Von der Nacktheit des Menschen

Sprache – Bild – Mensch

Von der Nacktheit des Menschen

Zur universalen Sprache und gezetts Ausstellung in der Aktgalerie im Boxhagener Kiez

Am Freitagabend, den 4. November 2022, eröffnete der Berliner Fotograf gezett in der Aktgalerie, Krossener Straße 34, seine Ausstellung vor allem zur berühmten Plakette mit Botschaft der Raumsonde Pioneer 10, die am 2. März 1972 von der NASA ins Weltall geschossen wurde, um über unser Sonnensystem hinaus nach intelligentem Leben zu suchen. Mehr als 50 Jahre später wissen wir nicht, ob und von wem die Botschaft der Menschen vom Planeten Erde bereits gelesen und verstanden worden ist oder dieses jemals geschehen wird. Am 23. Januar 2003 brach nach über 30 Jahren jeglicher Funkkontakt zu Pioneer 10 ab. Auf eine Distanz von 12 Milliarden Kilometer ließen sich keine Radiosignale mehr auf der Erde empfangen. Sollte Pioneer 10 nicht auf einem Asteroiden zerschellt oder in einer Sonne verglüht sein, bewegt sich die Raumsonde weiterhin einsam mit der Botschaft vom Menschen im All.

Gezett hat während der COVID-19-Pandemie den extraterrestrischen Menschheitsgedanken vom intelligenten Leben 2020 aufgegriffen und die Darstellung der Botschaft auf der Pioneer-10-Plakette mit einem nackten Mann und einer nackten Frau nachgestellt und variiert. Erstens erschien ihm der Ausbruch der Pandemie zu einem Zeitpunkt, als es noch keinen Impfstoff gab und beispielsweise der terrestrische Flugverkehr nahezu vollständig eingestellt worden war[1], als so einschneidend, dass er eine Modifizierung der Darstellung durch die „Maskenpflicht“ mit klinischen Atemmasken vornahm.[2] Zweitens blieb der Mensch nackt, musste aber seine Atemorgane Mund und Nase bedecken, um sich vor einer Infektion zu schützen. Damit vollzog sich drittens zugleich eine Umkehrung der Wahrnehmung von Nacktheit. Das Gesicht und nicht die Genitalien mussten bedeckt werden. Gezett startete sein Fotoprojekt Pioneer – Update 2020. 11 Paare, ein fotografischer Kommentar

In der Krossener Straße, die am legendären Boxhagener Platz entlangführt, kleben z.B. auf den zweiten Blick an den Regenrohren neben dem Schaufenster der AKTGALERIE Sticker mit Botschaften. Da es mit der Plakette um ein ähnliches Medium geht, lohnt sich ein genauer Blick. Wie funktionieren Sticker der jüngsten Zeit? „S…TOR BOXHAGEN“ – Gerstenähren unter Traktor-Motiv vor regenbogenfarbigem Hintergrund. „NNVMS O N E dekadent und assi“ – roter Bär trägt ein Tablett mit gefüllten Gläsern über dem Kopf (wahrscheinlich Biergläser), der Sticker erinnert an ein Bierflaschenetikett. 2 QR-Codes, „(kyrillische Lettern) CEĆNOSLOVÉNIE“ – eine Art gelber Vogelkörper mit humanoider Mund-Nasen-Partie darüber eine Art Brille, darüber ein 5-zackiger Stern … Andere Sticker sind kaum noch lesbar, weil vom Regen verwaschen oder teilweise abgerissen. Die Sticker oder Plaketten sind beispielsweise am Boxhagener Platz schwer zu entziffern, weil unter anderem verschiedene Schriftzeichen und Schrift-Bild-Kombinationen gebraucht werden.   

Die Wissenschaft vom Menschen spielt eine entscheidende Rolle für die visuelle Darstellung auf der Pioneer-10-Plakette. Zugleich wird das Wissen vom Menschen und seiner interstellaren Verortung in unserem Sonnensystem mit dem 1972 denkbar fortschrittlichsten astro-physikalischen und technischen Wissen verkoppelt. Weiterhin entspringt die Montage der Plakette an der Außenseite der Raumsonde dem zeitgenössischen Konzept der Intelligenz. Und schließlich gibt die visuelle Formulierung von der Menschheit einen Wink auf ein wenig erläutertes Konzept einer extrahumanen universalen Sprache. Statt auf eine Buchstaben- oder Zeichensprache oder eine binäre Differenzialsprache wie in der heute überall vorherrschenden Programmierung setzten Carl Sagan, Frank Drake und Linda Salzman mehr oder weniger ad hoc auf eine piktorale Sprache. Vom drittnächsten Planeten zur Sonne führt die Flugkurve der Raumsonde ins Universum.  

Der Anspruch der visuellen Universalität, der der Pioneer-Plakette auf den mit Gold bedampften Aluminiumplatten eingraviert wurde, soll detaillierter reflektiert werden. Auf gezetts fotografischen Kommentar werde ich zurückkommen. Denn der Anspruch der Universalität wird bereits bei der Herstellung der Bilder von relativ lokalen und kurzzeitigen moralisch-kulturellen Skrupeln durchkreuzt. Anlässlich des 50. Jahrestages wurde der kurzfristig beschlossene Beitrag zum Pioneer-Projekt von Sagan, Drake und Salzman durch Gillis Lowry am Carl Sagan Institute der Cornell University gewürdigt:
„In a short timeframe, Carl Sagan, Frank Drake, and Linda Salzman needed to devise a visual representation of humanity, for a theoretical audience they could know nothing about. We may safely assume only one thing: that any alien lifeform seeing the plaque must have been smart enough to find Pioneer in the first place. They would likely grasp the fundamentals of physics and math, the only languages that transcend across space and time.
Carl Sagan and co. settled on a representation of two humans and a silhouette of the spacecraft, accompanied by a few maps to point out home—nearby pulsars and our solar system.”[3]

Warum nutzten Carl Sagan und seine Mitarbeiter*in kein Aktfoto, das in die Oberfläche hätte eingraviert werden können? Hätte sich die Aktfotografie 1972 als „visual representation of humanity“ nicht geradezu aufgedrängt? Der Wunsch nach einer „alien lifeform“ wird von Sagan und seinem Team science fictional mit einer Form empathischer Intelligenz verknüpft. Sieben Jahre später, 1979, sollte Ridley Scott mit Sigourney Weaver in dem Spielfilm Alien den Schrecken einer extraterrestrischen „alien lifeform“ visualisieren. Dessen fremde und durchaus intelligente Wesen hatten, statt eine Plakette zu lesen, nur noch einen unstillbaren Appetit auf Menschen und die eigene Reproduktion. Die wissenschaftliche Suche der NASA nach außerirdischer Intelligenz hatte sich also schon wenige Jahre später in einen Horror verkehrt. Die Intelligenz und ihre visuelle Darstellung in Bezug auf Menschen- und Fremdenkörper war ambig geworden. Die Nacktheit des Menschen wurde zugleich als dessen Schutzlosigkeit konterkariert.    

Die Nacktheit des Mannes und der Frau als konkrete Visualisierung des Menschengeschlechts für außerirdische Lebewesen wurde für Carl Sagan, Frank Drake und Linda Salzman, Carls Ehefrau, zu einem Problem. Nicht nur, dass das Menschengeschlecht graphisch eurozentrisch angelegt ist, der Mann größer als die Frau gezeichnet wurde und die männlichen wie weiblichen Genitalien stark abstrahiert werden mussten, vielmehr die Nacktheit als solche wurde zum Problem einer universalen Sprache in der Wissenschaft und Raumfahrt. Bis auf die Kopfhaare sind die Erdlinge haarlos nackt. Jake Rosenthal wies schon 2016 daraufhin, wie die Plakette mit der Human-Wissenschaft zur „Universal Language“ werden sollte. Wie kann u.a. die Beweglichkeit des Menschen visuell formuliert werden?
„The most prominent figures on the plaque are those of two adult humans: a man and woman. The man bends his arm and displays an open palm—an international greeting, but one that, admittedly, may be meaningless to an extraterrestrial civilization. The woman hangs her arms by her sides and stands with her weight shifted rearward as to dispel any misunderstandings regarding a fixed body and limb position; we are mobile and flexible. Beside the illustrations of the humans is the binary number 8, inscribed between two ticks, indicating the height the woman. The civilization could then conclude that the woman is 8 units tall, the unit being the wavelength (21 centimeters) described by the hyperfine transition key; thus, the woman is 8 times 21 centimeters, or about 5.5 feet tall.”[4]

Die Wissenschaftlichkeit der „Universal Language“ wird von Carl Sagan etc. durch mehrfache Operationen der Abstraktion als graphische Vereinfachung, Hierarchisierung und Normierung konstruiert. Sie knüpft dabei kunsthistorisch an eine klassische bzw. antik griechische Körperdarstellung an, die in der Renaissance von Michelangelo wiederbelebt wird. Diese kulturellen Wissensoperationen werden zugleich als eine Bedeckung der Nacktheit gerechtfertigt. In Hinblick auf die Institution NASA wurde die Menschheit durch Sagan & co. weniger nackt. Denn zu viel Nacktheit hätte 1972 dazu führen können, dass die Botschaft als konzeptionelle Erweiterung der Raumsonden-Mission abgelehnt worden wäre. Statt in einer Aktfotografie erscheint der Mensch in einer als wissenschaftlich ausgegebenen Maskierung, die zugleich von moralischen Bedenken motiviert wurde. Die wissenschaftliche Universalität als Darstellungsform ist insofern mit einem kulturellen Wissen aufgeladen.

Sagan und seine Mitarbeiter*in schreiben der visuellen Darstellung das Wissen ihrer sich permanent wandelnden und vergänglichen Zivilisation ein, die als Universalität im Universum konzipiert wird. Zum Bild wird insofern auf der Plakette ein zivilisatorisches Wissen, das das Bild der Menschheit formt. Doch das zivilisatorische Wissen ist nicht nur der extraterrestrischen Zivilisationen nicht verfügbar, sondern selbst auf Erden eine Bildungsfrage. Unter 8 Milliarden der Weltbevölkerung müsste die Universalität gar als ein Minderheitenkonzept eingestanden werden. Abgesehen vom „international greeting“, die für eine extraterrestrische Zivilisation unlesbar oder bedeutungslos bleiben könnte, ist die universalsprachliche Grafik selbst für viele intelligenzbegabte Erdlinge nicht ganz einfach bzw. kulturell voraussetzungslos zu entziffern. Doch Carl Sagans Anspruch auf Universalität wird fortgeschrieben. Das Carl Sagan Institute an der Cornell University wurde gegründet, um Leben in unserem Universum zu finden: „Founded to find life in our universe.“

Bedenkenswert für die Suche nach Leben in unserem Universum ist die gleichzeitige Prüderie als zivilisatorische Kurzsicht auf die eigene Nacktheit. An der Nacktheit des Menschen geht es immer schon um Schwäche und Stärke, Schutzlosigkeit und Waffe. Von Aktivist*innen wie Femen wird sie als Waffe gegen männliche Dominanz benutzt. Würde es einer extraterrestrischen Zivilisation überhaupt auffallen, dass die Menschen mit ihren seltsamen Reproduktionsorganen nackt sind? Und welche Rolle spielt überhaupt die Reproduktion in der irdischen Zivilisation bei einer immer noch steigenden Überbevölkerung? Die vermeintlich simple Frage nach „Leben“ im Universum bleibt davon abhängig, was die irdischen Zivilisationen Leben nennen. Bereits mit den kolonialen Angriffen auf indigene Zivilisationen z. B. am Rio Negro, wie sie im Ethnologischen Museum im Humboldt Forum seit kurzem thematisiert werden[5], zeigt sich, dass die Bestimmung von „Leben“ hoch elastisch und äußerst divers sein kann. Anders gesagt: der Suche nach intelligentem Leben jenseits unseres Sonnensystems im Universum liegt bereits eine kolonisierende Geste zugrunde.

Das von „der“ Wissenschaft auf der Pioneer-10-Plakette Verdrängte, kehrt visuell in der Alien-Serie von Ridley Scott wieder. Das wäre noch einmal genauer zu untersuchen. Aber zumindest nach meiner ungenauen Erinnerung an mehrere unvollständig gesehene Alien-Filme spielen Nacktheit, Begehren und Reproduktion eine ziemlich prominente Rolle. Sie sind eine Art Kommentar auf das Denken, das in die Plakette eingraviert wurde. gezett kommentiert anders. Ließe sich der Ausbruch der COVID-19-Pandemie als ein zivilisatorischer Einschnitt beschreiben? Zumindest lassen sich die medizinischen Masken aus dem Jahr 2020 als ein solcher denken. Allein schon deshalb, weil im März 2020 Freund*innen auf meine Bemerkung, dass in Japan und China viel häufiger von selbst Masken z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln getragen würden, damit antworteten, sie wären „doch keine Chinesen“. Die zivilisatorische Praxis des Maskentragens bei Gesundheitsrisiken wurde mit einem rassistischen Argument zurückgewiesen.

gezett inszeniert mit pioneer – update 2020 sowie Serieller Fotografie Zivilisationen, Praktiken der Nacktheit. Die Menschen, Männer und Frauen lassen sich von gezett fotografieren, weil sie ihre Nacktheit selbstbewusst praktizieren. Das gilt zunächst einmal für die 11 Paare des Pioneer-Projektes. gezett arrangiert sie divers und gibt damit zugleich einen Wink auf die normierende Konstruktion des Paares für die extraterrestrischen Intelligenzen. Die Aktfotografie enthüllt damit vor allem eine Normierung von Körpern und Geschlechtern. Schauen Sie sich die Paare genau an! Haben Sie keine Scheu! Sie werden eine große Vielfalt entdecken. Die Paare erinnern mit den medizinischen Masken zugleich an die Freikörperkultur an Stränden und in Badeanstalten. Die Maskierung erhält als Kommentar unversehens einen ironischen, witzigen Zug. Ich will die Paare in ihrer Diversität gar nicht nach Herkunft und Merkmalen beschreiben. Der Fotograf kann wundervolle Geschichten zu seinen Paaren erzählen.

Die Nacktheit hat in den Foto-Projekten von gezett einen Zug der Befreiung. Das hat  mit dem Medium Fotografie selbst zu tun. Neben dem posierenden Pioneer-Projekt mit seinem epidemiologischen Hintergrund sind es drei serielle Fotoprojekte, die den Gestus der Befreiung durch den Modus der Serialität in der Fotografie inszenieren. Anna in Red, Marie und Jade setzen Serialität, Bewegung und Belichtungszeiten als fotografische Mittel ein. Anna springt auf einem Trampolin, so dass ihre Haare und ihr rotes Kleid in die Höhe fliegen. Anna bleibt durch eine extrem kurze Belichtungszeit mit einem starken Blitz in der Luft stehen… Die Serialität der technisch anspruchsvollen Fotografie lässt Bewegungen sichtbar werden. In anderen Projekten und Fotobüchern von gezett wird mit längeren Belichtungszeiten und der daraus entstehenden Unschärfe bei Bewegungen des Models experimentiert.

Die Serialität durchkreuzt bei gezett einen fetischistischen Gebrauch. In der Geschichte des Akts dominiert in der europäischen Kunstgeschichte seit Jahrtausenden der – eingefrorene – Einzelakt. Diese Geschichte nicht zuletzt der Aktfotografie als eine des Einzelfotos wird von der Serialität angeschnitten. Das Bild der Frau entzieht sich tendenziell einer Verfügbarkeit. Die Frauen in den seriellen Fotografien von gezett bleiben nicht passiv, vielmehr bewegen sie ihren Körper fröhlich und frei. In der eurozentrischen Bildgeschichte der weiblichen Nacktheit macht das einen Unterschied. Das serielle Spiel von Verhüllung und Enthüllung generiert einen anderen Effekt der Nacktheit. Man könnte sagen, dass gezetts seriellen Fotografien rein fototechnisch generiert werden. Doch dadurch werden zugleich Bilder vom weiblichen Körper verschoben. – Nicht zuletzt in Hinblick auf die Pioneer-10-Plakette ist das nicht Nichts.

Torsten Flüh

gezett
Pioneer – Update 2020.
11 Paare, ein fotografischer Kommentar

Serielle Fotografie.
Bis 27. November 2022,
15 -19 Uhr Fr – So.
Die Aktgalerie
Krossener Straße 34
10245 Berlin

Zusätzlich: Offenes Atelier
Kreativfabrik
Studio Gezett
Babelsberger Straße 40/41,
zum Tag der offenen Ateliers am 19.-20. Nov, 15-19 Uhr.


[1] Siehe zum weitestgehend stillgelegten Flugverkehr im April 20202: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[2] Siehe zur Einführung und Anzeige der „Maskenpflicht“ auf dem Verkehrsleitsystem im April 2020: „! Ab Montag Pflicht: Mund-Masken-Schutz in Bus und Bahn!“ In: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[3] Gillis Lowry: 50th Anniversary of Pioneer 10. In: Carl Sagan Institute, Cornell University. Ithaca, New York 3/02/2022.

[4] Jake Rosenthal: The Pioneer Plaque: Science as a Universal Language. In: The Planetary Society, Jan 20, 2016.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum. Zur finalen Eröffnung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum mit Benin-Bronzen, Omaha-Kultur und Rundhaus vom oberen Rio Negro. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Oktober 2022.

Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur

Pazifismus – Männlichkeit – Philosophie

Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur

Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak

Das Handbuch hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Wissenschaftsbereichen geradezu als ein eigenes Genre entwickelt. Mit dem Handbuch von unterschiedlicher Stärke wird Wissen geordnet und verfügbar. „Handbuch Wissenschaftliches Schreiben“, „Handbuch Bettina von Arnim“ (2020), „Handbuch Literatur & Philosophie“ als „Band 11 der Reihe Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie“ von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt (2021) etc. und nun das Wittgenstein-Handbuch Leben – Werk – Wirkung (2022).[1] Der akademische Apparat produziert beispielsweise und zuvörderst mit dem De Gruyter Wissenschaftsverlag Handbücher. Vom Titel her – und das wäre nun gerade beim Sprachspiel-Philosophen Ludwig Wittgenstein nicht nichts – liest sich das Wittgenstein-Handbuch besonders griffig. Wie ist der Berichterstatter überhaupt auf die Idee gekommen, in das Wittgenstein-Handbuch hineinzuschauen?

Im Erscheinungsjahr 2022 hat gerade der Passagen Verlag einen Band mit zwei Stücken von Götz Wienold veröffentlicht: Wittgenstein in Cassino und Trackls Tod.[2] Da den Berichterstatter Wienolds Wittgenstein mit seinem Szenarium von Krieg, Männlichkeit, homosexuellem Begehren und Pazifismus derart mitgerissen hat, dass er zur Absicherung doch noch einmal in eine Biografie zu Ludwig Wittgenstein hineinschauen wollte, stieß er auf das jüngst erschienene Handbuch. 2022 ist schon deshalb kein Erscheinungsjahr wie jedes andere, weil sich die Frage nach dem Verhältnis von Krieg, Literatur und Pazifismus auf dramatische und zuvor nicht gekannte Weise zugespitzt hat. Die jüngste Buchpreisverleihung an Kim De L Horizon für Blutbuch[3]und die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan spielen sich im Spannungsfeld von Krieg, Literatur, Geschlecht und Pazifismus ab.

Mit dem Krieg, Geschlecht und Frieden ist es nicht einfach. Das hat nach der Buchpreisverleihung Kim De L Horizon als genderfluide Autor*in und erste offen queere Person, die den Deutschen Buchpreis jemals verliehen bekommen hat, nach der Preisverleihung erfahren müssen. Kim rasierte sich bei der Preisverleihung als Solidaritätsgeste mit den protestierenden Frauen im Iran auf offener Bühne die Haare ab – und erntete Hass, obwohl der Geschlechtsfließende „niemandem etwas Böses“ will.[4] Serhij Zhadans Kriegstagebuch Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg erschien am 10. Oktober 2022 im Suhrkamp Verlag und löste Bedenken aus, ob es den Statuten des Friedenspreises entspreche. Am 26. Februar 16:45 heißt es im Tagebuch ziemlich unfriedlich:
„Das ukrainische Militär arbeitet beeindruckend und professionell. Alle motiviert, wollen den Feind mit den Zähnen zerreißen.“[5]

In diesem Debattenfeld kommt nun das Stück Wittgenstein in Cassino von Götz Wienold zum Zuge, das der Autor im Gesprächskreis Homosexualität mit einem Apfel auf dem Tisch szenisch las. Das Stück funktioniert als dramatischer Text anders als der Roman vom Ich De L Horizons und anders als die Tagebuch-Nachrichten von Serhij Zhadan. In den jeweiligen Textgenes wird unterschiedlich gesprochen. Das mag nun als eine Spitzfindigkeit angesehen werden, während bei Debatten derartige Unterschiede unversehens, man muss schon sagen, überbrüllt werden. Aber es wird gerade dann, wenn es um den Philosophen Ludwig Wittgenstein und dessen Lesart geht, entscheidend. Götz Wienold, geb. 1938, soviel darf vorausgeschickt werden, hat 1961 im Austauschprogramm mit der Universität Münster an der University of St. Andrews in Schottland studiert, als der Geist von Wittgenstein (1889-1951) in der angelsächsischen Philosophie recht präsent war. Er arbeitete später über linguistische Theorienbildung. Insofern beschäftigt sich Wienold seit ca. 60 Jahren mit Wittgenstein, dessen Philosophie und Ethik sowie dessen Pazifismus. Dass Wittgenstein in Cassino plötzlich in einem Debattenfeld erscheint, von dem es nichts wissen konnte, macht das Stück hoch aktuell und als Beitrag ein wenig solider als manch eine Preisrede.

Was wissen die Literaturen von Ludwig Wittgenstein? Wittgenstein in Cassino wurde von Götz Wienold sorgfältig recherchiert und arrangiert. Das Personal und die Handlung des Stückes sind bis auf Wittgenstein „frei erfunden“.[6] Doch Wienold verarbeitet und bearbeitet in seinem Text zugleich unterschiedliches Wissen, dessen Quellen im einzelnen schwer zu verifizieren sind. Zweifelsohne wird ein Wissen vom Hörensagen und aus der Lebenspraxis eingeflossen sein. – Da jetzt das Fluide mit Kim so prominent geworden ist, musste an dieser Stelle das Fließende des Wissens erwähnt werden. – Einen Wink auf eine Quelle gibt das Datum der Erstfassung mit 2012. Denn 2011 hatte das Schwule Museum die Ausstellung Ludwig Wittgenstein. Verortung eines Genies gezeigt.[7] Dies geschah u.a. mit einem Portraitfoto des Philosophen von Ben Richards aus dem September 1947 in Swansea.

Die Homosexualität Wittgensteins war 2011 schon länger besprochen worden. Es gab gar eine Art Philosophenstreit darüber, wen das „Genie“ begehrt hatte. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Briefen, Manuskripten und Schriften einen derartigen Begriff nicht gebraucht, was wahrscheinlich mit seiner auf die Sprache ausgerichteten Philosophie zu tun hat. Er philosophierte sprachkritisch, ließe sich sagen. Wienold setzt das homosexuelle Begehren in seinem Stück von Anfang an als Trennendes und Verbindendes in Szene:
„An einer von den Mann-Frau-Paaren weit entfernten Stelle am Zaun ein sehr junger Mann in österreichischer Mannschaftsuniform, Fabrizio Zähring, draußen, und Ludwig Wittgenstein drinnen. Wittgenstein ist dreißig, sieht auch unter den Umständen der Gefangenschaft sehr gut aus. Dicht am Zaun beieinander, doch nur vorsichtige Berührungen.“[8]

Das Trennend-Verbindende der Gefangenschaft durch den Zaun zwischen den Paaren ob Mann und Frau oder Mann und Mann gibt einen Wink nach Wittgenstein. Bereits vom 9. April 1917 stammt von ihm der Wink auf das Sprechen und die Sprache mit der Formulierung „»[…] es ist so: Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!«“.[9] Die eröffnende Szene am Zaun handelt, noch bevor die Figuren Ludwig und Fabrizio zu sprechen beginnen, von der Sprache und der Liebe unter den Menschen. Die Sprache und der Sprecher gleich wessen biologischen Geschlechts stellen Hierarchien und Grenzen her, die mit dem Ausgesprochenen nicht einfach überwunden werden können. Die Gleichgeschlechtlichkeit kann das in Wienolds Stück nicht überwinden.
„LUDWIG: Ich liebe dich, weißt du das nicht?
FABRIZIO: Das dürfens nicht sagen.
LUDWIG: Ich liebe dich, heißt, ich möchte dich lieben, wenn ich es darf. Ich dich lieben dürfen, wenn du es erlaubst.
FABRIZIO: Ich kann Ihnen doch nichts erlauben.“[10]

Die Gleichgeschlechtlichkeit spielt in Wienolds Stück nicht zuletzt eine Rolle, wenn ein Mann auf einen anderen Mann schießen soll – und es nicht kann. Die Logik des Geschlechts nimmt im Krieg eine fundamentale Funktion ein. Die Männer mussten in der Ukraine bleiben. Männer werden zum „Feind“, der „mit den Zähnen zerr(iss)en“ werden muss. In seiner Rede vom 24. Februar 2022 hat Wladimir Wladimirowitsch Putin bis in die Interpunktion geschlechtlich argumentiert.[11] – Sind wir durch die Sprache, das heißt, die Sprachen und das Sprechen zum Geschlecht verdammt? Und: Wie steht es dann um den Pazifismus? Das ist im Moment kein geringes Problem. Es ist ein Paradox, das in Wittgenstein in Cassino eine dramatische Rolle spielt. Welche Rolle spielt das Geschlecht in seiner Vieldeutigkeit in der Philosophie? Kommt die Geschlechtlichkeit im Wittgenstein-Handbuch vor? Was könnte es heißen, wenn sie nicht vorkommt? Wagen wir zunächst eine lexikalische Probe: sexualität: 0, Null, nichts bei „Sexualität“ und „Homosexualität“. Aber 1, ein Gebrauch bei „Geschlecht“ mit der Formulierung eines Vorbehalts:
„Des Weiteren berichtet Drury über Otto Weininger: W. hielt Geschlecht und Charakter für »das Werk eines außergewöhnlichen Genies«, trotz seiner »Vorurteile« und Irrtümer (…), über Blaise Pascal (über den er aber nie mit W. gesprochen hat, …) und Samuel Johnson.“[12]

Die Philosophie des Wittgenstein-Handbuch argumentiert weitestgehend ohne das Geschlecht. In Hans Biesenbachs Handbuch-Artikel zu Maurice O’Connor Drury kommt es syntagmatisch zu einer bedenkenswerten Leseunsicherheit, einer Art Doppeldeutigkeit. Wer ist „W.“? Syntagmatisch könnte es Weininger sein. Doch im Handbuch wird das Initial W. ausschließlich für Wittgenstein gebraucht. Das skandalisierte Weininger-Buch Geschlecht und Charakter hielt Wittgenstein also für „das Werk eines außergewöhnlichen Genies“. Das wäre vielleicht in seiner philosophischen Tragweite zu diskutieren. Dies findet aber im Wissensmodus des Handbuchs nicht statt. Diesem ist allerdings eine Biografie von Joachim Schulte vorangestellt, die zweifelsohne einen Beitrag zur Denkpraxis Wittgensteins liefern soll. Doch die Geschlechtlichkeit des Denkens bleibt seltsam vage im Modus des Scheinens, wenn es recht früh zur Beziehung Wittgensteins zu David Hume Pinsent heißt:
„Wie es scheint, wollte W. das ihn zu sehr ablenkende Leben in Cambridge hinter sich lassen und an einem möglichst ruhigen Ort ungestört an seinem Manuskript arbeiten. Auch Pinsent ging seinen Studien nach. Manchmal wurde gesegelt oder gerudert, man ging spazieren, und abends wurde Domino gespielt. Nach wenigen Tagen brach W. allein auf, um nach Bergen zu fahren und dort zwei Bände Schubertlieder zu besorgen: Pinsent spielte den Klavierpart und W. pfiff die Singstimme.“[13]

Der Wissensmodus des Scheinens – „Wie es scheint“ – versteckt nicht zuletzt das vielleicht auch befreiend Geschlechtliche zum „Leben in Cambridge“. Unbehelligt konnten Ludwig und David dort nicht sein. Schulte zitiert wiederholt Textstellen aus Briefen Wittgensteins, bei denen eine Ambiguität zumindest zwischen dem Philosophischen und dem Geschlechtlichen durch die Formulierung bestehen bleibt. Was könnte beispielsweise „eine bestimmte Tatsache sein“ über die „man … nicht hinwegkommt“? (Die Unterstreichung kann wg. der Codierung der Blog-Software nicht übernommen werden.) Um die Mehrdeutigkeit der Briefstelle hervorzuheben hat der Briefschreiber sie unterstrichen. Ist die „Tatsache“ ein philosophisches Problem oder ein geschlechtliches, wenn Wittgenstein es gar im Kontext von Selbstmord diskutiert?
„Ganz rückhaltlos konnte er Engelmann sein Befinden schildern: »Ich bin nämlich in einem Zustand, in dem ich schon öfters im Leben war, und der mir sehr furchtbar ist: Es ist der Zustand wenn man über eine bestimmte Tatsache nicht hinwegkommt« (… 1.6.1920). In einer solchen Lage ist, wie W. dem Freund auseinandersetzt, auch der Selbstmord kein Ausweg, denn der Selbstmord sei stets eine Art Selbstüberrumpelung, und nichts sei »ärger, als sich selbst überrumpeln zu müssen«.“[14]

Die Briefstelle mit der Unterstreichung lässt sich im Kontext des Bio-Grafischen auf verschiedene Weise lesen. Der Suizid, das Sich-das-Leben-nehmen ist von größter philosophischer Tragweite[15], zumal Ludwigs drei ältere Brüder Hans, Kurt und Rudolf 1920 bereits Selbstmord begangen hatten. Geht es also nur um ein „Befinden“ oder Empfinden oder um eine „Tatsache“ der Sprache, die sich schwer in Worte fassen lässt? Nach Tractatus logico-philosophicus 6.43, den Wienold als Motto seines Stückes zitiert, wären „Tatsachen; (…) das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann“. In der Biografie Schultes wird das nicht weiter erörtert. Die Gefangenschaft in Cassino kommt denn auch eher als eine Art „Gesprächszirkel“ vor.
„Die Offiziere organisierten Kurse und Gesprächszirkel. Auch W. beteiligte sich an einigen dieser Veranstaltungen, doch im Großen und Ganzen waren ihm Diskussionen unter vier Augen oder im kleinsten Kreis lieber. Er schloss Freundschaften, u. a. mit dem Lehrer und Schriftsteller Fritz Parak, dem Pädagogen Ludwig Hänsel und dem Bildhauer Michael Drobil, in dessen Werkstatt er einige Jahre später den Kopf einer jungen Frau modellierte. Die Freundschaft mit Hänsel hatte bis an W.s Lebensende Bestand. Wie vor ihm Engelmann, wurde auch Hänsel zu einem wichtigen Element im engmaschigen Geflecht der Familie Wittgenstein.“[16]

Die „Familie Wittgenstein“, wie Schulte sie anschreibt, ähnelt eher einer Wahlfamilie denn einer genealogischen. In dieser Familie wird viel miteinander gesprochen und korrespondiert. Von Interesse wäre durchaus das Modell eines „Kopf(es) einer jungen Frau“. In der Jugend herrscht oft noch eine visuelle Uneindeutigkeit des Geschlechts. Außer den Schwestern kommen wenig Frauen in der Wittgenstein-Biografie vor. Die Beziehung zu Marguerite führt zwar auch zu einem gemeinsamen Norwegen-Aufenthalt wie zuvor mit David Pinsent, aber der könnte ebenso unter ganz anderen Vorzeichen gestanden haben. Später wird Ludwig Marguerite recht grob das Damenhafte ankreiden. Als Gesprächspartnerin in der „Familie Wittgenstein“ fand sie offenbar keine Aufnahme. Was umschreibt die Formulierung, dass es „nicht viel Leidenschaft gegeben“ habe zwischen den beiden? Geht es da nicht gerade um das Geschlecht und Geschlechtliche? 
„Im Verhältnis zwischen Ludwig und Marguerite scheint es noch einiges Auf und Ab, aber nicht viel Leidenschaft gegeben zu haben.“[17]

Der Begriff der Liebe kommt in der Biografie ebenfalls selten vor. Statt von der Liebe zu Menschen oder Männern zu schreiben, wird wiederholt über Vorlieben und die Liebe zu „amerikanischen Krimis“, „altmodischen Slangausdrücken“ wie zur Musik gesprochen. Die Liebe zur Musik steht indessen häufig im Kontext des gemeinsamen Musizierens mit Männern, wobei die Gesangsstimme von Ludwig wiederholt als Melodie gepfiffen wird. Das ist vielleicht nicht gerade eine „männliche“ Art des Musikmachens. Doch Schulte lässt das Problem der „Liebe zu Richards“ wegen des Altersunterschieds nicht unerwähnt. Hier wird nun die Liebe als „großes, seltenes Geschenk“ formuliert. Die Liebe wird mit der „religiösen Gewissheit“[18] und insofern mit einer oder mehr noch als eine Form des Wissens von Wittgenstein angesprochen. Doch nur einmal wird sie bei Ben Richards zwischenmenschlich mit einem Zweifel verknüpft.
„Eine besondere Stütze während dieser Zeit war Ben Richards, der in Cambridge Medizin studierte und den W. wohl Ende 1945 kennengelernt hatte. Einerseits war die Liebe zu Richards, wie er im Tagebuch schreibt, ein »großes, seltenes Geschenk« (Ms 132, 77), andererseits fragte er sich immer wieder voller Sorge, ob der Jüngere ihn verlassen wolle. In den folgenden Jahren trafen sich die beiden an verschiedenen Orten, …“[19]

Kommen wir zurück zum Wissen der Literatur in Wittgenstein in Cassino. Die Liebe in dem Stück wird auf mehrfache Weise durchgespielt. Sie wird mit der weiblichen Figuren Lucia Tossi durch den Tractus logico-philosophicus mit einem Apfel in Szene gesetzt. Nun ist ein Apfel, um den es geht, literarisch seit Eva aufgeladen. Beim Apfel geht es immer auch um die Frage nach dem Wissen und Formen des Wissens wie dem vom alttestamentarischen Paradies und dem Sündenfall: „Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.“ (1 Moses 3, 6) Nennen wir das Klugwerden durch das Essen ein Erfahrungswissen. Doch bei Wienold geht es mit dem Apfel um linguistische Sprachoperationen in der Art eines Sprachspiels über die Logik.
„LUCIA: Aber der m u ß sein: Apfel und Krokus?
LUDWIG: Nicht Apfel und Krokus. Sie sehen es ja. Nimmt den Apfel wieder auf, hält die Hand über den Krokus, als wäre er nicht da. Das u n d ist es, Signorina Lucia, das u n d zwischen den beiden Sätzen.

LUDWIG: hat den Krokus längst wieder freigegeben, den Apfel wieder hingelegt. Noch einmal. Wahr ist ‚Auf dem Boden liegt ein Apfel‘, ‚Dort auf der Wiese blüht ein Krokus‘, beide Sätze wahr.
LUCIA: Ich sehs ja, ich sehs ja. Und wie schön er heute blüht, Herr Ludwig!
LUDWIG: Aber ,Auf dem Boden liegt ein Apfel‘ u n d ‚Dort auf der Wiese blüht ein Krokus‘, obwohl beide Sätze wahr, n i c h t  w a h r. Dann?“[20]  

Das Stück spitzt sich auf die Frage der Männlichkeit und des Pazifismus‘ zu. Denn Ludwig Wittgenstein hatte sich als Österreicher im August 1914 aus Cambridge freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Er nahm in verschiedenen Funktionen wie Kurierdienst, Arbeit in er Artillerie-Werkstatt in Krakau und im Werkstättenzug am Krieg teil. Wienold stellt die Kriegsteilnahme von Anfang an in den Kontext von Wittgensteins Freundschaft mit Bertrand Russel, der sich auf englischer Seite 1914 als Aktivist und Autor gegen die Kriegsteilnahme engagierte. In Kriegsgefangenschaft hatte er sich am 9. Februar 1919 mit einem Brief direkt an Russel gewendet und im Dezember diesen Jahres in Den Haag getroffen. Erstaunlicher Weise fehlt im Wittgenstein-Handbuch der Begriff Pazifismus ganz. 
„HEILINGSETZER: Russell, Freund dir, schätzt dich ganz groß. Russell verweigert den Kriegsdienst, geht ins Gefängnis, als Pazifist. Du gehst in den Krieg. Hat die Philosophie Russell ins Gefängnis geführt, dich in den Kriege?
MASULA: Natürlich hat die Philosophie Leutnant Wittgenstein in den Krieg geführt. Wie Sie sicher auch, Leutnant Heilingsetzer.
LUDWIG mit ganz kurzem Blick auf Masula: Das macht doch keinen Sinn, Heilingsetzer.“[21]

Die Freiwilligkeit der Kriegsteilnahme als Kundschafter, Späher oder Techniker wird von Wienold als ein philosophisches Problem formuliert. „Die Philosophie stärkt den Charakter“, hatte er Masula behaupten lassen. Doch in welcher Weise sie ihn „stärk“ bleibt offen. Was könnte die Freiwilligkeit der Kriegsteilnahme bei gleichzeitiger Nähe zum Pazifismus durch einen der bekanntesten Pazifisten überhaupt hinsichtlich der Philosophie bedeuten? Könnte es sein, dass Wittgenstein sozusagen lebenspraktisch seine Freiwilligkeit, die Möglichkeit zum freien Willen testen wollte? Im Stück lässt Wienold Russell selbst das Paradox des Pazifismus formulieren.
„LUDWIG sich wieder nicht um Masula scherend: Russell schreibt mir zeigt einen Brief vor, liest: Alles, was ich getan habe, war ganz und gar nutzlos außer für mich selbst. Ich habe keinem das Leben gerettet, den Krieg nicht eine Minute früher zu Ende zu bringen geschafft.
HEILINGSETZER hat mitgelesen und liest jetzt weiter: Wenigstens hatte ich aber nicht Teil am Verbrechen der kriegslüsternen Nationen. Für mich aber eine grundlegende Einsicht und eine neue Jugend.“[22]  

Die Nutzlosigkeit der pazifistischen Haltung und das „Für mich“ haben eine Tragweite in der Philosophie. Der Pazifismus taugt damit vor allem nicht als generalisierende Handlungsanweisung. Die Philosophie kann keine generalisierenden Aussagen treffen, die sich in Handlungen im Leben umsetzen lassen. Womöglich war Ludwig Wittgenstein auf seine Weise für sich ebenso Pazifist wie Bertrand Russell. Es wurde nur weniger offensichtlich. Das Tötungsverbot des Pazifismus‘ muss völlig abgekoppelt werden von der Frage der Männlichkeit und könnte doch einen Wink auf die Gleichgeschlechtlichkeit geben. Wienold setzt die Frage der Männlichkeit dramaturgisch ein. Die österreichischen Offiziere in italienischer Gefangenschaft rechtfertigen ihr Töten mit dem „Sinn“ der Männlichkeit:
„MARZAHN: Der Mann am Maschinengewehr setzt es auf 60 cm über dem Boden und läßt es über den ihm zugeteilten Bereich streichen. So werden die Beine der feindlichen Soldaten getroffen, sie fallen. Jetzt sind Kopf und Oberkörper im Zielbereich und werden getroffen. Das macht den ganzen Sinn. Und ich am MG bin befriedigt. Sehr befriedigt. Glücklich! Glücklich!!
MITTERÄCKER: Wir müssen töten.
HAPPEL und FIEREDER: Und wollen.
SABLATNIG: Krieg ist Krieg.“[23]

Der Sinn des Tötens und die Befriedung am Töten geben der Philosophie Fragen auf, die mit der Konstruktion von Männlichkeit verknüpft sind. Russells Pazifismus bleibt nutzlos und macht keinen Sinn. Philosophisch betrachtet, treibt der Pazifismus dem Krieg den Sinn aus. Daraufhin muss die lebenspraktische wie philosophische Sinnfrage anders gestellt werden. Die von Marzahn ausgesprochene Befriedung ist im Feld des Geschlechtlichen äußerst vertrackt. Sie schwingt aktuell in den Kriegsberichten aus der Ukraine mit, wenn von den Dutzenden tschetschenischen Kadyrow-Anhängern berichtet wird, die getötet worden sein sollen. Und man kann nicht seine Ohren davor verschließen, dass die Erzählung von den Tötungen ihrerseits eine Antwort auf die Forderung nach dem Einsatz strategisch-atomarer Waffen in der Ukraine durch den Maulhelden Ramsan Achmatowitsch Kadyrow. Es gibt die Narrative von der Männlichkeit und – den Krieg. Die verbale Hyper-Männlichkeit Kadyrows spielt derzeit eine wichtige Rolle in den Kriegshandlungen. – Es war nicht zuletzt die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die im Januar 2020 an die Funktion der Sprache und der Sprachspiele bei Ludwig Wittgenstein angeknüpft hat.[24]

Torsten Flüh

Götz Wienold
Wittgenstein in Cassino
Trakls Tod

Wien: Passagen, 2022.
176 Seiten, 12,8 x 20,8
ISBN 978-3-7092-0504-4
21,00 EUR

Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.)
Wittgenstein-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung.
Berlin: J. B. Metzler, 2022
ISBN: 978-3-476-05854-6
e-Book EUR 79,99
Hardcover Book EUR 99,99


[1] Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022.

[2] Götz Wienold: Wittgenstein in Cassino. Trackls Tod. Wien: Passagen Verlag, 2022.

[3] Kim De L. Horizon: Blutbuch. Köln: Dumont, 2022.

[4] Ronja Merkel: Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon: „Ich will niemandem etwas Böses“. In: Der Tagesspiegel 22.10.2022.

[5] Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 8.

[6] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 92.

[7] Carsten Weidemann: Wittgenstein im Schwulen Museum. In: Queer.de vom 16. März 2011.

[8] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 18.

[9] Joachim Schulte: Biografie. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022 S. 9.

[10] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 18.

[11] Siehe zur Geschlechtlichkeit der Kriegserklärung: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.

[12] Hans Biesenbach: Maurice O’Connor Drury. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch… [wie Anm. 1] S. 143.
Ray Monk dockte 1990 mit Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius an ein Zitat von Otto Weininger aus Geschlecht und Charakter an, das er seiner Biografie als Motto voranstellte: „Logic and ethics are fundamentally the same, they are no more than duty to oneself.“ Ray Monk: Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius. London: Jonathan Cape, 1990. (ohne Seitenzahl)

[13] Joachim Schulte: Biografie. In: Ebenda S. 6.
Ray Monk hatte bereits 1990 im Anhang, Bartleys Wittgenstein und die kodierten Bemerkungen, zu seiner Biografie W. W. Bartleys Studie Wittgenstein, ein Leben (München 1983) diskutiert. Bartley hatte Wittgensteins homosexuelle Praktiken direkt mit seiner Philosophie kontextualisiert. Er hatte dabei auf andere als schriftliche Quellen für die Zeit zwischen 1919 und 1929 zurückgegriffen. Die These promisker Sexualpraktiken wurde heftig diskutiert: „Was sagt Bartley eigentlich? Ihm zufolge hat Wittgenstein während seiner Lehrerausbildung in Wien, als er ein eigenes Zimmer hatte, im nahgelegenen Prater einen Ort entdeckt, wo er „derbe junge Männer“ fand, „die sich bereitwillig sexuell auf ihn einließen“ (S. 40).“ Ray Monk: Ludwig Wittgenstein: das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 615.

[14] S. 12.

[15] Siehe dazu: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 16, 2017 19:41.

[16] Joachim Schulte: Biografie. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022 S. 9.

[17] Ebenda S. 16

[18] Ebenda S. 251.

[19] Ebenda S. 28.

[20] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 41-42.

[21] Ebenda S. 43.

[22] Ebenda S. 44.

[23] Ebenda S. 53-54.

[24] Siehe: Torsten Flüh: Von der Notwendigkeit des Agonismus für das politische Leben. Chantal Mouffe spricht mit Peter Engelmann über Demokratie, Populismus und Affekte im Roten Salon der Volksbühne Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2020.

Die formidable Carte Blanche im Julius

Kulinarik – Intelligenz – Kunst

Die formidable Carte Blanche im Julius

Zum kometenhaften Aufstieg des Restaurant Julius am Weddinger Nettelbeckplatz

An die Kegelbahn am Nettelbeckplatz erinnert nur noch das Reklameschild Keglerklause gleich neben den großen Schaufenstern des Julius. Mitten im ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie im April 2020 sollte das Restaurant Julius eröffnen. Plötzlich bildeten sich an Wochenenden längere Schlangen meist jüngerer Menschen vor dem verhinderten Restaurant, um besonders angepriesene Orangenmarmelade in 250-Gramm-Gläsern für einen recht stolzen Preis zu kaufen. Meistens waren die Marmeladengläser schnell ausverkauft. Die Menschenschlangen hatten sich wieder aufgelöst. Mit den ersten zaghaften Lockerungen im Sommer 2020 durfte das Julius seinen Restaurantbetrieb aufnehmen. Ausgerechnet zu jener Zeit, als sich ein wenn auch nicht ganz so katastrophales, so doch spürbares Restaurantsterben wegen der Pandemie in Berlin ereignete, eröffnete Shunsuke Nagaoke am Nettelbeckplatz sein ambitioniertes Projekt Julius.

Die Carte Blanche im Julius ist ein kulinarisches Feuerwerk. Die drei Köche im Julius beginnen ihre Kunst am frühen Vormittag beispielsweise mit der Auswahl der rot geäderten Mangoldblätter, die abends um 19:00 Uhr mit Bohnen und Miso als zweiter Gang auf den Punkt serviert werden. Das Eintreffen der Gäste ist nach Reservierung genau getaktet, damit jeder Gang fast auf die Minute frisch serviert werden kann. Kochen heißt im Julius zunächst einmal eine genaue Taktung, wie sie sonst vielleicht nur in der Musik bekannt ist. Die Carte Blanche als vegetarisches, fleischliches oder aquatisches Menü aus 9 Gängen erlaubt Shunsuke Nagaoke als Chef die größtmögliche Flexibilität bei perfekter Taktung mit Aromen, Texturen, Farben und Formen. Neben dem schmuddeligen Nettelbeckplatz mit seinen Spätis, Romas, Döners, Alkis, Demos, aber auch jungen Familien, Kita, Bonaventure Soh Bejeng Ndikungs Savvy Contemporary[1] und Ernst ebenso wie Silent Green ist das eine internationale Sensation der Nouvelle Cuisine, die nur hier möglich werden konnte.

Meine Besprechung des Julius möchte ich nutzen, um städtische Transformationen in einem Kiez zu beschreiben, der wegen seiner noch niedrigen Mieten genau den Humus für jüngere und junge Menschen bietet, auf dem eine innovative, engagierte Koch-, Kelter- und Fermentierkunst gedeihen kann. Dass sich das Ernst mit Dylan Watson-Brawn als bestem Koch Deutschlands laut Gault-Millau 2022 in einem Restaurant mit 8 Plätzen mitten im Post-Arbeiterviertel, „Ghetto“ und Quartiersbereich Pankstraße ereignen könnte, war einerseits nicht vorherzusehen und andererseits für eine Gastronomie, in der auf höchstem internationalen Niveau gar experimentell gekocht wird, nur folgerichtig. Die Räume des Ernst beherbergten zuvor eine Stehbierkneipe und später einen türkischen Kulturverein, bevor sie zum Gastrotempel wurden. Das Julius darf sich selbst „little brother“ des Ernst nennen. Das Menü Carte Blanche Pesceterian übertrifft selbst kühnste Erwartungen.

Die Shiso-Blätter mit Kohlrabi-Steinpilz-Maki als Eröffnung des Menüs auf eigens gefertigtem Keramikplättchen sind ein grandioser Auftakt. Er bereitet gleich einem Musikstück auf die vielschichtigen Kombinationen und Variationen vor, die folgen werden. Die äußerst intensiven, frischen Shiso-Blätter werden in der japanischen Küche vielfältig verwendet und neuerdings in Brandenburg angebaut. Denn zum Konzept der Küche im Julius gehört die Verwendung hochwertiger regionaler Produkte. Im Süden von Berlin und in Potsdam werden die unterschiedlichsten Gemüse und Gewürze angebaut, um frisch an den Nettelbeckplatz zu gelangen. Natürlich gibt es kaum Menschen, die in Berlin je eine Art Kohlrabi-Maki mit Gelee vom Steinpilz gegessen haben. Zugleich wecken die Shizo-Blätter die Geschmacksnerven in Kombination mit dem wohl gedämpften Kohlrabi, der zur Rolle gewickelt wurde. Auf dem täglich neu ausgedruckten Menü steht einfach „Cep, Shiso, Kohlrabi“. Doch eine der zwei Servicekräfte um die Restaurantmanagerin Inga Krieger erklärt beim Servieren, auf welche Aromen es dem Kochkünstler ankommt.

Mit dem ersten Gang wird bereits klar, auf welchem Handwerksniveau sich Shunsuke Nagaoke mit seinen beiden Assistenzköchen in der kleinen, offenen Küche bewegt. Japanische Aromen und Zubereitungsarten werden auf regionale Produkte aus Brandenburg angewendet, um Kohlrabi in ein kulinarisches Erlebnis zu verwandeln. Der Chefkoch und sein Team wohnen und leben ebenfalls im Wedding. Die Restaurantmanagerin Inga sogar gleich um die Ecke in der Adolfstraße. Denn Gastronomie geht von morgens bis in die Nacht nach 0:00 Uhr. Das derzeit sechsköpfige Team ist an den 4 Öffnungstagen voll und ganz gefordert. Deshalb sind vermeintlich „autonome“ Angriffe mit Spray oder gar mit Steinen auf die Fenster verstörend und zutiefst ungerecht. Sie treffen nämlich wirklich engagierte und hart arbeitende Menschen, die keinesfalls damit reich werden. Leidenschaft spielt hier die größte Rolle. Einst galt der Wedding mit AEG und Osram als Arbeiterbezirk. Dann rutschte er noch bis in die 10er Jahre des neuen Jahrtausend an den sozialen Rand. Jetzt entwickelt er sich mit dem Kulturquartier Silent Green und Savvy Contemporary zum Creative Tank.

Das Visuelle des Menüs geht ins Piktorale: Farbkompositionen. Zum zweiten Gang wird ein dunkelgrünes, gefaltetes Mangoldblatt mit roten Adern auf einem weißen Teller serviert. An den Rändern des Blattes zeichnet sich eine hellere grüne fein abgestimmte Mangoldsoße ab. Wagt man einen Blick in die offene Küche, sieht man wie Shunsuke Nagaoke die Soße mit einem Löffel noch einmal abschmeckt, bevor er sie als grünen Spiegel auf dem Teller verteilt. Daraufhin wird das warme Mangoldblatt mit Bohnen und Miso auf den Spiegel gelegt. Die Handgriffe und Abläufe zwischen den drei Köchen sind eingespielt, fast meditativ konzentriert. Das Mangoldblatt ist auf den Punkt gegart und lässt sich mühelos schneiden, während es zugleich frisch und fest aussieht. Auf der Zunge entfaltet dann die Komposition ihre Eigendynamik bis zum einzelnen Salzkorn.

Jeder Gang ist ein Meisterstück der Logistik. Das wird mit dem dritten Gang deutlich: „Scallop, Hidai, Walnut, Yuzo“. Die Jacobsmuschel für das Sashimi vom weißen Schließmuskel kommt vom Produzenten aus Norwegen. Hidai bzw. die Dorade für das rotgemaserte Sashimi wird frisch aus dem Wildfang an der Mittelmeerküste in Frankreich angeliefert. Auf dem weißen Keramiktellerchen bilden die beiden Sashimi von Form, Farbe und Struktur bereits einen visuellen Kontrast, der auf der Zunge in Textur und Aroma eingelöst wird. Das Kompositionsprinzip der Kontraste, um die Geschmacklichen Unterschiede allererst erfahrbar zu machen, wird hier erkennbar. Kein Vergleich mit einer gegrillten Dorade. Hier kommt es auf den Eigengeschmack an, der eher noch von den Noten der Walnuss und dem klaren Yuzo-Spiegel verstärkt wird. Shunsuke Nagaoke hat in Japan und Frankreich in der Gastronomie gearbeitet und ein umfangreiches Wissen nicht zuletzt über Produzenten generiert, bevor er nach Berlin kam und zunächst im Ernst mit Dylan Watson-Brawn arbeitete.

Der klare Yuzo-Spiegel ist fast unsichtbar und drängt sich gleichfalls mit seiner nuancenreichen Säure nicht auf. Ein gewöhnlicher Zitronensaft könnte den Eigengeschmack von Jacobsmuschel und Hidai übertönen. Doch die ausgewogene Säure mit einem bitteren Hauch unterstützt den Eigengeschmack der Sashimi. Die japanische Zitrusfrucht Yuzo aus womöglich Brandenburger Anbau ist insofern nicht nur eine Marotte. Das Carte Blanche Menü wird auf diese Weise eine Schule des Gaumens. Jede Scheibe vom Sashimi soll nicht nur auf der Zunge zergehen, vielmehr soll sie dort erst ihren Eigengeschmackssinn entfalten. Dafür muss man sich Zeit lassen. Und genau an diesem Punkt spielt das Timing wieder eine entscheidende Rolle. Die Küche lässt den Gaumenkundlern genau die Zeit, die benötigt wird, um sich mit den Noten sinnlich zu beschäftigen.          

Gleich einer symphonischen Komposition kehrt im vierten Gang der Steinpilz mit „Flatbread, Cep, Ricotta“ wieder. Dieser Teil, auf seinem Steingutteller in beige serviert, ist der gehaltvollste wegen des Brotes, der nun dominanten Steinpilze, des Ricotta und der Shiso wie Mangoldblätter. Die Komposition folgt einer fast klassischen Praxis der Setzung und Wiederholung. Erst im Nachhinein entdeckt man auf dem Menü in kleinerer Schriftgröße, dass sich dieser Gang mit „Organic N25 Caviar“ zusätzlich hätte veredeln lassen. Zugleich steckt in dem Zusatzangebot ein Hinweis, auf welch gastronomischem Niveau sich das Julius am Nettelbeckplatz positioniert. Denn der Stör wird auf dem 25. nördlichen Breitgrad in 2.000 Meter Höhe in frischem Quellwasser gezüchtet und nach der japanischen Umami-Methode fermentiert. Dadurch soll der Bio-Kaviar ein nussig-florales Aroma erhalten. N25 Kaviar wird in Spitzenrestaurants in Deutschland, England, Holland, Japan und Hongkong etc. serviert.

Spätestens beim Muscat de Provence im fünften Gang wird die Klimakomponente der Jahreszeit im Menü deutlich. Denn der orangefleischige Muskatkürbis ist im Oktober bestimmt aus Brandenburg. „Muscat de Provence, Sabayone, Marigold“ sind eine herbstliche Sensation aus der Region um Berlin. Der Muskatkürbis schmeckt besonders aromatisch und die Ringelblumen- oder Calendula-Blütenblätter sind nicht nur auf die Kürbisfarbe, vielmehr noch mit der grünen Schaumcreme auf die Aromen abgestimmt. Die Zubereitungsarten und jahreszeitlichen Kombinationen überzeugen. Die Aromen entfalten sich erst auf der Zunge in einer Weise, die man nie für möglich gehalten hätte.

Im sechsten Gang mit „Oyster, Mussels, Savagnin“ kommt wieder eine ganz andere Geschmacksnote zum Zuge, die diesmal in einem grauen Steingutschälchen serviert wird. Die Auster und die Muscheln sind in einem Sud mit Mangold aus Savagnin bzw. einem Traminer aus ökologischem Anbau gegart worden. Die Zubereitungsart verstärkt den Geschmack nach Meer. Was kann in dieser Steigerung intensiver Geschmacksnoten noch folgen? – Die beiden unterschiedlich zubereiteten Stücke von der Makrele im siebenten Gang mit zwei kleinen Tacos aus Mais und einer Blüte der intensiven Kapuzinerkresse sind ein ebenso glaubwürdiges wie finalisierendes Crescendo. Man folgt Shunsuke Nagaokes Kompositionskunst, seinen Kombinationen, komplexen Variationen und intelligenten Einfällen gern.

Es gibt eine kulinarische Intelligenz, die äußerst komplex ist. Sie ist ebenso regional wie international. Japanische, französische, mexikanische, norwegische und deutsche Ebenen werden erforscht, ausprobiert und in der Küche neu komponiert. Dazu müssen unterschiedliche Bereiche praktischen und theoretischen Wissens verarbeitet werden. Das zeigt sich nicht zuletzt in den letzten beiden Gängen der Desserts. Einmal geht es mit „Quince, Pear, Double Cream“ ins stark Fruchtige, das andere Mal ins Nussige mit „Hojicha, Hazelnut“. Einen Quittesaft mit einer Birne zur Crème Double zu servieren, ist intelligent, weil die eher steinige Quitte als Saft allererst ihr Aroma entfalten kann. Der gefrostete Hoji-Tee, der geröstet worden ist, passt wunderbar zur Haselnuss, die allerdings leicht zu allergischen Reaktionen führen kann, wenn sie nicht ebenfalls etwas angeröstet wird.

Die Carte Blanche im Julius ist eine regelrechte Entdeckungsreise der Kulinarik. Sie braucht Zeit, um ihre ganze Faszination zu entfalten. Wenn man sich zu zweit über die Geschmackserlebnisse austauschen kann, dann wird der Genuss noch verstärkt. Es geht nicht um ein Menü für einen netten Abend mit Freunden, die den Geschmackssinn schon wieder stören könnten. Hier wird der Kaffee für ein nicht ganz so frühes Frühstück am Wochenende von Hand geröstet. Das selbstgebackene, würfelförmige French Toast mit Yuzu-Konfitüre aus Eigenherstellung erfreut bis zum Nachmittag, wenn es nicht schon ausverkauft ist. Naturweine und Säfte oder fermentierte Tees sind ebenso gut zum Chillen wie zum Menü am Abend geeignet. Natürlich wird durch eine gute Portion digitaler Vernetzung im Hintergrund alles organisiert. Aber wirklich wichtig ist die Ebene der Handwerkskunst des Kochens. Gerade das kommt bei jungen Gästen aus aller Welt besonders gut an.

Torsten

Julius
Gerichtstraße 31
13347 Berlin
S+U Wedding


[1] Siehe zu Savvy Contemporary und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

Kriegserfahrungen und die Frage der Indentitäten

Nachkrieg – Gefangen – Freiheit

Kriegserfahrungen und die Frage der Identitäten

Zum Musikfest Berlin 2022-Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Kirill Petrenko mit Werken von Iannis Xenakis, Bernd Alois Zimmermann und Luigi Dallapiccolas Oper Il prigioneiro

Die Berliner Philharmoniker haben das Thema Identitäten zu ihrem Saisonschwerpunkt gemacht. Sie rekurrieren mit der „Frage des Standpunkts“ auf Ludwig van Beethoven, „der dem Wiener Adel ins Gesicht“ gesagt habe, „er halte sich selbst für etwas Besseres“.[1] Sucht die Musik, suchen Komponist*innen seit Beethoven alle nach Identitäten? In Beethovens Kompositionen wird die Frage keineswegs einfach beantwortet, wie es nach der kolportierten Anekdote scheinen könnte. Wo bleibt beispielsweise bei der Missa solemnis der „Standpunkt“? Wenn er denn so klar wäre, suchte nicht jede nennenswerte Interpretation einen anderen herauszuarbeiten, wie erst kürzlich besprochen wurde.[2] Der Gefangene (Il prigioneiro) wird im Programm besonders mit dem Saisonschwerpunkt in Verbindung gebracht. Doch spielt er nicht schon bei den kurzen Kompositionen von Xenakis und Zimmermann eine Rolle?

Die konzertante Aufführung von Luigi Dallapiccolas einaktiger Oper mit einem Prolog von 1950 im Nachkriegsitalien wurde von den Berliner Philharmonikern zum ersten Mal überhaupt aufgeführt. Iannis Xenakis‘ Empreintes und Bernd Alois Zimmermanns Sinfonie in einem Satz von 1953 waren dagegen vom Orchester schon früher einmal aufgeführt worden. Alle drei Kompositionen lassen sich mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit hören. In der Musik werden Spuren von Krieg und Unterdrückung hörbar. Es gibt akustische Zeitspuren. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Faschismus und der Zweite Weltkrieg in Italien und Deutschland mit Identitäten operierten, sie einschüchterten und zerstörten. Nach dem Krieg erlebte Il prigioneiro in Italien kurzzeitig vielfache Aufführungen. In der Philharmonie Berlin wurden nun Kirill Petrenko, Wolfgang Koch, Ekaterina Semenchuk und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke sowie der Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker an drei Abenden gefeiert.

Das zehnminütige Stück für ein Orchester mit 85 Musiker*innen Empreintes aus dem Jahr 1975 von Iannis Xenakis eröffnete das Konzert mit Wucht. Zerlegt Xenakis mit der Komposition das Formenrepertoire der Orchestermusik? Erforscht er das Klangspektrum des Orchesters an den Grenzen der Spielpraktiken? Heult der lange Ton G am Anfang schon? Kirill Petrenko legt mit den Berliner Philharmonikern größte Sorgfalt, um Abdrücke oder Spuren bei den Hörer*innen zu hinterlassen. Oder geht es um eine Aktualisierung von Empreintes als Ein- wie Abdrücke und Spuren, die sich dem, um es einmal so zu sagen, schwerverletzten Kriegsveteran Iannis Xenakis akustisch aufdrängten? Die gestaffelten, markanten Blechbläser – vier Hörner, vier Trompeten, vier Posaunen, eine Tuba – drohen mit kriegerischen Fanfaren nahezu apokalyptisch.

Der Krieg als akustisches Angriffsszenario drängt sich beim Hören auf. Das widerspricht einerseits der von Xenakis praktizierten stochastischen Kompositionsweise, die berechnete, visuelle Klangbilder schaffen will. Andererseits blickte der Komponist jeden Morgen in eine zertrümmerte linke Gesichtshälfte als Kriegsverwundung. Iannis Xenakis wurde im Dezember 1944 nach der Befreiung von den italienischen und deutschen Besatzungstruppen unter britischem Kriegsrecht in Straßenkämpfen gegen britische Panzer schwer in der linken Gesichtshälfte verwundet.[3] Er verlor das linke Auge und musste mit einem Glasauge leben. Die Narben als Spuren des Krieges und der politischen Haltung waren nicht nur sichtbar, sondern hatten den Komponisten mit 22 Jahren auch entstellt. Auf den Portraitfotos wählen die Fotografen zunächst Blickwinkel, die die linke Gesichtshälfte im Halbprofil verstecken.

Iannis Xenakis, geb. 1922 in Brăila, Rumänien, wuchs ab 1932 in Griechenland auf und studierte ab 1940 in Athen an der Technischen Nationaluniversität. 1941 wurde Griechenland von den sogenannten Achsenmächten okkupiert und die deutsche Besatzungsmacht begann mit einer umfangreichen Deportation griechischer Juden z.B. aus Thessaloniki[4], politischer Gegner*innen und Zwangsarbeiter*innen. Im April 1941 brachte die deutsche Luftwaffe Flak-Geschütze auf der Akropolis über Athen in Stellung.[5] Iannis Xenakis kämpfte im Widerstand der ELAS gegen die Besatzungsmächte. Wie Plousia Liakata über ihren Widerstand als junge Frau in der ELAS im Zeitzeug*innen-Projekt MOG der Freien Universität Berlin erzählt, wurde ihre Einheit in Karpenisi bombardiert.[6] Das ist das Umfeld, in dem Iannis Xenakis die Besatzung erlebte. Neben der Verwundung durch die britische Armee hatten sich bei Xenakis die weniger bekannten Kriegserlebnisse aus dem Widerstand eingebrannt. Zu denen gehörte offenbar die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe.

Empreintes lässt sich in der Interpretation von Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern als eine Art Fliegerangriff hören. Der lange Ton G erinnerte den Berichterstatter an eine Sirene.[7] Die gestaffelten Fanfaren und Cluster in den Streichern rufen die sogenannten Jericho Trompeten ins Gedächtnis, die als Sirenen zur Einschüchterung des Gegners an den Fahrwerksbeinen der Sturzkampfflugzeuge vom Typ Junkers 87 angebracht wurden.[8] Es handelte sich deshalb, um ein Mittel der akustisch-psychologischen Kriegsführung. Die Tendenz zum Geräusch im Stück korrespondiert mit der Akustik des Krieges. Insofern lässt sich Empreintes als eine Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse aus dem Widerstand der ELAS hören. Über dreißig Jahre nach dem Krieg komponiert Xenakis ein kurzes Musikstück, das die Akustik des Krieges wachruft, die zweifelsohne für ihn traumatisch gewesen war. Das Kriegstrauma gehörte zur Identität des Komponisten.

Das akustische Szenario, das Bernd Alois Zimmermann mit seiner Sinfonie in einem Satz entfaltet, ist ein anderes. Eine Sinfonie in einem Satz ist hinsichtlich der Form ein Paradox. Denn erst die Durcharbeitung der Themen in mehreren Sätzen einer Sinfonie bringt eine solche hervor. Bernd Alois Zimmermann hat sich mehrfach zu seiner einzigen Sinfonie geäußert, indem er die „Nachkriegszeit“ klanglich beschrieb oder noch während des Komponierens von einer „>Symphonia Apocalyptica< oder >Visionen des Johannes von Patmos<“ sprach.[9] Als Angehöriger des Jahrgangs 1918 wird auch in der Werkeinführung von „den mehrfach geschädigten Jahrgängen, der Entfaltungsmöglichkeiten erst durch die ästhetische Blickverengung der NS-Zeit und dann durch den Krieg – mit Verwundungen, Gefangenschaft, Traumata – enorm beschränkt wurden“, gesprochen.[10] Traumata sind zumindest eine Herausforderung für Identitätsbildung. Es muss mit ihnen auf die eine oder andere Weise umgegangen werden.
„Die Sinfonie entstand in der Nachkriegszeit […], die wohl wie kaum eine andere geartet war. Es gab kein Entrinnen; Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, das drängte zur Darstellung, zur Aussage.“[11]

Bernd Alois Zimmermann komponiert durchaus auf eine Darstellung hin. Eine thematische Entwicklung gibt es nicht. Vielmehr setzt die Sinfonie mit einer Art Einschlag oder Explosion ein, die akustische Zerstörung und Ödnis hinterlässt. Wie verhält sich die Komposition zur inneren wie äußeren Trümmerlandschaft? Mit einer Spieldauer von ca. 15 Minuten scheint in der Fassung von 1953 bereits alles gesagt. Und doch ist die Fassung von 1953 nicht einfach ein Zeitgefühl der „Ungeborgenheit“, wie es Zimmermann später sagt. Die Radikalität der Sinfonie in einem Satz bezieht sich eher auf 1947 vor Gründung der Bundesrepublik als auf einen bzw. zwei bereits gegründete deutsche Staaten. Die unmittelbare Nachkriegszeit von 1947 lässt sich anscheinend schwer in ihrer Unbehaustheit und Ödnis in Klänge übersetzten. Doch wie vielleicht keinem anderen Komponisten gelingt es Zimmermann, das Schleichen in den Trümmerstädten musikalisch umzusetzen. Wie von Fern klingen ein paar Takte Marsch an und werden sogleich wieder verworfen. Der Krieg hinterlässt nicht nur Traumata bei Zimmermann, er reicht auch länger in die Zeit hinein. Der Berichterstatter fühlt sich daran erinnert, dass es bis in die jüngste Zeit dauerte, dass Kriegslücken im Stadtbild von Berlin Wedding mit dauerhaften Neubauten geschlossen wurden. Zimmermanns Sinfonie ist ein Zeitstück.

Die Biographie von Luigi Dallapiccola hinsichtlich seiner Kriegs- und Unterdrückungserfahrungen mit Bezug auf Il prigioniero wird bislang weniger beachtet. Vielmehr werden die literarischen Quellen für seine Oper ins Interesse gerückt. Doch Luigi Dallapiccola musste sich nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau, die in Florenz als Bibliothekarin gearbeitet hatte, auf dem Land bis zum Abzug der Deutschen verstecken. Als Lehrer am Luigi Cherubini Konservatorium in Florenz musste Dallapiccola nicht nur an bessere Zeiten glauben, vielmehr entschied er sich, bei seiner verfolgten Ehefrau zu bleiben. Insofern war er als Komponist seiner Oper zutiefst in „die Tragödie der Verfolgung“ verwickelt. Geht es insofern mit Il prigioniero um Werte und eine Kraft des Glaubens an die Freiheit? Lässt sich dieser Glaube im literarisch offenen Handlungsverlauf der Oper als Identität verstehen? Oder wäre das unterkomplex?
„Es wurde mir immer klarer, dass ich eine Oper schreiben müsste, die […] sowohl ergreifend als auch aktuell war; ein Werk, das die Tragödie unserer Zeiten, die Tragödie der Verfolgung, die Millionen von Individuen fühlten und erlitten, schildern sollte.“[12]   

Die konzertante Aufführung der mit 45 Minuten kurzen Oper durch ein hochkarätiges Ensemble mit Wolfgang Koch als „Der Gefangene“ und Ekaterina Semenchuk als „Die Mutter“ hatte den Vorteil, dass weder Bühnenbild noch Inszenierung, sondern allein die Musik im Vordergrund standen. Das ist nicht ganz unwichtig beim sonst ebenso visuellen Genre Oper. Sie beginnt mit der Traumerzählung der Mutter, einer „Ballata“ als Prolog. Die Traumerzählung stellt der Komponist der Oper voran, weil am Schluss wiederum von einem Traum gesungen wird, der sich in die Realität eines Autodafé verkehrt – oder auch nicht. Wird der Gefangene „wirklich“ verbrannt, um seine Freiheit zu erkennen? Die Traumerzählung wird eher als dramatischer Sprechgesang denn als Lied oder Arie und doch hoch emotional von Ekaterina Semenchuk vorgetragen:
„Inzwischen sind sie aufgegangen
die Nebel meines Schlafes.
Allmählich die Eule (Gufo)
ändert seine Eigenschaften:
Die Augen verschwanden, fast wie von Zauberhand,
Die dunklen Kreise bleiben weiß und leer …
Sie graben ihre Wangen und Haare
sie fallen … Ganz plötzlich
König Philip starrt mich nicht mehr an:
es ist der Tod!
Bestürzt stieß ich einen Schrei aus:
„Mein Kind! Mein Kind!““[13]

Der, sagen wir, Wahrnehmungsmodus Traum ist zugleich ein unsicherer, weil sich das Gesehene mehrfach verwandelt. Die Mutter deutet ihren Traum an der Schwelle zum Erwachen selbst und stößt einen Schrei aus. Weiß sie im Voraus von der Verfolgung und tödlichen Bedrohung des Sohnes? Das Wissen des Traumes wird durch visuelle Verwandlungen generiert. Dabei spielt die „Eule“ – „Allmählich die Eule/ändert ihre Eigenschaft“ – eine weitreichende philosophische Rolle. Denn sie spielt bei dem literarisch und philosophisch gebildeten Komponisten, der sein eigener Librettist ist, auf Hegel an. Genauer auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts mit der rätselhaften Formulierung: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Geschichtsphilosophisch ließe sich damit die Nachträglichkeit des Wissens über ein Ereignis bzw. das Ereignis der Verfolgung bedenken. Die Philosophie konnte und könnte demnach die Tragödie nicht verhindern.
„Religion brings little comfort here. Dallapiccola is indeed close to Sartre, for whom man is ‘absolute’ only ‘in his time, in his surroundings, on his parcel of earth’. To put it another way: in so far as Dallapiccola’s work is ‘committed’, it aspires to the quality of the dialectic.
Unmistakably Hegelian in its metaphysical ambition, Sartre’s argument is also Hegelian in structure.“[14]

Wie Ben Earle kürzlich in seiner Studie zu Luigi Dallapiccola und Il prigioniero formuliert hat, funktioniert der Glaube an die Religion in der Oper nicht mehr. – „Religion brings little comfort here.“ – Vielmehr wird mit dem spanischen König Philip und seiner Inquisition die Religion desavouiert. Im katholischen Italien der Zeit zwischen 1944 und 1948 war diese Dialekt mit dem Handlungsrahmen um 1550 im spanischen Saragossa kein geringes unterfangen. Auf dialektisch verschlüsselte Weise wird dem katholischen Italien ein Spiegel vorgehalten. So ganz verstand man Dallapiccolas Textcollage in Italien wohl nicht. Der Wink mit der Eule/Gufo und ihre Tragweite blieb weithin unbeachtet. Selbst Earle schenkt ihr keine Aufmerksamkeit. Vielmehr liest er die Partitur in einer traditionellen Weise. Der Traum endet in einem Vorwissen.
“At the point where the Mother reaches the word ‘Morte!’ (bar 117), the orchestra, which has been at pianissimo or below for some time, breaks in, fortissimo, with the strident three-chord motive of the A section. In Abbate’s terminology, ‘phenomenal’ and ‘noumenal’ regions collide. The three-chord motive becomes a harbinger of ‘fate’, returning at crucial points in the opera: most notably as the Prisoner is about to ‘escape’ (bars 794–801).”[15]

Die Frage nach dem Schicksal (fate) in der Musik als Vorbote (harbinger) und Vorwissen kollidiert mit der „Gufo“. Oder: der Traum endet in der gleichen Ungewissheit, mit der die Oper endet. Wir wissen anhand des Libretto-Textes nicht, ob der Gefangene aus seinem Traum erwachend auf dem Scheiterhaufen verbrennt.
“DER GEFANGENE (fast bewusstlos; geflüstert)
Die Freiheit…
KAMMERCHOR
O Domine Deus!
Languendo, gemendo et genuflectendo…
[Oh, Herr Gott!
Schmachten, Stöhnen und Knien …]
DER GROSSINQUISITOR
Bruder… lass uns gehen…
(nimmt den Gefangenen bei der Hand und geht mit ihm zum hinteren Teil der Bühne).
DER INTERNE CHOR
Et os meum annuntiabit Iaudem tuam…
[Und mein Mund wird deine Rettung verkünden …]
DER GEFANGENE (fast bewusstlos; flüsternd. Aber dieses Mal in einem Ton deutlich fragend.)
Freiheit?“[16]

Welche dramaturgische Rolle spielt der Chor in der Oper, der groß besetzt mit dem Rundfunkchor Berlin besonders viel Beifall erhielt? Der Chor bzw. die beiden Chöre nutzen ausnahmslos die Kirchensprache Latein. Der Chor erhält nicht nur viel Aufmerksamkeit, er wird als Macht komponiert. Am Schluss steht die besonders hervorgehobene Frage „Freiheit?“, die mehr oder weniger direkt auf das katholische Rettungs- und Freiheitsversprechen des Chores – „Und mein Mund wird deine Rettung verkünden …“ – reagiert. Am Schluss der Oper steht ein Fragezeichen hinter der Freiheit, das nicht beantwortet wird. Der Chor erinnert in seiner Komposition an die Funktion des Chores in der antiken Tragödie. Er äußert und verkörpert, was Roland Barthes die Doxa genannt hat, heute vielleicht mit Mehrheitsmeinung zu übersetzen. In anderen Worten: Der Chor wiederholt den Diskurs der katholischen Restauration in Spanien.[17] Es ist diese bedenkliche Funktion des Chores – und viel weniger der Schrecken des Todes –, der für die „Tragödie der Verfolgung“ die größte Rolle spielt.

Il prigioniero ist nach der Argumentationsweise der Dialektik angelegt. Luigi Dallapiccola gibt dem Opernpublikum eine höchst moderne Denkaufgabe, die heißen könnte: Und wie habt ihr Euch verhalten? Die Haltung Papst Pius XII. während der deutschen Besatzung in Italien zur Judenverfolgung dürfte Luigi Dallapiccolo zumindest ansatzweise bekannt gewesen sein. Die gesellschaftliche Ausgrenzung inklusive Verlusts des Arbeitsplatzes in der Bibliothek hatte er mit seiner Frau in Florenz selbst erleben müssen. In dieser historischen Konstellation bekommt König Philipp von Spanien auf einmal ein anderes Gesicht. Das Melodiös, Kantabile des Chores, der schöne Klang täuscht über die dialektische Funktion hinweg – und generiert im Genre Oper Beifall. Doch schon im Prolog hatte der „Coro Interno“, was mit der Doppelbedeutung von inneres Herz und innerer Chor übersetzt werden kann, der Mutter als Individuum, wie es buchstäblich im Libretto heißt, das Wort abgeschnitten:
„IL CORO INTERNO (schneidet das letzte Wort der Mutter ab)
Lass deine Barmherzigkeit, Herr, über uns sein.
Wie wir auf dich gehofft haben.
Lass deine Priester mit Gerechtigkeit bekleidet sein.
Lass deine Heiligen sich freuen.
(Wenn du den Schleier langsam öffnest.)“[18]

Wie stark die Bibliothekarin und Übersetzerin Laura Luzzatto Coen, die zum Katholizismus übergetreten war, um Luigi Dallapiccola heiraten zu können[19], am Libretto von Il prigioniero mitgearbeitet hat, wissen wir nicht. Doch der Prolog nimmt kein schicksalhaftes Wissen vorweg, sondern gibt auf die Funktion des Chores einen dramaturgischen Wink. Der Chor als durchaus faschistische Mehrheitsmeinung „schneidet das letzte Wort der Mutter ab“. Luigi Dallapiccola kannte sehr genau das Wissensschema der italienischen Oper. In den zeitgenössischen Kritiken wird sofort auf Turandot und Cavalleria rusticana verwiesen. Doch der Komponist montiert mit Il prigioniero 1950 das italienische Kulturgut Oper auf völlig andere Weise, die kaum bedacht wird. Die Frage nach der Freiheit wird nicht zuletzt im Kontext einer vermeintlichen Befreiung gestellt, die das faschistische Italien selbst zum Opfer machte. In Anbetracht der jüngsten italienischen „identitären“ Wahlergebnisse aufgrund einer verdrängten und verpassten historischen Aufarbeitung hat Il prigioniero nicht als Identitätsoper, sondern als dialektische Denkaufgabe höchste Aktualität erlangt, die Kiril Petrenko bei seiner Auswahl nicht einmal ahnen konnte.

Torsten Flüh

Berliner Philharmoniker
Digital Concert Hall
Kirill Petrenko dirigiert Dallapiccolas „Der Gefangene“
17. September 2022


[1] Berliner Philharmoniker: Eine Frage des Standpunkts: Saisonthema „Identitäten“. In: Berliner Philharmoniker Saison 2022/2023.

[2] Siehe Torsten Flüh: Von der Kunst der Messe. Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven und Vespro della Beata Vergine von Claudio Monteverdi beim Musikfest Berlin 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2022.

[3] Siehe die detailliertere Biographie auf Englisch in Wikipedia: Iannis Xenakis.

[4] Zur Deportation und Ermordung der griechischen Juden siehe: Zeugenschaft und der vertrackte Grund. Zur deutschen Ausgabe von Heinz Salvator Kounios Tagebuch. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 17, 2016 22:30.

[5] Siehe: Freie Universität Berlin: MOG: Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland: Die Besatzung. (Ohne Datum)

[6] Ebenda mit Archivzugang Plousia Liakata.

[7] Zu Sirenen als Katastrophenschutz und Kriegsakustik siehe: Torsten Flüh: Innere Stimmen. Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. April 2022.

[8] Siehe z.B.: Stuka Siren: Sound As A Weapon. 09.10.2018.

[9] Zitiert nach: Berliner Philharmoniker: Programm Donnerstag, 15.09.22, 20 Uhr … Berlin, 2022, S. 9-11.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 11.

[12] Ebenda S. 13.

[13] Eigenübersetzung nach Libretto in Italienisch und Latein. (archive.org PDF)

[14] Ben Earle: Luigi Dallapiccola and musical modernism in Fascist Italy. Cambridge : Cambridge University Press, 2019, S. 236-237.

[15] Ebenda S. 271.

[16] Eigenübersetzung … [wie Anm. 13].

[17] Zu König Philipp und dem goldenen Zeitalter in Spanien siehe: Torsten Flüh: Der goldene Kreis der Bilder. Zur bezaubernden und verstörenden Schlüsselausstellung El siglo de Oro in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 10, 2016 20:43.

[18] Eigenübersetzung … [wie Anm. 13].

[19] Siehe Wikipedia: Laura Luzzatto Coen.

Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum

Ethnologie – Zirkulation – Museum

Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum

Zur finalen Eröffnung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum mit Benin-Bronzen, Omaha-Kultur und Rundhaus vom oberen Rio Negro

Seit dem 17. September 2022 ist mit dem Ostflügel des Ethnologischen Museums das Humboldt Forum final eröffnet worden. Die Debatten zur Eröffnung des Humboldt Forums seit dem 20. Juli 2021 haben auf überraschende und durchgreifende Weise Wirkung gezeigt. Auf einem Eröffnungssymposium vom 12. bis 13. September 2022 formulierten die internationalen Partner*innen eine gemeinsame Erklärung zu „Würde – Kontinuität – Transparenz“. Diese sieht eine „ständige indigene Vertretung“ im Humboldt Forum vor. Statt der Präsentation von Artefakten wird nun ein „Zirkulationsprinzip“ zwischen dem Museum und indigenen Gemeinschaften installiert.[1] Das sind weitreichende Veränderungen für das Ethnologische Museum und Museum für Asiatische Kunst. Nun werden erstmals Sammlungsstücke präsentiert, die bislang im Depot in Dahlem unsichtbar blieben.

Eröffnet wurde nicht nur ein riesiger Museumsneubau, einer der größten in Europa, sondern eine neue Art partnerschaftlicher Austausch. Zur Pressekonferenz sprachen außer dem Stiftungs-, Museums- und Forumsleiter Teilnehmer*innen des Symposiums aus Nebraska, Bolivien, Indien und Namibia sowie die Vertreterin des European Centre for Sufism. Sie kamen im Gespräch mit der Kuratorin Andrea Scholz und der Ausstellungsdirektorin Anke Daemgen zu Wort. Wynema Morris mit traditionellen Lederschuhen vom Stamm der Omaha und Lehrbeauftragte am Nebraska Indian Community College eröffnete mit einem Statement das Gesprächshalbrund. Für sie und ihre Angehörigen sind die Ausstellungsstücke der Omaha – Federschmuck, Schuhe, Taschen etc. – in Raum 203 nicht tote Gegenstände, sondern lebendige Zeugnisse der Ahnen einer lebendigen, praktizierten Kultur. Statt die Schätze der Vorfahren zurückzufordern, sieht Morris im Humboldt Forum einen Vorteil für die Omaha in Nebraska.

Der Umbruch, der mit d́́́er gemeinsamen Erklärung für das Ethnologische Museum binnen kaum eines Jahres vollzogen wurde[2], ist in der Wissensgeschichte der Ethnologie ein epochaler. Denn der Weg über den Tod, den die Wissensgenerierung seit dem 19. Jahrhundert einschlug, war ebenso für die Ethnologie entscheidend. Für die Präsentation der „Cultural Belongings“ in der Institution Museum mussten diese, wenn nicht gleich der ganze Stamm für Tod erklärt werden. Deshalb hat Wynema Morris‘ Erzählung von der Lebendigkeit weitreichende Folgen. Für die Ethnologie als Teil der Wissenschaft vom Menschen, der Science humaine formulierte Michel Foucault bezüglich der Medizin einmal, verlangte „das Gleichgewicht der Erfahrung (…), daß der auf das Individuum gerichtete Blick und die Sprache der Beschreibung auf dem festen, sichtbaren und lesbaren Grund des Todes aufruhen“.[3] Dagegen wird nun das Wissen von Menschen in der Welt in Gesprächen und Debatten mit ihnen lebendig.  

Das Konzept eines Museum für Ethnologie war seit dem 19. Jahrhundert ein Mortifizierungsapparat, um ein Wissen von sich selbst über die anderen Ethnien zu gewinnen. Größenverhältnisse des Körpers, Maße, Farben und Formen spielten eine hierarchisierende Rolle. Während sich die Lebensbedingungen der Europäer durch die Industrialisierung um 1800 rasend schnell veränderten, trieb der Wunsch nach positivem Wissen die Forschungen an. Dafür mussten nach Foucault sichtbare und unveränderliche Zeichen von anderen und sich selbst durch tote Körper und Dinge generiert werden. Im Humboldt Forum wird den Dingen durch Kooperation mit den Partnern nun ein Eigenleben im Wandel erlaubt. Künstler*innen und Forscher*innen führen die Wandelbarkeit und Vieldeutigkeit von Zeichen und Dingen vor. Sie zirkulieren.

Die historischen Benin-Bronzen werden mit einer Reliefplatte aus Messing von 2022 des Künstlers Phil Omodamwen aus dem Gießerei Workshop in Benin City präsentiert, die die gewaltsamen Ereignisse von 1897 mit dem lebendigen „kollektiven Gedächtnis“ in Nigeria in Beziehung setzen. Geht man heute über den Flohmarkt an der Straße des 17. Juni, dann bieten afrikanische Händler dort Repliken und Nachgüsse der Benin-Bronzen an. Tatsächlich zirkuliert die geraubte Kultur. Wynema Morris trägt Lederschuhe, wie sie in der temporären Ausstellung Gegen den Strom, so die Übersetzung des Namens Umoⁿhoⁿ, zu sehen sind. Die Fotoausstellung Naga Land mit Fotos und Interviews von Zubeni Lotha bringt die indigene Gruppe der Naga in Nordostindien ins Bewusstsein. Mit der Kamera hatte der österreichische Ethnologe Christoph von Fürer-Haimendorf 1936 die Naga mortifiziert und in Kooperation mit der britischen Kolonialmacht eingeordnet. Last but not least wird das Rundhaus im Humboldt Forum vom Oberlauf des Rio Negro in Bolivien mit Institutionen der höheren indigenen Bildung verknüpft, damit Wissen zirkulieren kann.

Der Ausstellungsführer (2022) des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst thematisiert die Zirkulation der Sammlungsstücke in beispielhafter Weise. Das Rundhaus aus Amazonien wird mit dem Artikel Die Welt als Rundhaus von Andrea Scholz zum Paradigma für den Umgang mit Federschmuck, Lendenschurz und Schutzschild vom oberen Rio Negro. Die Ausstellung der Artefakte und ihre museumsarchitektonische Präsentation in Vitrinen werden bereits seit 2014 für diesen Bereich eingespeist in einen neuen Kreislauf von Praktiken und Wissen. 
„Die Ausstellung im Humboldt Forum steht in zweifacher Hinsicht für einen Neubeginn der Zirkulation. Zum einen ist der weitaus größte Teil der Exponate zum ersten Mal überhaupt einer Öffentlichkeit zugänglich. Zum anderen sind einige der gezeigten Stücke seit 2014 Gegenstand eines Kooperationsprogramms mit indigenen Organisationen und Institutionen höherer Bildung indigener Bildung in Brasilien, Kolumbien und Venezuela, dessen Ergebnisse in die Ausstellung einflossen.“[4] 

Diana Milena Guzmán-Mirigõ als indigene Vertreterin und Lehrerin aus Mitú in Kolumbien betonte in ihrem Statement, dass ihre Vorfahren bei uns seien. Für sie und ihre Angehörigen seien es Lebewesen, die heute hier unter uns sind.[5] Die Präsenz der Lebewesen durch die Artefakte, indem indigene Nachfahren über sie sprechen, wird ebenso verbunden mit „der Bewahrung von Territorien“ zum Beispiel der Ye΄kwana.[6] Denn die Territorien der Ye΄kwana-Gemeinschaft werden in Südamerika durch Abholzung, Brandrodung, Sojaanbau, kommerzielle Interessen und Klimawandel vielfach bedroht. Zeit und Raum werden mit der indigenen Wahrnehmung anders erfahren. Für das Rundhaus ist dies in die Museumsarchitektur eingegangen:
„Die Architektur der Ausstellung ist inspiriert durch die Verbindung zwischen Architektur und indigenen Raum-Zeit-Konzeptionen, als direktes Ergebnis der Kooperation mit den Ye΄kwana aus Venezuela und Brasilien, die seit 2015 mit dem Museum partnerschaftlich verbunden sind.“[7]  

Die Pfeile aus der Sammlung vom Amazonasgebiet an der Decke des Raumes 208 lassen sich vielleicht nicht mehr einzeln betrachten, weil sie dem Blick entzogen werden. Dafür wird mit einem Video das Projekt Wissen teilen vorgestellt. Das Wissen, das mit den Sammlungsstücken in den indigenen Kulturen verknüpft wird, soll nicht nur mit den Museumsbesucher*innen geteilt werden, vielmehr soll es wieder in die indigene Bevölkerung eingespeist werden, um durch Erzählungen und Handlungen neu zu zirkulieren. Das geflochtene Schutzschild der Desana vom oberen Rio Negro mit 4 roten und gelben Federpaaren an Liane-Schnüren wird in einer Vitrine ausgestellt, weil eine „Rückkehr zu den Territorien des Ursprungs (…) Krankheiten und Schlimmeres verursachen“ könnte. Es wurde als „wichtiges Schutzwerkzeug eines Schamanen“ gebraucht. Insofern ist es selbst zu einem Wissensträger geworden, dessen Gefährlichkeit nicht ausgeschlossen werden kann.[8]

Das andere oder indigene Wissen, das in den Sammlungsstücken eingeschrieben wurde, erweist sich an dem Schutzschild als ambig. Denn es kann mit ihm ebenso schlechtes wie gutes Wissen verbunden sein. Es kann die Stämme in ihrem Territorium zugleich stärken und schwächen. Als „Schutzwerkzeug“ sollten an dem 72 cm großen Rundschild schlechte Energien, Gedanken oder Flüche abprallen oder von ihm gespeichert werden. Diese Speicherfunktion des Schildes kann größte Gefahren freisetzen. Als Karl von den Steinen 1884 und 1887 das obere Amazonaseinzugsgebiet bereiste und erforschte, spielten die Entdeckungserzählungen und Legenden um den Fluss Schingú eine initiale Rolle. Der Fluss war nämlich durch Pater und Reisende beschrieben worden, die „alle (…) Deutsche gewesen sind“.[9] Doch auch Erzählungen von Goldschätzen, Kautschuk und Rindviehzucht motivierten von den Steinen zu seiner Reise:
„Heutigentags haben die Kautschukhändler am untern Schingú den Nebenfluss Iriry im Verdacht, dass an seinen Ufern die Goldstätte zu suchen sei. Von den Indianern werde mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel erlaube, berichtet, dass an seiner Mündung mehrfach goldführende (weisse) Männer mit Besitz von Rindvieh erschienen seien; obwohl der Iriry wie der Schingú dort, wo sich beide vereinigen, von gebirgigem Terrain eingefasst werden, und keiner der bekannten Indianerstämme Rinderviehzucht treibt. (…)
Das ist der Sagenkreis der Martyrios, die schon so manches Matogrossenser und Paraenser Herz auf die Folter bangster Erwartungen gespannt, bisher aber keinem die ersehnte Seligkeit beschert haben. Da auch wir, wie ich trauernd vorhersagen will, nicht glücklicher gewesen sind als die frühern Expeditionen, will ich wieder den Boden realerer Verhältnisse betreten und die Bedeutung des Schingú, welche für den Handel und Verkehr der Provinz in Frage kommen könnte, (…) darlegen.“[10]

Karl von den Steinen (1855 – 1929) war Mediziner und schafft durch seine Reisen und Publikationen die „Grundlagen für die brasilianische“ Ethnologie.[11] 1884 ist das Deutsche Kaiserreich von 1871 noch jung. Der Schluss des ersten Kapitels seines bei Brockhaus in Leipzig 1886 veröffentlichten Expeditionsberichtes Durch Central-Brasilien des nicht einmal Dreißigjährigen knüpft an die Hoffnungen der Goldmythen an, um „trauernd“ die brasilianische Ethnologie von den Indianern zu begründen. Die Enttäuschung wird sogleich in Fragen von vielversprechendem „Handel und Verkehr“ transformiert. Als Mediziner knüpft von den Steinen an die zeitgenössischen Diskurse und Techniken der rassistischen Vermessung von Menschen an. Auf beispielhafte Weise wird der medizinische Blick, wie ihn Foucault formuliert hat, auf indigene Menschen übertragen.
„… und Antonio für die reinsten Bakaïrí erklärte, diese waren auch mir als die am meisten typischen Physiognomien erschienen und hatten die meiste Ähnlichkeit mit dem Rio novo-Gepräge. Da Antonio derjenige ist, der sich bereden liess, uns zu begleiten, und so in Rio photographirt werden konnte, darf ich auf sein Bild als auf die getreueste Wiedergabe eines echten Bakaïrí aufmerksam machen.“[12]   

Fotografiert wurde Antonio nach der allerneuesten, standardisierten Methode Bertillon bzw. Bertillonage, die Alphonse Bertillon erst 4 Jahre zuvor in Paris bei der Polizei eingeführt hatte. Antonio wird auf gleicher Distanz als Brustbild und im Halbprofil fotografiert. So wird Antonio zuallererst zu einem „echten Bakaïrí“. Karl von den Steinen brachte von seinen Reisen nicht nur Zeichnungen und Fotografien mit, er sammelte offenbar zugleich indigene Schmuckstücke, Pfeile und Masken. 1914 wurde diese Sammlung von Theodor Koch-Grünberg für das Ethnologische Museum angekauft.
„Bei seinen beiden Reisen (1884 und 1887) traf Karl von den Steinen auf eine beeindruckende Varietät an Gesichts- und Ganzkörpermasken aus Holz, Geflecht und Rinderhaut, die meist Wassergeister verkörperten und in der Regel in Paaren auftraten. Obwohl die Welt der Rituale und Artefakte am oberen Xingú durch eine hohe Stabilität gekennzeichnet ist, besteht seitens der Nachfahr*innen ein großes Interesse an den Masken der Vorfahr*innen in der Sammlung Karl von den Steinens.“[13]

Karl von den Steinen urteilt in seiner Sprache der Beschreibung auf dezidiert abwertende Weise über Kopfschmuck und Schnitzwerk als „Erzeugnisse() der primitivsten Schnitzkunst“. Die runde „Bakaïrí-Festhütte“ wird als „Schuppen ähnlich“ beschrieben und die „Menge verschiedenartigster bunter Kopfaufsätze“ entwertet diese eher, als dass sie von den Steinen fasziniert. Die Zeichnung, eines der „über 100 Text- und Separatbilder“, vom Innern der Festhütte zeigt ein eher unordentliches Szenario. Karl von den Steinens methodischer Blick und seine Beschreibungen sind bislang wenig analysiert worden. Der Kopfschmuck wird mit europäischen Bezeichnungen benannt und als vermeintlich beliebige Kombinationen wie auf einem europäischen Damenhut des 19. Jahrhunderts beschrieben:
„Da gab es offene Cylinder aus Bast von Pappdeckelconsistenz, roth mit schwarzen Quadraten besetzt; zwei grosse Cuyen, die eine mit gelben, die andere mit blauen Federchen beklebt, und kleinere, mit rothen und weissen Flächen bestrichen; am Rande hingen Buritífasern, 1 m lang, wie Frauenhaar herab; ein ausgestopfter Balg eines Füchschens, desgleichen einer Otter, beide mit Strohgerüst zum Aufsetzen.“[14]  

Die vermeintliche Objektivität in der Beschreibung der Artefakte schafft ein Zeichensystem, das keinen Sinn abgeben will und daher bedeutungslos, wertlos erscheinen muss. Was auf den Kopf gesetzt wird, hat keine Bedeutung und steht in keinem Kontext der Ahnen und Erzählungen der „Bakaïrí“. Der ärztliche Blick Karl von den Steinens entwertet  und tötet insofern vor allem. Auf diese Weise formuliert er einen ebenso beispielhaften wie verletzenden Machtdiskurs. Diana Milena Guzmán-Mirigõ hat als Forschungspartnerin dagegen ganz anders vom Kopfschmuck gesprochen. Die unterschiedlichen Redeweisen machen lesbar, was durch Karl von den Steinen im Kontext der Ethnologie an Wissen gelöscht worden ist.
„Erwachsene Tänzer tragen einen Kopfschmuck, der mit einer Basis aus kleinen, weißen Federn beginnt, gefolgt von roten Federn und dann größeren gelben Federn. Die weißen Federn auf der Krone symbolisieren die Reinheit, die roten Federn symbolisieren das menschliche Leben – das Blut – und die gelben Federn symbolisieren die Macht des Schöpfers, die Kraft der Sonne. Jedes Element steht in direktem Zusammenhang mit dem Territorium und seine Bedeutung ist dem Herkunftsrecht des jeweiligen Volkes entnommen.“[15]

Erst im Kontext der rituellen Praxis erhält der Kopfschmuck seine Bedeutung hinsichtlich des Territoriums. Doch Karl von den Steinen hatte sich von Anfang in einen „Schuppen“, eine Abstellkammer begeben, obwohl er sich mit dem Rundhaus im mit Bedeutung aufgeladenen, öffentlichen Raum des Stammes befindet. Zu seiner Beschreibung von 1886 gehört ein gewisser Mutwille. Er bemüht sich gar nicht erst, etwas von dem Wissen des Volkes zu erfahren, das in „merkwürdigen Sachen“ bewahrt wird. Er sieht „Flächen“, wo bereits „Ornamente“ zu erzählen beginnen:
„Jedes Ornament verweist sowohl auf eine aus dem Wissen der Ahnen gegebene Kraft, als auch auf eine menschliche Schwäche. Es verbindet den Tänzer mit seinen Vorfahren, Schöpfern und Herren des Universums. Denn im Moment des Tanzes ist der Tänzer nicht nur ein einfacher Mensch: Es ist der Moment, in dem die Ahnen durch jeden Gegenstand und jedes Instrument, das der Tänzer bei sich trägt, wieder zum Leben erwachen, um ihr Wissen an ihre Kinder weiterzugeben.“[16]

Wir wissen nicht, wie Diana Milena Guzmán-Mirigõ ihr indigenes Wissen generiert hat, zumal die Oberschule in Mitú, an der sie arbeitet, eine katholische Einrichtung ist. Die Übersetzung des Wissens, das in jeder Krone, in jeder Maske eingeschrieben ist, um im rituellen Tanz aktualisiert zu werden, bleibt vage und geheimnisvoll. Vielleicht wird es als oral history vermittelt. Vielleicht entspringt es im Tanz eines Zustandes des Vergessens. So genau lässt es sich nicht formulieren und wissen. Es könnte ebenso sein, dass es ein äußerst elastisches Wissen von den Menschen und ihrem Territorium ist. Im museumsarchitektonischen Rundhaus im Humboldt Forum müssen wir uns vor allem daran erinnern, dass der Kopfschmuck mehr ist als das, was wir im materiellen sehen können.

Torsten Flüh

Ethnologisches Museum
Museum für Asiatische Kunst

im Humboldt Forum
Eintritt frei
kein Zeitfenster-Ticket erforderlich
Deutsch, Englisch
Rollstuhlgerecht
Afrika, 2. OG, Asien, 3. OG, Ozeanien, 2. OG
Öffnungszeiten
Mo, Mi, Do, So: 10:00 – 20:00 Uhr
Fr, Sa: 10:00 – 22:00 Uhr
Di: geschlossen


[1] Humboldt Forum: WÜRDE – KONTINUITÄT – TRANSPARENZ. Berlin18.09.2022.

[2] Siehe zum Konzept des Ethnologischen Museums: Torsten Flüh: Von der Supersammlung zum Debattenraum. Nachgedanken zur Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. In NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2021.

[3] Michel Foulcault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt am Main: Fischer, 1988 (zuerst 1963), S. 207.

[4] Andrea Scholz: Die Welt als Rundhaus. In: Humboldt Forum: Ethnologisches Museum – Museum für Asiatische Kunst. München: Prestel, 2022, S. 81-82.p

[5] Diana Milena Guzmán-Mirigõ: Humboldt Forum: Pressekonferenz zur Eröffnung des Ostflügels im Humboldt Forum. Live übertragen am 15.09.2022, ca. 3154s.

[6] Andrea Scholz. Die … [wie Anm. 4] S. 84.

[7] Ebenda S. 85.

[8] Ebenda.

[9] Karl von den Steinen: Durch Central-Brasilien. Expedition zur Erforschung des Schingú im Jahre 1884. Leipzig: F. A. Brochhaus, 1886, S. 5 (Digitalisat)

[10] S. 13. (Digitalisat)

[11] Siehe Wikipedia: Karl von den Steinen.

[12] Karl von den Steinen: Durch … [wie Anm. 9] S. 120-121.

[13] Andrea Scholz. Die … [wie Anm. 4] S. 87.

[14] Karl von den Steinen: Durch … [wie Anm. 9] S. 170.

[15] Diana Milena Guzmán-Mirigõ: ohne Titel. In: Staatliche Museen zu Berlin (Hg.): macht||beziehungen. Ein Begleitheft zur postkolonialen Provenienzforschung in den Dauerausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. Berlin 2021, S. 58.

[16] Ebenda.

Von der Kunst der Messe

Messe – Liturgie – Konzertsaal

Von der Kunst der Messe

Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven und Vespro della Beata Vergine von Claudio Monteverdi beim Musikfest Berlin 2022

Wie verschieden nicht nur wegen eines musikhistorischen Unterschieds von ca. 200 Jahren die liturgische Form der Messe klingen kann, ließ sich beim Musikfest Berlin 2022 mit zwei hochkarätigen Aufführungen nachhören. Das Orchestre Révolutionnaire et Romantique spielte und der Monteverdi Choir sang mit den Solist*innen Lucy Crow, Ann Hallenberg, Giovanni Sala und William Thomas am 31. August unter der Leitung von John Eliot Gardiner die Missa solemnis von 1823/24. Am 14. September folgte die Aufführung der Vespro della Beata Vergine von 1610 durch das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe. Für beide Komponisten war es eine Ausnahme und Herausforderung, eine Messe für die Kirche bzw. den Gottesdienst zu komponieren. In der Forschung ist das mehrfach thematisiert worden.

Wofür und weshalb komponierte der Hofmusiker von Mantua die Vespro della Beata Vergine? War er unzufrieden in Mantua und wollte sich für die Kirchenmusik in Rom beim Papst empfehlen? Warum wandte sich der Klaviervirtuose und Tonkünstler Beethoven dem Genre der Kirchenmusik mit der Missa solemnis zu? Die Fragen sind auf die eine oder andere Weise beantwortet worden. Doch Anlass und Kontext bleiben vage. Zwar folgen beide Komponisten den katholischen Liturgien ihrer Zeit, aber musikalisch sprengen sie die zeitgenössischen Grenzen der Kirchenmusik. Denn Beethovens musikalisches Hochamt konnte kaum noch in einer Kirche, nicht einmal im Wenzelsdom in Olmütz aufgeführt werden. Es erlebte erst am 7. April 1824 von der Philharmonischen Gesellschaft in St. Petersburg im Konzertsaal seine Uraufführung. Philharmonie als Religion? Beim Musikfest wurden beide Konzertmessen vom Publikum frenetisch gefeiert.

Die Orgel als Kirchenmusikinstrument kommt in beiden Messen zum Einsatz. Doch in der Konzeption John Eliot Gardiners (79) verschwindet sie geradewegs aus dem Klangspektrum, weil nicht die Orgel der Berliner Philharmonie, sondern eine kleine, zeitgenössische Kapellenorgel verwendet wird. Beethoven setzt die Orgel vor allem als Begleitinstrument neben den Streichern für den Chor ein, wie sich aus der erstmals 1827 bei Schott gedruckten Partitur ersehen lässt.[1] Es ist das Todesjahr Beethovens, der am 26. März in Wien starb. Welche Quellen lassen sich einsehen? In der musikhistorischen Forschung wird erwähnt, dass es bei der Aufführung in St. Petersburg zu Fehlern durch die Kopisten gekommen war. Die Staatsbibliothek zu Berlin hütet in ihrer bedeutenden Beethoven-Sammlung den undatierten, digitalisierten „Entwurf eines Briefes von der Hand Anton Schindlers betr. Angebot der Missa solemnis an die Höfe Europas“.[2] Nach einem ersten Entwurf mit Tinte wurde dieser offenbar mit Bleistift von Beethovens Sekretär ergänzt. Wie und ob überhaupt dieser Entwurf realisiert wurde, ist nicht bekannt.

Die Verschiebung der Kirchenmusik mit der Orgel zu einem Volumeninstrument in einem groß besetzten Sinfonieorchester zeigt bereits Beethovens Ansatz für die Komposition dieser Messe an. Die Liturgie wird damit als Praxis des Gottesdienstes ebenfalls verschoben, wenn nicht gar ausgehöhlt. Die „Gemeinde“ kann und soll nicht mehr wenigstens passagenweise mitsingen. Die Kenntnis der Orgel als Kirchenmusikinstrument ist heute in den meisten europäischen Ländern nicht mehr beim Konzertpublikum vorauszusetzen. Die Gottesdienste der Katholischen, Anglikanischen und Evangelischen Kirchen werden i.d.R. spärlich besucht. Kirchenaustritte führen zu Zusammenlegungen von Kirchengemeinden oder Schließung, Verpachtung und Umnutzung von Kirchen. Insofern ist die Aufführung der Missa solemnis durch John Eliot Gardiner in der Philharmonie dysfunktional und zugleich treffend, weil der funktionale Kontext bereits bei der Komposition durch Beethoven vage bleibt.

© Fabian Schellhorn

Persönliche, theologische, wirtschaftliche, philosophische und kirchenmusikalische Narrative vermischen sich am Ursprung von Beethovens Missa solemnis. Überliefert ist Beethovens Freundschaft zu seinem Klavierschüler und Mäzen Erzherzog Rudolph von Österreich aus dem Hause Habsburg-Lothringen. Dieser sollte 1820 mit 32 Jahren zum Erzbischof von Olmütz im Kaiserreich Österreich-Ungarn inthronisiert werden. Doch der Kardinal Rudolph erkannte wohl beim Empfang der Partitur, dass eine derartige Kirchenmusik im Norden Mährens nicht zu bewerkstelligen war. Harald Hodeige macht dagegen in seinem Essay für das Programm des Musikfestes Berlin 2022 auf eine von Beethoven ins Manuskript eingetragene Devise als Zitat seines Bekannten und ab 1826 Regensburger Bischofs Johann Michael Sailer aufmerksam. Dieser sei „eine zentrale Figur in der geistlichen Lebenswelt des Komponisten (geworden), der aufgrund seines Hörverlusts und schwerer Erkrankung eine tiefe Lebenskrise durchlitt und Trost suchte“.[3] „Trotz aufgeklärtem Denken stand Sailer Mystik und romantischen Strömungen nahe und propagierte ein inneren Werten verpflichtetes Christentum.“[4]

© Fabian Schellhorn

Mit Beethovens Missa solemnis werden gleich mehrere Fragenfelder eröffnet: Trägt die neuartige (katholische) Messe kirchenreformatorische Züge? Hat Beethoven im Format der Messe sein persönliches Leiden geradewegs hoffnungsselig verarbeitet? Sollte die Messe für ein Hochamt an den katholischen Höfen Europas um 1820 Beethovens Einkommenssituation verbessern, wenn man den Briefentwurf von Anton Schindler bedenkt? Verband Beethoven mit der Zusendung an seinen einstigen Schüler und Mäzen Erzherzog Rudolph als Erzbischof von Olmütz in Mähren an der Grenze zu Schlesien finanzielle Interessen? Erkannte Rudolph gar den abweichenden Charakter der Messe, der die Autorität der Katholischen Kirche mit dem Papst an ihrer Spitze beeinflussen könnte? Oder war Olmütz schlicht zu klein und zu entfernt, um die musikalischen Anforderungen personell zu erfüllen? Oder entwickelte Beethoven beim Komponieren der Missa solemnis eine musikalische Logik, die jene der Messe auf die Spitze treibt und die Form selbst angreift?  

© Fabian Schellhorn

Die Frage der musikalischen Logik betrifft die Kompositionspraxis. Adolf Nowak hat die „Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten“ über einen langen Zeitraum seiner Lehrtätigkeit als Musikwissenschaftler untersucht. 2015 wurde Musikalische Logik als Band 10 der „Studien zur Geschichte der Musiktheorie“ veröffentlicht.[5] Dass Ludwig van Beethoven abschließend bei der Drucklegung seiner Partitur höchste Sorgfalt walten ließ, kann an den überprüften Abschriften für die Stichvorlage im Mainzer Verlag Schott eingesehen werden.[6] Die sorgfältigen Korrekturen legen einen durchdachten Eigensinn der Komposition dar. Überhaupt gibt es mehrere Skizzen zur Missa solemnis, mit denen verschiedene, sagen wir, musikalische Denkmöglichkeiten ausprobiert werden. Das gibt erstens einen Wink darauf, dass sich der Komponist mit dem musikalischen Format der Messe selbst auseinandersetzt. Zweitens wird das Sailer-Zitat „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehen!“[7] als Gefühlsübertragung von christlichem Glauben irreführend. Die Korrekturen könnten ebenso auf die eigensinnigen Abweichungen vom Messe-Format hinweisen.

© Fabian Schellhorn

Adolf Nowak lässt mit Beethoven in der Musiktheorie einen neuartigen Logikbegriff entstehen. Es sei „vor allem die Sonatenform, wie sie Beethoven ausgeprägt hat, die in der Ästhetik als Modell der Bildung und Entwicklung musikalischer Gedanken in Anspruch genommen wird.“[8] Eine derart formulierte Ästhetik der Sonatenform trifft mit der Missa solemnis auf ein Regelwerk, das den „musikalischen Gedanken“ enge Grenzen setzt. Nowak zitiert Friedrich Theodor Vischers Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen von 1857, für die die „Freiheit“ als „freie() musikalische() Gedankenentwicklung“ entscheidend ist.[9] Die Sonatenform als schematisches Denken in der Musik wird im 19. Jahrhundert an die Musik Mozarts und vor allem Beethovens herangetragen.[10] Zugleich transportiert die Sonatenform einen aufklärerischen Gestus der Freiheit des Denkens in der Musik. Wo bleibt dann der Trost? Bei Beethoven wird der „Widerstand gegen das Ordnungsprinzip der Melodie (…) zu einem Versprechen der Freiheit“.[11]

Wie sich beim Musikfest Berlin 2020 an den Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven mit Igor Levitt nachdenken ließ, bietet die Sonatenform als „freie() musikalische() Gedankenentwicklung“ einige Fallstricke. Wohin führt die radikale, musikalische Freiheit? – Es ist nicht zuletzt Theodor W. Adorno, der mit seiner Philosophie der Musik an Ludwig van Beethovens Missa solemnis nach eigener Formulierung scheiterte: „Bislang kam es nicht zur Niederschrift, vor allem weil die Anstrengungen des Autors immer wieder an der Missa Solemnis scheiterten.“[12] Es blieben indessen nicht mehr und nicht weniger als Fragmente. Möglicherweise wurde die Frage des Zusammenhangs, mit der Adorno Beethovens Musik analysierte, zum entscheidenden Problem bei der Missa solemnis.
„Der Z u s a m m e n h a n g bei Beethoven kommt immer dadurch zustande[,] daß der jeweilige Formteil die Tonalität verwirklicht, darstellt, und das Movens, das das Detail über sich hinausstrebt, ist allemal das Bedürfnis der Tonalität nach dem nächsten um sich selber zu erfüllen.“[13]

Die Logik der Tonalität wird denn auch für Adolf Nowak zur entscheidenden Kompositionspraxis bei Beethoven. Im Unterschied zur Melodie produziert die Tonalität im Format der Messe zwischen Kyrie und Agnus Dei musikalische Höhepunkte. Doch indem die Höhepunkte allein aus der Tonalität generiert werden, schießen sie auch ins Leere oder „haben etwas Metphysisches“ wie es unlängst Ricardo Muti formulierte. In der ZEIT hat der Stardirigent gerade in einem Interview gesagt, dass er „fünfzig Jahre gebraucht“ habe, „um die Missa solemnis zu durchdringen“.[14] Anlässlich seines fünfzigjährigen Jubiläums bei den Salzburger Festspielen hatte er 2021 mit den Wiener Philharmonikern und dem Konzertverein Wiener Staatsopernchor im Großen Festspielhaus erstmals die Missa solemnis dirigiert. In den im Internet verfügbaren Ausschnitten von 2021 und 2022 fehlt die Orgel ganz. Die Messe wird zum symphonisch-monumentalen Chorwerk. Man könnte diese Form der Interpretation auch eine Logik der Tonalität nennen, in der der Orchesterapparat und große Chor bis an die Grenzen des tonalen Volumens geführt werden. Alles ist auf Volumen, Größe ausgelegt, das physisch ist, dieses aber nach Muti übersteigen oder hinter sich lassen soll.

Im Unterschied zu Ricardo Muti auf der Breitwandbühne des Großen Festspielhauses in Salzburg nimmt sich John Eliot Gardiners historisch-kritische Interpretation in der Berliner Philharmonie fast schon bescheiden aus. Orchesterapparat und „Denktätigkeit des Subjekts“ wie es Adorno in Bezug auf Kant nennt, stehen fast gegeneinander. Beethoven habe „die durch die Tonalität objektiv bewährten Formen in kritischer Reflexion als Synthesis ermöglichendes musikalisches Apriori reproduziert“.[15] Die musikalische Logik der Missa solemnis setzt auf physisch, akustische Überwältigung durch Volumen. Das funktioniert schon bei John Eliot Gardiner, aber kommt bei Ricardo Muti mit 81 Jahren in einer Art Karajan-Nachfolge zur vollen Entfaltung. Die Praxis der Überwältigung wird von Beethoven eigensinnig mit jedem noch so feinen Notenzeichen durchgeplant, wie die Korrekturen zu den Stichplatten bedenken lassen. Nach erheblichem Furor endet die Missa solemnis auf „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem” – „gib uns deinen Frieden“ fast schon leise. Die finale, liturgisch vorgeformte Bitte um den Sündenerlass, aus dem der Friede erwächst, wird im Konzertsaal vom Publikum kaum noch nachvollzogen.   

Ludwig van Beethovens Missa solemnis schwankt zwischen Kirchenmusikformat und musikalischer Denktätigkeit des Subjekts, das selbst nicht immer weiß, was es denkt. Was mag noch alles in die Komposition als Denken in Musik hineingespielt haben? – Wir wissen es nicht. Beklatscht das überwiegend kirchenferne Publikum heute mehr als eine musikalische Größe, von der es sich überwältigt fühlt und die es für einen Moment genießt? Dona nobis pacem bringt in der aktuellen Welt- und Gaslage trotzdem keinen Frieden mehr. Ob Beethoven damit um seinen eignen Seelenfrieden gebeten hat, wissen wir nicht. Doch das wäre der Wunsch nach Trost gewesen, den Harald Hodeige durch das Zitat unterstellt. Später im 19. Jahrhundert wird der Organist Franz Bruckner seine Musik inklusive Messen und 1852 einem Magnificat in b Dur für den lieben Gott komponieren, an den Beethoven schon nicht mehr so ganz glauben mag.

Claudio Monteverdis bisweilen volkstümlich klingende Vespro della Beata Vergine verdankt sich einem gewissen kompositorischen Pragmatismus. 2017 erklang sie zuletzt mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre unter der Leitung von Justin Doyle im Pierre Boulez-Saal beim Musikfest Berlin.[16] Das Collegium Vocale Gent und sein Ensemble spielte nun die Messe mit Orgel (Lorenzo Feder) und historischen Instrumenten unter Leitung des Barockexperten Philippe Herreweghe. Für die gregorianischen Passagen der Messe zog das Collegium seine Schola Gregoriana unter der Leitung von Barbora Kabátková hinzu. Diese Aufteilung des Vesper in zwei Gesangsgruppen machte die musikalische Kombinatorik aus Gregorianik, Kunst- und Volksmusik bei Claudio Monteverdi noch deutlicher als 2017. Monteverdis Messe ist keinesfalls aus einem, sagen wir, kompositorischen Guss, vielmehr ist das Kombinatorische besonders gut von Herreweghe, der ebenfalls 81 Jahre alt ist, herausgearbeitet.

Gregorianik, Orgel als Begleitinstrument, Volksmusik, Psalm und weltliche erprobte Kunstmusik kommen bei Monteverdi zum Zuge. 1607 hatte er die „Favola in musica“ L’Orfeo am Hof von Mantua aufführen lassen. Erst 1632 ließ er sich unter dem Eindruck der Pestepidemie in Venedig zum Priester weihen. Zuvor hatte er schon seit 1613 als gewählter Kapellmeister am Markusdom gearbeitet. Obwohl Monteverdi 1610 noch als Hofkapellmeister in Mantua arbeitete, pflegte er also eine wesentlich stärkere Nähe zur Kirchenmusik als Beethoven ca. 200 Jahre später. Für die Vespro della Beata Vergine kombiniert er Melodien des bäuerlichen Tanzes aus Bergamo, der Bergamasca, und dem Satzmodell der Romanesca. Die Komposition korrespondiert auf musikalischer Ebene mit den Allegorien als Literatur. Der religiöse Sinn entsteht insofern aus einer neuartigen Kombinatorik in Form der Allegorie. Insofern allegoría ἀλληγορία andere Sprache heißt, kündigt sich mit der Allegorie eine Art Übersetzung des Gleichen über mehrere Sprachen bzw. formulierten Bildern hinweg an.

© Fabian Schellhorn

Der Wechsel von Concertos, Psalmen und Antiphon ist selbst auf die Wiederholung als Form in unterschiedlichen Registern angelegt. In Audi coelum/Höre Himmel als Concerto wird die Verknüpfung zwischen Himmel und Erde bzw. Geist und Körper nicht nur als allegorische Erzählung vorgenommen. Vielmehr wird die Funktion des Echos, wie sie Monteverdi schon im L’Orfeo zum Modus der Kommunikation zwischen Mensch und Gott gemacht hatte, nun kirchenmusikalisch eingesetzt. In der Wiederholung antwortet der Himmel als Echo. Auf faszinierende Weise komponiert Claudio Monteverdi einen sinnlosen Natureffekt der Akustik zur sinngesättigten Gegenwart des Himmels und der Jungfrau Maria.
Audi coelum, verba mea,              Höre, o Himmel, meine Worte,
plena desiderio                           die voll Verlangen sind
et perfuse gaudio.                       und vor Freude überströmen.
… audio.                                    … ich höre.
…                                             …  
Dic nam ista pulchra ut luna,         Sprich, ist sie doch schön wie der Mond,
electa ut sol,                              erlesen wie die Sonne,
replet laetitia terras,                   erfüllt mit Freude den Erdkreis,
coelos, maria.                   die Himmel und die Meere.
… Mariá.                                    … Maria.[17]

© Fabian Schellhorn

Das lateinische Reimschema – gaudio … audio/maria. … Mariá – generiert mit winzigen phonetischen Verschiebungen im Echo göttlichen Sinn. Reimdichtung und musikalische Variation generieren ein Frage-Antwort-Echo als eine Wahrheit der Messe. – Orientalis? … Talis./vita? … ita./remedium? … Medium. Die Lobpreisung der Heiligen Jungfrau entsteht aus einer syntagmatischen Operationen. Das gesprochene bzw. gesungene Wort steht bei Claudio Monteverdi unter Anwendung einer barocken Rhetorik ganz im Vordergrund der kirchenmusikalischen Form. Nowak nennt das eine „Umwandlung sprachmelodischer in musikalische Logik“. Der „Sinn des gesprochenen Satzes“ kann nach Nowak bei Monteverdi „durch die Sprachmelodie ausgedrückt“ werden.[18] Die barocke Form der Messe folgt einem rhetorischen Regelwerk, das die Wahrheit in der Anwendung und Wiederholung der Regeln selbst findet. Vielleicht ist die Praxis des Komponierens nach kombinierten Regeln Monteverdis eigentlicher Beitrag zum Format Messe. Als Markusdom-Kapellmeister gestaltet Monteverdi denn auch ein ausgeklügeltes Regelwerk auf einander folgender kirchenmusikalischer Ereignisse.

Torsten Flüh   


[1] Ludwig van Beethoven, Messe für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel (D-Dur) op. 123 (Missa solemnis), Stimmen, Schott, 2534, Mainz: Schott, 1827. (Beethoven-Haus).

[2] Die genau Entzifferung des Briefes wurde bislang nicht geleistet. Nicht ganz auszuschließen ist, dass es sich bei den Bleistift-Notaten um Ergänzungen von Beethoven selbst handelt. Denn er war bereits ertaubt.

Beethoven digital: Entwurf eines Briefes von der Hand Anton Schindlers betr. Angebot der Missa solemnis an die Höfe Europas. Staatsbibliothek zu Berlin. (Digitalisat)

[3] Harald Hodeige: „Mein größtes Werk“. Beethovens Missa solemnis. In: Musikfest Berlin: 31.8.2022 Orchestre Révolutionnaire et Romantique & Monteverdi Choir – John Eliot Gardiner Ludwig van Beethoven Missa solemnis. Berlin 2022, S. 6. (Abendprogramm)

[4] Ebenda.

[5] Adolf Nowak: Musikalische Logik. Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten. Hildesheim: Olms, 2015.

[6] Beethoven-Haus Bonn: Ludwig van Beethoven, Messe für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel (D-Dur) op. 123 (Missa solemnis), Partitur, Überprüfte Abschrift. Beethoven-Haus Bonn, NE 269.

[7] Zitiert nach Harald Hodeige: „Mein … [wie Anm. 3] S. 6.

[8] Adolf Nowak: Musikalische … [wie Anm. 5] S. 255.

[9] Ebenda.

[10] Siehe zur Sonatenform: Torsten Flüh: Heitere Harmonie und Zersplitterung. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2020.

[11] Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[12] Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. (Herausgegeben von Rolf Tiedemann) Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2004, S. 3 und 10.

[13] Ebenda S. 82.

[14] Ricardo Muti: »Mein Vater fand, Musiker zu werden sei für einen Süditaliener ungefähr so, wie zum Mond zu fliegen« In: DIE ZEIT vom 22. September 2022 S. 46.

[15] Theodor W. Adorno: Beethoven … [wie Anm. 12] S. 293.

[16] Torsten Flüh: Strahlendes Antrittskonzert mit dem Geheimnis der Musik. Justin Doyle bringt Monteverdis Marienvesper mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre zum Strahlen. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 18, 2017 18:53.

[17] IX Concerto zitiert nach Abendprogramm S. 13-14.

[18] Adolf Nowak: Musikalische … [wie Anm. 5] S. 55.

Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas

Korea – Konfuzianismus – Kosmos

Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas

Zur begeistert aufgenommenen Vorführung von Jongmyo Jeryeak des National Gugak Centers in Seoul beim Musikfest Berlin 2022

Beim Musikfest Berlin wurde am 12. September 2022 erstmals in Deutschland die Ahnenzeremonie Jongmyo Jeryeak von über 80 Mitgliedern des National Gugak Centers in Seoul aufgeführt. In der Philharmonie erklangen zum ersten Mal koreanische Töne auf nach Forschungen rekonstruierten Instrumenten vom zeremoniellen 축 Chuk am Anfang bis zum das Ende eines Abschnittes signalisierenden 어 Eo. Die nach den Vorgaben von König 세종 (Sejong) in der ersten Hälfte des 15. Jahrhundert geformten Klangsteine des Pyeon-Gyeong ließen ihre Töne zwischen C und D# durch die Philharmonie fliegen. Die Instrumente, Verse, Kleidungen, Farben, Töne, Gesten entwarfen in ca. 75 Minuten eine koreanische Kosmologie über den reinen Konfuzianismus hinaus.

Der Konfuzianismus als Lebenspraxis wird für Jongmyo Jeryeak angereichert mit dem der energetischen Kosmologie von Yin und Yang. Zugleich schimmert das Y Ging, Buch der Wandlungen, hindurch. König 세종 (Sejong) konzipierte als 4. König der 조선왕조 Joseon Dynastie (1392-1910) für die koreanische Halbinsel und das Reich Korea eine Verschmelzung und Umschreibung regional geübter Riten mit den Lehren des Konfuzius. Mit der 집현전 (Versammlungshalle der Weisen) gründete er ein königliches Forschungsinstitut, dass alle Wissensbereiche auf koreanische Weise ausrichtete. So entstanden die koreanischen, buchstabenartigen Schriftzeichen ebenso wie Ritual- und Musikinstrumente. Auf beeindruckende Weise lässt sich mit Jongmyo Jeryeak die einzigartige Kultur Koreas in Kostümen, Riten, Instrumenten, Versen, die synchron in Deutsch angezeigt wurden, Gesten erleben. Bis zum 26. September werden Aufführungen in der Elbphilharmonie, im Prinzregententheater und in der Kölner Philharmonie zu erleben sein.

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Das Publikum in der Philharmonie wurde Zeuge der Ahnenzeremonie, die selbst die wenigsten Koreaner bzw. Südkoreaner jemals gesehen und gehört haben. Denn sie wird nur einmal im Jahr am 1. Sonntag im Mai vor und in der königlichen Ahnenhalle des Jongmyo Schreins in Seoul aufgeführt. Nach der Lehre des 孔夫子 Kong Fuzi bzw. Konfuzius existieren die Geister der koreanischen Könige und Königinnen bis zur legendären letzten „Kaiserin Koreas“ Myeongseong[1], kurz Min, die am 8. Oktober 1895 von einem japanischen Terrorkommando ermordet wurde, durch ihre Namenstafeln im Jongmyo auf so reale Weise, dass ihnen Speisen und Getränke im Ahnenritual dargeboten werden. Die Ahnenzeremonie wird zu einer hochformalisierten Institutionalisierung von Lehren und Tugenden des Konfuzi für das gegenwärtige Leben. Das National Gugak Center macht diese Praxis nicht nur als Weltkulturerbe (seit 2001) transparent und erfahrbar.

In seinem Einführungsvortrag hob Frank Böhme, Professor für Angewandte Musik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, vor der Büste Wilhelm Furtwänglers von Alexander Archipenko hervor, wie anders Musik des koreanischen Hofes im Vergleich zur europäischen konzipiert sei. Als Beispiel erklärte er eine 대금 Daegeum genannte große Querflöte aus Bambus. Diese werde nicht nur mit den Fingern durch Verschluss der Löcher gespielt, vielmehr wird zusätzlich ein Loch mit einem Papier und Metallplättchen überdeckt, um einen zusätzlichen schnarrenden oder schwirrenden Ton zu erzeugen. Eindrucksvoll erzählte Böhme ebenso davon, dass die Musik auf dem Steinplatz vor der über 100 Meter langen königlichen Ahnenhalle aus Holz durch das auf der Länge verteilte Orchester schon deshalb völlig anders klinge, weil die Instrumente wegen der Ausmaße kaum zusammen gehört werden können.

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Zusätzlich werde die Zeremonienmusik durch Vogellaute und rauschenden Straßenverkehr in der Großstadt Seoul gestört. Die Funktion der Musik, könnte man sagen, strukturiert eher den Zeitverlauf der Zeremonie, als dass sie von lebenden Hörer*innen wahrgenommen werden soll. Dennoch werden die Instrumente mit höchster Präzision gleichförmig gespielt. Zu Beginn wird das würfelartige, grüne Schlaginstrument aus Holz, 축 Chuk genannt, mit einem Stab senkrecht bzw. vertikal geschlagen, so dass ein dumpfer Ton aus der Öffnung des hölzernen Schlaginstruments nach oben entweicht. Am Ende wird, noch während andere Instrumente gespielt werden, 어 Eo mit einem besenartigen Stab quer bzw. horizontal gestrichen. Eo hat die Form und Farbe eines weißen Tigers. Es gibt keine Steigerungen oder Entladungen in der Musik. In der Philharmonie bot sich nun erstmals ein Klangerlebnis, wie es eigentümlicher und vielschichtiger hätte kaum sein können.

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축 Chuk und 어 Eo markieren das kosmologische Prinzip von Yin & Yang.„Die vertikalen Bewegungen weisen darauf hin, dass die Musik durch das symbolische Öffnen des Himmels und der Erde beginnt. Chuk repräsentiert das ‚Yang‘ der Dualität von Yin & Yang und bedeutet außerdem ‚Beginn‘ oder ‚Anfang‘.“[2] Das Chuk steht kosmologisch im Osten, wo der Sonnenaufgang den Tag beginnen lässt. Das Eo steht im Westen oder in der Philharmonie nach der räumlichen Logik rechts. „Das Instrument wird gespielt, indem mit einem Stab zunächst auf den Tigerkopf geschlagen und der Stab dann drei Mal über den Wellenkamm gezogen wird.“[3] Es entsteht auf diese Weise eher ein schnarrender Ton. Die räumliche Dualität wird tonal vollzogen. Auf diese Weise wurde in der Philharmonie deutlich, wie stark die Dualität von Yin & Yang die ganze Ahnenzeremonie strukturiert.

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Die Deutschland-Tournee des National Gugak Centers mit Jongmyo Jeryeak findet anlässlich des 50. Jubiläums des Deutsch-Koreanischen Kulturabkommens statt. Jüngere Mitarbeiter*innen der Koreanischen Botschaft in Berlin äußerten verschiedentlich wenig Verständnis dafür, anlässlich des Kulturabkommens eine dergestalt fremdartige, äußerst langsam ausgeführte Zeremonie dem deutschen Publikum vorzusetzen. Was selbst junge Koreaner*innen heute kaum noch verstehen, könne Deutschen doch nicht zugemutet werden. Vermutlich gibt es in Südkorea heute eher mehr Protestanten und Katholiken als praktizierende Konfuzianer.[4] Freikirchen und Sekten sind in Seoul wesentlich einflussreicher als eine dynastische Hofkultur für tote König*innen. Doch Jongmyo Jeryeak ist nicht nur bunt und fremdklingend, vielmehr wird im Programmheft eine umfangreiche, wissenschaftlich fundierte Einführung in Deutsch und Koreanisch geboten.[5]   

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Das rituelle Instrument Pyeong-Gyeong mit seinen 16 Klangsteinen stellt eine eigene koreanische Symbolik aus Klang und Bildelementen her. Die Form aller Steine ist gleich. Auf Anweisung von König Sejong weichen sie in der Form von vergleichbaren chinesischen Klangsteinen ab. Sie unterscheiden sich nur in der Dicke. Durch die Dicke entsteht der einzelne Ton. „Je dicker der Stein, desto höher der Ton“, heißt es im Programmheft. Der Rahmen dieses Instrumentes folgt einer eigenen Symbolik. An den beiden oberen Enden des Rahmens wurden Phönix-Köpfe herausgeschnitzt und traditionell bemalt. Der Phönix als altes koreanisches Symbolwesen lässt sich ebenso in den Malereien der Goguryeo Hügelgräber von Pyongyang (heute die Hauptstadt Nordkoreas) wiederfinden, wie sie beim Musikfest 2017 mit dem Komponisten Isang Yun eine Rolle spielten. Die Gorguryeo-Kultur geht der Joseon-Dynastie voraus. König Sejong  (15. Mai 1397 bis 8. April 1450) hat diese Elemente mit dem Konfuzianismus in Korea verschmolzen. Zwei weiße Enten- oder Gänseskulpturen halten den Rahmen des Pyeong-Gyeong. Als flugfähige Wesen symbolisieren sie den Wunsch, dass der Klang der Steine weit fliegen möge. Er soll bis in die Ferne hörbar sein.

Die Form und die räumliche Anordnung der Instrumente ebenso wie die Farben – grün und weiß für Yang und Yin – oder die Dualität von klarer Ton und Schnarren etc. lassen eine kosmische Ordnung entstehen, in die das Leben und Nachleben eingeordnet werden kann. Mit anderen Wort: die Ahnenzeremonie Jongmyo Jeryeak kann nach westlichem Denken als ein Art großes Welttheater aufgefasst werden. Der Ablauf dieses Welttheaters funktioniert auf geradezu mechanische Weise wie ein Uhrwerk. Dabei unterscheiden sich die koreanische Form und Praxis von chinesischen ebenso wie von der japanischen. Begleitet wird die Musik von den 11 Stücken oder Versen des Botaepyeong und den 11 des Jeongdaeeop. In ihnen werden die Königsnamen in Zusammenhang mit den konfuzianischen Tugenden bzw. ihren Kriegserfolgen in Erinnerung gerufen.

Zwei Sänger fungieren mehr als Vorleser der Texte über der musikalischen Untermalung, als dass sie einen individuellen Gesang anstimmen würden. Die rituelle Musik reagiert nicht auf die Erzählungen. Auf der Tafel, die der Offiziant während der gesamten Zeremonie mit beiden Händen vor sich hält und wie er es beim Schlussapplaus zeigte, steht die Reihenfolge der Rituale, die dieser zu Beginn jeweils laut vorliest. Der Jipsa bzw. Offiziant wacht über die gesamte Zeremonie und kündigt die einzelnen Schritte an. Gleichwohl ergibt sich im Konzertsaal ein gewisser Zusammenklang. Im Schrein sitzen die beiden Vorleser ebenfalls nebeneinander, wie sich in einem Videozusammenschnitt des 국립국악원 National Gugak Center vom 28. April 2020 sehen lässt. Als Tag 10 der Daily Gugak veranstaltete das Center ein Online Concert, um die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen. Die Aufnahmen waren im Jahr zuvor oder noch früher aufgenommen worden. Im Video lassen sich ebenso die gleichzeitig stattfindenden rituellen Opfergaben im Schrein einsehen. Im Zusammenschnitt strahlt die Zeremonie ebenfalls eine große Ruhe der Ordnung durch ihre Langsamkeit aus.

In den Texten geht es um eine Geschichtserzählung, die die Namen der Könige wie König Taejong mit einer tugendhaften Handlungsweise verknüpfen. Zunächst werden die Geister um die Annahme der Opfergaben gebeten. „Altehrwürdige Könige, bitte labt euch an unseren Gaben mit Genuss. Wir erweisen euch unsere aufrichtige Ehrerbietung, …“[6] Der verlesene Text stellt im Sprechakt eine Präsenz der König*innen her. Dann werden die Namen mit den Tugenden wie Loyalität genannt: „Groß ist sein Name, Ikjo! Er blieb dem König von Goryeo loyal. Unser heiliger Dojo, Sohn von Ikjo, auch ihm vertraute der König von Goryeo.“ Die Loyalität gehört zu den Kerntugenden des hierarchisch ausgerichteten Konfuzianismus. Insofern ist die Wiederholung durch den Sohn Dojo nicht einfach ein historischer Zufall, vielmehr wird die generationelle Loyalität betont. Der Sohn tut es dem Vater gleich, als handele es sich um ein dynastisches Erbe bzw. eine Übertragung und Wiederholung der Tugend Loyalität.

Die Geschichtserzählung der Joseon-Dynastie folgt weniger einer historischen Abfolge. Vielmehr wird sie vom lebenspraktischen Programm des Konfuzianismus strukturiert. Die Herrscher werden als Vorfahren gepriesen, während die Beamten mangels Loyalität zur Schwachstelle des Herrschaftsapparates werden. „Die unfähigen Beamten vernachlässigten ihre Pflichten und das Volk litt“. Der Ritus oder die Zeremonie in ihrer Synchronizität und Gleichförmigkeit verkörpert insofern den Konfuzianismus in seiner koreanischen Ausprägung. Wahrscheinlich gab es auch in der Joseon-Dynastie Unordnung und Streit. Doch die alljährlichen Zeremonien trugen als Lebenspraxis zur Stabilisierung und Tradierung eines Wertesystems bei. Während in China die Dynastien wechselten, um vom Drachenthron die Macht auszuüben, und in der Qing-Dynastie der Buddhismus wichtiger wurde, konnte sich in Korea die konfuzianische Lebens- und Herrschaftspraxis bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts halten.

Die Funktion der Stabilisierung der königlich-koreanischen Herrschaftsform wird insbesondere an Yongmyo Jeryeak erkennbar. In Ausnahmefällen wurde die Ahnenzeremonie in Krisenzeiten quasi außer der Regel durchgeführt, um das konfuzianische Regelwerk zu stärken. In den königlichen Geistern und der zu ihren Ehren aufgeführten Zeremonie wird das Regelwerk belebt und materialisiert. Während sich das Smartphone meines jungen, koreanischen Sitznachbarn mehrfach meldete und er Push-Nachrichten oder Anrufe wegdrückte, lief Yongmyo Jeryeak mit großer Konzentration ab. Diese ist unter anderem deshalb noch bemerkenswerter, als es keinen Dirigenten für das Orchester gibt. Es gibt mit dem Offizianten sozusagen einen Ordnungshüter, der völlig hinter der hochgehaltenen Tafel mit der Reihenfolge der Zeremonie zurücktritt. Die Tafel verkörpert das Gesetz. Es ist alles vorgeschrieben – es lässt sich auch sagen: programmiert. Die Musiker*innen kennen des Ablauf ihrer, sagen wir, Partitur auswendig und vertiefen sich in diese mit großer Hingabe. Es wird immer das Gleiche ohne Abweichungen gespielt. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die Tafel mit der Programmierung wie ein Smartphone von Samsung funktioniert. – Das dürfte allerdings den wenigsten Südkoreanern aufgefallen sein.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2022
National Gugak Center
Jongmyo Jeryeak
in der Mediathek bis 23. September 2022, 16:00 Uhr

Musikfest Berlin 2022
bis Montag, den 19. September.


[1] Vgl. zu Königin Min: Torsten Flüh: Unter Spinnweben. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 3, 2009 15:49.

[2] Berliner Festspiele (Hg.): Musikfest Berlin 2022, Abendprogramm 12. September 2022. Koreanisches Kulturzentrum: Yongmyo Jeryeak. (ohne Ort) 2022, S.31.

[3] Ebenda.

[4] Siehe zum Protestantismus in Südkorea auch: Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN  April 15, 2017 19:56.

[5] Berliner Festspiele (Hg.): Musikfest … [wie Anm. 2].

[6] Transkription nach dem Livestream der Aufführung.

Starke Geschlechter über Grenzen hinweg – Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestra

Politik – Geschlecht – Grammy

Starke Geschlechter über Grenzen hinweg

Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin

Gleich auf zweifache Weise spielte die Politik eine sichtbare und hörbare Rolle im Konzertprogramm des Philadelphia Orchestra beim Musikfest Berlin 2022. Indem weiterhin im Konzertsaal geflissentlich die Sozial- und Geschlechterpolitik umgangen wird, macht die Klassikgemeinde handfeste, meist ausgrenzende Politik. Yannick Nézet-Séguin als Chefdirigent des Philadelphia Orchestra hat für das Politische im Konzert eines Symphonieorchesters offenbar ein feines Gespür. Dafür spricht schon die Auswahl der Werke von Antonin Dvořák, Karol Szymanowski und Florence Price. Ob es sich am 1. September 2022 mit der Aufführung der Symphonie Nr. 1 e-Moll von Florence Price aus dem Jahr 1932 um eine Deutsche Erstaufführung handelte, ließ sich nicht ermitteln. Kurioser Weise war das Orchester über den Atlantik mit seinem historischen Dirigentenpodest[1] mit rotem, leicht abgetretenem Teppichboden für seine Europa Tournee – Edinburgh, Hamburg, Berlin, Dresden, Luzern, Paris, London – angereist.

Das Publikum in der Philharmonie klatschte nach jedem einzelnen Satz der subtil dirigierten Symphonie von Florence Price enthusiastisch. Damit verletzte es zugleich eine Konvention im Konzertsaal. Denn üblicherweise wird nicht nach den einzelnen Sätzen einer Symphonie geklatscht, weil alle Sätze zusammen einen musikalischen Gedankengang entstehen lassen. Erst am Schluss einer Symphonie entsteht auf diese Weise eine Aussage der Komponist*in, die durch eine Dirigent*in vermittelt wird. Erst am 3. April 2022 hatte der bei den Grammy Awards dreifach nominierte Chefdirigent des Philadelphia Orchestra mit seiner Einspielung der 1. und 3. Symphonie von Price den Grammy für die Best Orchestral Performance gewonnen. Doch auch die georgische Starviolinistin Lisa Batiashvili, mit der Nézet-Séguin zum zweiten Mal nach dem Konzert mit den Berliner Philharmonikern in der Waldbühne 2016 in Berlin auftrat[2], zeigte effektvoll ihre politische Haltung, indem sie in einer Robe in den ukrainischen Farben Gelb und Blau auftrat.

Für dieses Konzert muss vorausgeschickt werden, dass das Geschlecht in seiner dem Deutschen eigenen Mehrdeutigkeit von Abstammung, Gruppe, Gattung, Art, Familie, Sippe, Generation, Sex, Genital, Ursprung und Herkunft eine mehrfach prominente Rolle spielte. Der Begriff Geschlecht wird äußerst dynamisch gebraucht und generiert unablässig neue Wortbildungen und Bedeutungen.[3] In der Musik wird von Tongeschlecht gesprochen, wenn z.B. Florence Price ihre 1. Symphonie in (e-)Moll anlegt. In der neueren Forschung wird lieber von Gender oder einem Gender Gap gesprochen. Das Geschlecht spielt in der globalen Musikgeschichte eine herausragende Rolle, wenn man nur bedenkt, dass bis ins frühe 19. Jahrhundert Knaben im Umfeld der Katholischen Kirche und ihrer Musikschulen kastriert wurden, damit sie eine hohe Stimme behielten. In anderen Kulturen wie der chinesischen wurden monogeschlechtliche Operngruppen und -praktiken entwickelt.[4] Schließlich ist der Begriff politisch, weil es immer um Gruppen und Gruppenbildungen von außen oder innen geht.

Anders und im Umfang seiner Mehrdeutigkeit gesagt: ein Symphoniekonzert ist immer ein Geschlechtsakt, indem politische Entscheidungen getroffen werden. Die Symphonie Nr. 1 in e-Moll von Florence Price wurde im Juni 1932 nicht irgendwo in den Vereinigten Staaten aufgeführt, sondern vom Chicago Symphony Orchestra durch den persönlichen Einsatz und unter der Leitung von Frederick Stock, der in Jülich am Rhein geboren worden war. Stock formte das Chicago Symphony Orchestra zu einem der „Big Five“, nämlich den 5 besten Orchestern in den USA. Er spielte mit dem Orchester ab 1927 eine Vielzahl von Schallplattenaufnahmen ein. Durch Frederick Stock wurde Florence Price die erste afro-amerikanische Komponistin, die von der weißen, fast noch ausschließlich männlichen, europäischen Institution des philharmonischen Orchesters aufgeführt wurde.

Die pulsierende Industriestadt Chicago, in die die bereits ausgebildete und komponierende afro-amerikanische Florence Price 1927 mit ihrem Ehemann, einem Rechtsanwalt, zog, verfügte bereits über eine Black Community. Als Frau, Organistin und Afroamerikanerin hatte die Komponistin gleich mehrere, geschlechtliche Barrieren zu überwinden, die Frederick Stock offenbar nicht davon abhielten, ihre 1. Symphonie zur Uraufführung zu bringen. Die Komponistin verarbeitete in ihrer Symphonie nicht zuletzt mit dem 3. Satz, der den „Juba Dance“ neben dem Tempo Allegro ausweist, „schwarzes“ Musikmaterial. Der Juba-Tanz wurde von den schwarzen Sklaven aus Westafrika auf den Plantagen und Baumwollfeldern der Weißen im Cotton Belt des Südens entwickelt und getanzt. – Auf die 1. Symphonie von Florence Price wird zurückzukommen sein.

Doch bevor die bemerkenswerte und durch den Grammy preisgekrönte Symphonie erklang, bereitete Yannick Nézet-Séguin fast schon didaktisch diese mit der Aufführung von Antonín Dvořáks Konzertouvertüre Karneval vor. Das Genre der Konzertouvertüre geht offenbar als formalisierte erste Komposition auf Dvořák selbst zurück. Während Johannes Brahms 1880 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau an ihn die Akademische Festouvertüre voller Ehrfurcht komponiert hatte, entfacht Dvořák 1892 in Prag mit Karneval ein schnelles, freudiges, orchestrales Feuerwerk. Dem Format Konzert mit all seinen Konventionen, wie es beim Musikfest Berlin 2021 von Heiner Goebbels‘ A House of Call mit dem Ensemble Modern als Uraufführung befragt wurde[5], wird von Dvořák in Prag, kurz bevor er nach Amerika abreist, eine eigene Eröffnungsmusik vorangestellt. Nézet-Séguin versteht sich auf die Dramaturgie des Konzerts fast schon zu gut. Karneval wird bei ihm eine Art symphonischer Kracher, der das Publikum aufweckt und aufhören lässt.

© Todd Rosenberg

Das komplexe Format Konzert und seine aktuelle Interpretation für ein Publikum, das nicht unbedingt mit den Verhaltensregeln und Aufführungspraktiken eines klassischen Konzertsaals vertraut ist, wird durch den 10-minütigen furiosen Aufmacher mit großer Vielschichtigkeit eingenommen. Im Klassikgenre geht es nicht mehr darum, die tradierten Konventionen eines überalterten Publikums als generationelles Privileg beizubehalten, sondern ein junges Publikum zu gewinnen, damit die Orchester überleben können. Zugleich bereitet Nézet-Séguin mit der Konzertouvertüre ein Kompositionsverständnis vor, das von Karol Szymanowski und Florence Price eingelöst werden sollte. Während sich um 1900 bereits bei einigen Komponisten wie bei Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 1899[6] in Europa die klassischen Formate aufzulösen beginnen oder zumindest in Frage gestellt werden, verstärkt Antonín Dvořák mit seiner Konzertouvertüre Karneval das tradierte Musikformat. Bis 1932 zur Komposition der 1. Symphonie durch Florence Price wird sich der nicht nur theoretische Streit in der Musik verstärkt haben. Doch Price hält am klassischen Schema des Komponierens fest, das Dvořák gestützt hatte.

Lisa Batiashvili brillierte mit ihrem Solo im Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 von Karol Szymanowski aus dem Jahr 1916. Karol Szymanowski wurde am 6. Oktober 1882 in Timoschowka geboren. Seine Familie Korwin-Szymanowski gehörte dem polnischen Landadel an, die in Timoschowka, das zum Russischen Reich gehörte, Land besaß. Heute liegt der kleine Ort mit 700 Einwohnern in der Mitte der Ukraine. In der Schule von Timoschowka gibt es wohl bis auf den heutigen Tag ein Museum für den Komponisten, wenn es nicht durch russische Angriffskriegshandlungen zerstört worden ist. Als Karol Szymanowski 1914 bei Ausbruch des 1. Weltkriegs von Aufenthalten in Warschau, Italien, Nordafrika, Berlin und Wien etc. in sein Elternhaus zurückgekehrt war, komponierte er dort sein Konzert für Violine und Orchester Nr. 1. 1917 brach die Oktoberrevolution gegen das russische Feudalsystem aus und die Ukraine strebte nach Unabhängigkeit. 1917 wurde der Haus der Familie zerstört. Der historische Rahmen des Konzerts gibt auch einen Wink auf die Herkunft und politische Situation. Als polnische Adelige im späten Russischen Zarenreich auf dem Gebiet der Ukraine wurde die Familie 1917 offenbar vertrieben. Die ukrainische Robe in Gelb und Blau von Lisa Batiashvili hatte insofern eine mehrfache Berechtigung.

Karol Szymanowski hatte sich während seines Musikstudiums in Warschau ab 1900 offenbar der literarischen und künstlerischen Bewegung Młoda Polska (Junges Polen) angeschlossen. Diese Bewegung aus jungen Künstlern arbeitete mit einer entschieden liberalen Geste, worauf nicht zuletzt Szymanowskis zwischen 1911 und 1914 in Wien mit einem deutschen Text von Hans Bethge komponierter Liederzyklus Des Hafis Liebeslieder verweist. Die Liebeslieder des Hafis gelten Knaben, um es kurz zu formulieren. Das wusste bereits Johann Wolfgang Goethe. Szymanowski lebte in Wien ein offen schwules Leben. Die Rückkehr ins ländliche Timoschowka nach Ausbruch des 1. Weltkrieges berührte seine Lebensweise insofern zutiefst. Karol Szymanowski war einer der ersten offen schwul lebenden Komponisten, was das Problem des Geschlechts auf mehrfache Weise berührt. Das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 wird durch die historischen und lebenspraktischen Umstände vielfach gerahmt.

© Todd Rosenberg

Die intime Freundschaft unter Männern wird von Karol Szymanowski mit dem Violinkonzert durch die Praxis der Widmung bekräftigt. Denn er widmete seine Komposition dem Geiger Pawel Kochański, der zugleich die Cadenza des quasi 3. Satzes komponierte. Szymanowski und Kochański blieben ein Leben lang befreundet und gaben in den 20er Jahren gemeinsam Konzerte in London. Pawel Kochański, der in Odessa in einer jüdischen Familie geboren wurde und aufgewachsen war, starb am 12. Januar 1934 unverheiratet in New York. An dieser Stelle anders gesagt: Yannick Nézet-Séguins Wahl des Konzerts für Violine und Orchester Nr. 1 von Szymanowski lässt zugleich Queer History mitschwingen. Im Programmheft schreibt Martin Wilkening unter Traumgespinste nichts dergleichen, obwohl es sich auf Wikipedia in Deutsch und Englisch recherchieren lässt[7]. Zu geschlechtlich?! Immerhin zitiert er Szymanowskis retrospektiven Kommentar:
„Ohne Pawels direkten Einfluss hätte ich weder für die Geige schreiben können noch wollen… Pawel und ich haben […] einen neuen Stil, einen neuen Ausdruck des Violinspiels geschaffen, etwas in dieser Hinsicht völlig Epochales“.[8]

© Todd Rosenberg

Was könnte das Epochale gewesen sein? Der Gesang der Violine spielt sich in der Ausführung von Lisa Batiashvili an den Grenze zu Obertönen ab. Karol und Pawel treiben den Gesang in höchste, auch genießende Töne. Gibt sich hier der von Szymanowski in seinen Kompositionen oft praktizierte Erotizismus hören? Stephen Downes hat die Funktion des Eroticism and the Voices of Mythology (2003) im Werk des Komponisten intensiv untersucht.[9] Im Violinkonzert wird die erotische Sensibilität gehalten, bis sich das Orchester aufbaut und es für den Berichterstatter klingt, als breche eine Welt zusammen, ohne dass er die historische Rahmung der Komposition bereits gewusst hätte. Die Welt könnte 1916 zurecht um das Singen der Violine zusammengebrochen sein. Vivace assai – Vivace scherzando – Cadenza – Allegro moderato beschreiben die historische Situation nur ungenügend. Der Schluss verklingt wie ein Nichts. Es gibt da keinen Gottvater im Sinne des Moskauer Patriarchats (mehr). Es geht um die Geige als Instrument für eine Virtuos*in und um eine Welt, eine Geschichte, die sich dennoch nicht einfach entschlüsseln lässt. Lisa Batiashvili und The Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin, der seine Partnerschaft mit Pierre Tourville auf Facebook und anderen sozialen Medien früh öffentlich gemacht hat, feierten Karols und Pawels Komposition regelrecht.

© Todd Rosenberg

Sind es Probleme des Urheberrechts? Oder machte die Robe von Lisa Batiashvili Sorgen, die das Konzert als Video in der Mediathek an dieser Stelle verstümmeln? Ausgerechnet das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 ist aus dem Video, das noch bis 9. September zur Verfügung steht, herausgeschnitten. Lisa Batiashvili und Yannick Nézet-Séguin am Flügel spielten noch eine Zugabe, bevor sie in die Pause gingen. Live ist eben doch ein einzigartiges Erlebnis. Lisa Batiashvili solidarisierte sich mit ihrer Robe in den Farben der Ukraine nicht nur mit dem durch Russland angegriffenen Staat Ukraine. Die Herkunft des Komponisten selbst gibt einen Wink auf die Geschichtsklitterung aus Moskau. Denn das Feudalsysteme des Russischen Zarenreichs ermöglichte bis 1916 eben auch polnischen Adeligen den Landbesitz auf ukrainischem Gebiet. Sie wurden nicht gezwungen, allein Russen zu werden. Lisa Batiashvili hat indessen als Georgierin persönlich Grund genug, Putins Großrussland zu fürchten und dagegen Farbe zu zeigen. Georgien steht auf Wladimir Wladimirowitsch Putins Großrusslandkarte. Die Naivität der deutschen Bevölkerung über die Kriegsziele aus dem Kreml nimmt immer bedenklichere Formen an. Putin würde Karol Szymanowski sofort aus dem Konzertprogramm streichen: Pole, schwul, unrussisch! Darum geht es!

Florence Price‘ Symphonie Nr. 1 in e-Moll entfaltet eine symphonische Klangwelt Amerikas. David A. McConnell wies in seiner Kritik vom 25. Januar 2022 auf The Classic Review darauf hin, dass die Symphonie in der selben Klangwelt lebe[9], wie Dvořáks 9. Symphonie mit dem Motto „Aus der Neuen Welt“, die am 16. Dezember 1893 von den New York Philharmonic in der Carnegie Hall und somit nur ein Jahr nach der Konzertouvertüre Karneval uraufgeführt wurde. Knapp dreißig Jahre später wird Price an diese Klangwelt anknüpfen und sie erweitern. Allerdings unterlag Dvořák dem Irrtum, „dass Musik der Schwarzen und die der Indianer praktisch identisch war“.[10] Price setzt sich mit dem Juba-Tanz davon ab. Einerseits handelt es sich dabei um einen Tanz der schwarzen Sklaven und andererseits war der Juba seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Ministrel Shows für Industriearbeiter bereits zur Pop-Kultur geworden. Die Komponistin versucht insofern kein Ursprüngliches zu komponieren, vielmehr transformiert sie eine schwarze Pop-Kultur in einen herrschaftsorientierten, klassischen Orchesterapparat. Damit überschritt sie zugleich mehrere Grenzen.

Wenn die Symphonie Nr. 1 seit ihrer Wiederaufführung im 21. Jahrhundert sehr amerikanisch klingt, dann hat dieser Höreindruck nicht zuletzt damit zu tun, dass die ideologisch gepflegte Grenze von U und E, Unterhaltungsmusik und Ernster Musik überschritten wird. Nach ihrer Uraufführung war Symphonie offenbar nie wieder von den „Big Five“ oder einem international anerkannten Symphonieorchester aufgeführt worden. Eine Schallplattenaufnahme im 20. Jahrhundert lässt sich nicht finden. Der spontane Applaus nach den Sätzen und besonders nach dem „Juba Dance“ im Allegro hat womöglich mit der musikalischen wie geschlechtlichen Grenzüberschreitung und dem enthusiastischen Dirigat von Yannick Nézet-Séguin zu tun. Der Dirigent nahm, als der Applaus nach dem letzten Satz etwas abgeklungen war, denn auch ein Mikrofon zur Hand und bedankte sich für das enthusiastische Hören des Publikum. Florence Price werde sich darüber ganz sicher freuen. – Ein großer und vielfach zu bedenkender Konzertabend beim Musikfest 2022.

Torsten Flüh

The Philadelphia Orchestra
Yannick Nézet-Séguin
Dvořák | Szymanowski | Price
bis 9. September 2022 als Video in der Mediathek

Musikfest Berlin 2022
bis 19. September 2022


[1] Die Vermutung des Berichterstatters konnte anhand eines Pressebildes aus der Verizon Hall auf der Website des Philadelphia Orchestras verifiziert werden.

[2] Torsten Flüh: Tschechische Klassik neu formatiert. Yannick Nézet-Séguins und Lisa Batiashvilis höchst bemerkenswertes Waldbühnenkonzert mit den Berliner Philharmonikern. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2016 20:48.

[3] Siehe zur Mehrdeutigkeit und Dynamik des Begriffs Geschlecht: Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache: Geschlecht.

[4] Siehe zur chinesischen Oper und dem Geschlecht Torsten Flüh: Die Träume und die Kraft des 情 (qíng). Zu den umjubelten Vier Träumen von Linchuan der Shanghai Kunqu Opera im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 8, 2018 21:14.

[5] Siehe Torsten Flüh: Le bonheur du concert. Zur Uraufführung von Heiner Goebbels‘ A House of Call. My Imaginary Notebook mit dem Ensemble Modern Orchestra beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. September 2021.

[6] Siehe Aufgespürte Stimmungen. Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 17, 2018 16:50.

[7] Wikipedia: Karol Szymanowski.

[8] Zitiert nach: Martin Wilkening: Traumgespinste. Ders.: Alte, neue und fremde Welten. In: Berliner Festspiele: 1.9.2022 The Philadelphia Orchestra Yannick Nézet-Séguin. Berlin, 2022, S. 11-13.

[9] Stephen Downes: Szymanowski, Eroticism and the Voices of Mythology. Royal Musical Association Monographs 11, Hants, 2003.
Danuta Gwizdalanka psychologisiert in ihrer Szymanowski-Biographie mit der Figur des Verführers ausführlich, um das Thema der Homosexualität/Queerness peinlich zu vermeiden. Danuta Gwizdalanka: Der Verführer. Karol Szymanowski und seine Musik. Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2017.

[10] David A. McConnell: Review: Florence Price – Symphonies 1 & 3 – Nézet-Séguin. In: The Classic Review 25. Januar 2022.

[11] Dvořák on his New World. In: New York Herald, 15. Dezember 1893; abgedruckt in Clapham: Dvořák, S. 201 ff.

Vom Zauber der Jugend und der Musik

Wissen – Kosmos – Musik

Vom Zauber der Jugend und der Musik

Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä

Selten, sehr selten wurde der Berichterstatter auf so vorbehaltlose Weise von einer Dirigent*in überrascht und begeistert. Ein generationeller Einschnitt. Klaus Mäkelä hat das Concertgebouworkest verwandelt. So intensiv und inspiriert habe ich überhaupt selten ein philharmonisches Orchester musizieren gehört. Es muss am 6. September 2017 gewesen sein, dass ich beim Musikfest das Amsterdamer Spitzenorchester unter Daniele Gatti hörte – und es als solide, uninspiriert empfand. Ich schrieb nichts. Am 4. September 2012 hatte mich das Orchester unter seinem damaligen Chefdirigenten Mariss Jansons mit Edgar Varèses Amérique begeistert. Gatti blieb nicht lange Chefdirigent. 2018 wurde der Vertrag aufgelöst. Seit der gerade angebrochenen Saison 2022/2023 ist der blutjunge, sechsundzwanzigjährige Klaus Mäkelä künstlerischer Partner und wird ab 2027 offiziell 8. Chefdirigent des traditionsreichen Orchesters.

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Klaus Mäkelä ist die aktuelle Sensation im globalen, philharmonischen Musikbetrieb. Während auf Berliner U-Bahnhöfen mit dem Musikfest-Plakat vor allem junge Männer mit Hoodies des Lables Live Fast Die Young bzw. LFDY rumlaufen, lebt Klaus Mäkelä seine Dirigentenkarriere in einer Art Über-Schall-Geschwindigkeit. Am Sonntagabend dirigierte er Kaija Saariahos kosmologisch-spektrale Komposition Orion und Gustav Mahlers 6. Symphonie. Das Programm wird er am Mittwoch ebenso in Amsterdam zur Saisoneröffnung dirigieren. Zum Zauber der Jugend gehört bei Maestro Mäkelä, dass er sich völlig unbefangen bis ins Groteske, hochkonzentriert, feingliedrig am Pult bewegt. Beim Schlussapplaus und den Ovationen wirkt er fast schüchtern. Das wirft die Frage auf, wieviel er von der Musik weiß, die er so virtuos zum Klingen bringt. Möglicherweise entspinnt sich nicht zufällig gerade an Gustav Mahlers 6. Symphonie immer wieder die Frage nach dem Wissen in der Musik. – In der Mediathek der Berliner Festspiel steht das Eröffnungskonzert bis 3. September zu Verfügung.

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Zur Eröffnung trat der Intendant des Musikfestes Berlin, Winrich Hopp, ans Mikrofon vor der gänzlich ausverkauften und vollbesetzten Philharmonie. 2020 und 2021 fand das Musikfest unter strengen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie statt. Nur jede zweite Reihe wurde mit Maskenschutz besetzt. Im August 2020 reichte noch eine Stoffmaske.[1] September 2021 waren FFP2-Masken Pflicht geworden.[2] Gelegentlich wurde damals extra provokant gehustet. Am Sonntagabend war dergleichen Störendes nicht zu hören. FFP2-Masken wurden zwar empfohlen, doch mehr als die Hälfte trug keine mehr. Man kann nur hoffen, dass der Corona-Horror nicht zurückkehrt. Dafür rüttelt Wladimir Wladimirowitsch Putins Kriegshorror Europa und die Welt, nicht zuletzt die Kulturwelt durch. Deshalb war Winrich Hopp auf die Bühne gekommen, um an den russischen Angriffskrieg und das Schicksal der Musikkultur in den bombardierten Kriegsgebieten in der Ukraine zu erinnern. Für Dienstag, den 6. September, wurde zusätzlich das Konzert des Odessa Philharmonic Orchestra unter der Leitung seines Chefdirigenten Hobart Earle mit Werken ukrainischer Komponisten und der 2. Symphonie von Jean Sibelius ins Programm genommen. Tamara Stefanovich wird als Pianistin mitwirken. Sie spielte im letzten Jahr mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von George Benjamin Igor Strawinskys späte Komposition Movements.  

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In der neueren Musik der Gegenwart gibt es gerade für das Symphonieorchester eine Vorliebe für, sagen wir, den Kosmos und die Sterne. Kaija Saariahos dreiteiliges Stück Orion für Orchester mit den Teilen Memento Mori, Winter Sky, Hunter von 2002 ist ein Beispiel dafür.[3] Am 26. Mai 2022 war an gleichem Ort die Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Lux Stellarum mit den vier Sätzen „Fading Stardust. Calmo e brillante, Dancing Asteroids, Scherzando, con brio, Litany of the Dying Stars. Misterioso e doloroso und Floating Galaxies. Con fluidità“ als Auftragswerk der Stiftung Berliner Philharmoniker gemeinsam mit der Tonhalle Zürich zu hören. Paavo Järvi dirigierte die Berliner Philharmoniker, die das Musikfest zusammen mit den Berliner Festspielen ausrichten. Lux Stellarum wie Orion weisen eine ähnlich große Instrumentation auf. Kaija Saariaho legt wert auf ein großes Schlagwerk mit Crotales, Glockenspiel, Vibrafon, Marimba, Xylofon, Glocken, Glockenspiel, Triangel, Shell Chimes, Glass Chimes, Bass Drum, Klangschalen etc. Crotales und Vibrafon werden nach den Praktiken der französischen Spektralisten nicht nur geschlagen, sondern mit dem Bogen zum Klingen im Obertonbereich gebracht.

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Erweiterte Spielpraktiken und der Einsatz des Schlagwerks für Klangfarben statt exakte Rhythmen sind für die Spektralisten der 1970er Jahre wie Hugues Dufourt, Gérard Grisey, Tristan Murail und Michaël Lévinas prägend.[4] Man könnte sagen Kaija Saariahos Odeon beginnt mit einem wenig rhythmischen, dafür klangfarbigen Memento mori und endet mit einem rhythmischen Hunter. Die 8 Pauken werden allerdings eher traditionell zur Akzentuierung eingesetzt. Muss man Orion also auf die griechische Mythologie des Jägers Orion beziehen, der von der griechischen Göttin der Jagd, Artemis, getötet wird und als ein „Memento mori“ zu einem Sternenbild am Himmel verdichtet, komponiert wird? Wie narrativ ist die Musik von Kaija Saariahos? Olaf Wilhelmer legt die mythologische Erzählung durch das „Sternbild (…) zum Sinnbild einer Musik über den Kontrast himmlischer Statik und irdischer Motorik“ nahe.[5] Doch das Sternbild bewegt sich am Himmel ebenso. Peter Laki hatte zur Uraufführung auf die Überschneidung von „Images of the Night, dreams, myths, and distant mysteries“ in Saariahos Arbeiten hingewiesen.[6] Oder zerlegt Kaija Saariahos die Musiktradition, indem sie die Klangfarben in die Obertöne hinauftreibt und den Rhythmus dagegen führt?

© Fabian Schellhorn

Die Spektralmusik will nichts erzählen, allenfalls die Musik in ihren Grenzen und über ihre Grenzen hinaus thematisieren. Im Teil Winter Sky gibt es Passagen, die weniger an ein Naturbild erinnern als vielmehr an rhythmische Maschinen. Klaus Mäkelä macht das hörbar. Der besonders hell leuchtende Sternenhimmel im Winter kehrt ständig wieder und verschwindet. Der Sternenhimmel, an dem erst einmal Bilder von Punkt zu Punkt eingezeichnet werden müssen, an dem Bilder aus einem Nebel, dem Orionnebel entstehen, kann auch als Paradigma für die ständige Wiederholung und Wissenseinschreibung gedacht werden. Montiert und verschiebt Kaija Saariaho in Orion also Kompositionselemente, die verschiedene Praktiken in der Musik nachforschen und nachhören lassen? Intensiv wird diese Musik vor allem, durch die symphonische Vielfalt im, sagen wir ruhig, Orchesterapparat. Eine Geschichte wird kaum in Memento mori, Winter Sky und Hunter erzählt, selbst dann nicht, wenn man die Mythologie auf die Komposition appliziert. Aber vielleicht haben wir etwas mehr hören gelernt.

© Fabian Schellhorn

Dagegen schlägt Erkki-Sven Tüür mit Lux Stellarum einen entschieden stärkeren narrativen Modus an. Kehrt das Erzählen mit „Fading Stardust. Calmo e brillante“ etc. in die zeitgenössische Musik zurück? Einerseits hat Tüür das Konzert als nahezu klassisches Solo-Konzert mit großem Orchester für den Flötisten Emmanuel Pahud komponiert, andererseits werden kosmische Ereignisse mit nach klassischen Modi formulierten Tempoangaben intoniert. Die sinnliche Verknüpfung von visuellen Ereignissen mit akustischen über die Titel der Sätze wirkt stärker als bei Saariaho. Das Klangspektrum und die erweiterten Spielweisen werden vor allem mit der Flöte in äußerste praktische und akustische Bereiche geführt. Allerdings fehlen bei Tüür mythologische Anspielungen gänzlich. Trotzdem gibt es einen stärkeren Erzählgestus in seiner Komposition. Zur Werkeinführung schreibt Volker Tarnow im Programm:
„Kosmische Klangbilder faszinieren Tüür seit jeher. Sein heute uraufgeführtes und Emmanuel Pahud gewidmetes Flötenkonzert Lux Stellarum verwandelt unterschiedliche astrale Ereignisse in Töne, wobei vorwiegend raffinierte Schlagzeugeffekte, aber auch der Einsatz von Glockenspiel, Vibrafon und Zimbeln die Lux stellarum, die Lichtspiele des Universums, akustisch abbilden. Auch Flüstergeräusche des Solisten und auf mehreren Tönen gleichzeitig auszuführende Triller werden als Effekte eingesetzt.“[7]

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Anders als Kaija Saariaho aus Helsinki stellt Erkki-Sven Tüür von der estnischen Insel Hiiumaa keine Fragen an die Musik und ihre Fähigkeit „akustisch ab(zu)bilden“. Tüür konstruiert eine Repräsentationslogik in seiner Komposition. Er ist damit recht erfolgreich geworden und wird international von großen Orchestern nicht zuletzt mit der Unterstützung des in Tallinn geborenen und mit Tüür befreundeten Stardirigenten Paavo Järvi aufgeführt. Tüür erweitert das akustische Zeichenmaterial im Dienste des „klassische(n) Tonsystem(s)“, wie Tarnow es nennt. Es zielt auf eine Verständlichkeit der Musik. Besonders hohe Töne machen besonders helles Sternenlicht hörbar. Mit Lux Stellarum, das als Auftragswerk der Berliner Philharmoniker Obertöne astrale Lichteffekte hörbar und quasi synergetisch sichtbar macht, schreibt er eine Semiologie fort, die in der Moderne in Frage gestellt wird. Die Uraufführung wurde frenetisch aufgenommen. Doch für mich war diese Art der Musik, in dem jedem Ton eine Bedeutung gegeben wird, eher unbefriedigend. Schöne Musik. als gäbe es keine Mehrdeutigkeiten und Widersprüche, alles, ja, jeder Ton lässt sich verstehen.

© Stephan Rabold

Der Exkurs auf Lux Stellarum war in dieser Besprechung wichtig, weil Gustav Mahler in seiner 6. Symphonie die Musik in ihrer akustischen Zeichenlogik befragt und, wie ich sagen möchte, auflöst, ja, sie befreit. Mit äußerster Intensität und einem vielleicht traumwandlerischen Musikverständnis dirigiert Klaus Mäkelä das Concertgebouworkest. Der Hammerschlag, Holz auf Holzblock klang für mich noch stumpfer, tonloser(!) als bei Andris Nelsons mit dem Boston Symphony Orchestra am 5. September 2015. An diesem tonlosen Hammerschlag auf dem Konzertpodium scheidet sich die Musikgeschichte. Gustav Mahler macht die 6. Symphonie selbst zum Rätsel, in dem die Musik nicht mehr nach einer musikologischen Zeichenlogik funktioniert. Er hatte das 1904 ausdrücklich an den Musikologen Richard Specht formuliert:
„Meine VI. wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat.“[8]

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Lassen sich die Rätsel lösen, die die Musik aufgibt?[9] Und vor allem: Lassen sie sich in den Kategorien von biographischer Erzählung als Sinn der Musik lösen, wie es zur Praxis der Musikologie gehört? Ein Novum in der 6. Symphonie sind 3 Hammerschläge, die nach Mahler ausdrücklich nicht metallisch klingen sollen. Was passiert mit dem Schlag und seiner einmaligen oder zweimaligen Wiederholung? Wie oft soll der tonlose Hammerschlag zu hören sein? Mahler hat das während seines Komponierens mehrfach überdacht. Einmal? Zweimal? Dreimal? Viermal? Die berühmten Hammerschläge sind wichtig für die Musik und ihre Geschichte. In der Musikgeschichte sind die metallischen Hammer der kreiselnden Maschinenmusik bei Richard Wagner in der Ouvertüre des Siegfried aus dem Ring des Nibelungen wichtig. Sie instrumentieren leitmotivisch die Kraft und Produktivität nicht nur des mythologischen Helden, vielmehr noch der Industrialisierung. Sie funktionieren als mehrdeutige akustische Zeichen. Allerdings hat erst Pierre Boulez mit hundertjähriger Verspätung die Maschinenhammer der Industrialisierung und industriellen Revolution 1976 im Bayreuther Festspielhaus hörbar werden lassen. Bei Mahler soll der Hammerschlag rätselhaft dumpf bleiben.

© Fabian Schellhorn

Der wiederholte Hammerschlag im 4. Satz der 6. Symphonie wird für Gustav Mahler selbst bei der Revision zu einem Punkt des Zweifels. Soll er ihn zweimal oder dreimal hören lassen? Bei der Revision 1907 wird der dritte Schlag auf Takt 783 gestrichen, gelöscht, was sogleich bei mehreren Musikologen eine biographisch-schicksalhafte Erzählung angestoßen hat. Möglicherweise ging es Mahler indessen genau darum, die nach Sinn rufende Dreimaligkeit zu unterbinden. Der Hammerschlag soll vor allem nicht klingen und gehört doch zur Komposition wie zur Musik. Nachdem sich zuvor durch die Streicher in höchsten Tonlagen „alpine() Klanglandschaften“ (Olaf Wilhelmer) aufgetürmt haben. An dem wiederholten und gleichwohl in der Musik einzigartigen Hammerschlag, für den das Concertgebouworkest einen großen Holzblock mit einem Holzhammer einsetzte, entscheidet sich die Frage nach der Musik und ihrer Bedeutung. Der Schlag soll hohl, leer klingen. Er erweitert das Klangspektrum und ist doch kein Ton mehr. Jedes Orchester von Rang muss sich für den musikhistorischen Hammerschlag ein eigenes Instrument konstruieren!

© Fabian Schellhorn

Was ist Musik? Und was ist ihr Material? Klaus Mäkelä treibt sie im ersten Satz bis zur Groteske. In der 6. Symphonie wird ein extremes Verhältnis von Ordnung und Unordnung durchgespielt. Die Ordnung der klassischen Kompositionsweisen steht auf dem Spiel. Denn „zur Auflösung jeglicher Ordnung tendierende() Felder (beanspruchen) viel Raum“, um die Musik allererst hervorzubringen. Die „Welt des Marsches“, wie er in der Symphonie immer wieder anklingt, lässt sich als eine der extremen, aber ebenso fatalen Ordnung hören. Sie ist eine vermeintliche Ordnung des Krieges. Der Krieg, der in aller jüngster Zeit, ja, genau in diesem Augenblick als geordnete, generalstabsmäßige „Operation“(!) stattfinden soll, bringt nicht nur Unordnung und Zerstörung, er wird selbst zum Feld der Unordnung auf dem um Ordnung gerungen wird. Um die Musik in ihren Extremen auszuforschen, schneidet Mahler, die „Auflösung jeglicher Ordnung“ gegen die des Marsches oder umgekehrt. Mahler lässt den Marsch nur noch als zu erinnerndes Ordnungsprinzip im Schlussteil nachklingen, um abrupt abzubrechen. Vielleicht war der Ordnung verheißende Takt des Marsches immer schon eine Lüge, die nun im Zeitalter des Internets als Fiktion aufbricht. Die große Lüge von Putins Angriffskrieg besteht darin, dass er im Sinne des Moskauer Patriarchats Ordnung bringe.

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Mahlers 6. Symphonie lässt sich als eine Materialschlacht der Instrumente und des Klanges formulieren, durch die er ein nie zuvor gehörtes Spektrum an Klang hervorgebracht hat. Doch das Material ist nicht einfach nur eine Quantität oder ein Ursprüngliches aus dem Musik gemacht wird. Historisch stand der 1. Weltkrieg erst noch bevor. Dennoch entfacht Mahler einen Krieg im Orchester. Vielmehr wird von Mahler das Material in der Produktion von Klang und Musik allererst in Grenzbereichen hervorgebracht. Dem Holzhammer oder „Axthieb“, wie es einmal von Mahler heißt, stehen die Glocken gegenüber, die nicht mehr und nicht weniger als Glocken im Klangspektrum sein sollen. Sie können sich nicht mehr als Ruf zum Gottesdienst durchsetzen. Kein Trost, stattdessen ein tonloser Hammerschlag. Auf diese Weise wird das Material nur zu einem solchen, indem es praktisch eingesetzt wird. Im Verhältnis zu den Klangerzählungen von Richard Wagner, bei dem jeder Ton sich semiologisch einordnen lässt, und die Hammerschläge Mimes im Siegfried ebenso die Maschinenhammer in den Eisengießereien und Maschinenbauanstalten aufrufen, entrümpelt Mahler mit der Sechsten die Musik und ihr Material von Erzählungen und Zeichen- bzw. Tonlogik.

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Der zweite Satz Andante moderato gelingt Klaus Mäkelä mit dem Concertgebouworkest besonders harmonisch und intensiv nach dem grotesken Unordnungsgewitter des ersten Satzes. Woher kommt Mäkeläs Musikwissen? Einerseits ist er in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Andererseits fällt beim Dirigieren auf, dass er nicht vom Blatt dirigiert. Er muss sich die Sechste mit ihrem gewaltigen Notenvolumen eingeprägt haben. Wenn zwei Seiten dirigiert sind, blättert er wie im Traum oder in Trance um. Er gibt die Einsätze äußerst präzise und scheut sich vor keiner ungewohnten Geste. Wirkte Andris Nelsons 2015 „sportlich“, so dirigiert Mäkele tänzerisch. Doch es ist keine tänzerische Leichtigkeit, eher eine ungekannte Ernsthaftigkeit im Ringen um die Komposition. Dass das Publikum die Musik durch die Körperlichkeit des Dirigats verstünde, glaube ich nicht. Aber beim Marschthema nimmt sein ganzer Körper stramme Haltung an. Fast knallen die Hacken zusammen. Beherrscht er die Musik? Oder beherrscht sie ihn? Außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten? Daniel Barenboim dirigiert aus einem profunden Musikwissen heraus. Simon Rattle durchdenkt jede Note. Klaus Mäkelä verausgabt sich völlig zumindest, wenn er die Sechste von Mahler dirigiert. Es bleibt ein Rätsel wie er es macht, aber er macht es mit einer Spur jugendlicher Unbefangenheit.

© Fabian Schellhorn

Der Angriffskrieg des „Herr(n) Putin“, wie Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, ihn in ihrer Rede auf dem Empfang des Botschafters der Niederlande in Deutschland emotional nennt, hat nicht nur die Zerstörung einer kulturellen und bildungspolitischen Infrastruktur – Theater, Konzerthäuser, Schulen etc. – in der Ukraine zum Ziel, er soll die aktuelle ukrainische Kulturszene und Kultur in ihrer Pluralität stellvertretend und vorausschauend für ganz Europa auslöschen. Männliche Orchestermusiker müssen für die Ukraine gegen Putin zur Waffe greifen. Orchester werden zerrissen. Das Odessa Philharmonic Orchestra muss in Moldavien proben. Nach mehr als 6 Monaten, mehr als 180 Tagen, mehr als 4320 Stunden Angriffskrieg auf den souveränen Staat Ukraine erinnerte Claudia Roth daran, dass Kultur und philharmonische Orchester nicht irgendein Beiwerk, sondern nach dem Willen und der Kriegserklärung, dem Krieg der Rhetorik Wladimir Putins ein strategisches Kriegsziel geworden sind. Wir wissen nicht, ob und wie für Klaus Mäkelä, der neben Helsinki, Oslo, Amsterdam, Paris und Berlin durch Europa zu Spitzenorchestern reist, um mit ihnen zu arbeiten, der russische Angriffskrieg eine Rolle spielt. Ganz wird es ihn nicht unberührt lassen, denn er hörte Claudia Roth, die ihm zuvor überschwänglich gratuliert hatte, aufmerksam zu.

© Fabian Schellhorn

PS: Abgesehen von der enormen Begeisterungsfähigkeit und Dirigierkunst Klaus Mäkeläs gibt er der Kultur der philharmonischen Orchester einen belebenden Schub. Mit Mäkelä, so die Hoffnung der internationalen Orchestermanager und des Musikbetriebs, wird auf einmal klassische Musik für Zwanzigjährige Instagramuser und Influencer sexy. Könnte man ja mal reinhören. LFDY. Möge Maestro Mäkele eine ganze Generation wachrütteln und in die Konzerthäuser dieser Welt locken. Der Altersdurchschnitt ist da nämlich ziemlich hoch – bei Ü60 sicherlich.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2022
bis 19. September 2022
Concertgebouworkest Amsterdam

Eröffnungskonzert Musikfest Berlin 2022
Klaus Mäkelä, Leitung
Saariaho | Mahler
Video bis 3. September 2022

Odessa Philharmonic Orchestra
Hobart Earle, Leitung
Skoryk | Lysenko | Karamanov | Sibelius
Dienstag 6.9.2022 20:00 Uhr


[1] Siehe Torsten Flüh: Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig. Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. August 2020.

[2] Siehe Torsten Flüh: Le bonheur du concert. Zur Uraufführung von Heiner Goebbels‘ A House of Call. My Imaginary Notebook mit dem Ensemble Modern Orchestra beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. September 2021.

[3] Berliner Festspiele: Concertgebouworkest Amsterdam – Klaus Mäkelä – Saariaho | Mahler 28.8.2022. Berlin: Berliner Festspiele, 2022, S. 6.(als PDF)

[4] Siehe Torsten Flüh: Über sinnliche Spektren. Ensemble BERLIN PIANOPERCUSSION spielt Spektralmusik im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 21, 2013 22:36.

[5] Berliner Festspiele: Concertgebouworkrest … [wie Anm. 3] S. 10.

[6] Peter Laki: Orion (2002) https://saariaho.org/works/orion/

[7] Volker Tarnow: Werkeinführung Erkki-Sven Tüür: Lux Stellarum. In: Berliner Philharmoniker (Hg.): Paavo Järvi | Emmanuel Pahud. Berlin: Berliner Philharmoniker. 2022, S. 9.

[8] Olaf Wilhelmer: Hammer und Glocke. Gustav Mahler und die Musikkultur Amerikas. In: Abendprogramm Boston Symphony Orchestra 05.09.2015. Berlin: Berliner Festspiele 2015, S. 8.

[9] Siehe auch Torsten Flüh: Rätsel der Musik. Zum Boston Symphony Orchestra mit Andris Nelsons und zum Israel Philharmonic Orchestra mit Zubin Mehta beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 9, 2015 23:37.

Feminismus und die Radikalität der Gefühle

Feminismus – Zeitschrift – Gefühl

Feminismus und die Radikalität der Gefühle

Zur Performance Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980 im Literaturhaus Berlin

Am Donnerstagabend lag gegen neunzehn Uhr eine dicke, schwarze Gewitterwolke über der City-West, also mit dem Ku’damm und dem Literaturhaus in der gediegenen Fasanenstraße jenem Teil der Stadt, der sich zu Zeiten der kleinen Redaktion für Die Schwarze Botin West-Berlin nannte. Die Fenster und Balkontüren im Großen Saal des Literaturhauses waren bis zum Anschlag aufgerissen. Die Kuratorin der Reihe „Frauen der Boheme“, Janina Enderle, erhoffte sich Regen und Kühlung am Abend eines Tages mit 34° C als Höchstwert. Über dem Asphalt des Ku’damms mag es deutlich heißer gewesen sein. Vor dem Fenster des Saals an der Straße nahezu haushohe Buchen, alter Baumbestand. Mit dem Regen sollte es noch bis gut nach 22:00 Uhr dauern. Programme als Fächer. Die spätere Verlegerin der Zeitschrift Die Schwarze Botin, Marina Auder, sitzt im Publikum. Live und Livestream. Jetzt: YouTube.

Das Literaturhaus gab es noch nicht, als Gabriele Goettle und Brigitte Classen 1976 die feministische Zeitschrift Die Schwarze Botin initiierten. Es wurde erst am 26. Juli 1986 eröffnet. Vojin Saša Vukadinović hat 2020 sein literaturhistorisches Buch Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980 mit einer Einführung und Kontextualisierung einiger Botinnen-Texte veröffentlicht. Damit rückt er die Zeitschrift in das Interesse der Feminismus-Forschung und der Zeitgeschichte. Während Alice Schwarzer und Emma institutionalisiert, dekoriert und kanonisiert wurden, geriet das Gegenprojekt von Goettle und Classen ins feministisch-historiografische Abseits. Vukadinović zitiert programmatisch Roland Barthes‘ Formulierung: „Je schicklicher, artiger, argloser, gesetzter eine Geschichte erzählt wird, desto leichter kann man sie umkehren, schwarz färben, gegen den Strich lesen.“[1] Die Schwarze Botin schrieb nicht zuletzt mit den anwesenden Zeitzeuginnen Eva Meyer, Rita Bischof und Ginka Steinwachs gegen den Strich und färbte die Bewegungsbotschaften der Frauen schwarz.

Wegen der Covid-19-Pandemie erschien zu dieser wichtigen Forschungsarbeit zur Feminismus-Debatte lediglich im zweiten Lockdown am 12. November 2020 im Deutschlandfunk ein fast neuneinhalbminütiges Gespräch Vukadinovićs mit Miriam Zeh.[2] Im Literaturhaus führte er nun das Gespräch mit den Philosophinnen, Autorinnen und Performerinnen Eva Meyer, Rita Bischof und Ginka Steinwachs, die in der ersten Phase der Zeitschrift ihre Texte in Die Schwarze Botin veröffentlichten und an den Redaktionssitzungen teilnahmen. Als Ergänzung und Erweiterung zur Forschungsarbeit über die Debatten und Praktiken, die die Zeitschrift mit ihren Texten und Haltungen hervorbrachten, kommentierten Meyer, Bischof und Steinwachs unkonventionelle Redaktionssitzungen mit ebenso ausgewählten wie provokativen Speisen, die als Anekdoten weiterhin kursieren. So erinnerte Rita Bischof eröffnend mit Elfriede Jelinek an die Mythen, die sich bald nach 1976 um das Zeitschriftenprojekt ausbildeten, wobei gefragt wurde, ob „bei den Essen der Schwarzen Botinnen tatsächlich Stierhoden serviert“ worden seien.[3] – Ein spitzes Auflachen aus dem vollbesetzten Saal pointiert Bischofs Zitat.

Das literarische Genre der Anekdote wird von Rita Bischof mit der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek als Referentin fast beiläufig doch effektvoll eingesetzt. Das spitze Auflachen verdankt sich einem rhetorischen Kunststück, denn die Internetportale Kochbar und Chefkoch führen heute längst Rezepte für Stierhoden und Geröstete Stierhoden in Paprika mit Rahmsoße völlig skandalfrei. Bei Chefkoch hat das Rezept Fozzybaer1 eingestellt und bemerkt immerhin, dass die Hoden vom Stier „beim Metzger des Vertrauens bestellt werden“ müssen. Im Unterschied zu 1976 gibt es heute nämlich kaum noch Metzger, bei denen die delikate Innerei bestellt werden könnte. Auf dem Land wurden seinerzeit Stierhoden ganz üblich aufgetischt, wobei sich der eine oder andere Bauer, heute: Landwirt oder Agraringenieur, eine kraftförderliche Wirkung versprochen haben mag. Warum sollten also Feministinnen keine Stierhoden essen?!

Die Anekdote kombiniert in ihrer sprachlichen Operation offensichtlich das Gastronomische mit dem Geschlechtlichen. Und sie lässt mit dem Geschlechtsmerkmal als Speise der Frauen die Entmannung aufscheinen. Das Verschlingen des Geschlechtsmerkmals als Zeichen der Männlichkeit könnte um 1976 frankophil postsemiologisch im Trend der Literaturtheorie gelegen haben, wenn man beispielsweise an Roland Barthes‘ Schriften L’empire des signes von 1970 oder an seine Antrittsvorlesung zur Semiologie am Collège de France vom 7. Januar 1977 denkt. In seiner Antrittsvorlesung verschiebt Barthes die Semiologie einmal zur „Semiotropie“.[4] Beide Texte erschienen erst in den 1980er Jahren in der edition suhrkamp. Geschmacklich unterscheiden sich Stierhoden nicht von den weitverbreiteten Gebratenen Nierchen, aber semiologisch und semantisch. Das Anekdotische der Stierhoden gibt einen Wink auf den Pariser Diskurs, mit dem die drei Zeitzeuginnen durch Auslandsaufenthalte während ihres Studiums vertraut waren, ohne zu wissen, welche weitreichende Folgen er in Deutschland haben sollte. Es wird darauf zurückzukommen sein.

Die Anekdote, die Rita Bischof für ihre Eröffnung verwendet, erinnert an die vielgeübten Sprachoperationen, mit denen die feministischen Autorinnen der Schwarzen Botin arbeiteten. Ob jemals Stierhoden serviert wurden, mag völlig unerheblich bleiben. Allein die Nennung eines überpointierten männlichen Geschlechtsmerkmals setzt Assoziationsketten in Gang, die in der als feindlich identifizierten Sprache, dem journalistisch-feministischen Jargon von Emma, als provokant und skandalös empfunden werden mussten. Vojin Saša Vukadinović arbeitet in seiner Einführung unter dem Zitattitel Eine Zeitschrift für die Wenigsten die kontroversen Haltungen von Emma und Die Schwarze Botin heraus.
„Die Ziele: die Frauenbewegung, der Kulturbetrieb, das Nicht-Denken – und manchmal alles in einem. Als bevorzugter Argumentationstyp diente von Anfang an Polemik. »Im Januar sollen 200 000 Frauen penetriert werden«, lautete es Ende 1976 in Anspielung auf die Auflagenhöhe der gerade in Entstehung befindlichen EMMA, während kurz darauf über Courage gespottet wurde, sie versorge ihre Leserinnen mit »geistiger Schonkost«. »Zu Karin Struck fällt uns nur ›Mutter‹ ein«, hieß es über jene Schriftstellerin, die mit ihrem 1975 erschienenen zweiten Roman Die Mutter zu ihrem Lebensideologem gefunden hatte.“[5]

Es ist nicht nur die Form der Polemik, die in der Kritik an der Auflagenhöhe als Penetration formuliert wird, vielmehr schimmert damit zugleich ein feministischer Richtungsstreit über sexuelle Praktiken unter sexpositiven und antiphallischen Lesben in den 70er Jahren durch, der sich in den 1980er Jahren in den „Sex Wars“ zuspitzte.[6] Insofern ist Gabriele Goettles Ver- und Anwendung des Begriffs penetrieren als Kritik an der Verlags- und Vertriebspolitik der EMMA durchaus gewitzt. Das in der Frauenbewegung eingeforderte Gleichberechtigungsgebot beim Sex wird konterkariert. Wie Vukadinović recherchiert hat, kommt diese zielsichere Verwendung der inkriminierten Sexpraxis nicht von ungefähr. Vielmehr gehörte Goettles Geliebte Brigitte Classen „zu den frühesten weiblichen HAW-Angehörigen“, die sich in der Homosexuellen Aktion West-Berlin „kurzzeitig als »schwule Frauen« bezeichneten“.[7]

Angestoßen durch Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971), der in Berlin im Tiergarten, auf dem Ku‘damm und am Bahnhof Zoologischer Garten etc. mit Laiendarsteller*innen als Kritik am unpolitischen Verhalten der Schwulen gedreht worden war[8], transformierten Classen und Goettle einen sexpositiven Schwulendiskurs in die Feminismus-Debatte. Mit großer Treffsicherheit führt sie das inkriminierte Tätigkeitswort gegen EMMA an, verwandelt es in eine Waffe. Ihre „Leserinnen“ werden als passive Frauen formuliert und imaginiert, denen durch EMMA genau das angetan wird, was ihr Feminismus verleugnet. Vor allem Gabriele Goettles Beiträge zur feministischen Publizistik formulieren Schwachstellen im Diskurs eines massentauglichen Feminismus, wie ihn das Gegenorgan praktiziert. Es bedurfte 1976 sicher einen gehörigen Mut dazu, ein Hamlet-Zitat mit Körperflüssigkeiten zu kombinieren und Schleim oder Nichtschleich, das ist hier die Frage als Titel „An Stelle eines Vorwortes“ zu schreiben.
„Die Frauen haben sich schlecht beraten lassen, als sie anfingen zu glauben, daß alles, was Frauen denken, sprechen, schreiben und arbeiten, unter dem Aspekt einer Neuen Weiblichkeit für die Emanzipation brauchbar, wenn nicht gar gut sei. Nichts ist leichter als die Dummheit zum goldenen Mittelmaß zu erheben, mit dem alle gleichermaßen zufrieden sein dürfen. Die literarische Produktion in Form verschiedener Journale und Bücher empfängt ihre Tröstungen immer noch durch die Begeisterung derer, die nach jahrhundertelangem Phlegma einen selbständigen Schritt schon für die Überwindung der eingefleischten Verhaltensweisen halten.“[9]

Die Thematisierung und Kritik der „eingefleischten Verhaltensweisen“ korrespondiert mit Rosa von Prauenheims Film, dessen Drehbuch und Argumentation der 16mm-Schmalfilmer wesentlich dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker zu verdanken hatte und dem, was heute queer genannt wird. Die Gründung der Zeitschrift Die Schwarze Botin kann ebenso als queer history gelesen werden. Das formuliert Vukadinović so nicht, sondern schreibt lieber von „der Boheme verpflichtete(n) Lebensläufe(n)“.[10] Was ist Boheme? Als Boheme des 20. Jahrhunderts führt er die Namen Mary McLane, Hedwig Dohm, Rosa Mayreder und Virgina Woolf an. Benno Gammerl hat 2021 sein Buch Anders fühlen vorgelegt.[11] Die Emotionsgeschichte vom anderen Fühlen gibt auch einen Wink auf Die Schwarze Botin. Denn sie wird von Goettle und Classen vor allem gegen einen Gefühlsdiskurs des Feminismus in Stellung gebracht. Gegen die Gefühlskultur der „Neuen Weiblichkeit“ werden das Denken und ein überdachtes Verhalten in Aussicht gestellt. Die unterstellte „Dummheit“ der anderen spielt ebenso auf einen anderen Gefühlshaushalt an, so dass man fast fragen müsste, ob die soziale Kategorie der Boheme als bürgerliche Konstruktion sich nicht eher einem anderen Fühlen verdankt.

Christiane Ketteler und Magnus Klaue weisen in ihrem literaturwissenschaftlichen Nachwort auf die Funktion von Verena Stefans autobiographischem Roman Häutungen (1975) als „feministischer Klassiker[12] der Neuen Frauenbewegung für das lesbisch fühlende Paar Classen und Goettle hin, indem sie in Klammern anmerken, dass „es (…) sich bei Häutungen um eine lesbische Selbstfindungsgeschichte“ handele.[13] Insofern rückt die Selbsterzählung vom anderen Fühlen entschieden in die Aufmerksamkeit von feministischem Schreiben. Das Paar-Projekt Die Schwarze Botin erprobt Formulierungen und Praktiken zum anderen Fühlen, das kurzzeitig als „schwul“, später als „lesbisch“ benannt wird. Zugleich soll dies andere Fühlen die Frauenbewegung nicht diskreditieren, weil „alle Frauen“ zumindest von Verena Stefan und bei EMMA gemeint sein sollen. Verena Stefan schrieb noch 1994 über ihre Schreibweise:
„Wir schrieben in einfachen Sätzen und machten einfache, direkte Aussagen. Unsere Sprache war nicht nur knapp und genau, weil wir Jahre der Flugblätter, Pamphlete, Aufrufe und Ankündigungen hinter uns hatten und weil wir alle Frauen, also auch die sogenannten einfachen Frauen erreichen wollten.“[14]    

Die Vereinfachung der Sprache in einer tendenziellen Parolisierung, einem Sprechen und Schreiben in Parolen wie in „Flugblätter(n), Pamphlete(n), Aufrufe(n) und Ankündigungen“ mit dem Anspruch „alle Frauen“ egalitär erreichen und gleichmachen zu wollen, erregte bei Goettle und Classen Emotionen, die nach Artikulation suchten. Was die Autorin und die Verlegerin in Polemiken verwandeln, spielt sich am prekären Punkt der Erzählung von sich selbst ab. Die „Zeitschrift für die Wenigsten“ situiert sich an einem Kontrapunkt der Agitations- und Faschismuskritik, die „alle Frauen“ gleichmachen will und darin die Gefahr der Neuen Frauenbewegung formuliert. Anders mit Ketteler und Klaue gesagt:
„In Häutungen und mehr noch in dessen begeisterter Rezeption traten für die Autorinnen der Schwarzen Botin exemplarisch jene Charakteristika zusammen, die sie an der Zweiten Frauenbewegung ablehnten und verachteten: der Rekurs auf stereotype, trivialliterarische präformierte Schreibweisen, die die abgefeierte weibliche Erfahrung in sprachlichen Formen zum Ausdruck brachten, welche jegliche Artikulation von etwas Neuem, Ungedeckten, bisher Ungedachten, zugleich verhinderten; der Kultus der Innerlichkeit, der die nur subjektive Erfahrung als Ort widerständiger Spontaneität glorifizierte, statt gerade im vermeintlich Spontanen das Vermittelte, Gesellschaftliche aufzusuchen; und schließlich die Instrumentalisierung lesbischer Sexualität (…), die nicht als eigenmächtige Form sexueller Lust, sondern als Abwehr und Vermeidung von berechtigtermaßen deprimierend empfundenen heterosexuellen Erfahrungen angepriesen wurde.“[15]

Der Mythos Paris spielte für die Künstlerinnen und Schriftstellerinnen nicht nur um Die Schwarze Botin eine entscheidende, man möchte sagen, innovative Rolle für den deutschsprachigen Raum. Ulrike Ottinger reiste Hals über Kopf  nach Paris, um Malerin zu werden, wie sie in ihrem Film Paris Calligrammes erinnert[16], und verließ die Stadt als ΄68 der ideologische Druck der Studentenrevolte zu groß wurde. Brigitte Classen, Elisabeth Lenk, Rita Bischof, Eva Meyer, Ginka Steinwachs und andere studierten in Paris bei Roland Barthes und anderen. Paris hielt bis in die 80er Jahre den Mythos der Freiheit auch in sexueller Hinsicht bereit. Studienerfahrungen in Paris generierten und generieren weiterhin Transfers. In den Sechziger und Siebziger Jahren wurden vor allem der Surrealismus und seine Arbeitsweisen zu einem Versprechen der Moderne. Ulrike Ottinger entwickelte daraus eine eigene Filmsprache. Ginka Steinwachs schrieb ihre Dissertation über André Bretons Nadja und knüpfte an die „automatische Schreibweise“ der Surrealisten an. Der Schwarzen Botin verliehen die Paris-Bezüge eine gewisse Internationalität.
„Classens Studienjahr in Frankreich kam der Zeitschrift nun zugute. In Paris konnte sie eine kleine Wohnung nahe dem Gare de l’Est nutzen, die sie gemeinschaftlich mit einigen anderen angemietet hatte und für Gastaufenthalte teilte. Die Diskussionen, die etwa an der Universität von Vincennes geführt wurden, fanden somit umgehend ihren Weg in die »Frauenhefte«. Schon in der zweiten Ausgabe wurde ein längeres Gespräch mit Hélène Cixous und Maren Sell dokumentiert, dass Classen und Goettle mit diesen in Paris geführt hatten.“[17]

Paris schimmerte bis in das Gespräch durch, das Vojin Saša Vukadinović im Literaturhaus Berlin, kurz: Li-Be, mit Rita Bischof, Eva Meyer und Ginka Steinwachs führte. Dass es überhaupt in dieser Form zustande kam, ist ihm und seinem Buch zu verdanken, mit dem die Feminismus-Forschung einen wichtigen Impuls erhalten hat. Hélène Cixous, die die schwarzen Botinnen zumindest in dem begrenzten Kreis ihrer Leserinnen bekannt machten, wird zwischenzeitlich mit preisgekrönten Übersetzungen des Unübersetzbaren durch Esther von der Osten im Passagen Verlag publiziert.[18] Vukadinovićs Zeitzeuginnen sprechen und performen ganz im Hier und Jetzt mit Texten aus demnächst abzuschließenden Buchprojekten oder dem Versuch, die écriture automatique in eine algorithmische Robotik von Google zu transformieren, während längst z.B. journalistische Texte nach den Regeln tatsächlicher oder vermeintlicher Google-Algorithmen geschrieben werden.

Torsten Flüh

Li-Be
»Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980«
vom 18. August 2022

Vojin Saša Vukadinović (Hg.)
Die Schwarze Botin.
Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980.
Mit einem literaturwissenschaftlichen Nachwort von Magnus Klaue und Christiane Ketteler
512 S., 18 Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm
ISBN 978-3-8353-3785-5 (November 2020)
€ 36,00


[1] Vojin Saša Vukadinović: Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980. Göttingen: Wallstein, 2020, S. 12.

[2] Die redaktionelle Einordnung der Zeitschrift als „Ehemalige Satirezeitschrift“ bestätigt auf ironische Weise die Verdrängungsmechanismen der Feminismus-Debatte. Denn: obwohl einige Texte dem Format der Satire entsprechen, war Die Schwarze Botin keine Satire-, sondern eine Frauenzeitschrift.
Deutschlandfunk: Ehemalige Satirezeitschrift „Die schwarze Botin“. Kampf den „dummen Frauen“. Vojin Saša Vukadinović im Gespräch mit Miriam Zeh | Audio 12.11.2020.

[3] Siehe Literaturhaus Berlin: »Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980« YouTube 18. August 2022 ca. 13:00.

[4] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Französisch und Deutsch Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1980, S. 58/59.

[5] Vojin Saša Vukadinović: Die … [wie Anm. 1] S. 15.

[6] Siehe dazu: Schwules Museum: 9. Mond: Lubed Up Politics – Feministischer Porno & Erotische Videokunst. 9. September 2018 – 8. Oktober 2018.

[7] Vojin Saša Vukadinović: Die … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Zu Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle … siehe Torsten Flüh: Das Sprechen im Kino. Zu Lothar Lamberts Sein Kampf und Rosa von Praunheims Filmen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 16, 2013 21:14.

[9] Gabriele Goettle: Schleim oder Nichtschleim, das ist hier die Frage. In: Ebenda S. 80.

[10] Vojin Saša Vukadinović: Die … [wie Anm. 1] S. 13.

[11] Siehe Torsten Flüh: Gefühlsechte Geschichte/n. Zur Queer Lecture und Buchvorstellung von ANDERS FÜHLEN im taz TALK mit Jan Feddersen und Benno Gammerl. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. April 2021.

[12] Siehe Fischer Verlag: Verena Stefan: Häutungen. (15.09.2015)

[13] Christiane Ketteler und Magnus Klaue: Wider den Schleim der Authentizität. In: Vojin Saša Vukadinović: Die … [wie Anm. 1] S. 496.

[14] Verena Stefan: Kakophonie. Vorwort zur Neuausgabe von 1994. In: dies.: Häutungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, Mai 1994, S. 16.

[15] Christiane Ketteler und Magnus Klaue: Wider … [wie Anm. 13] S. 496.

[16] Siehe Torsten Flüh: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2020.

[17] Vojin Saša Vukadinović: Die … [wie Anm. 1] S. 29.

[18] Siehe zu Hélène Cixous vieldeutigen Texten wie u.a. das verschwisternde Insister Torsten Flüh: Von der Komplizenschaft im Gespräch. Zum Passagen Gespräch von Peter Engelmann mit Hélène Cixous. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 7, 2014 16:25.