Terror – Architektur – Staat
Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse
Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste
Der Saal 1 der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 wurde in der Zeit um 1943 zur Ausarbeitung eines Fassadenmodells im Maßstab 1:10 für die Nord-Süd-Achse von Albert Speers Hauptstadt Germania schon im Detail genutzt. Vier Männer in weißen Kitteln mit pomadisierten Haaren stehen auf einer Leiter oder sitzen auf einem Klappschemel mitten im Krieg und malen mit Pinseln an dem Holzmodell, wie auf einem Foto in der Ausstellung Macht Raum Gewalt zu sehen ist. Der Durchgang zur Verbindungshalle ist an seinem Bogen zu erkennen, von dem ein Teil in den Neubau der Akademie von Günter Behnisch ab 2005 integriert worden ist. Die planerische Tätigkeit der vier Männer im Jahr 1943 für das monumentale, die Dimensionen sprengende Bauvorhaben sind gespenstisch. Ab November 1943 war Berlin massiven Lustangriffen der Alliierten ausgesetzt. Am 23. November 1943 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zerstört.
Gespenstisch monströs wirkt ebenso der Schwerbelastungskörper in der General-Pape-Straße in der Nähe vom Südkreuz oberhalb der Süd-Nord-Bahntrasse, die unter dem zerbombten Lehrter Bahnhof, dem neuen Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel entlang erst nach dem Hauptbahnhof wieder an die Oberfläche kommt. In einem Modell auf dem Aussichtsturm des Informationsortes Schwerbelastungskörper wird die massive Gewalt fühlbar, mit der sich die Achse der Staatsbauten in die Stadt hineingefräst hätte. Die Ausmaße als Versprechen von nationaler Größe im kleinen Modell mit einem 10 Mal größeren Triumphbogen als dem Arc de Triomphe de l‘Étoile in Paris auf der Avenue des Champs-Élysées verkehren sich in blanken Staatsterror. In der Akademie der Künste näherten sich nun Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze literarisch dem Unfassbaren des SCHWER BELASTUNGS KÖRPERs.
Ab 1937 war der Sitz der Akademie der Künste am Pariser Platz von Albert Speer zum Ort des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ geworden. Dort wurden die nationalsozialistischen Bauten in Berlin geplant, gezeichnet, berechnet und wie mit dem Fassadenmodell detailliert vorbereitet. Der Planungsaufwand nicht nur für die Nord-Süd-Achse wurde derart vorangetrieben, dass das zweckentfremdete Akademiegebäude aufgestockt und erweitert werden musste. Zwar blieb die Aufschrift „Akademie der Künste“ bestehen, doch seither wurden weitere Gebäude am Pariser Platz und sogar Räume des beschädigten Reichstags für die totale Planung von der Reichskanzlei über die neuen Gebäude am Flughafen Tempelhof bis zur gigantischen „Großen Halle“ am Nordende der Hauptstadtachse entworfen. Der Neubau des Tempelhofer Flughafens war bei seiner Fertigstellung 1941 bereits das flächengrößte Gebäude der Welt.[1] Wenig später wurde das Pentagon in Washington das flächengrößte.
Die Lüge der Größe verdeckte bereits beim Flughafen Tempelhof mit seinen riesigen Hangars aus Beton, Stahl und Glas die Funktion der Kontrolle. Der Beton der massiven Treppentürme an den Hangars wurde geradezu programmatisch mit Tengener Muschelkalkplatten verklebt.[2] Dadurch erhielt die Bauweise des „Weltflughafens“ programmatischen Charakter. Nur ca 1.000 Meter westlich der Flughafenhangars wurde der Schwerbelastungskörper zum Test für den Baugrund auf der Nord-Süd-Achse gebaut. Die versprochene Größe des Triumphbogens und anderer Bauten bis zur „Großen Halle“ erwies sich nicht nur als ein physikalisches Belastungsproblem durch Betonmassen, vielmehr sollte der Beton hinter Muschelkalk und ähnlichen Werkstoffen verschwinden, damit die Gebäude visuell historisiert werden konnten.
Die nationale wie architektonische Größe wurde beim Flughafenbau wie beim Bau des Schwerbelastungskörpers exemplarisch durch systematische Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erreicht. Insofern lässt sich die Ambivalenz der Größe im Bauen immer zugleich mit Praktiken der Unterwerfung und der Ausbeutung bedenken. Für die Erzeugung der Größe beim Flughafenbau als „Infrastrukturanlage“ wurden bereits Zwangsarbeiter*innen in sklavenähnlichen Verhältnissen eingesetzt. Das Autorenkollektiv der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste formuliert die „Kernbotschaften“ ein wenig anders, was möglichweise mit der Größe als blindem Fleck zu tun hat:
„Die Ausstellung soll zeigen,
- dass das Planen und Bauen im Nationalsozialismus alle Lebensbereiche durchdrang und sowohl der Integration der „Volksgenossen“ als auch dem völkisch-rassistischen Ausschluss und der Vernichtung von „Gemeinschaftsfremden“ diente;
- dass als prägendes Ergebnis der Dynamik und Radikalisierung des Planens und Bauens im Nationalsozialismus weniger die meist nicht verwirklichten Repräsentationsbauten als vielmehr Wohnsiedlungen, Verwaltungsbauten, Rüstungskomplexe, Infrastrukturanlagen, Bauruinen, Baracken, Bunker und vor allem die zahllosen Zwangsarbeits- sowie die Konzentrations- und Vernichtungslager anzusehen sind;“[3]
Die Ausstellung in der Akademie der Künste, zu der ein 320 Seiten umfassender Katalog mit ca. 420 Abbildungen erschienen ist, hat insbesondere hinsichtlich einer „Egalisierung“ der „Baufachleute und Bauunternehmer“ nach 1945 zu einigem Widerspruch geführt, den Friedrich Dieckmann in Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? formuliert hat. Die Ambiguität der Architektur in der Moderne führt zu einer Egalisierung von Menschen, die für das Planen und Bauen im Nationalsozialismus verantwortlich waren. Dieckmann kritisiert die Ausstellungspraxis von 150 Portraitfotografien alphabetisch aneinander gereihten, teilweise verfolgten „Baufachleuten“ scharf.[4]
- dass sehr vielen Baufachleuten und Bauunternehmern in allen Bereichen des Planens und Bauens eine Mitverantwortung für die Ausübung von Gewalt und Verbrechen zugeschrieben werden muss – nicht nur den wenigen bekannten Architekten. Viele Verantwortungsträger konnten nach 1945 ihre Karrieren fortsetzen.
- dass Planen und Bauen auch im Nationalsozialismus eine internationale Perspektive besitzt und entsprechend betrachtet werden muss – mit Blick auf Rivalitäten, Einflussnahmen und Demonstrationen vermeintlicher Überlegenheit;
- dass zur baubezogenen Erinnerung nach 1945 Verdrängungen, Verharmlosungen und Ausblendungen gehören und dass ein bewusster und angemessener Umgang mit dem gebauten Erbe des Nationalsozialismus eine herausfordernde Aufgabe bleibt.“[5]
Wäre ein Spaziergang in den Schluchten der staatlichen Großbauten vom Regime überhaupt erwünscht worden? An das Klima und die Hitzestauungen dachten ein Albert Speer und seine Planungsfanatiker natürlich nicht. Kerstin Hensel, seit 2021 Direktorin der Sektion Literatur in der Akademie der Künste, setzte im Plenarsaal am Pariser Platz den Begriff Spaziergang, zu dem sie mit der Lesung einlud. Cécile Wajsbrot habe sie schon vor einiger Zeit nach dem Schwerbelastungskörper gefragt, ob sie ihn kenne und schon einmal dort gewesen sei. Schwerbelastungswas …? Der Ort, der von Speers Hauptstadt Germania, übriggeblieben sei. Spazieren ist eine eher absichtslose Fortbewegungsart, die kein Ziel kennt, doch Wissen generieren kann. Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze nähmen uns mit auf einen Spaziergang zum Schwerbelastungskörper. Immerhin ein Ort, der durch einen eigens gebildeten Namen bezeichnet wird. In der bis dato einzigartigen Kombination physikalischer Begriffe von Schwere, Belastung und Körper benennt der Eigenname einen Ort und ein Bauwerk.
Mit dem Schwerbelastungskörper ging es den nationalsozialistischen Bauingenieuren um die Vorbereitung der zentralen „Repräsentationsbauten“ in dem Maße, wie dieser selbst zur Repräsentation und noch bis in die 1970er technisch genutzt wurde. Denn für die Baufachleute repräsentierte der Testkörper bereits die in Planung befindlichen Bauten. Schriftsteller*innen sehen, fragen und formulieren anders. Sie generieren Wissen vom Corpus anders. So schreibt die in Paris geborene, französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot in ihrem essayistischen Text Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen zum Schwerbelastungskörper:
„Da haben wir ein solides Wort, ein Wort, das Gefühle wirkungsvoll eindämmt, ein Wort aus Fakten, Fakten … dieser Betonzylinder wurde 1941 von Kriegsgefangenen, oft aus Frankreich stammenden Zwangsarbeitern gebaut. Albert Speer, der Architekt des Dritten Reiches, wollte damit den Widerstand des Bodens testen, um herauszufinden, ob dieser die Übergröße des Triumphbogens aushalten würde, der als Abschluss der Nord-Süd-Achse zur Strukturierung der künftigen Hauptstadt Germania vorgesehen war – ein Triumphbogen, der als Zeichen der Revanche zehnmal so groß sein sollte wie der von Paris.“[6]
Wajsbrot verfolgt in ihrem Text die vielzähligen Vernetzungen, in die der Schwerbelastungskörper über den Widerstand verwoben war oder ist und womöglich weiter vernetzt werden kann. Nicht nur der physikalische, vielmehr noch der politische Widerstand gegen die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Praktiken des „völkisch-rassistischen Ausschlusses“ kommen zum Zuge. Die Akademie der Künste, zu denen der Architekt Erich Mendelsohn in der Sektion Bildende Künste bis 1933 gehörte, wurde für Speers Projekte und seine Mitarbeiter*innen homogenisiert. Die paradoxe Gleichzeitigkeit der Messungen und Vermessungen als Strategie der Moderne nicht zuletzt im Krieg wird von Cécile Wajsbrot herausgearbeitet:
„Tausende von Kilometern weiter stand in einer anderen Zeitzone, in einer Wüste Utahs, 145 Kilometer von Salt Lake City entfernt, zu der Zeit, als man maß, wie tief der Betonzylinder in den Boden einsank, ein von dem Architekten Eric Mendelsohn entworfenes »Deutsches Dorf«. Erich Mendelsohn war jüdischer Herkunft und gleich 1933 nach Großbritannien ausgewandert, wo er seinen Vornamen ins englische Eric geändert hatte. Im Dezember desselben Jahres war er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen worden, baute jedoch zehn Jahre später Berlin in einem unwirklichen Landstrich von Utah nach, indem er ein Berliner Arbeiterviertel zu rekonstruieren half, sechs Mietskasernen mitten in der Wüste. (…) Es ging darum, den Widerstand dieser Gebäudeart zu testen, Teil der Vorbereitungen, die die amerikanische Armee für die Bombardierung deutscher Städte traf – insbesondere Berlin.“[7]
Die planerischen Praktiken, die Berlin auf brutale Weise neu strukturieren sollten, damit Kontrolle und Überwachung zwischen Massenaufmärschen und Verfolgung Einzelner in Gebäudefluchten optimiert werden könnten, führten sozusagen am anderen Ende der Welt mit einer widerständischen Geste Mendelsohns zur Planung der Auslöschung des Regimes. Die Vermessungspraktiken der Größe, die am Schwerbelastungskörper symmetrisch, glatt, massig in nie zuvor bekannten Ausmaßen erprobt wurden, generierten zugleich Szenenarien der Zerstörung. Bauen und zerstören: bauen, um zu zerstören. Cécile Wajsbrot spitzt die Ambiguität der Größe und ihres Schreckens in ihrem Text auf kaum auszuhaltende Weise zu.
„Zerstören, aufbauen. Nach Babi Yar, zum riesigen Massengrab in einer Schlucht am Rand von Kiew, die in Sergei Lozenitsas Film »Babi Yar. Context« auf den darin gezeigten Archivbildern weitab von jeder menschlichen Gegenwart zu liegen scheint, gelangt man heute mit der U-Bahn. Man muß ein Stück laufen, aber das ist nichts im Vergleich zu jener Wüste damals, die Zeugin von hunderttausend Toten wurde, jeder davon ein einzelner. Die Städte überdecken die Spuren, werden zum schwer entzifferbaren Palimpsest. Das etwas höher gelegene Viertel von Warschau, das die Ruinen des Ghettos überdeckt. Der Berliner Teufelsberg, unter dem Rester einer technischen Fakultät liegen, die ebenfalls zum Projekt Germania gehörte.“[8]
In Yoko Tawadas Titel Der Zylinderpilz schwingt, wenn ich ihn lese, der Atombombenpilz über Hiroshima mit, der unter seinem Ausmaß der Zerstörung den II. Weltkrieg in Japan beendete. Umrundet man den Schwerbelastungskörper am Boden zeigt sich, dass der Versuchskörper fast freischwebend auf einer Betonsäule, die sich tief in den Boden hineinsenkt, steht. Für Tawada „verwandelte (die Zeit) ein Gebäude in ein organisches Wesen“[9], einen gewissermaßen unförmigen und atypischen Pilz. Pilze sprießen aus Rhizomen unter der Erde an die Oberfläche. Sie brechen hervor. Doch als Schriftstellerin bezweifelt sie, dass diesem Bauwerk, das den Rechenoperationen der „Vernunft“ entsprungen ist, wirklich mit der „Vernunft“ beizukommen ist. Vielmehr kommen in Tawadas Texten immer wieder plötzlich Wendungen aus einer Art Rhizom in den Text, die unter mehrfachen Drehungen des Sinns ganz anders Sinn machen.
„Er hat im weitesten Sinne die Form eines Pilzes. Um die Bezeichnung »Schwerbelastungskörper« zu vermeiden, nenne ich ihn zuerst Pilz. Wie jene Atompilze, die nach den Bombenexplosionen in den Himmel wuchsen. Vor einigen Jahren kurz vor Mitternacht hat ein Berliner Taxifahrer mich mit einer Frage überrascht: »Wußten Sie, daß es keine Atombomben gibt?« – »Wie meinen Sie das?« – »Ich meine es genauso, wie ich es Ihnen sage. Die Atombomben existieren nicht. Niemand hat es bis jetzt geschafft, solche Waffen zu bauen.« – »Wie kommen Sie darauf?« – »Wundern Sie sich nicht, daß die sogenannte Explosionswolke in Hiroshima auf jedem Foto anders aussieht? …«“[10]
Tawadas Berliner Taxifahrer speist seine Argumentation gegen die Atombombe aus dem Internet, das sich mit seinem frei flottierenden Wissen nach einer Recherche ebenso als kurzlebig erweist, weil die „Beiträge“ gelöscht werden. Yoko Tawada formuliert ihre „Fragmente zu einem Spaziergang“ von der Sprache her und fragt nach der Sprache, wie sie mit dem Schwerbelastungskörper Wissen generiert. Der Begriff Beton wird von ihr gewendet und befragt.
„Das Wort Beton kam aus dem Französischen, in seiner Wurzel entdeckte ich zwei weitere Wörter: Erdharz und Bergteer. Was in einem Text dicht zusammenwächst, ist konkret. So wie das Bauwerk vor meinen Augen steht, ist es zuerst nicht konkret genug. Erst muß durchs Schreiben ein Prozeß der Verdichtung stattfinden.“[11]
Die höchst unterschiedlichen Texte zum verstörenden Spaziergang von Cécile Wajsbrot, Yoko Tawada und Ingo Schulze sind gerade im Junihelft von Sinn und Form – Beiträge zur Literatur erschienen. Wie lässt sich der Architektur in ihrer Mehrdeutigkeit von Baukunst, Baustil und Bauwerk sprachlich beikommen? Die Architektur kommt im 17. Jahrhundert im Deutschen in Gebrauch.[12] Sie wird insofern ein Projekt der Moderne, indem sich eine Matrix der Berechnungen und Vermessungen und Formen über Bauwerke, Städte, ganze Landschaften, legt. Im Schwerbelastungskörper findet die moderne Architektur zumindest der Größe nach einen End- und Schreckenspunkt. Nicht zuletzt werden Bauwerke von den Pyramiden bis zum Eiffelturm von den nationalsozialistischen Architekten bemüht, um die Größe ihrer Germania-Bauten als Höhe- und Endpunkt der Architekturgeschichte zu avisieren. Womöglich wäre der übergroße Beton-Triumphbogen im Berliner Urstromtal einfach umgekippt oder im Boden versunken, hätte man den Beton-Testkörper nicht gebaut. – Immerhin sind bereits Milliarden Euro in der Museumsinsel zur Stabilisierung des Baugrundes versenkt worden. Ganz zu schweigen von den Berechnungsproblemen beim Bau des BER, der einst einen Skywalk erhalten sollte.
Das Problem der Architektur und die Probleme, die sie generiert, liegen zutiefst im Projekt der Erfassung der Welt in der Moderne. Die vermeintliche Berechenbarkeit folgt sehr oft, wenn nicht meistens einer Problemlösungspraxis, die sich nicht voraussehen lässt. Albert Speers Germania-Bauten waren keine Luftschlösser, sondern staatliche Kontrollregime und Rechenexempel der Moderne, die sich als Kunst und Geschichte maskierten. Im fünfzehnten und letzten Fragment ihres – literarischen – Spaziergangs kommt Yoko Tawada mit einer Ich-Formulierung an einen paradoxen Schluss.
„Ich werde versuchen, den Schwerbelastungskörper nicht umzubenennen. Ich werde seinen Namen beibehalten. Er klingt weiter unsinnig, lächerlich, furchterregend, belastend und schwer. Das war nicht die Absicht der Nationalsozialisten. Der Name enthält wie sein Bau eine Materialität, die nicht schnell veränderbar ist. Er wird uns die düstere Melodie des Namensgebers, die er unfreiwillig verraten hat, noch lange vorspielen.“[13]
Ingo Schulze wich in seiner Lesung mit einem neuen Manuskript am stärksten von seinem bereits zur Veröffentlichung freigegeben Text Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße ab.[14] Er schränkte die Gültigkeit seines Textes mit einem Kommentar ein und widmete sich verstärkt dem Konzept der englischsprachigen Mall als Vorbild für die brutale Nord-Süd-Achse. Weder dem Ausmaß des benannten Körpers noch dem SA-Gefängnis lassen sich erzählerisch leicht beikommen. Die Verschiebung des massig benannten Körpers, der kein menschlicher, vielmehr ein geradewegs entmenschlichender Körper sein sollte, zu Reflektionen über die National Mall in Washington, D.C., verfehlte den Spaziergang möglicherweise zurecht. National Mall wird meistens mit „Nationalpromenade“ ins Deutsche übersetzt. Im deutschen Wortschatz ist gar das Verb promenieren für spazieren gehen gebräuchlich.[15]
Die National Mall in Washington ist 4,8 Kilometer lang und 500 Meter breit. Die Nord-Süd-Achse Germanias hätte vom Schwerbelastungskörper bzw. Triumphbogen bis ungefähr zum Europaplatz des Berliner Hauptbahnhofs schnurgerade durch die Stadt gefräst ungefähr die gleiche Strecke einnehmen sollen. Ungefähr 5 Kilometer sind indessen keine Distanz zum Spazierengehen. The Mall in London als Vorbild der historischen oder imperialen Malls ist gar nur 930 Meter lang. Da lässt sich dann promenieren oder spazieren. Nichts dergleichen lässt sich auf den Modellen für Germania erblicken. Ingo Schulze kontrastiert die Speer-Achse zur Mall wie folgt:
„Da die National Mall das Aufmarschgelände durch Rasenflächen und Wasserbassins ersetzt, wird der entscheidende Platz dem einzelnen eingeräumt, sei es bei der Teilnahme an der zeremoniellen Vereidigung eines neuen Präsidenten, beim Sonnenbad oder Spaziergang, sei es bei einer Demonstration oder dem Besuch der Museen oder Denkmäler.“[16]
Der Gestus der Erzählung, wie Ingo Schulze ihn vorführt, scheitert an der gespenstischen Einzigartigkeit des Bauwerks, für das ein eigener Name gefunden werden musste. Wie weit gehört das SA-Gefängnis in der gleichen Straße dazu? Welch monströse Schrecken mögen die Parzellen der Schrebergärten „Kolonie: General-Pape-Straße“ bergen? Lenken Sie nicht eher ab vom Beton und Schrecken? Auf dem Gelände des Informationsortes stehen im Sommer 2023 Bienenstöcke mit fleißig arbeitenden Fluginsekten. In den Hohlräumen des Bauwerks sind alte Messgeräte gleich einer Installation aufgestellt. Auf Fotografien von einstigen Synagogen-Standorten – Missing Synagogues – in Berlin kontrastieren Spielplätze, Kohlendepots etc. das Verschwinden der Synagogen mit der monströsen Präsenz des Betonzylinders. Melissa Gould schreibt 1991 dazu:
„(…) als ich die einzelnen Standorte auf meinem klapprigen Fahrrad abfuhr, wurde ich sehr bald von den Eindrücken der Erinnerung und den Fakten der Vergangenheit, kombiniert mit der leeren Trostlosigkeit der modernen Hässlichkeit, überwältigt. Da und dort waren einige Gedenktafeln angebracht, aber ein allgemeines Gefühl von Unwirklichkeit durchdrang die Präsenz des gegenwärtigen Alltagslebens (manchmal in Form eines Spielplatzes oder eines Kohlendepots), das sich so gelassen auf den früheren heiligen Stätten installiert hatte.“[17]
Das Bauen im Nationalsozialismus in einer Kombination aus Macht Raum Gewalt lässt sich schwerlich von der Architektur der Moderne abkoppeln. Der Berichterstatter hat mehr als 20 Jahre gebraucht, um den Informationsort Schwerbelastungskörper aufzusuchen. Freunde hatten teilweise mit einer gewissen Faszination von dem Bauwerk gesprochen. Diese Faszination war ihm unheimlich oder besser: fühlte sich unpassend an. In unzähligen Kontexten tauchten, die Fotos von Albert Speer mit Germania-Modellen wenigstens mit einer Größenfaszination auf. Mit der Weltpremiere von Speer Goes to Hollywood auf der Berlinale 2020(!)[18], einem Film, der dann bald wieder in den Archiven verschwand, rückte die Perfidität seines Protagonisten unangenehm näher. Doch warum der Architekt mit seinen Versprechen auf Größe keinesfalls Hitlers guter „Nazi“, sondern ein autoritärer, machtversessener und brutaler Haupttäter des Regimes war, wird erst und exemplarisch am Schwerbelastungskörper deutlich. Die Maske der Kunst und der Geschichte verbarg, das Projekt der Herrschaft durch Angst und Schrecken.
Torsten Flüh
PS: Eine Verlängerung der Ausstellung über den 16. Juli 2023 hinaus wäre wünschenswert.
Sinn und Form
Beiträge zur Literatur
Akademie der Künste (Hg.)
Heft 3/2023
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Akademie der Künste
Macht Raum Gewalt
Planen und Bauen im Nationalsozialismus
Pariser Platz 4
U/S-Brandenburger Tor
bis 16. Juli 2023
[1] Zur Hangar-Architektur des Flughafens Tempelhof siehe: Torsten Flüh: Faszination und Versäumnis der künstlerischen Vielfalt Europas. Zur Großausstellung Diversity United in Hangar 2 und 3 des Tempelhofer Flughafens. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juni 2021.
[2] Ebenda.
[3] Siehe: Macht Raum Gewalt: Kernbotschaften und Themenfelder.
[4] Friedrich Dieckmann: Selbmann neben Seldte, Liebermann neben Ley? AdK: News 5.7.2023.
[5] Macht Raum Gewalt: … [wie Anm. 3].
[6] Cécile Wajsbrot: Das Gewicht der Vergangenheit – Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen. Aus dem Französischen von Esther von der Osten. In: Sinn und Form fünfundsiebzigstes Jahr, 2023, Drittes Heft, Juni 2023, S. 330.
[7] Ebenda S. 333.
[8] Ebenda S. 334-335.
[9] Yoko Tawada: Der Zylinderpilz – Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang. In: Sinn und Form. Ebenda S. 339.
[10] Ebenda S. 340.
[11] Ebenda.
[12] Siehe DWDS: Architektur.
[13] Yoko Tawada: Der … [wie Anm. 9] S. 347.
[14] Ingo Schulze: Weisse Stellen, Schwarze Löcher, Blinde Flecken – Zwischen ab. Zwischen »Schwerbelastungskörper« und ehemaligem SA-Gefängnis entlang der Berliner General-Pape-Straße. In: Sinn … [wie Anm. 6] S. 351.
[15] DWDS: promenieren.
[16] Ingo Schulze: Weisse … [wie Anm. 14] S. 361.
[17] Melissa Gould: Rooms of Memory: The Evolution Of An Idea. A biographical note on Floor Plan. 1991. Siehe: Melissa Gould A.K.A. MeGo. January 2012.
[18] Torsten Flüh: Bildgewaltige Faszination und Verstörung. Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2020.