Rehabilitieren) stehen“[22], verweisen einmal mehr auf die Vieldeutigkeit und die Praxis der Benennung als Strategie. Unter den Fahnen von Olu Oguibe fand zur Musik von Awila Longomba am Freitagabend eine erfrischend wilde Party statt, in der sich die Debatten und Wissensformationen rauschhaft verflüchtigten.

Torsten Flüh

Haus der Kulturen der Welt
Ausstellung
O Quilombismo
Vom Widerstand
und Beharren.
Von Flucht als Angriff.
Von alternativen
demokratisch-
egalitären politischen
Philosophien
bis 17. September 2023
Mi.-Mo. 12:00-19:00 Uhr
Tickets: 8 €/6 € ermäßigt.

Beim Kauf einer Eintrittskarte
zur Ausstellung ist das Handbuch
im Preis inbegriffen.

Freier Eintritt immer montags
und jeden ersten Sonntag im Monat
(Museumsmontag Berlin)

Joshua Serafin
VOID
Live-Performance
23. Juni 2023


[1] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[2] Bundesregierung: Rede von Kulturstaatsministerin Roth zur Wiedereröffnung des Hauses der Kulturen der Welt unter dem neuen Intendanten Ndikung. Freitag, 2. Juni 2023.

[3] Anm. der Berichterstatter hatte die Pressekonferenz am 14. März 2023 im Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt besucht, kam aber nicht dazu, eine Besprechung zu schreiben.

[4] Zu Josephine Baker in Berlin siehe: Torsten Flüh: Macht Euch sichtbar! Zur Ausstellung Lila Wunder 1920/2020 Begegnungen und Verbindungen – sichtbar werden – sichtbar bleiben in der P120. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2020.

[5] Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Setzen wir unsere eigenen Akzente! In: Eröffnungsprogramm 2.- 4. Juni 2023, S. 1. (Zeitungsformat).

[6] Ebenda.

[7] Zum Anthropozän-Projekt siehe: Torsten Flüh: Die Erde, die Fakten und der Mensch – Zum Anthropozän-Projekt im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Oktober 2014. (als PDF auf Publikationen)

[8] Bonaventure …: Setzen … (wie Anm. 5).

[9] Bundesregierung: Rede … [wie Anm. 2].

[10] HKW: Andere Geschichten schreiben: Zur Benennung der Räume am HKW. In: Eröffnungsprogramm … [wie Anm. 5] S. 7.

[11] Abdias do Nascimento: O Quilombismo. Documentos de uma Militância Pan-Africanista, 3a. ed. Com textos de Kabengele Munanga e Valdecir Nascimento. São Paulo: Editora Perspectiva / IPEAFRO, 2019.

[12] Zitiert nach Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: O Quilombismo. Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien. In: HKW: O Quilombismo. Berlin: HKW, 2023, S. 6.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 7.

[15] Zitiert nach ebenda.

[16] Zum Thema von Sklaverei und Rassismus siehe auch: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[17] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 45.

[18] Ebenda S. 104.

[19] Ebenda S. 108.

[20] Ebenda S. 138.

[21] Cosmin Costinaş, Paz Guevara: Ein Gang durch die Ausstellung O Quilombismo. In: Ebenda S. 20.

[22] Katalog. In: HKW: O … [wie Anm. 12] S. 240.

Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit

Zoom – Übertragung – Vorhang

Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit

Zur Ausstellung Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit in der Gemäldegalerie

Im März und April 2023 erschien plötzlich der junge König Balthasar in einem prächtig ausgemalten grünen Samtmantel eine goldene Schale in der rechten Hand haltend auf vielen Plakaten überall in der Stadt. Er richtete seinen konzentrierten Blick auf etwas, was nicht zu sehen war. Seine Lippen umspielte ein leichtes Lächeln, wenn man genau hinschaute. Das kurze, lockige, schwarze Haar über der bräunlichen Haut des Kopfes war akkurat geschnitten. Vielleicht war Balthasar noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Dass dieser junge, hübsche Mann kaum aus unserer Zeit sein konnte, wurde nicht nur durch das Gewand und die Malweise, sondern mit dem Schriftzug HUGO VAN DER GOES und kleiner ZWISCHEN SCHMERZ UND SELIGKEIT signalisiert.

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Dem Gemälde, das in der Stadt per Zoom für die Werbung zur Ausstellung im Ausschnitt vergrößert worden war, sieht man an, dass die portraitierten, individuellen Züge des jungen Mannes ein reales Vorbild gehabt haben müssen. Der farbige der heiligen drei Könige auf dem weltberühmten Monforte-Altar der Gemäldegalerie zu Berlin mit dem Titel „Anbetung der Könige“ muss existiert haben. Der Zoom als Ausschnitts- und Vergrößerungsfahren lässt den jungen Mann mit den einzeln gemalten Haaren allererst als Star des Gemäldes selbst sichtbar werden. In der Komposition des Gemäldes steht er am rechten Rand fast unscheinbar, während die älteren, weißen Könige schon vor dem Neugeborenen im Schoß der Mutter knien und es anbeten. Der Detailreichtum seiner Darstellung machte für den Kunsthistoriker und späteren Direktor der Gemäldegalerie Max J. Friedländer zu einem Werk Hugo van der Goes‘.

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Hugo van der Goes und sein Werk werden um 1900 zu einem Effekt der neuartigen Praxis des Vergleichs von Details in der Kunstwissenschaft. So kommt denn auch der Kurator der Berliner Ausstellung Stephan Kemperdick in seiner akademisch gehaltenen Diskussion der Chronologie des Werks zu dem Schluss, dass „(a)lle Werke Hugos (…) nicht allein mit einer in den Niederlanden zuvor unerreichten Monumentalität auf(warteten), sondern ebenso mit einer höchst prägnanten, mitunter geradezu detailbesessenen Ausarbeitung und einer einzigartigen Erfindungskraft im Ganzen wie in den Einzelheiten“.[1] Hauptargument für die Chronologie beispielsweise vom Florentiner Pontinari-Altar und dem Berliner Monforte-Altar werden die Details, die erst nach einer Restaurierung sichtbar wurden. Denn „die große Berliner Tafel (sei) dem Florentiner Triptychon in Wirklichkeit nahe verwandt (…), und zwar sowohl was Gesichtstypen und Gewandfalten als auch das farbige Helldunkel oder die malerische Durcharbeitung der Details betrifft“.[2]

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Stephan Kemperdick verwendet viel Sorgfalt auf das Detail, weil sich erst dadurch das Werk Hugo van der Goes generiert. Er hat seine Werke nicht signiert. Nur wenige gelten als erhalten. Mit der Signatur als Abschluss eines selbst geschaffenen Bildes in der Malerei schreibt der Künstler dem Bild seinen Namen ein. Doch das Fehlen der Signatur auf den Bildern aus dem 15. Jahrhundert sorgt für „Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers“[3], der 1482/83 im Roode Kloster bei Brüssel gestorben sein soll. Durch den Brüsseler Bibliothekar Alphonse Wauters wird 1863 die handschriftliche Klosterchronik von Caspar Ofhuys aus den Jahren 1509/13 veröffentlicht, in der er von seinem Mitbruder und dessen Wahn wie Tod berichtete. Erstmals konkretisierte sich die Existenz des Malers im 19. Jahrhunderts. Seit den 1820er Jahren war es zu zahlreichen Zu- und Abschreibungen nicht zuletzt von zwölf Gemälden durch eine Monographie Alphonse Wauters gekommen, „von denen lediglich der Portinari-Altar seinen Platz zu Recht einnahm“[4].

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Die aktuelle Werbung für die Hugo van der Goes-Ausstellung in der Gemäldegalerie im Kulturforum zoomt Ausschnitte aus den Tafeln und Tüchern auf der zentralen LED-Tafel zu einer monumentalen Höhe von mehr als 2 Stockwerken. Der Ausschnitt von, nennen wir ihn noch einmal, Balthasar aus dem Monforte-Altar und dem nur 33,8 x 23 cm großen Sündenfall aus der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien werden, per Kamerafahrt nach oben geschoben. Eine Art Animation im Doppelsinn. Animiert werden Details, die seit den 1870er Jahren zur „Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst“ beitragen, wie es Carlo Ginzburg formuliert hat.[5] Hugo van der Goes und die das Detail feiernde Werbung verdanken sich der nach dem Kunsthistoriker Giovanni Morelli benannten Methode, woran Ginzburg erinnert. „Man solle (…) die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflusst sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Figuren, Händen und Füßen.“[6]         

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Das unbeabsichtigte Detail hat sich als Paradigma in der Kunstgeschichte und für den Kunsthistoriker wie Experten für Mittelalterliche Malerei ebenso wie Kurator für deutsche, niederländische und französische Malerei vor 1600 in der Gemäldegalerie Stephan Kemperdieck gehalten und wird in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt. „Gesichtstypen“ wie „Ährenbündel“[7] können als Details zur Argumentation für Herkunft wie Chronologie eines Werks eingesetzt werden. Wo die Grenze zwischen Künstler und seiner Werkstatt oder seinen Helfern im Roode Kloster verlaufen, lässt sich schwer verifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der halluzinatorische Wahnsinn Hugo van der Goes zu einem so entscheidenden Künstlermythos, dass der Neffe des Bibliothekars und Chronikherausgebers, der Maler Émile Wauters, das Gemälde 1872 La folie d’Hugues van der Goes malt und eine kunsthistorische Debatte u.a. mit Erwin Panofsky[8] und Max J. Friedländer zur Chronologie[9] entfacht.

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Über Hugo van der Goes weiß die Kunstgeschichte wenig. In der ersten niederländischen Kunstgeschichte von Karel van Mander, dem Schilder-Boeck von 1604, wird ein „seit langem schon verschwundenes Werk“ von ihm ausführlich beschrieben.[10] Deutlich über 100 Jahre nach seinem Tod geht er somit in das Format eines historiografischen Wissens von den Bildern ein. Bilder bekommen eine Geschichte und werden räumlich wie zeitlich verortet. Das ist im 17. gegenüber dem 15. Jahrhundert eine neuartige Betrachtungsweise. Albrecht Dürer hatte bereits 1520/21 die Niederlande bereist und Hugo van der Goes als „grosz maister“ in seinem Tagebuch erwähnt.[11] Da war Hugo ca. 40 Jahre tot. Dürers Reise diente auch seiner Generierung von durch Malerzünfte organisiertem praktischem Wissen in Malweisen wie Motiven. Denn das Zunftwesen des Spätmittelalters spielt in der Auswertung der „Schriftzeugnisse“ zu Hugo van der Goes eine wichtige Rolle. So heißt es im genalogischen wie mediävistischen Essay Hugo van der Goes in den Quellen, dass „die meisten Menschen im Spätmittelalter in einem komplexen Netz von gegenseitigen Mikrokrediten verstrickt“ gewesen wären.[12]

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Hugos Eintritt ins Roode Kloster und damit in den Augustinerorden als Novize und als zuvor in der Genter Zunft organisierter Maler-Meister wird in der Kunstgeschichte als individuelle, autonome Entscheidung formuliert. Weniger Beachtung hat offenbar bislang die Frage nach dem Organisationswechsel von der Zunft zum Orden gefunden. Die ausgewerteten Quellen legen „einen erfolgreichen und bestens vernetzten Künstler“ nahe, „der die Anerkennung der gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit genoss“.[13] Dagegen setzt die Kunstgeschichte mit der Morelli-Methode das unbeabsichtigte Detail als das das Individuum verratende Indiz voraus. Der Wechsel von der Zunft in den Orden wird allerdings zugleich zum theologisch-organisatorischen Problem und gefährdet die Ordens- wie Mönchsregeln, was sich mit der Chronik von Caspar Ofhuis entfalten lässt. Durch den fast schon identifikatorischen Streit um den Wahnsinn wurde das strukturell lebenspraktische Problem der Ordensregeln überlesen. Die Regel für das Klosterleben legte Augustinus von Hippo auf der Schwelle vom 4. zum 5. Jahrhundert schriftlich fest. Sie wird als Augustinusregel tradiert.[14]

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Dankenswerterweise wird die lateinische Textpassage des Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia im Katalog vermutlich erstmals alsmöglichst genaue Umsetzung des lateinischen Textes ins Deutsche“ zugänglich.[15] Der lateinische Text mit seinen stilistischen Eigenheiten wird nicht geglättet.[16]
Im Jahr des Herrn 1482 stirbt der Konverse Hugo, der hier seine Profess abgelegt hatte. Dieser war so berühmt in der Malkunst, dass diesseits der Berge keiner seinesgleichen, wie man sagte, in jener Zeit gefunden werden konnte. Wir waren zur gleichen Zeit Novizen, er und ich, der ich dies hier niederschreibe. Bei seiner Einkleidung und im Noviziat gestattete ihm Pater Prior Thomas sehr vieles, was die Unterhaltung der Weltlichen betrifft, allerdings aus guten Gründen, weil er unter den Weltlichen bedeutend gewesen war, was mehr zum Prunk dieser Welt führte als zum Pfad der Buße und Demut.[17]    

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Mit den ersten Sätzen der Passage formuliert Caspar Ofhuys ein Ordens- bzw. Ordnungsproblem in theologischer Hinsicht. Das Weltliche außerhalb der Klostermauern und das Geistliche der Klosterpraktiken werden von Ofhuys argumentativ gegeneinander in Stellung gebracht. Dabei geben die schriftlichen Quellen einen Hinweis darauf, dass Caspar „aus einer begüterten Brüsseler Familie“, der des Goldschmieds Jan van Ofhuys d. Ä.[18], mithin ebenfalls zünftig organisierten Familie entstammte. Doch Hugo unterwirft sich nicht restlos den geistlichen Ordnungsregeln, sondern der Abt des Klosters „gestattet ihm … sehr vieles“. Die Tagesabläufe im Kloster sind streng geregelt, wie z.B. früh morgentliche Gebete und gemeinsame Gesänge, die nicht zuletzt Giorgio Agamben im vierten Teil seines Homo Saccer-Projekt unter dem Titel Höchste Armut – Ordnungsregel und Lebensform erforscht hat.[19] Hugo hätte kaum noch Malen können, wenn er die Mönchspraktiken des Klosters eingehalten hätte. Stattdessen wird er nach Caspar „von vielen hohen Herrschaften und sogar von seiner Durchlaucht Erzherzog Maximilian besucht“.[20]

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Liest man Caspar Ofhuys Klosterchronik mit Agamben als einen Beitrag zur „Literaturform“ der „Mönchsregeln“[21], dann verschiebt sich der identifikatorische Blick auf Hugo, weil er lediglich zu einem Exemplum einer Krise der Mönchsregeln wird. Der Chronist und Verteidiger der Mönchsregeln berichtet von Hugos Wahnsinn, „weil Gott dies alles meiner Meinung nach erlaubte, …, … auch um uns zu belehren“.[22] Die Einhaltung der Mönchsregeln schützt nicht zuletzt vor Wahnsinn, lässt sich sagen. Zum Schlüsselbegriff für das Leben im Kloster wird die Demut (humilitas), welcher Hugo nicht gerecht werden konnte, weil er bereits berühmt und „erhöht“ worden war. Deshalb betont Caspar, dass „(a)ls der Bruder selbst dies begriffen (intelligens) hatte, übte er, sobald der genesen war große Demut (humiliavit), indem er freiwillig unser Refektorium verließ und demütig mit den Laien die Mahlzeiten zu sich nahm“.[23] (Unterstreichungen T.F.) Die zeitlich und hier ebenso räumlich genau eingeteilte Einnahme der Mahlzeiten von Mönchen und „Laien“ gibt einen Wink darauf, „dass das gesamte Leben des Mönchs von einer ebenso lückenlosen wie unerbittlichen Zeiteinteilung bestimmt war“[24], wie es Agamben formuliert hat.[25] „Das Zönobium ist also zunächst ein lückenloser Stundenplan des Daseins: Jedem Augenblick entspricht ein Offizium, sei es das des Gebets, der Lesung oder der Handarbeit.“[26]     

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Hugo van der Goes‘ Eintritt ins Kloster sorgt für nahezu chaotische Verhältnisse in der getakteten Lebenspraxis der Mönche. Sie macht die Mönche (fast) wahnsinnig, weil nun ständig Ausnahmen von der Regel geschaffen werden. Hugo kleidet sich nicht wie alle anderen Augustiner-Mönche – und noch der Augustinermönch Martin Luther –, er hält kaum den Zeitplan ein und bekommt auch noch ständig weltlichen Besuch, mit dem er zu Unzeiten spricht, isst und trinkt. Was womöglich gut für die Finanzen und die weltliche Reputation des Klosters ist, greift die Mönchsregeln zutiefst an. Dass das Malen eine Form der meditatio sein könnte wird von Caspar gar nicht erst erwähnt, stattdessen suchen Hugo nach Caspar „fantasiis et emaginationibus“ heim.[27] Dabei war es gerade Augustinus, der die meditatio als Lese- und Gedächtnispraxis nach Agamben ins Mönchsleben einführte.
„Bekanntlich verbreitet sich seit dem 4. Jahrhundert die Praxis des leisen Lesens, die Augustinus mit Erstaunen bei seinem Lehrer Ambrosius zur Kenntnis nimmt. »Wenn er las«, schreibt Augustinus (Conf., 6, 31), »glitten die Augen über die Seiten und das Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten«.“[28]

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Was der Kunstgeschichte und den Feuilletontiteln – Wirklich ein Genie im Wahnsinn? (Berliner Zeitung), Genie im Großformat (Süddeutsche) – heute als Anknüpfungspunkt zwischen Geniediskurs und Wahnsinnszweifel bei Hugo van der Goes zur Identifizierung eines Malerindividuums gilt, wird durch eine andere Leseweise der Klosterchronik ad absurdum geführt. Noch dem Spätmittelalter widerstrebte eine derartige Denkweise. Über den Wahnsinn Hugos wissen wir durch Caspar Ofhuys nicht mehr und nicht weniger, als dass er ihn präzise im Kontext der Mönchsregeln als Wissensfeld diskutiert wird. Obwohl Caspar eine Unterscheidung von „er“ und „ich“ einführt, richtet sich die Kritik auf eine den Mönchsregeln nicht konforme Lebensweise, die nur durch „große Demut“ geheilt werden kann. Die Kunstgeschichte als eine Disziplin des Individuums als Genie ignorierte geflissentlich die Forschung der Mediävistik. Der Katalog zur Ausstellung und die Ausstellung selbst verschieben nicht zuletzt mit der Präsentation der Handschrift die schwierige kunsthistorische Perspektive nur ein wenig. Quasi im letzten Ausstellungsraum trifft das fatale Wahnsinnsbild von Émile Wauters auf die Chronik, als hätten wir den Maler nun selbst vor Augen, von dem es weder ein Bild noch eine Signatur gibt.

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Die malende Hand Hugo van der Goes‘ lässt sich als Schnittstelle von Handwerk und Kunst bedenken. Produziert die Hand den Stil? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten, weil sie eine entscheidende für die Zu- und Abschreibungen der Gemälde im Werk gilt. Wir wissen wenig von der Hand im Spätmittelalter. Wie werden Malweisen mit der Hand praktisch eingeübt? Wie wird die Hand motorisch trainiert? Mittelalterliche Handschriften wie die Caspars folgen Regeln. Obwohl Hugo nach Caspar berühmt ist, signiert er seine Bilder nicht. Das Fehlen einer handschriftlichen Signatur im Zeitalter der illuminierten Handschriften gibt eher einen Wink darauf, dass Hugo van der Goes sich nicht als Individuum begreift. Wir kennen keine Signatur Hugos weder in Bildern noch in Dokumenten. Womöglich argumentiert Erik Eising in seinem Essay Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weydens auch deshalb mehr über „Motive“ und „Figuren“. Die Hand bleibt diskret und wird dann doch in Bezug auf einen Maler aus Hugos Umfeld explizit zum Argument der Herkunft zweier Gemälde:
„Eine Königsanbetung in New York (Kat. 23) kann derselben Hand wie die Tafel in Urbino zugeschrieben werden. Obwohl die Komposition gewisse Parallelen zu zwei von Hugo entworfenen Königanbetungen zeigt (Kat. 2, 24), reichen aber auch diese nicht, um den jungen Hugo in Joos an Wassenhoves Werkstatt zu lokalisieren.“[29]  

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Die Hand als Indizienparadigma in der Kunstgeschichte bleibt elastisch und wird kaum näher formuliert.[30] Sie entzieht sich in ihrer Komplexität einer Beschreibung, um genau deshalb „die auf geringfügige(n) und unwillkürliche(n) Merkmale(n) basierende Kenntnis vom Individuum“[31] zu generieren. Wir wissen heute beispielsweise durch das biometrische Passfoto, dass sich das Individuum datentechnisch erfassen lässt. Doch in der Kunstwissenschaft führt die Hand dennoch bislang zu keiner eindeutigen Zuschreibung von Gemälden oder Zeichnungen. Vielmehr bleibt die Hand immer in einem Bereich individuell-visuellen Wissens von Kunsthistoriker*innen, das sich sprachlich schwer erfassen lässt. Hinsichtlich der „einige(n) hundert niederländische(n) Zeichnungen des 15. Jahrhundert“, die bewahrt geblieben sind, bemerkt Stephanie Buck, dass keine „signiert“ sei. Genau deshalb kommt die Hand Hugos wiederum prominent zum Zuge:
„Zwei Zeichnungen haben sich in der Forschung als eigenhändige Werke von Hugo van der Goes durchgesetzt: Jacob und Rachel in Oxford (Kat. 6) und Christus am Kreuz in Windsor (Kat. 7.1).“[32]  

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Die Hand als heuristisches Werkzeug, um die Herkunft zu klären, gehört in der Kunstwissenschaft zum Feld des Geschlechts. Mit der Hand soll die Herkunft des Gemäldes wie der Zeichnungen geklärt werden. Für das 15. Jahrhundert als Schwellenzeit in den Niederlanden lässt sich zumindest praxeologisch sagen, dass die Hand sich möglicherweise ankündigt, gewissermaßen im Kommen ist, aber keinesfalls da ist. Die Grenzen zwischen Malerindividuum und Werkstatt bleiben unscharf. Doch gleichzeitig vermag Hugo van der Goes als Maler und Mönch, die Mönchsregeln zu sprengen. Gesprengt werden sie indessen nicht zuletzt durch Gespräche, Gerüchte, Empfehlungen, Schmeichelleien, kolportierten Geschichten, neuartigen Erzählungen. Und Caspar formuliert zugleich einen Zweifel an der Hand und ihrer Leistungsfähigkeit. Die Hand kommt ins Spiel, wenn der Glaube in Gott schwindet, wenn der Chronist schreibt:
„Was die Leiden der Seele betrifft, so weiß ich genau, dass sie dem erwähnten Konversen sehr zusetzten. Er sorgte sich nämlich sehr darum, wie er die Werke, die er malen sollte, zu Ende bringen sollte. Er hätte sie, wie es damals hieß, kaum in neun Jahren vollenden können.“[33]

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Möglicherweise gehört die manus scientia oder das Wissen von der Hand deshalb auch in einen exklusiven Bereich der Übertragung, wie sie nicht zuletzt in den christlichen Gemälden von Hugo van der Goes immer wieder dargestellt wird. Die beispielsweise des sogenannten Monforte-Altars ist eine geschlossene. Herrscherfiguren wie die Könige suchen das neugeborene Jesuskind nicht nur auf, sondern erkennen es als Macht über der von ihnen verkörperten Macht an. Sie wollen an der im Neugeborenen unschuldig dargestellten Macht teilhaben. Maria trägt als Mutter keine materielle Krone, aber eine immaterielle aus Gold gemalten Lichtstrahlen. Der erste König im Vordergrund hat seine Krone aus Pelz und Goldgeschmeide bereits zur Seite gelegt, um mit barem Haupt die Strahlen des Heiligenscheins, wie man sagt, empfangen zu können. Dieser Übertragungsvorgang wird als Altarbild ein großes Geheimnis, das nur an bestimmten Tagen des christlichen Jahres zu schauen gegeben wird, denn die Scharniere für die verdeckenden Altarflügel sind noch gut erhalten.

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Die Übertragung, des mit einem anderen Wort, Heiligen Geistes muss als erstrebenswerter, gleichwohl geheimnisvoller Vorgang auf einer Bühne in Szene gesetzt werden. Deshalb setzt sich mit Hugo van der Goes und seinem Umfeld eine Theatralisierung der Übertragungsszenen durch. Diese Übertragungsszene soll den Regeln entsprechend kniend in anbetender Haltung geschaut werden. Die Mönche, die Auftraggeber etc. sollen sich am besten Verhalten wie der bereits kniende König. Er ist in Haltung und Verhalten das zentrale Vorbild. Im Katalog heißt es unter anderem:
„Die Gestalten sind groß im Verhältnis zur Bildfläche, die sie in der Höhe beinahe ausfüllen. Eine bis dato unbekannte, den Eindruck von Monumentalität steigernde Perspektive wird vor allem beim König deutlich: Als stünden (besser: knieten, T. F.) wir unmittelbar vor ihm, blicken wir auf seine Füße hinab, sehen aber von seiner rechten Hand an alles in Untersicht, sodass seine Gestalt über unsere Köpfe aufzuragen scheint.“[34]

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Die Geburt Christi aus der Zeit von 1480, die Hugo van der Goes zugeschrieben wird, steigert in gewisser Weise die Theatralisierung im Modus einer Erfüllung der Heiligen Schrift bzw. des Alten Testaments. Zwei Propheten ziehen nunmehr allegorisch einen halbtransparenten Vorhang auf einer Stange zur Seite. Denn das Neue Testament, das mit der Geburt Christi in den Evangelien beginnt, generiert sich als Realisierung der Ankündigung des Messias. Die Vorhänge werden im 14. Jahrhundert zu einem verbreiteten Motiv der Gemälde, die das Schauen und Wissen einüben sollen.
„Erwin Panofsky deutet (die Propheten mit Vorhang) als Umsetzung einer im Mittelalter geläufigen Vorstellung, die Aurelius Augustinus so formulierte: „Das Alte Testament wird im Neuen enthüllt, im Alten siehst du das Neue [Testament] verhüllt“ (Enarrationes in Psalmos 105, 369). Hier enthüllen die Propheten selbst, was sie vorausgesagt haben, …“[35]    

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Theatralisierung erzeugt Emotionen, die im Verhaltensrepertoire der Menschen im Mittelalter eher neu waren. Ob sie sich Zwischen Schmerz und Seligkeit abspielten, wie die Ausstellung vorschlägt, wissen wir nicht. Wann, wo und durch welchen Maler sie zum Motiv werden, lässt sich schwer verifizieren. Der medial stark vernetzte Mensch des 21. Jahrhunderts hat andere Praktiken entwickelt, Emotionen hör- und sichtbar zu machen. Seligkeit gehört in vielen Gesellschaften nicht mehr zu einem der bevorzugten Gefühle. Zumindest hat der Gebrauch des Begriffs Seligkeit seit dem 17. Jahrhundert und dann noch einmal seit den 1950er Jahren rapide abgenommen.[36] Seligkeit als Versprechen und Empfinden ist selten geworden. Sie hatte womöglich auch weniger mit einem Gefühlsmoment als vielmehr mit der streng geregelten Lebensführung im Weltlichen wie im Kloster zu tun. Insofern wird der Ausstellungsbesuch in der Gemäldegalerie zu einer Entdeckungsreise in eine fremdgewordene Welt des niederländischen Spätmittelalters, in dem Künstlernamen selbst als Promis, Signaturen wie Autogramme und die Hand eine geringe Rolle spielten.

Torsten Flüh

Gemäldegalerie
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit

bis 16. Juli 2023

Katalog zur Ausstellung:
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit

Hg. Erik Eising, Stephan KemperdickBeiträge von M. W. Ainsworth, T.-H. Borchert, S. Buck, L. Campbell, E. Capron, K. Dyballa, E. Eising, S. Kemperdick, B. Ridderbos, G. Wedekind u.a.
304 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
24 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3847-4
55,00 EUR0 (D) 


[1] Stephan Kemperdick: Hugo van der Goes. Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit. München: Hirmer, 2023, S. 17.

[2] Ebenda S. 15.

[3] Ebenda. S. 11.

[4] Ebenda S. 12.

[5] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. D/er Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kund und soziales Gedächtnis. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988, S. 78.

[6] Ebenda S. 79-80. 276

[7] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 17.

[8] Siehe: Gregor Wedekind: Hugos Wahn. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 81.

[9] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 12.

[10] Ebenda S. 11.

[11] Ebenda.

[12] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo van der Goes in den Quellen. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 23.

[14] Wikipedia: Augustinusregel.

[15] Katalog: Caspar Ofhuys: Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 276-279.

[16] Ebenda Anm. 3 S. 279.

[17] Ebenda S. 276.

[18] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo … [wie Anm. 12] S. 22.

[19] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Homo Saccer IV,1. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.

[20] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 276.

[21] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 15.

[22] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.

[23] Ebenda.

[24] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.

[25] Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt siehe auch: Torsten Flüh: Leben auf der Schwelle. Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt und der Pfingstserenade in Kloster Chorin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28.05.2012. Jetzt als PDF unter Publikationen.

[26] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.

[27] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 279.

[28] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 43.

[29] Erik Eising: Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weysens. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 35.

[30] Zum Indizienparadigma siehe: Carlo Ginzburg: Spurensicherung … [wie Anm. 5] S. 108-109.

[31] Ebenda S. 109.

[32] Stephanie Buck: Hugo van der Goes als Zeichner. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 63.

[33] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.

[34] S. K.: Anbetung der Könige (Monforte-Altar). In: In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 114/118.

[35] S. K.: Geburt Christi. Ebenda S. 220.

[36] Siehe die Wortverlaufskurven ab 1600 und ab 1946 im DWDS für Seligkeit.

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Universum – Nebel – Sichtbarkeit

Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung

Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin

Auf spektakuläre Weise finden die Mosse-Lectures im Sommersemester 2023 im Tieranatomischen Theater von Carl Gotthart Langhans statt. Aus der architektonischen Kombination von Rundtempel und Amphitheater konstruierte der Erbauer des Brandenburger Tores, Langhans, einen Raum des Wissens vom Pferd. Pferdeschädel mit Girlanden versehen schmücken seit 1790 die Fassade über den Fenstern. Am Ort des Todes der in Folgezeiten Hunderten, wenn nicht Tausenden von Pferden und anderem Getier wurde ein enzyklopädisches Wissen der Zootomie generiert. Um 1800 waren Pferde, wie man sagt, mit „walzenförmige(m) Körper und langem Hals“[1] für den Transport, die Ökonomie und das Militär zentral. Sie waren Fortbewegungsmittel und Kriegsgerät. Zur Generierung des Wissens von diesem staatspolitisch entscheidenden Tier ließ Friedrich Wilhelm II. einen Rundtempel mit zentraler Aufsicht bei der Sektion erbauen.

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Lothar Müller erinnerte am 20. April in seiner Vorstellung des Semesterthemas wie des Veranstaltungsortes an dessen Funktion für die Wissensgeschichte. Das Wissen vom Pferd durch die aktuelle Verknüpfung der Ansicht seines Inneren mit der Sprache durch Benennung erzeugte beispielhaft eine umfangreiche Hippologie. Das Tieranatomische Theater wurde zum Schauen und Hören als Übertragungsraum des Wissens konzipiert. Mit einem medial großen Bogen, doch in gewisser Weise bereits vom Titel naheliegend, führte Lothar Müller in den Vortrag Der Himmel auf Erden. Zur Geschichte der Sichtbarmachung und Medialisierung des Universums von Charlotte Bigg ein. Schon am 27. April kündigte am gleichen Ort, wo einst die Pferdekörper auf einem aus dem Untergeschoss hydraulisch hinauf geschobenen Seziertisch dem Blick freigegeben wurden, Stefan Willer den poetologisch anders gelagerten Vortrag Im Staub der Sterne des Science-Fiction-Autors Dietmar Dath an.  

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Im 19. und 20. Jahrhundert machte das Tieranatomische Theater nicht zuletzt wegen neuartiger Apparaturen des Sehens wie dem Mikroskop, der musealen Präparate-Sammlung und der Fotografie erhebliche Transformationen durch. Es bildet sich die Tierärztliche Hochschule heraus, die nach 1933 als Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät der Berliner Universität, der Vorgängerin der Humboldt-Universität, angeschlossen wird. Die dynamischen Bau- und Nutzungsgeschichten von Institutionen der Wissensgenerierung und -vermittlung sind immer zugleich mit medialen Wechseln und sprachlichen Verschiebungen verknüpft. So wird das illustre Tieranatomische Theater in den 1920er Jahren umgangssprachlich zum eher obskuren Trichinentempel.[2] Die Tierbeschau diente nunmehr den Hygienemaßnahmen des Staates im mikroskopischen Bereich der ca. 1 Millimeter kleinen Fadenwürmer (Trichinen), die als parasitäre Erkrankung durch Verzehr von rohem Fleisch auf den Menschen übertragen werden können.   

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Nach langjährigen restauratorischen Baumaßnahmen ist das Tieranatomische Theater der Humboldt-Universität auf dem Gelände der Philippstraße 13 von einem Ort der Wissensgenerierung zu einem der Wissensbefragung geworden. „Wissenschaften und gestalterische Disziplinen“ werden in einen Austausch gebracht, um „die Vielfalt der Wissensformen (in Ausstellungen) sichtbar zu machen und dabei zugleich neue Formate und Perspektiven für das Ausstellungsmachen und für Museen zu entwickeln“.[3] Als TA T situiert es sich ähnlich wie die Mosse Lectures an der Schnittstelle von Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaften bzw. Literaturwissenschaft. Gleichwohl führt das Tieranatomische Theater auf dem Campus Nord der Universität angrenzend zum Charité Campus Mitte und dem Institute for Theoretical Biology ein verborgenes Dasein. Die Zugänge zum Campus von der Luisen-, Friedrich- und Philippstraße sind, obschon mittig gelegen, nur Anwohnern und Eingeweihten vertraut.[4]

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Von Innen spiegelt sich in den Fenstern der Kuppel des Tieranatomischen Theaters bei Dunkelheit dieses selbst. Doch die Dunkelheit des Nachthimmels, wenn die Sterne als Reflektoren oder ferne Sonnen sichtbar werden, bricht im Sommersemester in nördlichen Breiten erst spät an. Bei Tag blendet die Sonne, sodass ihr Untergang erst den Blick auf den Sternenhimmel und das Universum, in dem wir uns befinden, freigibt. Von den Planeten unseres Sonnensystems wird das Sonnenlicht hinter unserem Rücken reflektiert. Mit dem bloßen Auge des Menschen lassen sich Strahlungen und Reflektionen kaum unterscheiden. Der als „holder Abendstern“ – „Da scheinest du, o lieblichster der Sterne,/dein sanftes Licht entsendest du der Ferne;/die nächt’ge Dämmrung teilt dein lieber Strahl,/und freundlich zeigst du den Weg aus dem Tal.“ – besungene Planet Venus macht die sprachlich-poetologischen Wirren und Verfehlungen im 19. Jahrhundert exemplarisch deutlich. Aktuelle Astronomen und Astrophysiker bedienen sich neuartiger Medien und Rechenverfahren, um das Universum zu erforschen und sichtbar werden zu lassen, worauf Charlotte Bigg in ihrem Vortrag einging.  

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Das Universum wird unabhängig von seiner auf viele Millionen Lichtjahre berechneten Existenz etymologisch im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache hinein geboren.[5] Mit dem Begriff Universum als Ganzheit und Einheit, so groß sie zeitlich und räumlich auch sein mag, entsteht ein neuartiger Zugriff auf Welt und All. Noch die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts debattieren über das Universum als ein philosophisches Problem von Unendlichkeit und Räumlichkeit. Alles, was aus unendlich vielen Teilen besteht, könne unendlich sein, wird aus Chambers’s Encyclopaedia mit dem Motto „Universal Knowledge For The People“ anscheinend übernommen.[6] Universales Wissen und Universum korrespondieren seither als Wissensformen miteinander. Die Einheit und Ganzheit des Universum in seiner Unendlichkeit, wird im Chambers’s weniger als ein astrologisches Problem formuliert.
„Plusieurs philosophes ont prétendu que l’univers étoit infini. La raison qu’ils en donnoient, c’est qu’il implique contradiction de supposer l’univers fini ou limité, puisqu’il est impossible de ne pas concevoir un espace au-dela de quelques limites qu’on puisse lui assigner./
Mehrere Philosophen haben behauptet, dass das Universum unendlich sei. Sie begründen dies damit, dass es einen Widerspruch impliziert, das Universum als endlich oder begrenzt anzunehmen, da es unmöglich ist, sich einen Raum jenseits einiger Grenzen vorzustellen, die man ihm zuordnen kann.“[7]  

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Lothar Müller stellte das Programm der Mosse Lectures mit Fragen nach der Vermittlung des Wissens vom Weltall bzw. Universum vor. Die „Vermitteltheit und Popularisierung kosmologischen Wissens“ wollten die Mosse Lectures „in den Blick nehmen und nach den Medien und Technologien fragen, mit denen das Universum über die Astrophysik hinaus ästhetisch, kognitiv und affektiv »besiedelt« wird.“ Dafür haben die Organisator*innen der Veranstaltungsreise mehrere Fragen formuliert. „Inwiefern werden die der Lebenswelt entrückten, oft unvorstellbaren Dimensionen des Weltalls zu Einsatzpunkten fiktionaler Zugänge? Auf welchen medialen, sprachlichen und ästhetischen Vermittlungsstrategien basiert die astrophysikalische Forschung selbst (historisch und gegenwärtig)?“[8] Damit war nicht zuletzt eine Überleitung zu Charlotte Biggs Vortrag gegeben. Denn sie eröffnete ihn mit aktuellen Bildern vom Universum durch das James Webb Space Telescope vom 12. Juli 2022 wie dem „Carina Nebula“[9] ebenso wie einen historischen, mechanischen Automaten des Sonnensystems: „The Solar System, shewing the Revolution of all Planets whith their Satellites round the Sun.“  

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Charlotte Bigg wies nicht nur auf das Bild, vielmehr auf dessen bedenkenswerten Titel Carina Nebula und seine Beschreibung hin. Die beziehungsreiche Benennung und das Genre de Bildbeschreibung sind ein derart elementares, dass es eine frühe Rolle spielt im Sprachenlernen. Was zeigt also eines der ersten Bilder des technologisch neuen James Webb Space Telescopes? Die von der NASA, ESA (European Space Agency) und CSA (Canadian Space Agency) gemeinsam betriebene Mission in die Tiefen des Universums sendete während einer Fernsehübertragung um 10:30 a.m. Ostküstenzeit die ersten Bilder. Der mediale Aufwand für die ersten full-color images and spectroscopic data“ des Teleskopes war insofern erheblich. Beschrieben wird es, worauf Charlotte Bigg aufmerksam machte, wie folgt.
„This landscape of “mountains” and “valleys” speckled with glittering stars is actually the edge of a nearby, young, star-forming region called NGC 3324 in the Carina Nebula. Captured in infrared light by NASA’s new James Webb Space Telescope, this image reveals for the first time previously invisible areas of star birth.
Called the Cosmic Cliffs, Webb’s seemingly three-dimensional picture looks like craggy mountains on a moonlit evening. In reality, it is the edge of the giant, gaseous cavity within NGC 3324, and the tallest “peaks” in this image are about 7 light-years high. The cavernous area has been carved from the nebula by the intense ultraviolet radiation and stellar winds from extremely massive, hot, young stars located in the center of the bubble, above the area shown in this image.”[10]

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Sichtbar wird durch die Beschreibung eine Landschaft (landscape) aus Bergen (mountains) und Tälern (valleys) im Carina Nebel (Carina Nebula). Die höchsten Gipfel im Bild sind ungefähr 7 Lichtjahre hoch. Im Vergleich mit den höchsten Gipfeln der Erde, müssen die Gipfel (peaks) des Carina Nebels sehr viel höher sein, obwohl eine fast irdische, wenn nicht gar idyllische Landschaft beschrieben wird. Auf die Nebel und Landschaften im Universum wird zurück zu kommen sein. Das Format der Bildbeschreibung lässt allererst eine Landschaft entstehen, die nicht nur durch eine zuvor ungekannte Bildgenerierungstechnologie „previously invisible areas of star birth“ gewesen war. Das Faszinosum der Bilder von neuen Nebeln und dem Stephan’s Quintet wird auf der NASA-Seite als groß beschrieben und mit populären Medien und Narrativen verknüpft. Die Namen und Formulierungen sind elastisch und docken an populäre Wissensformen und Formate wie dem „holiday classic film, „It’s a Wonderfull Life““ an. Die besondere Fähigkeit der NASA und ihr verwandter Forschungsorganisation zur visuellen wie sprachlichen Verknüpfung unter beiläufigen Gebrauch des Konjunktivs („may have driven“) im Dienste der Astrophysik ist bedenkenswert.
„This enormous mosaic is Webb’s largest image to date, covering about one-fifth of the Moon’s diameter. It contains over 150 million pixels and is constructed from almost 1,000 separate image files. The information from Webb provides new insights into how galactic interactions may have driven galaxy evolution in the early universe.”[11] 

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Charlotte Bigg zitierte für das Verhältnis des Menschen zum Universum Blaise Pascals (1623-1662) Disproportion de l’homme aus seinen Pensées von (1669-1670). Im Unterschied zur Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot entfaltet Pascal ca. 100 Jahre zuvor mit dem Universum den Menschen auch kränkende Gedanken. Der Mensch wird von ihm durchaus aufklärerisch als ein winziger Teil des Universums formuliert.
„Er (Der Mensch) betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät; er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; und er möge darüber erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmament dahinrollen, umfassen. …
Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann es begreifen? Aber um ihm ein anderes ebenso erstaunliches Wunder zu zeigen, forsche er in den kleinsten Dingen, die er kennt. Ein Milbe z.B. biete ihm in der Winzigkeit ihres Körpers Theile unvergleichlich viel winziger, Beine mit Bändern, Adern in diesen Beinen, Blut in dien Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen dieser Feuchtigkeit, Dämpfe in diesen Tropfen…
Wer sich so betrachtet, wird ohne Zweifel erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben, gleichsam schweben zu sehen zwischen beiden Abgründen der Unendlichkeit und des Nichts, von welchen beiden er gleichweit entfernt ist. …
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts gegenüber der Unendlichkeit, ein All gegenüber dem Nichts, ein Mittelding zwischen Nichts und Allem.“[12]

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Abgesehen von den Zitaten durch Charlotte Bigg benutzt Blaise Pascal in seinem Fragment mit dem Titel Disproportion de l’homme den Begriff univers fünfmal, so dass die jüngsten Herausgeber zu dem Schluss kommen, dass das „Ziel des Transition 4-Fragments … darin bestehe, zu zeigen, dass der Mensch von dem Wunsch brennt, „eine feste Basis und eine letzte konstante Basis zu finden“, dass aber „unser Fundament Risse bekommt“: die Suche nach einem festen Punkt, obwohl sie in den Menschen eingeschrieben ist. Als tiefster Wunsch ist die Suche nach „einem unteilbaren Punkt, der der wahre Ort ist“, von dem aus der Mensch das ihn umgebende Universum verstehen könnte, aufgrund der Disproportion de l‘homme in Bezug auf dieses Universum zum Scheitern verurteilt“ sei.[13] Das ebenso natürliche wie kränkende Missverhältnis, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Pascal formuliert wird, stößt nicht zuletzt die Konstruktion und Produktion von Apparaten nach dem Vorbild der Uhr an, die das Universum in eine berechenbare Ordnung bringen.

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Die Versprechen des Universums, wie sie mit dem James Webb Space Telescope von der NASA u.a. als Blick in eine einst graue, heute vielfarbige und „seemingly three-dimensional“ Geburtsbildes wie Geburtsgeschichte eines Sterns beschrieben werden, beginnen bei Pascal mit einem Schrecken und einer narzisstischen Kränkung über die Disproportion des Menschen im Universum. Der Adelige, Physiker und Mathematiker ebenso wie Religionskritiker Blaise Pascal markiert eine Schnittstelle des Wechsels vom christlichen Gottesdiskurs, in dem der Mensch als Krone der Schöpfung figuriert, zu einem Naturdiskurs vom Universum, in dem der Mensch zu einem „Mittelding zwischen Nichts und Allem“ qua mathematischer Größenparameter wird. Pascal verstarb bereits mit 39 Jahren im Umfeld einer Religionsdebatte zwischen Jansenisten und Jesuiten, so dass seine jansenistischen Freunde die Fragmente als Pensées erst nach seinem Tode zusammenstellten und herausgaben. Die Funktion des Universums als Argument gegen die göttliche Herkunft des Menschen dürfte lange überlesen worden sein. Das univers erscheint in der Vormoderne im Moment einer Diskussion um die mathematisch-philosophische Unendlichkeit, in der der Mensch machtlos zu verschwinden droht.   

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Charlotte Bigg führte im weiteren Fortgang ihres Vortrages nicht nur das Universum als Apparat an, vielmehr stellte sie ebenso die Technologie des Zooms mit der Kritik von Bruno Latour in seinem Text L’Anti-Zoom (2014), die Big Science der Raumfahrtindustrie und die Berliner Sternwarte von 1874 in Moabit vor. Konnte beim Anblick des Nachthimmels Pascal das Universum in seiner Unendlichkeit erschrecken, zeichnet sich mit der Berliner Sternwarte bereits eine Verlagerung in städtische Außenbereiche wegen der zunehmenden Sichtbehinderung durch Licht- und Rauch-Emissionen der Stadt ab. Die zunehmende Lichtverschmutzung auf allen Kontinenten behindert heute den Blick in die Unendlichkeit des Nachthimmels. Je heller die Nächte werden, desto weniger Sterne lassen sich in den unendlichen Weiten sehen. In einem abschließenden Gespräch würdigte Hans-Christian von Herrmann als Experte für die Konstruktion des Planetariums die Ausführungen von Charlotte Bigg.

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An dieser Stelle soll die ebenso literarische wie wissenschaftliche Formierung der Universums im 19. Jahrhundert in der sogenannten Science Fiction-Literatur von Jules Verne angeschnitten werden. Das Universum stellt bei ihm die Frage nach einem anfänglichen Chaos, das geordnet, eingeteilt und vermessen werden muss. Die von Jules Verne 1865 formulierte „l’époque chaotique de l’univers“, das Zeitalter des Chaos des Universums, wird mit einigen begrifflichen Wiederholungen beschrieben. Das anfängliche Chaos erscheint heute technologisch und visuell bis in eine Dreidimensionalität z.B. als Carina Nebel in einer Landschaftsbeschreibung geordnet und geradezu idyllisch. 1868 veröffentlichte Jules Verne, der die wissenschaftliche Praxis der Fußnote für seinen Roman nutzte, seine Reise zum MondDe la Terre à la Lune. Im Kapitel V mit dem Titel Le Roman de la Lune kommt es zu einer Reihe lexikalischer Überschneidungen. Die Erzählung vom Mond wird nicht etwa als l’histoire angekündigt, sondern als Roman im Schwanken zwischen Imagination, Fiktion und Wissenschaft. Der biblische Schöpfungsdiskurs vom Chaos wird elastisch in die Wissenschaft übertragen.
„Un observateur doué d’une vue infiniment pénétrante, et placé à ce centre inconnu autour duquel gravite le monde, aurait vu des myriades d’atomes remplir l’espace à l’époque chaotique de l’univers. Mais peu à peu, avec les siècles, un changement se produisit ; une loi d’attraction se manifesta, à laquelle obéirent les atomes errants jusqu’alors ; ces atomes se combinèrent chimiquement suivant leurs affinités, se firent molécules et formèrent ces amas nébuleux dont sont parsemées les profondeurs du ciel.[14] / „Ein Beobachter, der mit einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet ist und sich in diesem unbekannten Zentrum befindet, um das sich die Welt dreht, hätte in der chaotischen Epoche des Universums Myriaden von Atomen gesehen, die den Raum füllen. Aber nach und nach, im Laufe der Jahrhunderte, fand eine Veränderung statt; es zeigte sich ein Gesetz der Anziehung, dem die wandernden Atome bis dahin gehorchten; diese Atome verbanden sich chemisch gemäß ihrer Verwandtschaft, wurden zu Molekülen und bildeten jene Nebelhaufen, mit denen die Tiefen des Himmels übersät sind.“

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Die Verneschen „amas nébuleux“ oder „Nebelhaufen“ werden zu einem Vorläufer der aktuell beschriebenen Nebel. Sie haben eine lange Tradition im Sprechen vom Universum. Denn Nebel sind seit alters her die Scheidestelle zwischen einem Unsichtbaren im Nebel verhüllten und der Sichtbarkeit des Nebels selbst, der aus einem Tal oder einer Tiefe aufsteigt. Insofern ist der als Wissen formulierte Nebel bzw. Nebelhaufen oder auch Nebelschleier jener Bereich, in dem das Begehren zu sehen geweckt wird. Der Beobachter muss mit „d’une vue infiniment pénétrante“, einem unendlich durchdringenden Blick ausgestattet sein, um die Herausbildung der Nebelhaufen aus Atomen durch „ein Gesetz der Anziehung“ zu sehen bzw. zu imaginieren. Das Voyeuristische des Beobachters spielt sich bereits bei Jules Verne im libidinös aufgeladenen Bereich der Penetration ab. Zugleich hat der Diskurs vom Universum gegenüber Pascal gelernt, dass es nur eines „unendlich durchdringenden“ Blicks des Menschen bedarf, um die Unendlichkeit zu erfassen.

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Jules Verne formuliert mit Fußnoten und einer Technik des Zoom all jene Versprechen, die sich die Astrophysik und der NASA für Popularisierung zu eigen gemacht hat. Der Zoom wird eben jenes Verfahren des Sichtbarmachens, das das Universum zu einem Ganzen zusammenbringt. Unter den Millionen Sternen wird die Sonne nur zu einem „Stern vierter Ordnung“. Auf diese Weise wird mit dem nicht zuletzt sprachlichen Zoom eine Ordnung bzw. ein ordnendes Wissen vom Universum hergestellt. Das geordnete, überschaubare Universum lädt zu reisen ein. Selbst dann, wenn es nur bis zum Mond gehen soll. Doch darin wird Jules Vernes literarisches Kombinations- wie Wissensverfahren lesbar.
„Si l’observateur eût alors spécialement examiné entre ces dix-huit millions d’astres l’un des plus modestes et des moins brillants[2], une étoile de quatrième ordre, celle qui s’appelle orgueilleusement le Soleil, tous les phénomènes auxquels est due la formation de l’univers se seraient successivement accomplis à ses yeux.
[2] Le diamètre de Sirius, suivant Wollaston, doit égaler douze fois celui du Soleil, soit 4,300,000 lieues./
Wenn der Beobachter dann unter diesen achtzehn Millionen Sternen einen der bescheidensten und am wenigsten glänzenden [2], einen Stern vierter Ordnung, den man stolz Sonne nennt, besonders untersucht hätte, alle Erscheinungen, denen die Entstehung der Sonne zu verdanken ist, wäre in seinen Augen das Universum sukzessive vollendet worden.
[2] Der Durchmesser des Sirius muss laut Wollaston dem Zwölffachen des Durchmessers der Sonne oder 4.300.000 Meilen entsprechen.“[15]

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Die Vermessung des Universum wird als eine weit fortgeschrittene mit den „achtzehn Millionen Sternen“ und dem „Durchmesser des Sirius“ formuliert. Dem herausragenden deutschen Science Fiction-Autor Dietmar Dath geht es weniger um eine Vermessung des Universums als vielmehr um vielschichtige Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen, wie Stefan Willer bereits 2013 analysierte und in seiner Einführung zum fast frei gehaltenen Vortrag Im Staub der Sterne am 27. April ansatzweise wiederholte.
„Dietmar Daths Romane, … , beschäftigen sich in großem Stil mit der fiktionalen Verwaltung von Wissen. Physikalische und mathematische Theoreme, Elemente und Versatzstücke aus Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, dazu eine Fülle von literarischen, alltäglichen, politischen und popkulturellen Diskursen werden in diesen Romanen personalisiert, ventiliert, diskutiert, kritisiert, angeordnet und umgewälzt. Dath verfügt über die, je nach Sichtweise, beeindruckende oder enervierende Fähigkeit, in kurzer Folge Bücher von teils erheblichem Umfang zu produzieren, in denen alles Mögliche vorzukommen scheint.“[16]

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Mit der Ankündigung seines Vortrages wird schnell deutlich, was Dath in seinem stark assoziativen Vortrag praktizierte, indem er in den rhetorischen und diskursiven Werkzeugkasten der Rede vom Universum griff. Anders als in der bemühten Wissenschaftlichkeit Jules Vernes geht es nun um „Zeug“ und „viel Nichts“. Das Geschichtenerzählen wird hier wie in seinem 2019 erschienenen 942 Seiten starken Buch Niegeschichte – Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine in Zweifel gezogen.
„Das Universum scheint ungefähr so groß zu sein wie alles, was es gibt, zusammengepackt. Wir gehen davon aus, dass dieses Universum in jeder Richtung sich selbst ähnelt und überall aus demselben Zeug besteht: aus viel Nichts mit ein paar Quantenfluktuationen drin, außerdem etwas Staub sowie einigen Rätseln. Darin finden wir Muster. Wie kommen wir aber dazu, über weit entfernte, lang vergangene und möglicherweise zukünftige Muster Behauptungen aufzustellen, Geschichten zu erzählen und Gleichungen zu bauen? Und hat das alles vielleicht sogar damit zu tun, dass eine Gesellschaft, in der über Leute entschieden wird, die dabei nicht mitreden dürfen, leerer als die Leere ist und schmutziger als der staubigste Dreck?“[17]

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In Niegeschichte schreibt Dietmar Dath über das Genre Science Fiction. Er wirft die Frage auf, wie dieses funktioniert. Der einfachste Grund liegt nach Dath auf der Hand: „Science Fiction erzählt Geschichten von Vorkommnissen, die nie geschehen sind und nie geschehen werden.“ Es sei „ungeheuer unwahrscheinlich, dass die Fantasie etwas in weltadäquater Detaildichte errät, das anschließend wirklich wird.“[18] Daths Vortrag wurde im Tieranatomischen Theater mit mehreren Kameras gestreamt und aufgezeichnet. Doch er wurde bislang nicht im Mosse-Lecture-Channel von YouTube veröffentlicht. Während des Vortrags versuchte der Berichterstatter sich Notizen zu machen und scheiterte an der Rede- und Erzählweise von Dath. Er hatte zur Demonstration eine Box Quantum Tarot Version 2.0 von Kay Stopforth und Chris Butler bereitgelegt. Die Nebel auf dem Bild der Box gleichen jenen neuesten Bilder des James Webb Space Telescopes. Tatsächlich knüpft das Spiel zu psychologischen Zwecken und als Wahrsagekartenspiel an den NASA-Diskurs an:
„The Quantum Tarot combines modern theories of physics and quantum mechanics with tarot, through vivid space images from NASA and the Hubble telescope. It’s now out in a reworked second edition from Lo Scarabeo, with two extra cards, some changed images, and new black borders.”[19]

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In jüngster Zeit wird die Rede vom Universum vom Pluriversum konterkariert und tendenziell abgelöst. Obwohl Dietmar Dath den Begriff nicht prominent benutzte macht das Pluriversum aktuell eine erstaunliche Karriere. 2018 nannte Alexander Kluge seine Ausstellung zum 85. Geburtstag als Werkschau Pluriversum.[20] Im Herbst 2022 stellte Jennifer Gabry im Haus der Kulturen der Welt zum Programm Where is the Planetary? „Zeitreisen und Raumfahrt, Cyborgs und Eskapismus“ die Frage: „Wie können wir tödliche Gewohnheiten in etwas verwandeln, das das lebende Pluriversum kultiviert?“[21]Und Dietmar Dath schrieb im gleichen Kontext: „SF ist eine Maschine, die Wissen vergessen hilft, um neues Wissen in Vorstellung und Darstellungen zu ermöglichen.“[22] Und der neue Intendant des Hauses der Kulturen der Welt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung kündigte am 14. März 2023 das Zeitalter des Pluriversums und das Sonic Pluriversum Festival für Juni und Juli an. Der Begriff geht auf William James‘ Buch Politics in the Plurivers von 1907 zurück und zirkuliert aktuell in hohem Maße, weil es ein deutlicher Gegenbegriff zum homogenisierend gebrauchten Universum denkbar macht. Durch den vielfältigen Gebrauch verändert er derzeit auch sein Bedeutungsspektrum, so dass er bald auch für die Science Fiction-Literatur und die Astrophysik gebraucht werden könnte.

Torsten Flüh

Nächste Mosse Lecture im Tieranatomischen Theater
Across the Univers.
Aktuelle Blicke ins All

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
»Mars, Musk und Metaverse.
Der Plattformkapitalismus und das All«
6. Juli 2023 19:15 Uhr
Hörsaal des Tieranatomischen Theaters
Philippstraße 13 (Campus Nord, Haus 3)
10115 Berlin

Begleitet werden die Mosse-Lectures in diesem Semester von einem Filmprogramm im Kino Arsenal, das am 23. Mai 2023 den Film Solaris zeigt.


[1] Wikipedia: Pferde.

[2] Zur Geschichte des Tieranatomischen Theater: TA T: Das Gebäude. Humboldt-Universität zu Berlin 2020.

[3] Ebenda: Über uns.

[4] Torsten Flüh bietet über Berlin-Feuerland Stadtführungen mit Geschichten rund um das Tieranatomische Theater auf Anfrage an. Siehe: https://berlin-feuerland.de/Medizin/

[5] Siehe DWDS: Universum.

[6] Wikipedia: Chambers’s Encyclopaedia.

[7] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : L’Encyclopédie/1re édition/UNIVERS

[8] Mosse Lectures: Programm: Across the Univers. Aktuelle Blicke ins All. Sommersemester 2023.

[9] NASA: First Images from the James Webb Space Telescope. Jul 12, 2022.

[10] Ebenda.

[11] NASA: Stephan’s Quintet. Ebenda.

[12] Zitiert nach Projektion im Vortrag: Blaise Pascal, Disproportion de l’homme. Pensées (1669-1670), übersetzt von Heinrich Hesse. Im Original mit dem Gebrauch des Begriffs „univers“ siehe: Le Pensées de Blaise Pascal: Fragment Transition n° 4 / 8. In : Dominique Descotes et Gilles Proust : Édition électronique des Pensées de Blaise Pascal 2011.

[13] Ebenda.

[14] Jules Verne : De la Terre à la Lune. J. Hetzel et Compagnie, 1868 (p. 24-30). (Wikisource)

[15] Ebenda.

[16] Stefan Willer: Dietmar Daths enzyklopädische Science Fiction“ Arcadia, vol. 48, no. 2, 2013, pp. 391-410. https://doi.org/10.1515/arcadia-2013-0026.

[17] Mosse Lectures: Programm … [wie Anm. 8]

[18] Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine. Berlin: Matthes und Seitz, 2019, S. 14.

[19] Aecletic: Quantum Tarot: Version 2.0 (Werbeseite)

[20] Kulturstiftung des Bundes: Alexander Kluge: Pluriversum. BILD UND RAUM.

[21] Jennifer Gabry: Planetar werden. In: HKW: Where is the Planetary? Berlin 2022, S. 5. (Online)

[22] Dietmar Dath: Was für eine Maschine ist die Science Fiction? In: ebenda. S. 14.

Generationenwechsel per Gong im LCB

Generation – Erbe – Literaturen

Generationenwechsel per Gong im LCB

Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin

Funktioniert Ihre Generationenhaftung? Mit oder ohne Haftcreme? Was könnte das sein: Generationenhaftung? – Im LCB am Wannsee begrüßten am 15. März Felix Schiller und Laura Ott das Publikum zum Abend Drei Generationen Erbe der Veranstaltungsreihe XYZ – Im Alphabet der Generationen. Das „Alphabet der Generationen“ kommt aus der Soziologie. Es teilt die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland chronologisch in Generationen zwischen Alpha und Omega oder A bis Z ein. Die Generation Z, englisch GenZ macht derzeit als „Letzte Generation“ oder im BILD-Jargon als „Klimakleber“ von sich Reden. Am 15. März wechselte das überschaubare Publikum per Gong zwischen den Schriftsteller*innen Ginka Steinwachs und Christina Esther Hansen, Valerie Fritsch und Barbara Frischmuth sowie Kerstin Hensel und Peter Neumann.

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Die generationellen Paarungen waren hinsichtlich der literarischen Genre Performance/Theatertext, Roman und Lyrik günstig kombiniert. Generationen generieren sich aus Geschichte und Erzählungen, mit denen das schreibende Individuum mehr oder weniger übereinstimmt. Meistens stellt sich das generationelle Wissen nachträglich her. Vielleicht ist die sich selbst als Generation Z titulierende Bewegung aus jungen Menschen, die einen apokalyptischen Klimadiskurs für sich in Anspruch nimmt, die erste prophetische Generation. Im LCB geht es mit dem Alphabet der Generationen um Literaturen, die sich gewiss nicht nur generationenverortet unterscheiden. Ginka Steinwachs hat früh eine ebenso poetische wie performative Schreib- und Vortragsweise im feministischen Kontext entwickelt. Christina Esther Hansen kann da auf ganz andere Weise im Treppenhaus des LCB mit neuen Theatertexten mithalten.

©gezett (Ausschnitt)

Die Veranstaltungsreihe XYZ – Alphabet der Generationen verblüfft mit ihrem generationellen Wissen, wenn es heißt, dass „(r)adikale Transformationen … in Gesellschaften eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Weisen, die Welt zu betrachten“, erzeugten. Der Generationendiskurs betone die „Differenzen zwischen Gruppen, die sich schnell auf Neues einstellen, und jenen, die an Bestehendem festhalten wollen“. Oder ist das ein eher altes Gespräch mit „Meinung(en)“ von Generationen: „Ob Klimakrise oder Gerechtigkeitsdebatten: In vielen gegenwärtig hochfrequent diskutierten Themen zeichnen sich generationelle Entfremdungs- und Verhärtungseffekte ab. Progressive oder bewahrende Konzepte für das künftige Zusammenleben hängen nach viel geäußerter Meinung auch mit dem Lebensalter zusammen: bei den ›Baby-Boomern‹ und den sogenannten drei Generationen ›X‹, ›Y‹ und ›Z‹ scheint es verschiedene unhinterfragte Gewissheiten zu geben.“[1] – In welche Narrative fallen und verfallen Schriftsteller*innen, wenn sie das Generationelle benennen? Oder wie umgehen sie es im Gespräch?

©gezett

Wie lässt sich unter Schriftsteller*innen in ein Gespräch kommen über das Thema Generationen? Das Ins-Gespräch-kommen ist gar nicht so einfach. Für das Publikum wird die Teilhabe am Gespräch dadurch schwierig, dass die drei Paare gleichzeitig in drei verschiedenen Räumen sprechen. Nach dreißig Minuten ertönt ein Gong und die Zuhörer*innen sollen den Raum wechseln. Der spielerische Gong zerfetzt auch die Gespräche. Der Gong funktioniert wie das Zappen oder durch Programme auf dem Screen scrollen. „XYZ alle Dinge, die ein Ende haben, haben auch einen Anfang ABC.“ – „Das Gärtnern verbindet uns.“ – „Der Garten ist ein umfassendes Bild.“ – „Lyrik funktioniert anders.“ – „Wer ist bitte Barthes. Ich kenne keinen Bart.“ (Gehört funktioniert das anders als geschrieben. Die Tücken des ABCs und des Geschriebenen.) – „Feminismus“ – „Sie ging mit sicherem Tritt, stieß unbeeindruckt gegen Mauerkanten und Regentonnen, Obstbäume und Zaunpfähle“ – „oft habe ich mich gefragt, wie wohl eine topographie der zeit aussehen würde.“ – „Aber der Garten ist das pure Leben.“ – „Schön ist der Tag. Die Sonne schickt einen Boten“

©gezett

Die Steiermärkerinnen Barbara Frischmuth und Valerie Fritsch sprechen über den Garten, das Gärtnern und Feminismus. Feminismus ist eine generationelle Schnittstelle für Frischmuth und Fritsch wie für Steinwachs und Hansen beim Schreiben, Dichten, Performen. Der Feminismus hat sich gewandelt. Die Zeit der Schwarzen Botin wird weiter bearbeitet.[2] Alma in Valerie Fritschs Herzklappen von Johnson & Johnson unterscheidet sich von den Klosterschülerinnen, von denen Barbara Frischmuth nur als ein formbares Wir in Die Klosterschule (1968) schreibt:
„Unseren Leib hätten wir von Gott, so wie alles, und wir dürften ihn nicht willkürlich schädigen, ihn nicht wissentlich vernachlässigen, noch ihm Nötiges entziehen, es wäre denn zum Zwecke der Läuterung, was wir in unserem Alter aber nicht recht beurteilen könnten, da müssten wir doch wohl Rat einholen, wenn wir das Bedürfnis hätten, und da sollten wir uns lieber gleich an jemanden wenden, der zuständig wäre für uns, sowie für die Läuterung, die ein Prozess sei zwischen uns und Gott, zu dem es eines Leiters bedürfe, wie auch die Wärme – denkt an den Physikunterricht – nur über einen solchen von einem zum anderen dringt.“[3]   

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Ginka Steinwachs und Christina Esther Hansen haben für ihre Performance im Treppenhaus neue Texte, Gesten und „Abtreter“ produziert. „Abtreter“ sind Bild- und Text-Schnipsel in transparenten Taschen, die sich betreten lassen. Wir werden darauf zurückkommen. Der spielerische Umgang mit Textmaterial interessiert beide. Das führt zu performativen Überschreitungen auf Texten und Bildern. Sie und Hansen lesen nicht aus publizierten Büchern. Ginka Steinwachs wollte sich nie auf das Format der Lesung aus ihren Büchern festlegen lassen. Das ist anders. Sie buchstabiert das ABC als Lebensmittel im Lebenslauf durch und schneidet auch das Gespräch an:
„J   K   L
das klingt hell
FEHLANZEIGE DUNKEL ?
als ich christina esther zum ersten mal sehe,
sage ich zu ihr: ich möchte so gerne jung sein
wie DU und alles offen.
sie sagt bei anderer gelegenheit: ich möchte
von DIR auch einmal etwas dunkles hören.
J   K   L
das klingt hell.
wie soll das dunkel sein? ich zäume das pferd
am schwanze auf und fange lateinisch an:
o ginka, tute tati tanta tibi tulisti
was für ein zungenbrecher und tonguetwister!
ach, meine liebe ginka, was hast DU DIR mit
DEINEM nein da nicht wieder alles zugezogen.“[4]

©gezett

Die Jugend als generationelle Offenheit wird von Ginka Steinwachs redewendend als „gerne jung sein“ angeführt, während dies von der Generation Z angesichts der Klimakrise entschieden angezweifelt wird. Für die GenZ und ihren Diskurs erscheint gar nichts offen, sondern apokalyptisch be- und geschlossen. Die Klebeaktionen, um den automobilen Verkehr zu stoppen, die immense Aggressionen bei den Gestoppten freisetzen, durchkreuzen nicht etwa symbolisch oder metaphorisch das Konzept der Offenheit in der Jugend, sondern real. Die Jugend ist für sie nicht leicht, beschwingt und offen, sondern unfair, deprimierend, bedrohlich. Psychologisch wird der Z-Jugend Hypersensibilität diagnostiziert. Psychologie Heute bietet ein internetgestütztes Tool zur Selbstdiagnose, die zum Wunsch (!) nach einem stationären Aufenthalt führen kann.[5] Der Diskurs der Generation Z dreht radikal die Wissenskonzepte von der Generation um. Der Wunsch nach dem Dunkel, in dem der nach Tiefe und Grund mitschwingt, kommt von der Jüngeren.

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Die Verneinung der Jugend als Zukunftsversprechen durch die Generation Z markiert einen Wendepunkt im modernen Konzept der Generation. Die Generation Z spricht in einer Verantwortungsrhetorik, wie sie üblicherweise der Jugend in ihrem Bedeutungsspektrum von Alter oder jungen Lebensjahren, jungen Leuten und Wesenhaftigkeit abgesprochen wird, wie mit der Formulierung „er hat uns seine unbekümmerte Jugend voraus“.[6] Für die Generation Z ist die Jugend gerade nicht „unbekümmert“. Sie wird mit viel Kummer und Kümmern erlebt. Ob die Jugend trotzdem unbekümmert sein könnte oder mehr oder weniger Kümmernisse mit sich bringt „als früher“, ist unerheblich. Früher, in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert war mehr Jugend. Die Gebrauchsfrequenz des Wortes Jugend erreichte Mitte der 50er ihren Höhepunkt![7] Nach einer leichten Zunahme des Gebrauchs zu Beginn der sogenannten Nullerjahre, als Florian Illies von der Generation Golf schrieb, sinkt die Verwendung der Jugend in Zeitungen und Literatur wieder.

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Sigrid Weigel hat in ihrem Buch Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften den Generationenbegriff um 2000 genauer erforscht. „Als Erzählung über die Abfolge von Geschlechtern oder Generationen in der Dimension der Zeit beerbt die Genealogie Literatur und Mythos, die zu den älteren Formen genealogischer Darstellungen und genealogischen Wissens zählen.“[8] Das Konzept der Generation als eines des Geschlechts, das mit der Generation Z aktuell auf dem Spiel steht, wird in einer Vielzahl von Wissenschaften als Wissensformation eingesetzt, wirkt auf das Selbst und seine Wahrnehmung ein und wird in den Medien oft in Kurzformen der Benennung und des Wissens gebraucht. Insofern korrespondiert es mit der geschlechtlichen Diversität und erweist sich doch als hartnäckiger. Als Erzählformat und Zählmethode legt es sich wie eine Matrix über die Welt und das Selbst.
„Generationen werden nicht nur erzählt, sondern auch gezählt, womit das Konzept der Generation sich an der Schwelle zwischen empirisch/ positivistischen und hermeneutischen/ historischen Betrachtungsweisen bewegt: dort Zahl und Messung, hier Rhetorik und Ikonographie. Es ist Voraussetzung und Fluchtpunkt, Schnittpunt und Verdichtung des genealogischen Diskurses.“[9]

©gezett

Das Wissen der Generation ist hoch produktiv, generiert durch Benennung ständig neue Generationencluster und wird nach der Logik des begrenzten Alphabets und seiner Kombinatorik mit dem Buchstaben Z an ein Ende geführt. Das ist bedenkenswert. Wie werden danach die Generationen eingeteilt werden? Die „Boomer“ haben sich quasi aus der GenZ generiert. „Das moderne Konzept der Generation hat mythische Qualitäten. Nimmt man Roland Barthes‘ Definition ernst, der zufolge das fundamentale Prinzip des Mythos in der Verwandlung von Geschichte in Natur liegt, so erschließt sich ein für die Erfolgsgeschichte der Generation seit dem späten 18. Jahrhundert zentraler Mechanismus der Sinnstiftung und Evidenzproduktion“, schreiben Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer.[10] Das Wissen von sich selbst wird über die Generation mit der Geschichte und heterogenen Zusammensetzung der Gesellschaft kombiniert und kurzgeschlossen. In der Literatur zeichnete sich um 2000 nach der „Verabschiedung“ von „Generation, Genealogie und Generativität“ in „zahlreichen Generationenromanen … das Fehlen oder Verweigern der Nachkommenschaft ausdrücklich“ ab.[11]

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Gegenüber der Verabschiedung vom generationellen Wissen in der deutschen Belletristik um 2000 könnte nach dem Ende der Generationen eine gespenstische Wiederkehr der Generation um 2020 im Gesellschaftsdiskurs formuliert werden. Verfolgt man die Spur der apokalyptischen Rhetorik der Generation Z, die so mächtig ist, dass sie unablässig die Nachrichtenmeldungen und Talkshows mit allen Formen der Gegenrede, Polemik, Strafandrohungen, Festnahmen, Arreste und Gesetzesdiskussionen beschäftigt, könnte es zu einem Umkippen des generationellen Wissens kommen, insofern es terroristische Formen entwickelt. Nach allen Regeln der Angst werden politische Entscheidungen getroffen. In diesem Kontext wirkten die „Gespräche“ im „XYZ-Casino“ seltsam verfehlend. Die generationelle Verhaftung wurde durch die Lesungen aus einst geschriebener Prosa oder Lyrik eher bestätigt, als hinterfragt. Das galt für die Paarung Frischmuth und Fritsch ebenso wie für die von Hensel und Neumann. Die Frage des Alters webt sich auch durch jüngere Gedichte von Kerstin Hensel. Das Generationelle wird in Räumarbeit nicht zuletzt mit „Revolution“ angespielt.
„RÄUMARBEIT
In meinem Schreibtisch finde ich
Mehrere alte Brillen. Seit einundsechzig
Mache ich Fortschritte
In Kurzsichtigkeit. In einem anderen Fach
Gilbe Programme nach denen
Die Revolution stattfand
Auf dem Theater.

Drei Brillen setz ich
Übereinander damit ich erkenne: mein Name
Steht unter den Spielern.“[12]

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Es gibt womöglich in der Sprache und selbst der Lyrik kaum ein Entkommen aus dem Konzept der Generation. Nicht nur spielt Kerstin Hensels Gedicht auf ein paradoxes Fortschrittsdenken der „einundsechzig“-Geborenen an, das sich in einer zunehmenden „Kurzsichtigkeit“ durch „alte Brillen“ erinnerbar macht, vielmehr noch bleibt offen, ob „(d)ie Revolution … Auf dem Theater“ ein Fortschritt war oder nicht. Angeschrieben wird damit ein Erfahrungswissen des Selbst zur „Revolution“, das nur ihre Generation und sie zwischen Proletarischer Revolution und Friedlicher Revolution gemacht haben kann. Die Ambiguität der Lyrik kann einer generationellen Signifikanz nicht entkommen, sie ist womöglich bei der Mehrdeutigkeit der Räumarbeit zwischen weg-, um-, ab- und aufräumen gar nicht gewünscht. Bedenkenswerter Weise wird von Peter Neumann das Generationelle anders angeschrieben:
„blue screen
großmutter trug eine kittelschürze, die legte sie
morgens um und abends ab, da waren
taschentücher, bonbons, wäscheklammern. die tasche
der kittelschürze war der intimste ort, vielleicht
der einzige, der sie im ganzen umschloss.
was ist das gegenteil von stadt: nicht land, nicht dorf,
provinz schon gar nicht, was es heißt, so zu leben.
programmierer müsste man sein, wie wäre
dieses tal sonst entstanden, hier tragen die berge
sehr viele tannen, wie eine fehlermeldung
multipliziert sich auf den breiten wegen das licht.“[13]

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In der Performance und lexikalischen Kombinatorik blitzt bei Steinwachs ein Transgenerationelles gar mit TikTok als Videoportal für Lippensynchronisation(!) von Musikvideos und zugleich soziales Medium vor allem zur Selbstdarstellung auf.[14] Das TikTok-Programm und -Konzept hat mit der Lippensynchronisation nicht zuletzt Folgen für die Generationen. Jede und jeder kann sich jenseits generationeller Grenzen Musikvideos mit Lippensynchronisierung aneignen. Durch die Lippensynchronisation könnten z.B. alle plötzlich lateinisch sprechen bzw. singen. Die visuelle Programmierung ersetzt Lateinkenntnisse und macht das Lateinsprechen jenseits des Wissens möglich.
„ich warte nun auf TIK TOKER für mich. vielleicht
ist ja auch schon der eine oder die andere hier im
raum. uns verbindet die lust auf fin de siecle-eleganz
und die lust am alten rom und dessen bewohner, die
seinerzeit fliessend lateinisch gesprochen haben.
colamus latinitatis in omnibus finibus orbis.
wir tragen das lateinische bis an die grenzen des
weltalls heran oder versuchen uns doch wenigstens daran.“[15]

©gezett

Es bleibt die Frage des Erbes. Das Erbe siedelt sich seit der Zeit um 1800 als Übertragungskonzept zwischen Natur und Kultur an. Während das sprachliche Erbe der Altsprachen wie Latein und Altgriechisch in der Literatur wie der Kultur und Bildung schwindet, wird das Erbekonzept von der Generation Z eher gecancelt als gewahrt, weil das Erbe als erdrückende Last und Gefahr wahrgenommen wird. „Neben jener gelehrten und rechtlichen Engführung von >Erbe< und >Familie<, die (…) als Naturalisierung, Kodifizierung, Futurisierung und Familialisierung gekennzeichnet wurde, ist um 1800 eine Engführung von >Erbe< und >Nation< zu beobachten, die man als Politisierung bezeichnen kann“, schreiben Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen. „Diese neue, politisierte Bedeutung des Wortes >Erbe< begründet die Denkfigur des kulturellen Erbes, die zum Medium für die ideologische Etablierung der Nationalstaaten wurde.“[16] Eine Auslotung des Erbes erfolgte von Steinwachs und Hansen, Frischmuth und Fritsch kaum, während bei der Paarung Hensel und Neumann in einer nicht nur regionalen Verortung zwischen Neubrandenburg und Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt ein Erbe aufschimmerte.

Torsten Flüh

Die mit ©gezett gekennzeichneten Fotos unterliegen dem Copyright von Gerald Zörner.

LCB
Programm
XYZ – Im Alphabet der Generationen
Nächste Veranstaltung: Buchpremiere: Felwine Sarr
Die Orte, an denen meine Träume wohnen
22. Mai 2023, 19:30 Uhr
Am Sandwerder 5
14109 Berlin
S-Wannsee


[1] Zitiert nach: LCB: Programm: XYZ.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Feminismus und die Radikalität der Gefühle. Zur Performance Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980 im Literaturhaus Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. August 2022.

[3] Barbara Frischmuth: Die Klosterschule. Zuerst: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.

[4] Ginka Steinwachs: A B C für  X Y Z im L  C  B. Berlin (Manuskript) 17.03.2023.

[5] Corinna Hartmann: Hochsensibilität. Helles Licht, Lärm, große Menschenmengen – hochsensible Menschen reagieren empfindlicher auf Reize. Aber was ist Hochsensibilität überhaupt? In: Psychologie Heute 10. Oktober 2022.

[6] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Jugend.

[7] Siehe Gebrauchsfrequenz ebenda.

[8] Sigrid Weigel: Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Wilhelm Fink, 2006, S. 9.

[9] Ebenda S. 10.

[10] Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer: Das Konzept der Generation: eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 10.

[11] Ebenda S. 324.

[12] Kerstin Hensel: RÄUMARBEIT. In: Lyrik-line angespielt.

[13] Peter Neumann: Areale & Tage. Dresden: Azur, 2018, S. 10. (Leseprobe)

[14] Zur Frage der Lippensynchronisation und der Stimme siehe: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[15] Ginka Steinwachs: A B C … [wie Anm. 4]

[16] Stefan Willer, Sigrid Weigel, Bernhard Jussen (Hg.): Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 25.