Kriegswinter in Europa

Krieg – Theater – Verbrechen

Kriegswinter in Europa

Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne

Der Kurfürstendamm funkelte am 17. Dezember dank diverser Sponsoren in allerschönster Adventsbeleuchtung. Überall am Boulevard mit den Flagshipstores von Apple über Dior und Hermès bis Prada und Mientus hell ausgeleuchtete Luxusgeschäfte. Das Licht und die spiegelnden Scheiben blenden und locken, als der Berichterstatter von U-Kurfürstendamm unter dem legendären Café Kranzler mit dem 29er zum Lehniner Platz fährt. Sieht so Energiesparen im Kriegswinter aus? – Zwei Tage später wird der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, in den Tagesthemen vor einem erleuchteten Baum sagen, dass jede Beleuchtung für die russische Armee ein Ziel darstellen könnte. In der Hauptstadt der Ukraine bleibt es überwiegend dunkel und kalt, wegen anhaltender russischer Angriffe. Im Globe der Schaubühne spielen sie gleich Plagen, wie es kurz auf der digitalen Eintrittskarte steht.

Plagen mit einem Zitat von William Shakespeare aus dem Hamlet, erlebte seine Uraufführung am 16. September 2022. Drei Monate später ist das Projekt des ukrainischen Autors und Regisseurs Stas Zhyrkov, der bis zum Angriff der russischen Armee auf die Ukraine als künstlerischer Leiter das Left Bank Theatre, Kyiv, auf dem linken Neubauufer des Dnjepr, dem drittlängsten Fluss Europas nach Wolga und Donau, führte, brandaktuell. Stas Zhyrkov hatte 2019 zusammen mit Tamara Thurnova die Leitung des Kiewer Theaters für Drama und Komödie übernommen und reformiert. Plagen in der Übersetzung von Sebastian Anton mit Holger Bülow, Dmytro Olinyk und Oleh Stefan ist eine Art Dokumentartheater für Deutsche und Ukrainer*innen auf höchstem schauspielerischem Niveau geworden. Beim Schlussapplaus gibt es minutenlang Standing Ovations.

Der Dnjepr ist für die deutsche und europäische Wahrnehmung weniger mythologisch aufgeladen wie die Donau als österreich-ungarischer Kaiserreichsmythos oder die Wolga als ein zentraler russischer und sowjetischer Mythos, wie es Janet Hartley in ihrer Mosse-Lecture im Sommer entfaltet hat.[1] Über den Dnjepr gibt es keinen sowjetischen Musicalfilm wie Wolga, Wolga von 1938. Die raumordnende Funktion des Dnjepr wird aktuell weniger an Kiew als vielmehr an dem im November von russischen Truppen befreiten Cherson diskutiert. Das linke Ufer des Dnjepr liegt der russischen Seite näher. In den dreißiger Jahren gehörten der Dnjepr und das ukrainische Territorium zwar schon zur Sowjetunion, aber erst in den 40er Jahren mussten die Ukrainer ihre Familiennamen der russischen Schreibweise anpassen, wie das Publikum von Oleh Stefan quasi als Aufmacher des Theaterabends in der Schaubühne erfährt. Denn er war russisch-sowjetisch aufgewachsen und hatte sich gar als angehender Schauspieler an der russischen Theaterkultur orientiert.

Der Traum von einer Karriere als Schauspieler in Moskau verband Dmytro Olinyk und Oleh Stefan. Moskau war im Sowjetsystem das Traumziel für eine Karriere der Menschen in Kiew und der gesamten Ukraine. Wieviel Russland ist die Ukraine? Diese Frage wird nicht zuletzt mit dem brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russischen Föderation unter der Leitung von Wladimir Wladimirowitsch Putin auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 heiß und blutig umkämpft. Die Namensänderung, die Oleh Stefan durch Gespräche mit seinen älteren Familienmitgliedern von „Stefanow“ vornahm, basiert auf anderen Erzählungen als denen, mit welchen Putin seine Invasion versucht historisch zu rechtfertigen. Putin im Kreml ist kein Zar des 19. Jahrhunderts, sondern ein ehemaliges Mitglied einer St. Petersburger Straßengang im Sowjetsystem, das 1989 als fast allmächtiger KGB-Offizier in Dresden die Implosion seiner Macht erleben musste.

Die humorvoll erzählte Geschichte des Namens bzw. Familiennamens und der russischen Karriere, die die beiden geflüchteten, ukrainischen Schauspieler verbindet, handelt von Umschreibungen. Sie stellen plötzlich Fragen danach, wer und wie sie sein, denken und heißen wollen. Die Arbeit von Schauspielern besteht darin, sich permanent in andere Personen zu verwandeln. Die Verwandlung oder Umschreibung vom sowjetischen Pionier russischer, sagen wir, Bauart in einen ukrainischen Schauspieler verlangte diesen beiden Schauspielern einiges ab. Abgeschlossen war die Umschreibung vermutlich ganz und gar nicht, als der Angriffskrieg am 24. Februar über sie hereinbrach. Kurz darauf sollten sie als Männer das ukrainische Territorium verteidigen. Pavlo Arie hat in seinem Tagebuch des Überlebens diesen Einbruch formuliert.
„Erster Tag: 24. Februar 2022. Der alles umfassende Krieg beginnt für mich mit dem Wort KRIEG.
Der Lärm einer Explosion weckt mich auf. Das erste, was ich sehe, ist das Leuchten des Handydisplays. Dort steht: MAMA. Ihre Sprachnachricht lautet: KRIEG.“[2]   

Das Globe in der Schaubühne am Lehniner Platz ist auf räumliche Enge und Nähe ausgerichtet. Für Sich waffnend gegen eine See von Plagen ist der komprimierte Zuschauerraum gewählt worden. Eng neben und übereinander sitzen die Zuschauer*innen ganz nah an den Schauspielern. Oleh Stefan steigt in einer Szene gar in die ersten Reihen des kaum abgetrennten Zuschauerraums. Holger Bülow performt die übersetzten Tagebuchtexte von Pavlo Arie in einem kofferartig schmalen Zimmer, das wie eine Raumkapsel durch die Dunkelheit zu jagen scheint. Enge. Statt Weite generiert der Krieg Enge. Schauspieler müssen plötzlich in den Krieg, der bis zum 24. Februar gelegentlich fiktiv auf dem Theater stattfand. Schauspieler werden zu Kriegern an Waffen, mit denen sie töten sollen.
„Die Reaktionen meiner Freunde auf Facebook einschließlich der grell-lauten apokalyptischen Neuigkeiten teilen das Leben in ein Davor und ein Jetzt. Ich packe meinen Ausweis und andere Papiere in den Rucksack, Unterwäsche, Socken, T-Shirts, einen Apfel, Wasser, Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Schmerzmittel. Ich überlege panisch, wie ich hier rauskommen und auch, wie ich meine Mutter beruhigen kann.“[3]  

Der Krieg löst bei Pavlo Arie vor allem eine Panik vor Einschließung und Enge aus. Mit dem „Lärm einer Explosion“ verändert sich das Leben für alle zumindest männlichen Schauspieler. Sie werden wie Vova Kovbel mit der Frage konfrontiert, ob sie das ukrainische Territorium mit der Waffe verteidigen wollen. Viele tun es, können sich einer Mobilmachung, die nicht so heißen soll, nicht entziehen. Ihre Videos auf sozialen Medien wie Facebook werden im Globe eingespielt. Nah und groß. Bedrohlich nah. Pavlo Aries Tagebuchaufzeichnungen sind vom ersten Tag an sehr präzise:
„In den Nachrichten heißt es, dass wir mit der Situation zurechtkommen werden, die Welt hinter uns steht, und man Kyiv allen, die wollen, Waffen aushändigt, ein Pass genügt. Dann ist es jetzt hier so wie in der Schweiz, alle eine Waffe haben. Wow! Fuck you, Putin! La-la-la. Ich nehme eine Pille, die stellt mich bis abends ruhig.“[4]

Pavlo Aries Tagebucheintragungen und das ganze Projekt aus verschiedenen Materialien zum Angriffskrieg auf die Ukraine überraschen auch, weil die Grenzen zwischen Fiktion und Verhaltensweisen trotz aller Dokumentationsmedien irritierend unscharf bleiben. Auf einer Art Arbeitstisch liegen Dutzende orange Filmkassetten. Doch sie werden nicht benutzt. Schauspieler und Puppenspieler wie „der Spanier“ finden sich plötzlich im Kampfgebiet wieder. Die Männer vom Theater halten auf einmal tödliche Waffen in den Händen, die töten sollen. Ist das jetzt nicht zugleich fiktiv, wenn das Training an Spielkonsolen sich im Nu mit Granateneinschlägen überschneidet? Schauspieler werden schwer verletzt und sehen einen Freund neben sich sterben, wobei die Sprache der Sprachgewandten versagt.
„Was macht es mit dem eigenen Körper und der eigenen Psyche, wenn man eine Waffe in die Hand nimmt? Was bedeutet es, zum Gewehr oder zur Pistole zu greifen, zu Gegenständen also, die dafür gemacht sind, Schaden anzurichten, zu zerstören – vor allem, wenn das eigene Leben bis dahin darauf ausgerichtet war, fiktive Welten zu erdenken und zu erschaffen?“[5]

Wie nah kommen Gewalt und Kriegsverbrechen an mich als Zuschauer heran, wenn ich im Globe sitze? Wie zeigt sich die Gewalt? Gab es nicht schon viel stärkere Gewaltszenen auf dem Theater zu sehen als in diesem Stück, wenn Telefongespräche zwischen russischen Armeeangehörigen und ihren Frauen bzw. Freundinnen eingespielt werden, die der ukrainische Geheimdienst aufgezeichnet hat? In den Telefonaten ist von Kriegsverbrechen die Rede. Männer verbalisieren ihre Faszination, wie einem Ukrainer die Kehle durchgeschnitten wird. Ein russischer Mann spricht davon, wie ein sechszehnjähriges, ukrainisches Mädchen vergewaltigt wird und die Freundin sagt nur, dass sie nicht will, dass ein Kind dabei gezeugt wird. Die Stimmen hören sich unaufgeregt, freundlich, bisweilen scherzend an. Die Monstrosität der Gewalt und Verbrechen kommt in einem Plauderton daher.
„Ukrainska Pravda, an online newspaper, has identified a Russian soldier who told his wife he shot civilians in the head even when they begged for mercy. The newspaper cited its sources at the Security Service of Ukraine (SBU) and said that he is 27-year-old Dmitry Gennadyevich Ivanov from the village of Kupsola in the Russian republic of Mari El. He is currently serving in Russian-occupied Kherson Oblast.“[6]

Hannah Arendts Formulierung von der „Banalität des Bösen“ auf den Verbrecher Adolf Eichmann kommt mit einem Mal in den Sinn: Ehefrauen und Freundinnen werden beiläufig Kriegsverbrechen am Mobiltelefon erzählt. Die Ungeheuerlichkeit der Gewalt gegen Zivilisten lässt sich beiläufig in Worte fassen. Sie lastet womöglich so sehr auf den namentlich bekannten Tätern, dass sie gleich einer Zote mitgeteilt werden muss. Die unterschiedlichen, stark kontrastierenden Erzählweisen zwischen Tagebuch, Telefonat mit Zote, gar einem Slapstick von der richtigen Bekleidung im Krieg machen im Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie auch deutlich, wie schwierig es ist, vom Krieg zu sprechen, wenn er wirklich nah ist. Im Vorlauf für die Uraufführung wurden im Spielzeitprogramm der schaubühne für August – Januar die beiden Begriffe Waffe und Künstler_in gegeneinandergesetzt. Der Kriegseinbruch trifft die Lexik.
„To Take Arms against a Sea of Troubles“[7]

Je mehr ich den Telefonaten in der Erinnerung nachhöre, umso treffender will mir der Begriff Zote zu diesen Erzählungen erscheinen. Eine Zote wird zunächst einmal als ein obszöner oder schmutziger Witz definiert. Im DWDS heißt es: „unanständiger Witz, obszöner, derber Spaß“.[8] Und das Sexuelle spielt bei den Erzählungen mit den „Ehefrauen“ am Telefon fraglos eine Rolle. Dass es sich um ein Verbrechen handelt, ist den Tätern sehr wohl bekannt. Doch zugleich wird das Erzählen libidinös besetzt. Wovon auf keinen Fall gesprochen werden soll, weil es sich außerhalb der Kriegsszene abspielt, es also als obszön verdrängt wird, bricht im Telefonat mit den Frauen vertraulich hervor. Die Zote wird so zu einer scherzhaften Erzählweise des Krieges, selbst dann, wenn niemand darüber lachen kann. Dass der SBU, also ukrainische Geheimdienst, diese Telefonate gezielt abgehört und archiviert hat, spricht dafür, dass der Mechanismus der Zote im Krieg, in die ein Kriegsverbrechen verpackt wird, bekannt ist.

Sich waffnend gegen eine See von Plagen sollte von deutschen Theaterbesucher*innen viel stärker besucht werden, weil das Projekt nicht zuletzt die Frage der Sprache im Krieg bearbeitet. Vielleicht haben schon viele Menschen in Deutschland vergessen, wie sehr der Krieg und die Berichterstattung vom Krieg, wie sie 2014 in den Mosse-Lectures u.a. von Antonia Rados thematisiert wurde[9], die Sprache auch in Deutschland verändert haben. Der Angriffskrieg auf die Ukraine findet nicht nur geographisch auf dem Territorium statt, das wir bis zum Ural Europa nennen. In den Predigten der Evangelischen Kirche in Deutschland am Heiligabend kam der Krieg in Europa allenfalls marginal vor. Mehr oder weniger überraschend hat der Angriff auf die Energieversorgung selbst in einer Stadt wie Kiel, deren Glocken vom Rathausturm verkünden „Kiel hat kein Geld, das weiß die Welt, ob’s noch was kriegt, das weiß man nicht“[10], nicht zum Abstellen der Saunen im Hörnbad geführt.

Torsten Flüh

schaubühne
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Ein Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie
Gastspiel Februar 2023 in Hamburg.


[1] Siehe: Torsten Flüh: Wechselvolle und dramatische Klimaveränderungen an der Wolga. Zu Janet Hartleys Mosse-Lecture Taming the Volga: Imperial Policies to Control Nature, People and Beliefs mit einer Respondenz von Hans Jürgen Balmes über den Rhein. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juni 2022.

[2] Pavlo Arie: Tagebuch des Überlebens. Zitiert nach Programmzettel: Sich waffnend gegen eine See von Plagen. Schaubühne Globe, Berlin 10. September 2022.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Zitiert nach Programmtext: Sich waffnend gegen eine See von Plagen. Berlin: Schaubühne 2022.

[6] Oleg Sukhov: Ukrainska Pravda identifies Russian soldier bragging about war crimes in intercepted phone call. In: Kyiv Independent May 13, 2022 8:38 pm.

[7] Schaubühne Berlin: 61. Spielzeit 2022/23. Berlin 2022, S. 10.

[8] DWDS: Zote.

[9] Torsten Flüh: Vom Dilemma von Zweifel und Glauben an das Gerücht. Antonia Rados‘ Mosse Lecture zum Semesterthema Vom Krieg berichten. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 11, 2014 19:58.

[10] Anna-Sophie Börries: Wie der Vers zur Melodie entstand. In: Kieler Nachrichten (ohne Datum).

Sinnliches Beben

Erdbeben – Schrift – Erzählen

Sinnliches Beben

Zur Kleist-Preis-Verleihung 2022 an Esther Kinsky und zu ihrem Roman Rombo

Am 27. November fand im Deutschen Theater Berlin die Verleihung des Kleist-Preises an Esther Kinsky nicht ohne Beben, aber mit strahlend blauem Himmel über Berlin-Mitte statt. Weder bebten die Erde noch die Stimmen in Berlin. Doch mit Esther Kinskys Roman Rombo und Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili wurden Beben in ihrer Ereignishaftigkeit zum Auslöser von Lesungen, Grußwort, Preis- und Dankesrede während der Matinée. Paul Ingendaay begründete seine Wahl Kinskys als Kleist-Preisträgerin 2022 gar mit „Erdbewegungen“ und Rombo. Beben finden nicht zuletzt in den, wie man heute sagt, Medien statt. Schon Kleists Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647 wird zuerst ab dem 10. September 1807 im Morgenblatt für gebildete Stände abgedruckt.

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Die einhundertsechzigjährige Verspätung der „Szene“, die Kleist erzählt, als passiere sie „gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung“ ist bedenkenswert. Plötzlich wird das längst vergangene Erdbeben in der Zeitung, im Morgenblatt für gebildete Stände, aktuell.[1] Die offenbar verspätete Erzählung des Ereignisses, bei dem nicht nur architektonisch die Institutionen der Macht wie das Gefängnis zerstört werden, setzt andere Möglichkeiten des Erzählens frei.[2] Selten lag ein Roman der Kleist-Preisträger*in so nah an einem Text eben dieses Autors wie Rombo (2022), der von dem Erdbeben am 6. Mai 1976 um 20:59 Uhr (MEZ) im Friaul in Gang gesetzt wird. Rombo erscheint ebenfalls mit einer bezeichnenden Verspätung. Der Schweizer Klarinettist Claudio Puntin spielte auf die Texte abgestimmt drei Improvisationen mit dem Titel Jetzt Jetzt Jetzt.

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Der Augenblick, das Jetzt, lässt sich schwer erzählen. Aber ein Jetzt wie ein Erdbeben ändert alles. In Kleists Erzählung vom Augenblick wird die Syntax, „als ob“ das „ganze() Bewusstsein zerschmettert worden wäre“, eruptiv. Bei Claudio Puntin beginnt Eruption mit der Bassklarinette erst leise, kaum hörbar, um dann ein Inferno des Knirschens und Schleifens wie von Schiefer- oder Erdplatten freizusetzen. Die Worte kommen an die Geräusche aus der Bassklarinette kaum heran. Brüllt da ein Tier? Die wunderbaren Sprecher*innen des Deutschen Theaters Berlin, Almut Zilcher und Felix Goeser, lesen Texte von Kleist und Kinsky vor. Die Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Anne Fleig, erwähnt in ihrem poetisch-analytischen Grußwort über Esther Kinskys Übersetzen und Schreiben den „hellblauen Himmel“ und die Blautöne.[3] In ihrem Unterwegsein folge Esther Kinsky den Spuren Heinrich von Kleists.

© Lorenz Brandtner

Das Grußwort von Prof. Anne Fleig, die Laudatio von Paul Ingendaay und die Preisrede von Esther Kinsky sind erstmals als Audio-Dateien auf der neuen Website der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft über die Plattform SoundCloud veröffentlicht worden. Das gesprochene Wort unterscheidet sich in seiner Wahrnehmung von dem gedruckten als Text. Es geht um das Hören, das auch mit dem Titel Rombo angeschrieben wird. Rombo wird vom Italienischen rombare mit brausen, röhren, rummeln oder grollen übersetzt. Mit Rombo als ein schwer einzuordnendes akustisches Ereignis und „Horchen auf weiteres Grollen“[4] geht es bei Esther Kinsky nicht zuletzt ums Übersetzen, das sie aus mehreren Sprachen wie Italienisch beherrscht. Insofern lässt sich nicht nur mit den Audio-Dateien eine technische Neuerung für den Internet-Auftritt der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft bedenken, vielmehr geben sie zugleich einen Wink auf das Hören von Worten, Texten und Stimmen.[5] Die Form der Audio-Datei als ein Medium des Hörens und Gehörfindens setzt nicht zuletzt das Jetzt in Szene.

© Lorenz Brandtner

Anders als bei Kleists Erdbeben in Chili montiert und komponiert Esther Kinsky in ihrem Roman Stimmen. Sie erzeugt eine Polyphonie von Stimmen zum Ereignis. Denn „Rombo“ ist im Roman fast beiläufig als Titel auf eine „Schachtel mit mehreren CDs“ geschrieben: „Rombo steht darauf. Und: 25 anni dopo. Le voci del terremoto. Die Stimmen des Erdbebens.”[6] – Im Internet lässt sich auf Anhieb keine derartige CD-Sammlung von 2001 finden. Existieren die Stimmen von Anselmo, Olga, Gigi, Silvia, Toni, Mara, Lina in der ersten Person Singular allein durch den Roman? Die Vielstimmigkeit des Romans wird durch fragmentarische Landschaftsbeschreibungen vom „Tal“ bis zum „Monte San Simeone“ von den „Vipern“ bis zum „Kuckuck“ vom „Brennenden Busch“ bis zum „Teufelssporn“ angereichert und erzeugt. Um dem Grollen beizukommen, werden Fragmente aus Karl Friedrich Naumanns Lehrbuch der Geognosie von 1850 mehreren Kapiteln vorangestellt.

© Lorenz Brandtner

Kleists Erzählung in Fortsetzungen in der Zeitung unterscheidet sich im Erzählmodus von der Montage unterschiedlicher Stimmen bei Esther Kinsky. Am 11. September 1807 beginnt die Erzählung von „Jeronimo und Josephe. (Fortsetzung)“ mit: „Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug auseinander gesprengt ward.“[7] In der das Ereignis aus der Perspektive Josephens wiederholenden Fortsetzung wird nicht nur akustisch der „krachende Einsturz der Gebäude“ formuliert, vielmehr wird mit dem von Kleist gern verwendeten „plötzlich“ der unter- und abbrechende zeitliche Modus betont. Kleist verwendet in seinen Erzählungen von Das Bettelweib von Locarno über Das Erdbeben in Chili bis zu Michael Kohlhaas zweiundsechzigmal (62) plötzlich – im Erdbeben viermal.[8] Das Plötzlich steht der Kontinuität der Fortsetzungen entgegen. Mit dem „plötzlich“ werden das Gesetz und die Ordnung nicht nur des „ganze(n) Hinrichtungszug(s) auseinander gesprengt“. Etymologisch wird plötzlich im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache als Interjektion „schallnachahmend“ mit einem „schnellen Schlag oder Aufprall“ in Verbindung gebracht: plotz, plumps, bauz.

© Lorenz Brandtner (Ausschnitt T.F.)

Esther Kinsky eröffnet ihre Dankesrede mit der Erinnerung an die Oder und einen Besuch im Kleist-Museum in Frankfurt am nahen Fluss, als sie vor 16 Jahren aus Polen kam. Die Beschreibung der Oder-Landschaft in einer für sie typischen Weise wird dem Museumsbesuch und den Schriften Kleists vorausgeschickt. So kommt Esther Kinsky über Flucht und Krieg in Mariupol auf das Thema „Gewalt als menschliche Äußerung“ bei Kleist zu sprechen.[9] Sie zitiert aus dem Brief vom 25. Februar 1795 an seine Schwester Ulrike den Satz, der nach dem 24. Februar 2022 so ganz anders klingt als all die Jahre zuvor: „Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können!“ Während Esther Kinsky ein besonderes Gespür für die Beschreibung von Natur hat, habe Kleist dafür kaum einen Sinn gehabt. Naturbeschreibungen finden sich bei Kleist so gut wie keine. Kinsky dagegen beschreibt Täler und Blumen.
„Im Mai steht an den Laubwaldrändern der Brennende Busch in Blüte. Die Blume ist von den steinigen Hängen Kretas hierhergewandert, heißt es, die Samenkapseln öffnen sich platzend im Sommer und schleudern die Samen einige Meter weit. So wandert die Blume von Kalkboden zu Kalkboden, überquert Meere in den Taschen und Kleidungsfalten der Wanderer (, …)“[10]      

© Lorenz Brandtner

Es spricht für eine große Formulierungskunst der Natur, wie Esther Kinsky das Vorkommen des „Brennende(n) Busch(es)“ im Friaul mit „Wanderer(n)“ verknüpft, die zugleich Migranten auf dem Mittelmeer sein könnten. Vom Namen „Brennender Busch“ her erinnert Diptam als monotypische Pflanze der Gattung Dictamnus an den brennenden Dornbusch aus der Bibel. Im Exodus 3,1 erscheint Moses Gott im Dornbusch. – „Dort erschien ihm der Engel des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Er schaute hin: Der Dornbusch brannte im Feuer, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt.“ – Die Natur wird auf diese Weise bei Kinsky zu einem vielschichtigen Träger von Geschichte. Zugleich gilt Diptam als Heilpflanze. Die „Landschaft“ wird für die Autorin zu einem Palimpsest an der Grenze von Schriftstück und Geologie:
„Viel Stein. Die Flüsse, Bäche, Rinnsale schreiben das Ihre ins Tal, weiße Zeichen und Linien der Beharrlichkeit, ohne Ziel als die Einfurchung im Festen. Wege, Straßen schreiben eine andere, unbeholfenere Schrift der ausgehandelten Zugänglichkeit. Woher, Wohin.“[11] 

© Lorenz Brandtner

Die „Landschaft“ als Schreibszene bzw. zweier Schreibszenen: eine der „Flüsse, Bäche, Rinnsale“ im Stein und eine der menschlichen Ordnung, der „ausgehandelten Zugänglichkeit“. Esther Kinskys Natur- und Landschaftsbeschreibungen bewegen sich zwischen Natur und Kultur. Immer schon spielt in der Sprache die Kultur in die Natur hinein. So wird Rombo nicht zuletzt ein Buch der Schrift und Eruption durch die Verschiebung „grosser Schollen und ausgedehnter Tafeln“[12], wie sie Eduard Suess 1892 in Das Antlitz der Erde formuliert hat. Die Roman-Monteurin stellt den Kapiteln wissenschaftliche Texte voran, die oft mit elastischen Formulierungen „einen Causal-Zusammenhang“ zwischen den „Vorzeichen der Erdbeben“ herstellen und bezweifeln, wie Naumann schreibt – „oder in dem Stande des Barometers, (…) oder in dem Verhalten der Thiere und in dem Befinden der Menschen als solches Vorzeichen ansehen möchte, – wie oft findet es nicht auch Statt, ohne dass ein Erdbeben darauf folgt!“[13] – Erdbeben werden durch die Seismografie heute Schriftstücke, die entziffert werden sollen.

© Lorenz Brandtner

Erdbeben lassen sich bis auf den heutigen Tag nicht verhindern und schwer prognostizieren. Es gibt Gebiete, die als besonders anfällig für Erdbeben gelten, wie der Pazifische Feuerring an der Ostküste Süd- und Nordamerikas oder Japan. Dennoch hat der Mensch wider besseres Wissen diese Gebiete nicht verlassen. Im Unterschied zu Kleist können wir heute wissen, wo Erdbeben wie in Chile oder jüngst am 11. Dezember in 60 Kilometer Tiefe mit einer Stärke von 6,0 in Mexiko häufiger auftreten. Die Millionenmetropole Mexiko City wird mehrmals im Jahr von schweren Erdbeben wie erst am 22. September 2022 mit 6,8 heimgesucht. Italien kennt ebenfalls schwere Erdbeben. Im „4. Quartal 2021 (wurden) 5.078 Erdbeben registriert, wovon 1.527 eine Magnitude von mehr als 1.5 aufwiesen und 29 eine Magnitude von mehr als 3,5“, was zugleich durch Online-Marketing als Werbung für einen Urlaub in Italien unter „Sehenswertes“ erscheint.[14] Sie hinterlassen Risse. Abgründe tun sich auf. Esther Kinsky entdeckt „vom Tal aus“ eine „Verzeichnung“, die sich „lesen“ lässt „wie eine Schrift“.
„Die Verzeichnung eines Hergangs, auf der Tafel der nach Südosten gewandten Bergseite, gelegentlich begangen von winzigen fernen Figuren, die sich über die Schrift bewegen, als seien sie dazu bestellt, diese nur in bestimmtem Licht erkennbaren Zeichen mit ihren Schritten nachzuzeichnen.“[15]   

© Lorenz Brandtner

Rombo handelt auf leise und zugleich grandiose Weise von der Schrift, könnte man sagen. Die Schrift wird nicht zuletzt mit Heinrich von Kleists Zeitungsprojekt Berliner Abendblätter ab dem 1. Oktober 1810 mit „einer indischen Handschrift“ zum Thema und sollte das gewohnte Lesen von Zeitungen wie dem Morgenblatt für gebildete Stände auch stören.[16] Die Rätselform des Logogriphs, mit dem die Sinnfrage der Schrift spielerisch gestellt wird, fügt Kleist wiederholt in seine Zeitung ein. Die Schrift stört ebenso bei Esther Kinsky, wenn es in „Störungen“ heißt: „Der Boden des täglichen Lebens wird zum gestörten Gelände, auf dem ein jeder nach Verlorenem sucht, tastend, schauernd, horchend.“[17] Das Störpotential der Schrift kommt nochmals in „Störstufen“ zum Zuge. Die Zerstörungen des Erdbebens stören Alltägliches und Gewohntes. In der Buchausgabe von Rombo kommt die Schrift in der zerstörten Apsis der Chiesa di Sant‘ Andrea Apostolo von Venzone schon als „Umschlagabbildung“ zum Zuge.[18] Ein Foto, das Esther Kinsky selbst gemacht hat. Dergleichen Einritzungen werden jedem Kapitel im Buch vorangestellt.

© Lorenz Brandtner

Die Schrift tendiert seit alters her zur Bildlichkeit.[19] In Rombo bekommt sie einen Zug zum Graffiti, einer zweifellos störenden Schrift im öffentlichen Raum. Das Faszinosum Schrift wird von Esther Kinsky durch die Bildlichkeit der Fotografie in Szene gesetzt. Die Fotografie erscheint dabei selbst an der Schnittstelle von Lichtschrift, Belichtung – „nur in bestimmtem Licht erkennbare() Zeichen“ – und Bild. Die Schrift wird in Rombo visuell sinnlich, bevor irgendein Sinn entstehen könnte. In den Erzählungen vom Erdbeben geht es z.B. bei Silvia darum, Ordnung in die Erinnerungsschrift zu bringen, was immer auch nicht gelingen will.
„Ich habe ein gutes Gedächtnis, ich kann Dinge leicht behalten. Zum Beispiel Dinge, die ich im Fernsehen gesehen habe. Ich habe viele Erinnerungen. Aber sie sind nicht geordnet. (…) Aber das Lied weiß ich bis heute, und bis heute meine ich, es handelt vom Streit meiner Eltern. Ich weiß nicht, ob andere Leute ihre Erinnerung in Ordnung halten können. (…) Und immer ist da dieses Knirschen, dieses leise Klirren der Splitter und Bruchstücke.“[20]   

© Lorenz Brandtner

Das Erzählen vom Erdbeben stellt bei Esther Kinsky eine eigene, sinnliche Ordnung her, indem es das Ereignis verfehlt. Die Stimmen haben eine hohe Dichte. Im Versuch vom Erdbeben zu erzählen, vermischen sich „Erinnerungen“ an Fernsehsendungen mit denen vom Streit der Eltern aus der Kindheit und dem Ausfegen der Scherben nach dem Beben. – „Manchmal kommt mir die Erinnerung vor wie ein Scherbenhaufen.“[21] – Ein „Scherbenhaufen“ lässt sich nicht wieder zusammensetzen. Aber das Kehren der Scherben schreibt sich in das Gedächtnis ein. Die auditive Wahrnehmung eines bestimmten „Knirschen(s)“, das sich sogleich durch „dieses leise Klirren“ ersetzen und wiederholen lässt, bleibt durch die hilflose deiktische Geste der Wiederholung des Demonstrativpronomens singulär. Es lässt sich damit für Silvia auch nicht in (eine) Ordnung bringen. Für Silvia ist „dieses Knirschen“ bekannt, aber zugleich lässt es sich durch die Wiederholung als Singularität schwerlich anderen Menschen mitteilen.

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Die Sinnlichkeit des Erdbebens wird von Esther Kinsky vor allem akustisch durchgespielt, um sich zugleich mit anderen Sinnen wie dem taktilen zu vermischen: „Erst dieser Wind, geheult hat im Hof, auf einmal, etwas ist draußen umgefallen, und es war mir so kalt, ganz plötzlich. Dann dieser Laut. Dieses dunkle Rollen. Es war so lebendig.“[22] Akustisches vermischt sich mit dem taktilen der Temperaturwahrnehmung „ganz plötzlich“. Die Sinnlichkeit tendiert in Olgas Erzählung gar zum Traum: „Die Wörter dauern länger als die Dinge oder die Ereignisse. Das ist wie mit einem Traum. Man redet und redet, wenn man einen Traum erzählt, und hinterher ist der Traum nicht mehr das, was er war.“[23] Kinsky spielt die Wahrnehmungen und Redeansätze durch. Das Erdbeben wird zu einem Trauma und Traum. Darin zeigt sich die große Erzählkunst der Kleist-Preisträgerin 2022. Denn zugleich werden die Leser*innen damit auf die Spur gebracht, eine Geschichte lesen zu wollen.

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Mit Rombo hat Esther Kinsky ein großartiges und vielstimmiges Erinnerungsbuch über das Erdbeben in Venzone geschrieben, das die Erinnerung und die Fremdheit der Sprache reflektiert. Der „lange() aus einem zerstörten Fresko gerettete() Streifen, der bedeckt ist mit Zeichen, wie sie jahrhundertelang Pilger an bestimmten, vereinbarten Stellen an den aufgesuchten Stätten hinterließen“[24], lässt sich lesen. Er wurde aus den Trümmern des durch das Erdbeben zerstörten Domes gerettet. Esther Kinsky hat ihn gelesen und wiedergeschrieben, um ihre Leser*innen mit dem Geheimnis der Schrift vertraut zu machen.

Torsten Flüh

Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
Kleist-Preis 2022
Verleihung des Kleist-Preises am 27. November 2022

Esther Kinsky
Rombo
Fester Einband mit Schutzumschlag, 267 Seiten
ISBN 978-3-518-43057-6
Suhrkamp Verlag, 2. Auflage
24,00 € (D), 24,70 € (A), 34,50 Fr. (CH)
ca. 13,2 × 21,4 × 2,6 cm, 434 g


[1] Heinrich von Kleist: Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647. In: Morgenblatt für gebildete Stände. Band 1,2. 1807. Nro. 217. Donnerstag, 10. September, 1807, S. 866. (Digitalisat).

[2] Vgl. dazu „institutions of power“ In: Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2019, S. 209, Anm. 36.

[3] Das Grußwort von Prof. Anne Fleig ist als Audio-Datei auf der Seite der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft nachzuhören: Grußwort.

[4] Esther Kinsky: Rombo. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 14.

[5] Zum Hören siehe auch: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[6] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 35.

[7] Heinrich von Kleist: Jeronimo … [wie Anm.1] S. 871. (Digitalisat)

[8] Siehe u.a. Heinrich von Kleist: Ausgewählte Schriften. Gesammelte Kleine Werke. Project Gutenberg.

[9] Kleist-Preis: Preisrede der Kleist-Preisträgerin 2022 Esther Kinsky. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises am 27. November 2022 im Deutschen Theater Berlin.

[10] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 82-83.

[11] Ebenda S. 67.

[12] Ebenda S. ohne Seitenzahl (107).

[13] Ebenda S. ohne Seitenzahl (65).

[14] Italien Sehenswertes – Urlaub mal anders: Erdbeben in Italien. (ohne Datum – 2022).

[15] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 55.

[16] Heinrich von Kleist: Gebet des Zoroaster. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. (Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.) Band II/7 Berliner Abendblätter I. Basel; Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 7.

[17] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 27.

[18] Siehe Rückumschlag von Esther Kinsky Rombo.

[19] Zur Schrift und Bildlichkeit siehe auch: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27. (Auf einigen Computern ist diese Schrift nicht mehr zu lesen.)

[20] Esther Kinsky: Rombo … [wie Anm. 4] S. 54-55.

[21] Ebenda S. 54.

[22] Ebenda S. 71.

[23] Ebenda S. 75.

[24] Ebenda S. 264.

Immersives Tiefenerlebnis per Code

Mystik – Coding – Schrift

Immersives Tiefenerlebnis per Code

Zu Sahar Homamis Ausstellung XODخود bei SOMA 300 in der Eylauer Straße 9

Séverine Galiano hat XOD von Sahar Homami in drei außergewöhnlich hohen Räumen von SOMA 300 kuratiert. XOD liest sich erst einmal wie ein Code, ein Computercode. Was oder wer wird hier codiert? Oder wird etwas kalligraphisch wiedergeschrieben? Nachdem die Besucher*innen von der Eylauer Straße 9 in einer Licht- und Klanginstallation eine steile Treppe hinab auf das Niveau der Neubauten Am Lokdepot gestiegen sind, tauchen sie ein in eine kalligraphische Reise um das Selbst, mit anderen Schriftzeichen: خود XOD. Das Areal am einstigen Tempelhofer Berg, der jetzt Kreuzberg genannt wird, kennt größere Höhenunterschiede zwischen bergigen 66 Metern über Normalhöhen Null, Urstromtal und industrieller Eisenbahnarchitektur um 1900. Die Lettern SOMA lassen sich nach dem altgriechischen σῶμα (sõma) als Körper lesen und passen daher auch zum Ausstellungsraum, den sich die Besucher*innen körperlich begeben.

Sahar Homamis Ausstellung XOD inszeniert Schreib-Lese-Szenen sinnlich an der Schnittstelle von ebenso haptischer wie visueller Kalligraphie. Durch die Kalligraphie tendiert die Schrift ins Figurative. Die Codierung als Schrift aus 0 und 1 lässt die zweidimensionale Kalligraphie von Hand ins visuell Dreidimensionale expandieren. Immer schon tendierte die Verräumlichung der Schrift ins Dreidimensionale, wenn sie beispielsweise in chinesische Orakelknochen[1] oder ägyptische Tontafeln geritzt oder als urzeitliche Wahrsagelebern geformt wurde.[2] Sahar Homami verarbeitet insbesondere im Augmented Space Schrift in eine visuell erweiterte Erfahrung. Die visuelle Wahrnehmung wird durch codierte Animation in einen Strom hineingezogen. Die Erweiterung wird zugleich zu einer Einschließung. Durch die Codierung als Schriftmodul werden „Ich“, „Du“, „Selbst“ und „Gott“ in einen visuellen Strudel hineingezogen, an dessen Ende sich ein Auge abzeichnet.

Die Arbeiten der Kalligraphin und Programmiererin Homami entwickeln sich aus einer transkulturellen Erforschung der Schrift. In der Kalligraphie überschneiden sich ästhetische Modelle mit der Generierung von Sinn. Der Ursprung der Kalligraphie lässt sich schwer eingrenzen. Gilt sie der ästhetischen Freude an der Schrift als Steigerung von Sinn? Oder verlangt die Chirographie eine Aufgabe des Sinns an die Schönheit der Form und der Linien? Die illuminierten Handschriften des Mittelalters oder schon die ägyptischen Papyri tendieren immer zu einem ästhetischen und poetischen Überschuss. Sehr oft werden in der Kalligraphie solche Schriftzeichen wiederholt, die bereits wiederholt worden sind. Kalligraph*innen sind immer auch Kopist*innen, bevor die technische Vervielfältigung seit dem Druck das Handwerk des Kopierens übernahm. Wir wissen nicht, ob jede Kopist*in verstand, was sie schrieb. Überwiegend wurde die Kalligraphie im religiösen Kontext von Männern ausgeübt und als Praxis besetzt.

Die Kalligraphie lässt sich zunächst einmal als eine Praxis hingebungsvollen Schreibens von Männern bedenken. Schriftsteller*innen ihrerseits sind selten Kalligraph*innen. Oft verschwindet der Name des Kalligraphen in der Geschichte hinter dem Autor. Die Position des Kalligraphen ist ein unsichere, schwankende, weil die Handschrift mit dem Projekt der Aufklärung und des Wissens vom Menschen zu aller erst konzeptualisiert werden musste. Johann Caspar Lavater formulierte 1777 die Handschrift zu einem physiognomischen Indiz um. – „Setzt man es nicht als die höchste Wahrscheinlichkeit voraus, daß (seltene Menschen ausgenommen) jeder Mensch seine eigene, individuelle, und unnachahmbare, wenigstens selten und schwer ganz nachahmbare Handschrift habe?“[3] – Die Handschrift wird durch Lavater zu einem Gegenstand des Wissens wie es in seinen mehrbändigen Physiognomische(n) Fragmente(n), zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe im Titel versprochen wird. Doch in der Praxis der Kalligraphie als Chirographie geht es darum, die „eigene individuelle, und unnachahmbare … Handschrift“ mit der Hand aufzugeben. Sahar Homami knüpft mit خود XOD nicht zuletzt an die persische Kalligraphie Nastaʿlīq aus der Zeit um 1400 an. خود lässt sich als Selbst übersetzen und berührt damit die Praxis von Schrift und Selbst. An der Kalligraphie des خود wird das Selbst gemessen oder auch in der Schönheit aufgelöst.

Im Persischen gibt es eine graphische Nähe des Selbst zu خداوند beziehungsweise phonetisch zu xoda, was als Gott übersetzt wird. Insofern geht es mit XOD kalligraphisch um eine Schnittstelle von Selbst und Körper. Nicht zuletzt hatte Lavater Hände als Zeichen des Charakters gelesen. Die Hand und die Körperlichkeit der Handschrift werden in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Selbstapparat verschaltet. Gerade an der Handschrift entwickelt sich eine Debatte um das Selbst bis zur „Schönschrift“ in der 3. Klasse der Grundschule. Lernmaterialien richten das Schönschreiben aus und versprechen eine „Schriftverbesserung“ in der „Grundschrift“.[4] Durch die „Schönschrift“ im Grundschulalter wird paradoxer Weise das Selbst geformt, das bereits vorhanden sein soll. In fast allen modernen Schriftkulturen wird das Erlernen einer Grundschrift mit dem Schreiben von der Hand erlernt und normiert.

Sahar Homami erforscht und entwickelt mit der Kalligraphie eine Schnittstelle von Selbstproduktion und Selbstauslöschung wie sie in meditativen Praktiken des Sufismus, Mystizismus oder Zen-Buddhismus geübt wird. Die Kopisten heiliger Schriften ob im Christentum des Mittelalters, im Judentum oder Islam und auch anderer Schriftkulturen müssen sich ganz der Schönheit der Schrift im mehrfachen Sinne unterwerfen. Anders gesagt: Kopisten wie sie noch für die Anfertigung einer Thorarolle tätig sind, schreiben sich in eine augmented reality hinein, die ihre ausschließliche Konzentration und Leichtigkeit verlangt. Ein falscher Strich oder Punkt zerstört die Heiligkeit der Schrift. Am Bildschirm lässt er sich mit der Tastatur löschen. Auf der Thorarolle mit Tinte nicht. Die Praxis der Kalligraphie stellt komplexe Anforderungen, die selten bedacht werden. Sahar Homami arbeitet mit ihnen die Technik und sich selbst erforschend. Im aktuell viel besprochenen augmented space tauchen die kalligraphischen und kopierenden Praktiken nur anders auf, während wir uns seit dem Schönschrift-Unterricht in der Grundschule bereits hineingeschrieben haben.

Die Kalligraphin schreibt Love anders. Die Kaligraphien zu diesem Titel enthalten weder das Wort Liebe noch können sich die Betrachter*innen sicher sein, ob die runden Muster von Hand geschrieben sind oder von einem graphischen Programm durch einen Code generiert wurden. Doch die Love-Kaligraphien erinnern an hinduistische oder buddhistische Mandalas. Die in einem Kreis Formen wiederholen und ordnen. Junge Inder*innen praktizieren das Mandala-Malen oder -Schreiben als Entspannungstechnik. Mandalas können zugleich als eine Praxis der Leere oder der Fülle entstehen. Sie sollen nichts darstellen oder bedeuten. Mit dem Wort Love werden die Mandalas semantisch aufgeladen und situieren sich doch jenseits einer Darstellung von Liebe. Sahar Homami arbeitet mit Begriffen und visuellen Erfahrungen, die zugleich auf Literaturen aus unterschiedlichen Kulturen rekurrieren. Doch sie ist keine Erzählerin. Eher eine Ermöglicherin des Erzählens, indem sie Ornamente und Strukturen anbietet.

Der Begriff فناء fana‘ wird vom Sufismus gebraucht und geprägt. Er wird mit Erlöschen oder Schwinden des Ich-Bewusstseins übersetzt. Insofern bietet er ein Gegenkonzept zum Selbst an. Durch فناء wird eine konzeptuelle Nähe zu Gott versprochen, die vor allem durch Männer praktiziert wird. Durch die Praxis des فناء wird eine dialektische Selbstaufgabe geübt, die eine Vereinigung mit der Schrift verspricht. Sahar Homami versteht ihr Forschung und Kunst zugleich als eine feministische Intervention in patriarchale Herrschaftspraktiken. Denn ihre Arbeiten legen die religiösen Praktiken als solche erst frei. Durch eine technisch ausgefeilte Projektion wird in der fana‘-Installation jeder Körper, der den Raum betritt, als Flamme projiziert und verbrannt. Insofern wird ein körperliches Ich als Projektion ausgelöscht und versprochen. Die Dichterin Ginka Steinwachs, die die Ausstellung gleichzeitig besuchte, begab sich an der Wand als Projektionsfläche sozusagen in die projizierten Körper. Tiefe und Oberfläche brechen sich so gesehen in der فناء-Installation.

Durch eine Art Notfall konnte die Besprechung nicht wie geplant vor dem 26. November erscheinen, womit es möglich gewesen wäre, die von Séverine Galiano kuratierte Ausstellung noch zu besuchen. Sahar Homamis kalligraphische Forschungen werden sich indessen weiterentwickeln. Mit XOD hat sie allererst auf die Vieldeutigkeit der Kalligraphie als Praxis aufmerksam gemacht.

Torsten Flüh

Sahar Homami
www.saharhomami.com

Séverine Galiano
https://art-et-industrie.com     


[1] Zur Orakelknochenschrift siehe: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27.

[2] Zu den Wahrsagelebern siehe: Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.

[3] Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 112. (Deutsches Textarchiv)

[4] Siehe beispielsweise: Unterrichtsmaterialien für die Grundschule. Schön schreiben mit Grundschrift Heft 3. grundschulmaterial.de

Audio? – Stimmen neu gehört

Auditorium – Stimme – Digitalität

Audio? – Stimmen neu gehört

Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik

Die Mosse-Lectures sind im Wintersemester 2022/23 passender Weise ins Auditorium des Wilhelm-und-Jacob-Grimm-Zentrums gezogen. Denn das Semesterthema befasst sich mit dem Hören von Stimmen, das sich nicht zuletzt durch Deep Fake Voices im Umbruch befindet. Der seit dem 15. Jahrhundert an Universitäten in Deutschland gebräuchliche Neologismus Auditorium wurde vom lateinischen Verb audire für hören abgeleitet. Er wird ebenso als Synonym für den Hörsaal wie die Hörerschaft gebraucht. Die Form der mündlichen und bisweilen vom Manuskript gelösten Lecture rückt zugleich die Stimme und das Zuhören in die Aufmerksamkeit. Die Stimme von Thomas Macho mit ihrer leicht wienerischen Färbung war für seinen Vortrag Traumstimmen. Zur Geschichte der Verdrängung fremder Stimmen im Film am 10. November authentisch und nicht tiefengefälscht.

Verknüpft wird die Besprechung des Eröffnungsvortrages mit einer, sagen wir, ansatzweisen Berücksichtigung des gerade erschienenen Buchs Auftakte der Bioakustik von Denise Reimann, das ebenfalls, aber anders die Stimme ins kulturwissenschaftliche Interesse rückt. Die Stimme mit all ihren kulturellen Implikationen ist auf einem breiter angelegten Feld in die Aufmerksamkeit der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungen gerückt worden. Das hat nicht erst mit der digitalen Technologie einer sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) der Deep Fake Voices zu tun, vielmehr präsentierte bereits 2018 Google seine Anruf-KI Duplex für Callcenter. Von Menschenstimmen kaum zu unterscheidende künstliche Stimmen führen erstmals „echte“ Beratungsgespräche am Telefon.[1] Zwischenzeitlich ist das Natural Language Programm (NLP) als Dialogflow im Vertrieb als „eine() Plattform (…), mit der Sie auf einfache Weise eine dialogorientierte Benutzeroberfläche erstellen und in mobile Anwendungen, Webanwendungen, Geräte, Bots, Sprachdialogsysteme usw. einbinden können“.[2]

Ulrike Vedder eröffnete die als Kulturforschung angelegte Vortragsreihe Nach der Stimme. Simulationen vokaler Authentizität nicht nur mit einer Einführung zum Thema mit einem „enorme(n) poetische(n) Potential der Stimmsimulation, das nicht zuletzt auch die Geschichte der Gesangs- und Schauspielkunst entscheidend geprägt hat“, vielmehr moderierte sie ebenso den Vortrag von Thomas Macho als Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien an. Denn es ist die Kulturforschung, die einen investigativen Bogen von „Johannes Keplers Traum einer künstlich imitierbaren Stimme (Somnium sive astronomia lunaris, 1634) bis hin zu Andres Veiels Fernsehfilm Ökozid (2020)“ spannt. Oder sie fragt mit Thomas Macho nach dem Stimmenhören „indigener Hauptfiguren (…), und zwar (in) »Eisejuaz« von Sara Gallardo ( aus dem Jahr 1971, (…)), sowie »Menschentier« von Indra Sinha (aus dem Jahr 2007, (…))“ bis zum „Stimmenhören in virtuellen Welten“ von Computerspielen.[3]

Thomas Macho erinnerte zur Eröffnung seines Vortrages an die Deep Fake-Video-Anrufe des vermeintlichen Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko bei der Berliner Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey u.a. im Juni 2022. Zwei kremlnahe Komiker hatten die neuartige Technologie, die sich im Internet z.B. auf fakeyou.com kostenlos – „Wir bezahlen Sie dafür, dass Sie uns dabei helfen, Stimmen aufzubauen! (…) Wir zahlen Ihnen auch $150 USD pro Stimme!“[4] – herunterladen lässt, zur „modernen Kriegsführung“ genutzt.[5] In dem Video-Gespräch stimmten das Aussehen, die Mimik und die Stimme mit Vitali Klitschko überein. Durch die Pandemie haben digitale Video-Gespräche als Form des Konferierens erheblich an Bedeutung gewonnen. Allerdings wollte der Fake-Klitschko mit Giffey auf Russisch sprechen, während die ehemaligen Weltklasse-Boxer Vitali und Wladimir Klitschko 1996 ihre Profikarriere im Hamburger Boxstall Universum Box-Promotion begannen. Die Verschaltung nicht nur der Akustik einer Stimme mit einem Text, der sich eintippen lässt, sondern auch einer visuellen Gesichtssoftware mit Mimik eröffnet die ganze Bandbreite zwischen Scherz, Geschäft und Kriegsführung.

Doch das Faszinosum des Stimmenhörens ist einerseits breiter gestreut und befindet sich andererseits nach Thomas Macho auf einem weiteren Feld im Umbruch kultureller Wahrnehmung. So führte er die durch digitale Medien zunehmende Vernetzung von Menschen, die Stimmen hören an. Das Netzwerk Stimmenhören e.V. geht mit dem zwischen Faszination und Horror schwankenden Ereignis des psychoakustischen Hörens von einer oder mehreren wiederkehrenden Stimmen anders um. Es nennt sich in der Abkürzung „das NeSt“ und gibt sich damit den Namen eines geborgenen oder schützenden Raums, in dem Beratung und Austausch über das Stimmenhören stattfinden kann.[6] Selbsthilfe-Gruppen gibt es in Deutschland von Berlin-Schöneberg bis Neustadt in Rheinland-Pfalz.[7] Zwischen der Offenen Psychose-Gruppe in Berlin-Steglitz und der Aachener Laieninitiative – „Stimmen-Hörer*innen sind eingeladen, sich in der Aachener Laien-Initiative zu treffen. Interessenten melden sich bitte dort. Eigenes Engagement ist erwünscht.“ – oder der „Selbsthilfe und therapeutisch begleitete(n) Gruppe im UKE“ in Hamburg haben sich Stimmenhörer*innen seit 2002 unterschiedlich organisiert vernetzt.

Die De-Pathologisierung des Stimmenhörens als Psychose, die sich auch nach Thomas Macho mit den Selbsthilfe-Gruppen und dem NeSt andeutet, könnte nicht zuletzt mit Jacques Lacans Seminarsitzung vom 23. November 1955 zu tun haben.[8] Diese wurde in der Textherstellung von Jacques-Alain Miller und der Übersetzung von Michael Turnheim erst 2016 auf Deutsch veröffentlicht. Denn Textherstellung und Übersetzung gestalteten sich als nicht einfach. Jacques-Alain Miller hatte das Seminar Buch III erst 1981 als Text in Französisch nach dem Hören der eröffnenden Seminarsitzung hergestellt. Jacques Lacan hielt, wie seit Hegel üblich, seine akademische Rede frei. Das freie Sprechen, das noch in Vorlesungen und Seminaren z.B. bei Klaus Heinrich in den 70er Jahren an der Freien Universität Berlin als Form der Lehre üblich war, veränderte viel, wenn nicht alles.

Das Lesen der Seminar-Texte von Jacques Lacan u.a. generiert wegen der Interpunktion und Syntax andere Wissenseffekte als das Hören des Redeflusses. Der Redefluss ohne Manuskript mit Unterbrechungen, Einschüben, Abbrüchen und Ausrufen etc. muss erst einmal in eine Textstruktur gebracht werden. Lacan praktizierte eine delirante Rede, die sich schwerlich als Wissen zitieren lässt. Im Seminar von Jacques Lacan zu den Psychosen geht es eröffnend insbesondere um die Frage des Wissens und dem Psychose-Wissen von Emil Kraepelin, einem deutschen Psychiater der Jahrhundertwende:
„Ich lese – kontinuierliche Entwicklung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems. Ganz falsch – das Wahnsystem ändert sich, ob man es erschüttert hat oder nicht. Um die Wahrheit zu sagen, die Frage scheint mir nebensächlich. Diese Veränderung rührt von etwas Interpsychologischem her, von Interventionen von außen, von der Aufrechterhaltung oder der Störung einer gewissen Ordnung in der Umwelt des Kranken. Er ist sehr weit davon entfernt, dem nicht Rechnung zu tragen, und er sucht, im Laufe der Entwicklung seines Wahns, diese Elemente mit seinem Wahn in Einklang zu bringen. […]“[9]

Das Stimmenhören erstreckt sich über eine Reihe unterschiedlicher Wissenschaften und Wissensbereiche von der Psychiatrie über die Literatur-, Medien- und Kulturforschung sowie Religionswissenschaft bis zur Bioakustik der aufwendig technologisierten Erforschung der „Lautkommunikation von Fleckendelfinen“ durch das „CHAT“-Projekt.[10] Kulturhistorisch lässt sich das Stimmenhören als Gefahr bis zu den Sirenen als Mischwesen in der Odyssee von Homer und einer „inneren Stimme“ zurückverfolgen.[11] Stimmen können verlocken, warnen oder Angst machen. Thomas Macho führt das biblische Denken und den Gott der auserwählten Israeliten nach Jan Assmann an, der daran erinnerte, dass sie „die Stimme Gottes“ nicht ertragen und deshalb Moses beauftragt hätten: „mach du das bitte“.[12] In der Literatur führt er Sara Gallardo und Indra Sinha an. Mit dem Stimmenhören stünde auf dem Spiel, ob jemand „mental gesund“ sei. Die mentale Gesundheit wird von Kraepelin mit dem Konzept der Psychose angezweifelt, während Lacan das Wissen von „Klarheit und Ordnung“ in Frage stellte.
„… das mit vollkommener Erhaltung der Klarheit und Ordnung im Denken, Wollen und Handeln einhergeht – Freilich. Es geht aber darum, zu wissen, was Klarheit und Ordnung sind.“[13]

Die Stimme Gottes, die Stimmen der Sirenen, die Stimme Vitali Klitschkos werden zur Frage von mentaler Gesundheit und Selbstkontrolle. Für die Gaming-Industrie werden Stimmen gesammelt, die von Spieler*innen adaptiert werden sollen. Das Schreiben wie das Lesen werden in die Nähe des Stimmenhörens gerückt. Insofern eröffnete Thomas Macho nicht zuletzt an der Schwelle von Tier und Mensch wie in Menschentier von Indra Sinha ein Stimmenspektrum, bei dem nicht zuletzt die Frage nach dem Wissen vom Menschen und seinem Verhältnis zum Tier aufkommt.[14] Dieses Verhältnis wird mit der Bioakustik stimmlich quasi umgedreht, wie Denise Reimann in ihrer großangelegten Forschung zur „tierliche(n) Stimme“ in Auftakte der Bioakustik. Zur Wissensgeschichte nichtmenschlicher Stimmen um 1800 und 1900 schreibt.[15] Denn in der Bioakustik geht es ihr darum, „dass eine Vorgeschichte der Tierstimmenforschung nur quer zu disziplinären Grenzen geschrieben werden kann“.[16]

An das Faszinosum der Stimme von urzeitlichen Seekühen, lateinisch Sirenia[17], vor der ägyptischen Mittelmeerküste oder im Roten Meer kann sich der Berichterstatter in seiner frühen Jugend noch erinnern. Das Besondere war die Schallplatte im Singleformat, die dem Buch mit einigen Bildern beigegeben war. Es muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein. Sandra L. Husar klassifizierte die Dugong dugon 1978 und vermerkte die „whistling sounds“ sowie, dass „Dugong vocalizations“ nur für eine geringe Breite der „communication“ nach Kingdom im Jahr 1971 vermutet würde.[18] Doch für den Jugendlichen waren die abenteuerlich erforschten und mit Mikrofon unter Wasser abgelauschten Seekuh-Laute noch faszinierender als die Bilder und der Text. Die populärwissenschaftliche Buchausgabe, vermutlich der Büchergilde, lässt sich im Internet nicht finden. Doch Denise Reimann macht nun in Auftakte der Bioakustik auf die mediale Verschaltung von Mikrofon, Unterwassermikrofon, Aufnahme und Wiedergabe durch technische Medien seit der Zeit um 1900 aufmerksam.
„Um 1900 erfuhr die Wahrnehmung der Stimme einen neuerlichen Einschnitt: Seinerzeit entwickelte Medientechniken wie Mikrofon und Phonograph eröffneten innovative Zugänge zu den Lauten von Tieren, welche die zeitgenössische Diskussion um die evolutionsgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Menschen und Tieren mitbestimmten. Im Rahmen tierphonographischer Experimente wurde erforscht, ob auch Tiere über eine rudimentäre Form der Sprache verfügen und wie sich die menschliche Sprache aus der Tierstimme entwickelt haben könnte.“[19]

Denise Reimann legt ihre kultur- und wissenshistorische Arbeit zu den Tierstimmen als eine „Schwellenkunde“ an. Denn Tierstimmen rücken in der Mitte des 18. Jahrhunderts 1741 mit dem „französische(n) Arzt und Anatom Antoine Ferrein“, der „präparierte() Kehlköpfe von Rindern, Hunden, Schweinen und Menschen durch Anblasen künstlich zur Stimmgebung“ animierte[20], ins Interesse der Wissenschaft. Es ist nicht zuletzt jene Zeit, in der sich das Denken vom Menschen mit des Arztes und Schriftstellers Julien Offray de la Mettries L’homme machine 1748 signifikant verschieben wird.[21] Ferreins De la formation de la voix de l‘ homme korrespondiert schon vom Titel her mit de la Mettrie. Die Konstellation von Mensch, Tier und Maschine erscheint mit einer Geste der Aufklärung und Befreiung an einer Leerstelle, um es einmal so zu formulieren. Die Wissensgeschichte vom Menschen, an der Ferrein wie de la Mettrie um 1850 schreiben, lässt sich mit der Schwellenkunde erkenntniskritisch befragen. De la Mettrie wird seine Schrift damit beschließen, dass der Mensch kein Tier, sondern – „l’Homme est une Machine“(S. 108) – eine Maschine ist. Die Konstellation von Mensch, Tier und Maschine wirft bis in die jüngste Zeit mit Deep-Fake-Voices unablässig Fragen der Grenzziehung auf. Die Stimme funktioniert dabei als eine Art Scharnier und Scheidepunkt.
„‚Schwellenkunde‘, als erkenntniskritische „Arbeit im Grenzbereich“, die sich insbesondere für die offenen Fragen und Konflikte interessiert, welche die (Tier-)Stimme als Grenzphänomen an der Schnittstelle heterogener Wissensordnungen auslöste. Dabei wird auch nach wiederkehrenden Problemkonstellationen, Praktiken und Deutungsmustern gefragt, welche diese Grenzarbeit prägten. Mit welchen methodischen Schwierigkeiten hatte sie zu tun? Welche Rolle spielten Medientechniken und Instrumente im Prozess der Wissensproduktion? An welche gesellschaftlichen Diskurse und Narrative knüpften die Erkundungen an und welchen Visionen arbeiteten sie zu?“[22]

Die diskursive Konstellation von Mensch, Tier und Maschine wird von Denise Reimann mit Ferrein eher en passant herausgearbeitet, wenn sie schreibt, dass „die Stimme ihrer Aura von Transzendenz und Intelligibilität beraubt und als ein zuallererst physikalisches Phänomen erfahrbar (werde), welches als solches an Tieren und Menschen gleichermaßen mechanisch nachgebildet werden kann“.[23] Was als „mechanisch“ erzeugt formuliert werden kann, rückt in die Nähe der Maschine. Ferreins Experimente mit dem Stimmorganen, den Glottis, der Toten spielt sich im Bereich des Mechanischen und Maschinellen ab. Reimann schlägt gar den Bogen in die aktuelle „bioakustische() Forschung“, in der „noch heute Kehlkopfpräparate künstlich zur Stimmgebung animiert“ werden.[24] Auf faszinierende Weise untersucht Reimann die Glottis als „epistemische Leerstelle“ und entfaltet die Medizingeschichte des 18. Jahrhunderts. Der Ursprung der Stimme bleibt rätselhaft. Und damit kommen dann wieder die Stimmen der Seekühe, der Sirenia, zum Zuge: Sie haben keine Stimmbänder.[25]

Die umfangreichen Forschungen zu den Tierstimmen an der Schwelle zum Menschen von Denise Reimann können mit dieser Besprechung nur angerissen werden. Ebenso kann die Mosse-Lecture von Thomas Macho hier nur ansatzweise kontextualisiert werden. Sie selbst wird in Kürze auf dem YouTube-Kanal der Mosse-Lectures veröffentlicht werden. Es kann allerdings gesagt werden, dass das Semesterthema der Mosse-Lectures wie die Schwellenkunde von Denise Reimann kulturelle und gesellschaftliche Bereich aufgreift, die aktuell hoch umstritten sind. Die gesellschaftliche und ethische Haltung zu Tieren wie z.B. Hunden oder Pferden, aber natürlich auch die Legehenne verschiebt sich nicht zuletzt mit der Frage, ob Tieren Gefühle und Stimmen zu- oder aberkannt werden. Das sind keine Schmetterlingsfachfragen, sondern solche, die Klimadiskurse und Wirtschaftsumbrüche ebenso wie moderne Kriegsführung zutiefst berühren. Schließlich wird mit den Seekühen als Sirenia nach dem Berliner Zoologen Karl Illiger 1811 die Frage aufgeworfen, ob dieser sie nur als Mischwesen aus der Odyssee übernommen hat oder vom Hörensagen über die pfeifenden Laute dieser Spezies gehört hatte.

Torsten Flüh

Auf dem YouTube-Kanal der Mosse-Lectures ist Thomas Machos Vortrag erscheinen.

Mosse-Lectures
Wintersemester 2022/23
Nach der Stimme
Simulationen vokaler Authentizität
Programm


Nächste der insgesamt 4 Lectures
Lawrence Abu Hamdan
»The People‘s Tribunal of Inadmissible Speech«
mit Britta Lange
Donnerstag, den 8. Dezember 2022, 19.15 Uhr
Auditorium des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums
Geschwister-Scholl-Str. 1/3
10117 Berlin

Denise Reimann
Auftakte der Bioakustik.
Zur Wissensgeschichte nichtmenschlicher Stimmen um 1800 und 1900
Band 6 der Reihe Undisziplinierte Bücher
Berlin: De Gruyter, 2022
461 Seiten, 21 Abbildungen, farbige Abbildungen 11
59,95 €


[1] Siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[2] Die Suchanfrage nach Dialogflow wird von Google in Deutsch beantwortet, um zugleich für die Bewertung nach dem Inhalt und mit der Frage „Wie natürlich klingt die Übersetzung für Sie?“ freigegeben zu werden.  https://cloud.google.com/dialogflow/docs/ 

[3] Zitate nach: Mosse-Lectures: Nach der Stimme. Simulationen vokaler Authentizität. Programm.

[4] Werbeanzeige auf fakeyou.com von discord.com.

[5] rbb24: Giffey zu Deep-Fake: „Es ist ein Mittel der modernen Kriegsführung“. Politik Sa 25.06.22 | 17:15 Uhr.

[6] Netzwerk Stimmenhören e.V. https://stimmenhoeren.de

[7] Selbsthilfe-Gruppen: https://stimmenhoeren.de/selbsthilfe-gruppen/

[8] Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955-1956) DIE PSYCHOSEN. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. Michael Turnheim. Wien: Turia + Kant, S. 16-37.

[9] Ebenda S. 20. (Claudia Reiche hat am 12. Juni 2022 in ihrem auf YouTube verfügbaren Vortrag Digitale Körper, psychotischer Raum, Aktuelles zur Verwerfung an Lacans Psychose-Lektüre angeknüpft. https://www.youtube.com/watch?v=t3fHZr0wzdQ)

[10] Denise Reimann: Auftakte der Bioakustik. Zur Wissensgeschichte nichtmenschlicher Stimmen um 1800 und 1900. Berlin: Walter de Gruyter, 2022, S. 1.

[11] Vergleiche dazu: Torsten Flüh: Innere Stimmen. Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. April 2022.

[12] Siehe dazu: Deutschlandfunkultur: „Exodus ist Aufklärung“. Archiv: 15.03.2015.

[13] Jacques Lacan: Das … [wie Anm. 8].

[14] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Haarige Konfrontationen. Zu Thomas Machos Vortrag Verwandlungsgeschichten: Von Wölfen und Schweinen. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 18, 2013 21:35.

[15] Denise Reimann: Auftakte … [wie Anm. 10] S. 3.

[16] Ebenda S. 7.

[17] Der an der Berliner Universität tätig gewesene Zoologe Karl Illiger vergab 1811 den Ordnungsnamen Sirenia an die Säugetiere, von deren Laute er gehört haben muss oder die er als Geschlecht aus den antiken Schriften übernahm. Daraufhin fanden die Seekühe als Sirenia Eingang in die Ordnung der Säugetiere der Zoologie. Siehe: Caroli Illigeri (Johann Karl Wilhelm Illiger … Prodromus systematis mammalium et avium. Berolini: Salfeld 1811, S. 64. (Digitalisat)

[18] Sandra L. Husar: Dugong dugon. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists. New York 1978, Jan. 06, No 88, S. 5.

[19] Denise Reimann: Auftakte … [wie Anm. 10] S.6.

[20] Ebenda S. 9.

[21] Julien Offray de La Mettrie: L’Homme Machine. Leiden: Elie Luzac Fils, 1748. (Digitalisat)

[22] Denise Reimann: Auftakte … [wie Anm. 10] S. 9.

[23] Ebenda S. 16.

[24] Ebenda.

[25] Siehe dazu: Bettina Wurche: Sirenengesänge – wie kommunizieren Seekühe. In: siencelblog.de 13. April 2022.

Von der Nacktheit des Menschen

Sprache – Bild – Mensch

Von der Nacktheit des Menschen

Zur universalen Sprache und gezetts Ausstellung in der Aktgalerie im Boxhagener Kiez

Am Freitagabend, den 4. November 2022, eröffnete der Berliner Fotograf gezett in der Aktgalerie, Krossener Straße 34, seine Ausstellung vor allem zur berühmten Plakette mit Botschaft der Raumsonde Pioneer 10, die am 2. März 1972 von der NASA ins Weltall geschossen wurde, um über unser Sonnensystem hinaus nach intelligentem Leben zu suchen. Mehr als 50 Jahre später wissen wir nicht, ob und von wem die Botschaft der Menschen vom Planeten Erde bereits gelesen und verstanden worden ist oder dieses jemals geschehen wird. Am 23. Januar 2003 brach nach über 30 Jahren jeglicher Funkkontakt zu Pioneer 10 ab. Auf eine Distanz von 12 Milliarden Kilometer ließen sich keine Radiosignale mehr auf der Erde empfangen. Sollte Pioneer 10 nicht auf einem Asteroiden zerschellt oder in einer Sonne verglüht sein, bewegt sich die Raumsonde weiterhin einsam mit der Botschaft vom Menschen im All.

Gezett hat während der COVID-19-Pandemie den extraterrestrischen Menschheitsgedanken vom intelligenten Leben 2020 aufgegriffen und die Darstellung der Botschaft auf der Pioneer-10-Plakette mit einem nackten Mann und einer nackten Frau nachgestellt und variiert. Erstens erschien ihm der Ausbruch der Pandemie zu einem Zeitpunkt, als es noch keinen Impfstoff gab und beispielsweise der terrestrische Flugverkehr nahezu vollständig eingestellt worden war[1], als so einschneidend, dass er eine Modifizierung der Darstellung durch die „Maskenpflicht“ mit klinischen Atemmasken vornahm.[2] Zweitens blieb der Mensch nackt, musste aber seine Atemorgane Mund und Nase bedecken, um sich vor einer Infektion zu schützen. Damit vollzog sich drittens zugleich eine Umkehrung der Wahrnehmung von Nacktheit. Das Gesicht und nicht die Genitalien mussten bedeckt werden. Gezett startete sein Fotoprojekt Pioneer – Update 2020. 11 Paare, ein fotografischer Kommentar

In der Krossener Straße, die am legendären Boxhagener Platz entlangführt, kleben z.B. auf den zweiten Blick an den Regenrohren neben dem Schaufenster der AKTGALERIE Sticker mit Botschaften. Da es mit der Plakette um ein ähnliches Medium geht, lohnt sich ein genauer Blick. Wie funktionieren Sticker der jüngsten Zeit? „S…TOR BOXHAGEN“ – Gerstenähren unter Traktor-Motiv vor regenbogenfarbigem Hintergrund. „NNVMS O N E dekadent und assi“ – roter Bär trägt ein Tablett mit gefüllten Gläsern über dem Kopf (wahrscheinlich Biergläser), der Sticker erinnert an ein Bierflaschenetikett. 2 QR-Codes, „(kyrillische Lettern) CEĆNOSLOVÉNIE“ – eine Art gelber Vogelkörper mit humanoider Mund-Nasen-Partie darüber eine Art Brille, darüber ein 5-zackiger Stern … Andere Sticker sind kaum noch lesbar, weil vom Regen verwaschen oder teilweise abgerissen. Die Sticker oder Plaketten sind beispielsweise am Boxhagener Platz schwer zu entziffern, weil unter anderem verschiedene Schriftzeichen und Schrift-Bild-Kombinationen gebraucht werden.   

Die Wissenschaft vom Menschen spielt eine entscheidende Rolle für die visuelle Darstellung auf der Pioneer-10-Plakette. Zugleich wird das Wissen vom Menschen und seiner interstellaren Verortung in unserem Sonnensystem mit dem 1972 denkbar fortschrittlichsten astro-physikalischen und technischen Wissen verkoppelt. Weiterhin entspringt die Montage der Plakette an der Außenseite der Raumsonde dem zeitgenössischen Konzept der Intelligenz. Und schließlich gibt die visuelle Formulierung von der Menschheit einen Wink auf ein wenig erläutertes Konzept einer extrahumanen universalen Sprache. Statt auf eine Buchstaben- oder Zeichensprache oder eine binäre Differenzialsprache wie in der heute überall vorherrschenden Programmierung setzten Carl Sagan, Frank Drake und Linda Salzman mehr oder weniger ad hoc auf eine piktorale Sprache. Vom drittnächsten Planeten zur Sonne führt die Flugkurve der Raumsonde ins Universum.  

Der Anspruch der visuellen Universalität, der der Pioneer-Plakette auf den mit Gold bedampften Aluminiumplatten eingraviert wurde, soll detaillierter reflektiert werden. Auf gezetts fotografischen Kommentar werde ich zurückkommen. Denn der Anspruch der Universalität wird bereits bei der Herstellung der Bilder von relativ lokalen und kurzzeitigen moralisch-kulturellen Skrupeln durchkreuzt. Anlässlich des 50. Jahrestages wurde der kurzfristig beschlossene Beitrag zum Pioneer-Projekt von Sagan, Drake und Salzman durch Gillis Lowry am Carl Sagan Institute der Cornell University gewürdigt:
„In a short timeframe, Carl Sagan, Frank Drake, and Linda Salzman needed to devise a visual representation of humanity, for a theoretical audience they could know nothing about. We may safely assume only one thing: that any alien lifeform seeing the plaque must have been smart enough to find Pioneer in the first place. They would likely grasp the fundamentals of physics and math, the only languages that transcend across space and time.
Carl Sagan and co. settled on a representation of two humans and a silhouette of the spacecraft, accompanied by a few maps to point out home—nearby pulsars and our solar system.”[3]

Warum nutzten Carl Sagan und seine Mitarbeiter*in kein Aktfoto, das in die Oberfläche hätte eingraviert werden können? Hätte sich die Aktfotografie 1972 als „visual representation of humanity“ nicht geradezu aufgedrängt? Der Wunsch nach einer „alien lifeform“ wird von Sagan und seinem Team science fictional mit einer Form empathischer Intelligenz verknüpft. Sieben Jahre später, 1979, sollte Ridley Scott mit Sigourney Weaver in dem Spielfilm Alien den Schrecken einer extraterrestrischen „alien lifeform“ visualisieren. Dessen fremde und durchaus intelligente Wesen hatten, statt eine Plakette zu lesen, nur noch einen unstillbaren Appetit auf Menschen und die eigene Reproduktion. Die wissenschaftliche Suche der NASA nach außerirdischer Intelligenz hatte sich also schon wenige Jahre später in einen Horror verkehrt. Die Intelligenz und ihre visuelle Darstellung in Bezug auf Menschen- und Fremdenkörper war ambig geworden. Die Nacktheit des Menschen wurde zugleich als dessen Schutzlosigkeit konterkariert.    

Die Nacktheit des Mannes und der Frau als konkrete Visualisierung des Menschengeschlechts für außerirdische Lebewesen wurde für Carl Sagan, Frank Drake und Linda Salzman, Carls Ehefrau, zu einem Problem. Nicht nur, dass das Menschengeschlecht graphisch eurozentrisch angelegt ist, der Mann größer als die Frau gezeichnet wurde und die männlichen wie weiblichen Genitalien stark abstrahiert werden mussten, vielmehr die Nacktheit als solche wurde zum Problem einer universalen Sprache in der Wissenschaft und Raumfahrt. Bis auf die Kopfhaare sind die Erdlinge haarlos nackt. Jake Rosenthal wies schon 2016 daraufhin, wie die Plakette mit der Human-Wissenschaft zur „Universal Language“ werden sollte. Wie kann u.a. die Beweglichkeit des Menschen visuell formuliert werden?
„The most prominent figures on the plaque are those of two adult humans: a man and woman. The man bends his arm and displays an open palm—an international greeting, but one that, admittedly, may be meaningless to an extraterrestrial civilization. The woman hangs her arms by her sides and stands with her weight shifted rearward as to dispel any misunderstandings regarding a fixed body and limb position; we are mobile and flexible. Beside the illustrations of the humans is the binary number 8, inscribed between two ticks, indicating the height the woman. The civilization could then conclude that the woman is 8 units tall, the unit being the wavelength (21 centimeters) described by the hyperfine transition key; thus, the woman is 8 times 21 centimeters, or about 5.5 feet tall.”[4]

Die Wissenschaftlichkeit der „Universal Language“ wird von Carl Sagan etc. durch mehrfache Operationen der Abstraktion als graphische Vereinfachung, Hierarchisierung und Normierung konstruiert. Sie knüpft dabei kunsthistorisch an eine klassische bzw. antik griechische Körperdarstellung an, die in der Renaissance von Michelangelo wiederbelebt wird. Diese kulturellen Wissensoperationen werden zugleich als eine Bedeckung der Nacktheit gerechtfertigt. In Hinblick auf die Institution NASA wurde die Menschheit durch Sagan & co. weniger nackt. Denn zu viel Nacktheit hätte 1972 dazu führen können, dass die Botschaft als konzeptionelle Erweiterung der Raumsonden-Mission abgelehnt worden wäre. Statt in einer Aktfotografie erscheint der Mensch in einer als wissenschaftlich ausgegebenen Maskierung, die zugleich von moralischen Bedenken motiviert wurde. Die wissenschaftliche Universalität als Darstellungsform ist insofern mit einem kulturellen Wissen aufgeladen.

Sagan und seine Mitarbeiter*in schreiben der visuellen Darstellung das Wissen ihrer sich permanent wandelnden und vergänglichen Zivilisation ein, die als Universalität im Universum konzipiert wird. Zum Bild wird insofern auf der Plakette ein zivilisatorisches Wissen, das das Bild der Menschheit formt. Doch das zivilisatorische Wissen ist nicht nur der extraterrestrischen Zivilisationen nicht verfügbar, sondern selbst auf Erden eine Bildungsfrage. Unter 8 Milliarden der Weltbevölkerung müsste die Universalität gar als ein Minderheitenkonzept eingestanden werden. Abgesehen vom „international greeting“, die für eine extraterrestrische Zivilisation unlesbar oder bedeutungslos bleiben könnte, ist die universalsprachliche Grafik selbst für viele intelligenzbegabte Erdlinge nicht ganz einfach bzw. kulturell voraussetzungslos zu entziffern. Doch Carl Sagans Anspruch auf Universalität wird fortgeschrieben. Das Carl Sagan Institute an der Cornell University wurde gegründet, um Leben in unserem Universum zu finden: „Founded to find life in our universe.“

Bedenkenswert für die Suche nach Leben in unserem Universum ist die gleichzeitige Prüderie als zivilisatorische Kurzsicht auf die eigene Nacktheit. An der Nacktheit des Menschen geht es immer schon um Schwäche und Stärke, Schutzlosigkeit und Waffe. Von Aktivist*innen wie Femen wird sie als Waffe gegen männliche Dominanz benutzt. Würde es einer extraterrestrischen Zivilisation überhaupt auffallen, dass die Menschen mit ihren seltsamen Reproduktionsorganen nackt sind? Und welche Rolle spielt überhaupt die Reproduktion in der irdischen Zivilisation bei einer immer noch steigenden Überbevölkerung? Die vermeintlich simple Frage nach „Leben“ im Universum bleibt davon abhängig, was die irdischen Zivilisationen Leben nennen. Bereits mit den kolonialen Angriffen auf indigene Zivilisationen z. B. am Rio Negro, wie sie im Ethnologischen Museum im Humboldt Forum seit kurzem thematisiert werden[5], zeigt sich, dass die Bestimmung von „Leben“ hoch elastisch und äußerst divers sein kann. Anders gesagt: der Suche nach intelligentem Leben jenseits unseres Sonnensystems im Universum liegt bereits eine kolonisierende Geste zugrunde.

Das von „der“ Wissenschaft auf der Pioneer-10-Plakette Verdrängte, kehrt visuell in der Alien-Serie von Ridley Scott wieder. Das wäre noch einmal genauer zu untersuchen. Aber zumindest nach meiner ungenauen Erinnerung an mehrere unvollständig gesehene Alien-Filme spielen Nacktheit, Begehren und Reproduktion eine ziemlich prominente Rolle. Sie sind eine Art Kommentar auf das Denken, das in die Plakette eingraviert wurde. gezett kommentiert anders. Ließe sich der Ausbruch der COVID-19-Pandemie als ein zivilisatorischer Einschnitt beschreiben? Zumindest lassen sich die medizinischen Masken aus dem Jahr 2020 als ein solcher denken. Allein schon deshalb, weil im März 2020 Freund*innen auf meine Bemerkung, dass in Japan und China viel häufiger von selbst Masken z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln getragen würden, damit antworteten, sie wären „doch keine Chinesen“. Die zivilisatorische Praxis des Maskentragens bei Gesundheitsrisiken wurde mit einem rassistischen Argument zurückgewiesen.

gezett inszeniert mit pioneer – update 2020 sowie Serieller Fotografie Zivilisationen, Praktiken der Nacktheit. Die Menschen, Männer und Frauen lassen sich von gezett fotografieren, weil sie ihre Nacktheit selbstbewusst praktizieren. Das gilt zunächst einmal für die 11 Paare des Pioneer-Projektes. gezett arrangiert sie divers und gibt damit zugleich einen Wink auf die normierende Konstruktion des Paares für die extraterrestrischen Intelligenzen. Die Aktfotografie enthüllt damit vor allem eine Normierung von Körpern und Geschlechtern. Schauen Sie sich die Paare genau an! Haben Sie keine Scheu! Sie werden eine große Vielfalt entdecken. Die Paare erinnern mit den medizinischen Masken zugleich an die Freikörperkultur an Stränden und in Badeanstalten. Die Maskierung erhält als Kommentar unversehens einen ironischen, witzigen Zug. Ich will die Paare in ihrer Diversität gar nicht nach Herkunft und Merkmalen beschreiben. Der Fotograf kann wundervolle Geschichten zu seinen Paaren erzählen.

Die Nacktheit hat in den Foto-Projekten von gezett einen Zug der Befreiung. Das hat  mit dem Medium Fotografie selbst zu tun. Neben dem posierenden Pioneer-Projekt mit seinem epidemiologischen Hintergrund sind es drei serielle Fotoprojekte, die den Gestus der Befreiung durch den Modus der Serialität in der Fotografie inszenieren. Anna in Red, Marie und Jade setzen Serialität, Bewegung und Belichtungszeiten als fotografische Mittel ein. Anna springt auf einem Trampolin, so dass ihre Haare und ihr rotes Kleid in die Höhe fliegen. Anna bleibt durch eine extrem kurze Belichtungszeit mit einem starken Blitz in der Luft stehen… Die Serialität der technisch anspruchsvollen Fotografie lässt Bewegungen sichtbar werden. In anderen Projekten und Fotobüchern von gezett wird mit längeren Belichtungszeiten und der daraus entstehenden Unschärfe bei Bewegungen des Models experimentiert.

Die Serialität durchkreuzt bei gezett einen fetischistischen Gebrauch. In der Geschichte des Akts dominiert in der europäischen Kunstgeschichte seit Jahrtausenden der – eingefrorene – Einzelakt. Diese Geschichte nicht zuletzt der Aktfotografie als eine des Einzelfotos wird von der Serialität angeschnitten. Das Bild der Frau entzieht sich tendenziell einer Verfügbarkeit. Die Frauen in den seriellen Fotografien von gezett bleiben nicht passiv, vielmehr bewegen sie ihren Körper fröhlich und frei. In der eurozentrischen Bildgeschichte der weiblichen Nacktheit macht das einen Unterschied. Das serielle Spiel von Verhüllung und Enthüllung generiert einen anderen Effekt der Nacktheit. Man könnte sagen, dass gezetts seriellen Fotografien rein fototechnisch generiert werden. Doch dadurch werden zugleich Bilder vom weiblichen Körper verschoben. – Nicht zuletzt in Hinblick auf die Pioneer-10-Plakette ist das nicht Nichts.

Torsten Flüh

gezett
Pioneer – Update 2020.
11 Paare, ein fotografischer Kommentar

Serielle Fotografie.
Bis 27. November 2022,
15 -19 Uhr Fr – So.
Die Aktgalerie
Krossener Straße 34
10245 Berlin

Zusätzlich: Offenes Atelier
Kreativfabrik
Studio Gezett
Babelsberger Straße 40/41,
zum Tag der offenen Ateliers am 19.-20. Nov, 15-19 Uhr.


[1] Siehe zum weitestgehend stillgelegten Flugverkehr im April 20202: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[2] Siehe zur Einführung und Anzeige der „Maskenpflicht“ auf dem Verkehrsleitsystem im April 2020: „! Ab Montag Pflicht: Mund-Masken-Schutz in Bus und Bahn!“ In: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[3] Gillis Lowry: 50th Anniversary of Pioneer 10. In: Carl Sagan Institute, Cornell University. Ithaca, New York 3/02/2022.

[4] Jake Rosenthal: The Pioneer Plaque: Science as a Universal Language. In: The Planetary Society, Jan 20, 2016.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum. Zur finalen Eröffnung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum mit Benin-Bronzen, Omaha-Kultur und Rundhaus vom oberen Rio Negro. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Oktober 2022.

Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur

Pazifismus – Männlichkeit – Philosophie

Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur

Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak

Das Handbuch hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Wissenschaftsbereichen geradezu als ein eigenes Genre entwickelt. Mit dem Handbuch von unterschiedlicher Stärke wird Wissen geordnet und verfügbar. „Handbuch Wissenschaftliches Schreiben“, „Handbuch Bettina von Arnim“ (2020), „Handbuch Literatur & Philosophie“ als „Band 11 der Reihe Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie“ von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt (2021) etc. und nun das Wittgenstein-Handbuch Leben – Werk – Wirkung (2022).[1] Der akademische Apparat produziert beispielsweise und zuvörderst mit dem De Gruyter Wissenschaftsverlag Handbücher. Vom Titel her – und das wäre nun gerade beim Sprachspiel-Philosophen Ludwig Wittgenstein nicht nichts – liest sich das Wittgenstein-Handbuch besonders griffig. Wie ist der Berichterstatter überhaupt auf die Idee gekommen, in das Wittgenstein-Handbuch hineinzuschauen?

Im Erscheinungsjahr 2022 hat gerade der Passagen Verlag einen Band mit zwei Stücken von Götz Wienold veröffentlicht: Wittgenstein in Cassino und Trackls Tod.[2] Da den Berichterstatter Wienolds Wittgenstein mit seinem Szenarium von Krieg, Männlichkeit, homosexuellem Begehren und Pazifismus derart mitgerissen hat, dass er zur Absicherung doch noch einmal in eine Biografie zu Ludwig Wittgenstein hineinschauen wollte, stieß er auf das jüngst erschienene Handbuch. 2022 ist schon deshalb kein Erscheinungsjahr wie jedes andere, weil sich die Frage nach dem Verhältnis von Krieg, Literatur und Pazifismus auf dramatische und zuvor nicht gekannte Weise zugespitzt hat. Die jüngste Buchpreisverleihung an Kim De L Horizon für Blutbuch[3]und die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan spielen sich im Spannungsfeld von Krieg, Literatur, Geschlecht und Pazifismus ab.

Mit dem Krieg, Geschlecht und Frieden ist es nicht einfach. Das hat nach der Buchpreisverleihung Kim De L Horizon als genderfluide Autor*in und erste offen queere Person, die den Deutschen Buchpreis jemals verliehen bekommen hat, nach der Preisverleihung erfahren müssen. Kim rasierte sich bei der Preisverleihung als Solidaritätsgeste mit den protestierenden Frauen im Iran auf offener Bühne die Haare ab – und erntete Hass, obwohl der Geschlechtsfließende „niemandem etwas Böses“ will.[4] Serhij Zhadans Kriegstagebuch Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg erschien am 10. Oktober 2022 im Suhrkamp Verlag und löste Bedenken aus, ob es den Statuten des Friedenspreises entspreche. Am 26. Februar 16:45 heißt es im Tagebuch ziemlich unfriedlich:
„Das ukrainische Militär arbeitet beeindruckend und professionell. Alle motiviert, wollen den Feind mit den Zähnen zerreißen.“[5]

In diesem Debattenfeld kommt nun das Stück Wittgenstein in Cassino von Götz Wienold zum Zuge, das der Autor im Gesprächskreis Homosexualität mit einem Apfel auf dem Tisch szenisch las. Das Stück funktioniert als dramatischer Text anders als der Roman vom Ich De L Horizons und anders als die Tagebuch-Nachrichten von Serhij Zhadan. In den jeweiligen Textgenes wird unterschiedlich gesprochen. Das mag nun als eine Spitzfindigkeit angesehen werden, während bei Debatten derartige Unterschiede unversehens, man muss schon sagen, überbrüllt werden. Aber es wird gerade dann, wenn es um den Philosophen Ludwig Wittgenstein und dessen Lesart geht, entscheidend. Götz Wienold, geb. 1938, soviel darf vorausgeschickt werden, hat 1961 im Austauschprogramm mit der Universität Münster an der University of St. Andrews in Schottland studiert, als der Geist von Wittgenstein (1889-1951) in der angelsächsischen Philosophie recht präsent war. Er arbeitete später über linguistische Theorienbildung. Insofern beschäftigt sich Wienold seit ca. 60 Jahren mit Wittgenstein, dessen Philosophie und Ethik sowie dessen Pazifismus. Dass Wittgenstein in Cassino plötzlich in einem Debattenfeld erscheint, von dem es nichts wissen konnte, macht das Stück hoch aktuell und als Beitrag ein wenig solider als manch eine Preisrede.

Was wissen die Literaturen von Ludwig Wittgenstein? Wittgenstein in Cassino wurde von Götz Wienold sorgfältig recherchiert und arrangiert. Das Personal und die Handlung des Stückes sind bis auf Wittgenstein „frei erfunden“.[6] Doch Wienold verarbeitet und bearbeitet in seinem Text zugleich unterschiedliches Wissen, dessen Quellen im einzelnen schwer zu verifizieren sind. Zweifelsohne wird ein Wissen vom Hörensagen und aus der Lebenspraxis eingeflossen sein. – Da jetzt das Fluide mit Kim so prominent geworden ist, musste an dieser Stelle das Fließende des Wissens erwähnt werden. – Einen Wink auf eine Quelle gibt das Datum der Erstfassung mit 2012. Denn 2011 hatte das Schwule Museum die Ausstellung Ludwig Wittgenstein. Verortung eines Genies gezeigt.[7] Dies geschah u.a. mit einem Portraitfoto des Philosophen von Ben Richards aus dem September 1947 in Swansea.

Die Homosexualität Wittgensteins war 2011 schon länger besprochen worden. Es gab gar eine Art Philosophenstreit darüber, wen das „Genie“ begehrt hatte. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Briefen, Manuskripten und Schriften einen derartigen Begriff nicht gebraucht, was wahrscheinlich mit seiner auf die Sprache ausgerichteten Philosophie zu tun hat. Er philosophierte sprachkritisch, ließe sich sagen. Wienold setzt das homosexuelle Begehren in seinem Stück von Anfang an als Trennendes und Verbindendes in Szene:
„An einer von den Mann-Frau-Paaren weit entfernten Stelle am Zaun ein sehr junger Mann in österreichischer Mannschaftsuniform, Fabrizio Zähring, draußen, und Ludwig Wittgenstein drinnen. Wittgenstein ist dreißig, sieht auch unter den Umständen der Gefangenschaft sehr gut aus. Dicht am Zaun beieinander, doch nur vorsichtige Berührungen.“[8]

Das Trennend-Verbindende der Gefangenschaft durch den Zaun zwischen den Paaren ob Mann und Frau oder Mann und Mann gibt einen Wink nach Wittgenstein. Bereits vom 9. April 1917 stammt von ihm der Wink auf das Sprechen und die Sprache mit der Formulierung „»[…] es ist so: Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!«“.[9] Die eröffnende Szene am Zaun handelt, noch bevor die Figuren Ludwig und Fabrizio zu sprechen beginnen, von der Sprache und der Liebe unter den Menschen. Die Sprache und der Sprecher gleich wessen biologischen Geschlechts stellen Hierarchien und Grenzen her, die mit dem Ausgesprochenen nicht einfach überwunden werden können. Die Gleichgeschlechtlichkeit kann das in Wienolds Stück nicht überwinden.
„LUDWIG: Ich liebe dich, weißt du das nicht?
FABRIZIO: Das dürfens nicht sagen.
LUDWIG: Ich liebe dich, heißt, ich möchte dich lieben, wenn ich es darf. Ich dich lieben dürfen, wenn du es erlaubst.
FABRIZIO: Ich kann Ihnen doch nichts erlauben.“[10]

Die Gleichgeschlechtlichkeit spielt in Wienolds Stück nicht zuletzt eine Rolle, wenn ein Mann auf einen anderen Mann schießen soll – und es nicht kann. Die Logik des Geschlechts nimmt im Krieg eine fundamentale Funktion ein. Die Männer mussten in der Ukraine bleiben. Männer werden zum „Feind“, der „mit den Zähnen zerr(iss)en“ werden muss. In seiner Rede vom 24. Februar 2022 hat Wladimir Wladimirowitsch Putin bis in die Interpunktion geschlechtlich argumentiert.[11] – Sind wir durch die Sprache, das heißt, die Sprachen und das Sprechen zum Geschlecht verdammt? Und: Wie steht es dann um den Pazifismus? Das ist im Moment kein geringes Problem. Es ist ein Paradox, das in Wittgenstein in Cassino eine dramatische Rolle spielt. Welche Rolle spielt das Geschlecht in seiner Vieldeutigkeit in der Philosophie? Kommt die Geschlechtlichkeit im Wittgenstein-Handbuch vor? Was könnte es heißen, wenn sie nicht vorkommt? Wagen wir zunächst eine lexikalische Probe: sexualität: 0, Null, nichts bei „Sexualität“ und „Homosexualität“. Aber 1, ein Gebrauch bei „Geschlecht“ mit der Formulierung eines Vorbehalts:
„Des Weiteren berichtet Drury über Otto Weininger: W. hielt Geschlecht und Charakter für »das Werk eines außergewöhnlichen Genies«, trotz seiner »Vorurteile« und Irrtümer (…), über Blaise Pascal (über den er aber nie mit W. gesprochen hat, …) und Samuel Johnson.“[12]

Die Philosophie des Wittgenstein-Handbuch argumentiert weitestgehend ohne das Geschlecht. In Hans Biesenbachs Handbuch-Artikel zu Maurice O’Connor Drury kommt es syntagmatisch zu einer bedenkenswerten Leseunsicherheit, einer Art Doppeldeutigkeit. Wer ist „W.“? Syntagmatisch könnte es Weininger sein. Doch im Handbuch wird das Initial W. ausschließlich für Wittgenstein gebraucht. Das skandalisierte Weininger-Buch Geschlecht und Charakter hielt Wittgenstein also für „das Werk eines außergewöhnlichen Genies“. Das wäre vielleicht in seiner philosophischen Tragweite zu diskutieren. Dies findet aber im Wissensmodus des Handbuchs nicht statt. Diesem ist allerdings eine Biografie von Joachim Schulte vorangestellt, die zweifelsohne einen Beitrag zur Denkpraxis Wittgensteins liefern soll. Doch die Geschlechtlichkeit des Denkens bleibt seltsam vage im Modus des Scheinens, wenn es recht früh zur Beziehung Wittgensteins zu David Hume Pinsent heißt:
„Wie es scheint, wollte W. das ihn zu sehr ablenkende Leben in Cambridge hinter sich lassen und an einem möglichst ruhigen Ort ungestört an seinem Manuskript arbeiten. Auch Pinsent ging seinen Studien nach. Manchmal wurde gesegelt oder gerudert, man ging spazieren, und abends wurde Domino gespielt. Nach wenigen Tagen brach W. allein auf, um nach Bergen zu fahren und dort zwei Bände Schubertlieder zu besorgen: Pinsent spielte den Klavierpart und W. pfiff die Singstimme.“[13]

Der Wissensmodus des Scheinens – „Wie es scheint“ – versteckt nicht zuletzt das vielleicht auch befreiend Geschlechtliche zum „Leben in Cambridge“. Unbehelligt konnten Ludwig und David dort nicht sein. Schulte zitiert wiederholt Textstellen aus Briefen Wittgensteins, bei denen eine Ambiguität zumindest zwischen dem Philosophischen und dem Geschlechtlichen durch die Formulierung bestehen bleibt. Was könnte beispielsweise „eine bestimmte Tatsache sein“ über die „man … nicht hinwegkommt“? (Die Unterstreichung kann wg. der Codierung der Blog-Software nicht übernommen werden.) Um die Mehrdeutigkeit der Briefstelle hervorzuheben hat der Briefschreiber sie unterstrichen. Ist die „Tatsache“ ein philosophisches Problem oder ein geschlechtliches, wenn Wittgenstein es gar im Kontext von Selbstmord diskutiert?
„Ganz rückhaltlos konnte er Engelmann sein Befinden schildern: »Ich bin nämlich in einem Zustand, in dem ich schon öfters im Leben war, und der mir sehr furchtbar ist: Es ist der Zustand wenn man über eine bestimmte Tatsache nicht hinwegkommt« (… 1.6.1920). In einer solchen Lage ist, wie W. dem Freund auseinandersetzt, auch der Selbstmord kein Ausweg, denn der Selbstmord sei stets eine Art Selbstüberrumpelung, und nichts sei »ärger, als sich selbst überrumpeln zu müssen«.“[14]

Die Briefstelle mit der Unterstreichung lässt sich im Kontext des Bio-Grafischen auf verschiedene Weise lesen. Der Suizid, das Sich-das-Leben-nehmen ist von größter philosophischer Tragweite[15], zumal Ludwigs drei ältere Brüder Hans, Kurt und Rudolf 1920 bereits Selbstmord begangen hatten. Geht es also nur um ein „Befinden“ oder Empfinden oder um eine „Tatsache“ der Sprache, die sich schwer in Worte fassen lässt? Nach Tractatus logico-philosophicus 6.43, den Wienold als Motto seines Stückes zitiert, wären „Tatsachen; (…) das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann“. In der Biografie Schultes wird das nicht weiter erörtert. Die Gefangenschaft in Cassino kommt denn auch eher als eine Art „Gesprächszirkel“ vor.
„Die Offiziere organisierten Kurse und Gesprächszirkel. Auch W. beteiligte sich an einigen dieser Veranstaltungen, doch im Großen und Ganzen waren ihm Diskussionen unter vier Augen oder im kleinsten Kreis lieber. Er schloss Freundschaften, u. a. mit dem Lehrer und Schriftsteller Fritz Parak, dem Pädagogen Ludwig Hänsel und dem Bildhauer Michael Drobil, in dessen Werkstatt er einige Jahre später den Kopf einer jungen Frau modellierte. Die Freundschaft mit Hänsel hatte bis an W.s Lebensende Bestand. Wie vor ihm Engelmann, wurde auch Hänsel zu einem wichtigen Element im engmaschigen Geflecht der Familie Wittgenstein.“[16]

Die „Familie Wittgenstein“, wie Schulte sie anschreibt, ähnelt eher einer Wahlfamilie denn einer genealogischen. In dieser Familie wird viel miteinander gesprochen und korrespondiert. Von Interesse wäre durchaus das Modell eines „Kopf(es) einer jungen Frau“. In der Jugend herrscht oft noch eine visuelle Uneindeutigkeit des Geschlechts. Außer den Schwestern kommen wenig Frauen in der Wittgenstein-Biografie vor. Die Beziehung zu Marguerite führt zwar auch zu einem gemeinsamen Norwegen-Aufenthalt wie zuvor mit David Pinsent, aber der könnte ebenso unter ganz anderen Vorzeichen gestanden haben. Später wird Ludwig Marguerite recht grob das Damenhafte ankreiden. Als Gesprächspartnerin in der „Familie Wittgenstein“ fand sie offenbar keine Aufnahme. Was umschreibt die Formulierung, dass es „nicht viel Leidenschaft gegeben“ habe zwischen den beiden? Geht es da nicht gerade um das Geschlecht und Geschlechtliche? 
„Im Verhältnis zwischen Ludwig und Marguerite scheint es noch einiges Auf und Ab, aber nicht viel Leidenschaft gegeben zu haben.“[17]

Der Begriff der Liebe kommt in der Biografie ebenfalls selten vor. Statt von der Liebe zu Menschen oder Männern zu schreiben, wird wiederholt über Vorlieben und die Liebe zu „amerikanischen Krimis“, „altmodischen Slangausdrücken“ wie zur Musik gesprochen. Die Liebe zur Musik steht indessen häufig im Kontext des gemeinsamen Musizierens mit Männern, wobei die Gesangsstimme von Ludwig wiederholt als Melodie gepfiffen wird. Das ist vielleicht nicht gerade eine „männliche“ Art des Musikmachens. Doch Schulte lässt das Problem der „Liebe zu Richards“ wegen des Altersunterschieds nicht unerwähnt. Hier wird nun die Liebe als „großes, seltenes Geschenk“ formuliert. Die Liebe wird mit der „religiösen Gewissheit“[18] und insofern mit einer oder mehr noch als eine Form des Wissens von Wittgenstein angesprochen. Doch nur einmal wird sie bei Ben Richards zwischenmenschlich mit einem Zweifel verknüpft.
„Eine besondere Stütze während dieser Zeit war Ben Richards, der in Cambridge Medizin studierte und den W. wohl Ende 1945 kennengelernt hatte. Einerseits war die Liebe zu Richards, wie er im Tagebuch schreibt, ein »großes, seltenes Geschenk« (Ms 132, 77), andererseits fragte er sich immer wieder voller Sorge, ob der Jüngere ihn verlassen wolle. In den folgenden Jahren trafen sich die beiden an verschiedenen Orten, …“[19]

Kommen wir zurück zum Wissen der Literatur in Wittgenstein in Cassino. Die Liebe in dem Stück wird auf mehrfache Weise durchgespielt. Sie wird mit der weiblichen Figuren Lucia Tossi durch den Tractus logico-philosophicus mit einem Apfel in Szene gesetzt. Nun ist ein Apfel, um den es geht, literarisch seit Eva aufgeladen. Beim Apfel geht es immer auch um die Frage nach dem Wissen und Formen des Wissens wie dem vom alttestamentarischen Paradies und dem Sündenfall: „Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.“ (1 Moses 3, 6) Nennen wir das Klugwerden durch das Essen ein Erfahrungswissen. Doch bei Wienold geht es mit dem Apfel um linguistische Sprachoperationen in der Art eines Sprachspiels über die Logik.
„LUCIA: Aber der m u ß sein: Apfel und Krokus?
LUDWIG: Nicht Apfel und Krokus. Sie sehen es ja. Nimmt den Apfel wieder auf, hält die Hand über den Krokus, als wäre er nicht da. Das u n d ist es, Signorina Lucia, das u n d zwischen den beiden Sätzen.

LUDWIG: hat den Krokus längst wieder freigegeben, den Apfel wieder hingelegt. Noch einmal. Wahr ist ‚Auf dem Boden liegt ein Apfel‘, ‚Dort auf der Wiese blüht ein Krokus‘, beide Sätze wahr.
LUCIA: Ich sehs ja, ich sehs ja. Und wie schön er heute blüht, Herr Ludwig!
LUDWIG: Aber ,Auf dem Boden liegt ein Apfel‘ u n d ‚Dort auf der Wiese blüht ein Krokus‘, obwohl beide Sätze wahr, n i c h t  w a h r. Dann?“[20]  

Das Stück spitzt sich auf die Frage der Männlichkeit und des Pazifismus‘ zu. Denn Ludwig Wittgenstein hatte sich als Österreicher im August 1914 aus Cambridge freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Er nahm in verschiedenen Funktionen wie Kurierdienst, Arbeit in er Artillerie-Werkstatt in Krakau und im Werkstättenzug am Krieg teil. Wienold stellt die Kriegsteilnahme von Anfang an in den Kontext von Wittgensteins Freundschaft mit Bertrand Russel, der sich auf englischer Seite 1914 als Aktivist und Autor gegen die Kriegsteilnahme engagierte. In Kriegsgefangenschaft hatte er sich am 9. Februar 1919 mit einem Brief direkt an Russel gewendet und im Dezember diesen Jahres in Den Haag getroffen. Erstaunlicher Weise fehlt im Wittgenstein-Handbuch der Begriff Pazifismus ganz. 
„HEILINGSETZER: Russell, Freund dir, schätzt dich ganz groß. Russell verweigert den Kriegsdienst, geht ins Gefängnis, als Pazifist. Du gehst in den Krieg. Hat die Philosophie Russell ins Gefängnis geführt, dich in den Kriege?
MASULA: Natürlich hat die Philosophie Leutnant Wittgenstein in den Krieg geführt. Wie Sie sicher auch, Leutnant Heilingsetzer.
LUDWIG mit ganz kurzem Blick auf Masula: Das macht doch keinen Sinn, Heilingsetzer.“[21]

Die Freiwilligkeit der Kriegsteilnahme als Kundschafter, Späher oder Techniker wird von Wienold als ein philosophisches Problem formuliert. „Die Philosophie stärkt den Charakter“, hatte er Masula behaupten lassen. Doch in welcher Weise sie ihn „stärk“ bleibt offen. Was könnte die Freiwilligkeit der Kriegsteilnahme bei gleichzeitiger Nähe zum Pazifismus durch einen der bekanntesten Pazifisten überhaupt hinsichtlich der Philosophie bedeuten? Könnte es sein, dass Wittgenstein sozusagen lebenspraktisch seine Freiwilligkeit, die Möglichkeit zum freien Willen testen wollte? Im Stück lässt Wienold Russell selbst das Paradox des Pazifismus formulieren.
„LUDWIG sich wieder nicht um Masula scherend: Russell schreibt mir zeigt einen Brief vor, liest: Alles, was ich getan habe, war ganz und gar nutzlos außer für mich selbst. Ich habe keinem das Leben gerettet, den Krieg nicht eine Minute früher zu Ende zu bringen geschafft.
HEILINGSETZER hat mitgelesen und liest jetzt weiter: Wenigstens hatte ich aber nicht Teil am Verbrechen der kriegslüsternen Nationen. Für mich aber eine grundlegende Einsicht und eine neue Jugend.“[22]  

Die Nutzlosigkeit der pazifistischen Haltung und das „Für mich“ haben eine Tragweite in der Philosophie. Der Pazifismus taugt damit vor allem nicht als generalisierende Handlungsanweisung. Die Philosophie kann keine generalisierenden Aussagen treffen, die sich in Handlungen im Leben umsetzen lassen. Womöglich war Ludwig Wittgenstein auf seine Weise für sich ebenso Pazifist wie Bertrand Russell. Es wurde nur weniger offensichtlich. Das Tötungsverbot des Pazifismus‘ muss völlig abgekoppelt werden von der Frage der Männlichkeit und könnte doch einen Wink auf die Gleichgeschlechtlichkeit geben. Wienold setzt die Frage der Männlichkeit dramaturgisch ein. Die österreichischen Offiziere in italienischer Gefangenschaft rechtfertigen ihr Töten mit dem „Sinn“ der Männlichkeit:
„MARZAHN: Der Mann am Maschinengewehr setzt es auf 60 cm über dem Boden und läßt es über den ihm zugeteilten Bereich streichen. So werden die Beine der feindlichen Soldaten getroffen, sie fallen. Jetzt sind Kopf und Oberkörper im Zielbereich und werden getroffen. Das macht den ganzen Sinn. Und ich am MG bin befriedigt. Sehr befriedigt. Glücklich! Glücklich!!
MITTERÄCKER: Wir müssen töten.
HAPPEL und FIEREDER: Und wollen.
SABLATNIG: Krieg ist Krieg.“[23]

Der Sinn des Tötens und die Befriedung am Töten geben der Philosophie Fragen auf, die mit der Konstruktion von Männlichkeit verknüpft sind. Russells Pazifismus bleibt nutzlos und macht keinen Sinn. Philosophisch betrachtet, treibt der Pazifismus dem Krieg den Sinn aus. Daraufhin muss die lebenspraktische wie philosophische Sinnfrage anders gestellt werden. Die von Marzahn ausgesprochene Befriedung ist im Feld des Geschlechtlichen äußerst vertrackt. Sie schwingt aktuell in den Kriegsberichten aus der Ukraine mit, wenn von den Dutzenden tschetschenischen Kadyrow-Anhängern berichtet wird, die getötet worden sein sollen. Und man kann nicht seine Ohren davor verschließen, dass die Erzählung von den Tötungen ihrerseits eine Antwort auf die Forderung nach dem Einsatz strategisch-atomarer Waffen in der Ukraine durch den Maulhelden Ramsan Achmatowitsch Kadyrow. Es gibt die Narrative von der Männlichkeit und – den Krieg. Die verbale Hyper-Männlichkeit Kadyrows spielt derzeit eine wichtige Rolle in den Kriegshandlungen. – Es war nicht zuletzt die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die im Januar 2020 an die Funktion der Sprache und der Sprachspiele bei Ludwig Wittgenstein angeknüpft hat.[24]

Torsten Flüh

Götz Wienold
Wittgenstein in Cassino
Trakls Tod

Wien: Passagen, 2022.
176 Seiten, 12,8 x 20,8
ISBN 978-3-7092-0504-4
21,00 EUR

Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.)
Wittgenstein-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung.
Berlin: J. B. Metzler, 2022
ISBN: 978-3-476-05854-6
e-Book EUR 79,99
Hardcover Book EUR 99,99


[1] Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022.

[2] Götz Wienold: Wittgenstein in Cassino. Trackls Tod. Wien: Passagen Verlag, 2022.

[3] Kim De L. Horizon: Blutbuch. Köln: Dumont, 2022.

[4] Ronja Merkel: Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon: „Ich will niemandem etwas Böses“. In: Der Tagesspiegel 22.10.2022.

[5] Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 8.

[6] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 92.

[7] Carsten Weidemann: Wittgenstein im Schwulen Museum. In: Queer.de vom 16. März 2011.

[8] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 18.

[9] Joachim Schulte: Biografie. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022 S. 9.

[10] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 18.

[11] Siehe zur Geschlechtlichkeit der Kriegserklärung: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.

[12] Hans Biesenbach: Maurice O’Connor Drury. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch… [wie Anm. 1] S. 143.
Ray Monk dockte 1990 mit Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius an ein Zitat von Otto Weininger aus Geschlecht und Charakter an, das er seiner Biografie als Motto voranstellte: „Logic and ethics are fundamentally the same, they are no more than duty to oneself.“ Ray Monk: Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius. London: Jonathan Cape, 1990. (ohne Seitenzahl)

[13] Joachim Schulte: Biografie. In: Ebenda S. 6.
Ray Monk hatte bereits 1990 im Anhang, Bartleys Wittgenstein und die kodierten Bemerkungen, zu seiner Biografie W. W. Bartleys Studie Wittgenstein, ein Leben (München 1983) diskutiert. Bartley hatte Wittgensteins homosexuelle Praktiken direkt mit seiner Philosophie kontextualisiert. Er hatte dabei auf andere als schriftliche Quellen für die Zeit zwischen 1919 und 1929 zurückgegriffen. Die These promisker Sexualpraktiken wurde heftig diskutiert: „Was sagt Bartley eigentlich? Ihm zufolge hat Wittgenstein während seiner Lehrerausbildung in Wien, als er ein eigenes Zimmer hatte, im nahgelegenen Prater einen Ort entdeckt, wo er „derbe junge Männer“ fand, „die sich bereitwillig sexuell auf ihn einließen“ (S. 40).“ Ray Monk: Ludwig Wittgenstein: das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 615.

[14] S. 12.

[15] Siehe dazu: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 16, 2017 19:41.

[16] Joachim Schulte: Biografie. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022 S. 9.

[17] Ebenda S. 16

[18] Ebenda S. 251.

[19] Ebenda S. 28.

[20] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 41-42.

[21] Ebenda S. 43.

[22] Ebenda S. 44.

[23] Ebenda S. 53-54.

[24] Siehe: Torsten Flüh: Von der Notwendigkeit des Agonismus für das politische Leben. Chantal Mouffe spricht mit Peter Engelmann über Demokratie, Populismus und Affekte im Roten Salon der Volksbühne Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2020.

Die formidable Carte Blanche im Julius

Kulinarik – Intelligenz – Kunst

Die formidable Carte Blanche im Julius

Zum kometenhaften Aufstieg des Restaurant Julius am Weddinger Nettelbeckplatz

An die Kegelbahn am Nettelbeckplatz erinnert nur noch das Reklameschild Keglerklause gleich neben den großen Schaufenstern des Julius. Mitten im ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie im April 2020 sollte das Restaurant Julius eröffnen. Plötzlich bildeten sich an Wochenenden längere Schlangen meist jüngerer Menschen vor dem verhinderten Restaurant, um besonders angepriesene Orangenmarmelade in 250-Gramm-Gläsern für einen recht stolzen Preis zu kaufen. Meistens waren die Marmeladengläser schnell ausverkauft. Die Menschenschlangen hatten sich wieder aufgelöst. Mit den ersten zaghaften Lockerungen im Sommer 2020 durfte das Julius seinen Restaurantbetrieb aufnehmen. Ausgerechnet zu jener Zeit, als sich ein wenn auch nicht ganz so katastrophales, so doch spürbares Restaurantsterben wegen der Pandemie in Berlin ereignete, eröffnete Shunsuke Nagaoke am Nettelbeckplatz sein ambitioniertes Projekt Julius.

Die Carte Blanche im Julius ist ein kulinarisches Feuerwerk. Die drei Köche im Julius beginnen ihre Kunst am frühen Vormittag beispielsweise mit der Auswahl der rot geäderten Mangoldblätter, die abends um 19:00 Uhr mit Bohnen und Miso als zweiter Gang auf den Punkt serviert werden. Das Eintreffen der Gäste ist nach Reservierung genau getaktet, damit jeder Gang fast auf die Minute frisch serviert werden kann. Kochen heißt im Julius zunächst einmal eine genaue Taktung, wie sie sonst vielleicht nur in der Musik bekannt ist. Die Carte Blanche als vegetarisches, fleischliches oder aquatisches Menü aus 9 Gängen erlaubt Shunsuke Nagaoke als Chef die größtmögliche Flexibilität bei perfekter Taktung mit Aromen, Texturen, Farben und Formen. Neben dem schmuddeligen Nettelbeckplatz mit seinen Spätis, Romas, Döners, Alkis, Demos, aber auch jungen Familien, Kita, Bonaventure Soh Bejeng Ndikungs Savvy Contemporary[1] und Ernst ebenso wie Silent Green ist das eine internationale Sensation der Nouvelle Cuisine, die nur hier möglich werden konnte.

Meine Besprechung des Julius möchte ich nutzen, um städtische Transformationen in einem Kiez zu beschreiben, der wegen seiner noch niedrigen Mieten genau den Humus für jüngere und junge Menschen bietet, auf dem eine innovative, engagierte Koch-, Kelter- und Fermentierkunst gedeihen kann. Dass sich das Ernst mit Dylan Watson-Brawn als bestem Koch Deutschlands laut Gault-Millau 2022 in einem Restaurant mit 8 Plätzen mitten im Post-Arbeiterviertel, „Ghetto“ und Quartiersbereich Pankstraße ereignen könnte, war einerseits nicht vorherzusehen und andererseits für eine Gastronomie, in der auf höchstem internationalen Niveau gar experimentell gekocht wird, nur folgerichtig. Die Räume des Ernst beherbergten zuvor eine Stehbierkneipe und später einen türkischen Kulturverein, bevor sie zum Gastrotempel wurden. Das Julius darf sich selbst „little brother“ des Ernst nennen. Das Menü Carte Blanche Pesceterian übertrifft selbst kühnste Erwartungen.

Die Shiso-Blätter mit Kohlrabi-Steinpilz-Maki als Eröffnung des Menüs auf eigens gefertigtem Keramikplättchen sind ein grandioser Auftakt. Er bereitet gleich einem Musikstück auf die vielschichtigen Kombinationen und Variationen vor, die folgen werden. Die äußerst intensiven, frischen Shiso-Blätter werden in der japanischen Küche vielfältig verwendet und neuerdings in Brandenburg angebaut. Denn zum Konzept der Küche im Julius gehört die Verwendung hochwertiger regionaler Produkte. Im Süden von Berlin und in Potsdam werden die unterschiedlichsten Gemüse und Gewürze angebaut, um frisch an den Nettelbeckplatz zu gelangen. Natürlich gibt es kaum Menschen, die in Berlin je eine Art Kohlrabi-Maki mit Gelee vom Steinpilz gegessen haben. Zugleich wecken die Shizo-Blätter die Geschmacksnerven in Kombination mit dem wohl gedämpften Kohlrabi, der zur Rolle gewickelt wurde. Auf dem täglich neu ausgedruckten Menü steht einfach „Cep, Shiso, Kohlrabi“. Doch eine der zwei Servicekräfte um die Restaurantmanagerin Inga Krieger erklärt beim Servieren, auf welche Aromen es dem Kochkünstler ankommt.

Mit dem ersten Gang wird bereits klar, auf welchem Handwerksniveau sich Shunsuke Nagaoke mit seinen beiden Assistenzköchen in der kleinen, offenen Küche bewegt. Japanische Aromen und Zubereitungsarten werden auf regionale Produkte aus Brandenburg angewendet, um Kohlrabi in ein kulinarisches Erlebnis zu verwandeln. Der Chefkoch und sein Team wohnen und leben ebenfalls im Wedding. Die Restaurantmanagerin Inga sogar gleich um die Ecke in der Adolfstraße. Denn Gastronomie geht von morgens bis in die Nacht nach 0:00 Uhr. Das derzeit sechsköpfige Team ist an den 4 Öffnungstagen voll und ganz gefordert. Deshalb sind vermeintlich „autonome“ Angriffe mit Spray oder gar mit Steinen auf die Fenster verstörend und zutiefst ungerecht. Sie treffen nämlich wirklich engagierte und hart arbeitende Menschen, die keinesfalls damit reich werden. Leidenschaft spielt hier die größte Rolle. Einst galt der Wedding mit AEG und Osram als Arbeiterbezirk. Dann rutschte er noch bis in die 10er Jahre des neuen Jahrtausend an den sozialen Rand. Jetzt entwickelt er sich mit dem Kulturquartier Silent Green und Savvy Contemporary zum Creative Tank.

Das Visuelle des Menüs geht ins Piktorale: Farbkompositionen. Zum zweiten Gang wird ein dunkelgrünes, gefaltetes Mangoldblatt mit roten Adern auf einem weißen Teller serviert. An den Rändern des Blattes zeichnet sich eine hellere grüne fein abgestimmte Mangoldsoße ab. Wagt man einen Blick in die offene Küche, sieht man wie Shunsuke Nagaoke die Soße mit einem Löffel noch einmal abschmeckt, bevor er sie als grünen Spiegel auf dem Teller verteilt. Daraufhin wird das warme Mangoldblatt mit Bohnen und Miso auf den Spiegel gelegt. Die Handgriffe und Abläufe zwischen den drei Köchen sind eingespielt, fast meditativ konzentriert. Das Mangoldblatt ist auf den Punkt gegart und lässt sich mühelos schneiden, während es zugleich frisch und fest aussieht. Auf der Zunge entfaltet dann die Komposition ihre Eigendynamik bis zum einzelnen Salzkorn.

Jeder Gang ist ein Meisterstück der Logistik. Das wird mit dem dritten Gang deutlich: „Scallop, Hidai, Walnut, Yuzo“. Die Jacobsmuschel für das Sashimi vom weißen Schließmuskel kommt vom Produzenten aus Norwegen. Hidai bzw. die Dorade für das rotgemaserte Sashimi wird frisch aus dem Wildfang an der Mittelmeerküste in Frankreich angeliefert. Auf dem weißen Keramiktellerchen bilden die beiden Sashimi von Form, Farbe und Struktur bereits einen visuellen Kontrast, der auf der Zunge in Textur und Aroma eingelöst wird. Das Kompositionsprinzip der Kontraste, um die Geschmacklichen Unterschiede allererst erfahrbar zu machen, wird hier erkennbar. Kein Vergleich mit einer gegrillten Dorade. Hier kommt es auf den Eigengeschmack an, der eher noch von den Noten der Walnuss und dem klaren Yuzo-Spiegel verstärkt wird. Shunsuke Nagaoke hat in Japan und Frankreich in der Gastronomie gearbeitet und ein umfangreiches Wissen nicht zuletzt über Produzenten generiert, bevor er nach Berlin kam und zunächst im Ernst mit Dylan Watson-Brawn arbeitete.

Der klare Yuzo-Spiegel ist fast unsichtbar und drängt sich gleichfalls mit seiner nuancenreichen Säure nicht auf. Ein gewöhnlicher Zitronensaft könnte den Eigengeschmack von Jacobsmuschel und Hidai übertönen. Doch die ausgewogene Säure mit einem bitteren Hauch unterstützt den Eigengeschmack der Sashimi. Die japanische Zitrusfrucht Yuzo aus womöglich Brandenburger Anbau ist insofern nicht nur eine Marotte. Das Carte Blanche Menü wird auf diese Weise eine Schule des Gaumens. Jede Scheibe vom Sashimi soll nicht nur auf der Zunge zergehen, vielmehr soll sie dort erst ihren Eigengeschmackssinn entfalten. Dafür muss man sich Zeit lassen. Und genau an diesem Punkt spielt das Timing wieder eine entscheidende Rolle. Die Küche lässt den Gaumenkundlern genau die Zeit, die benötigt wird, um sich mit den Noten sinnlich zu beschäftigen.          

Gleich einer symphonischen Komposition kehrt im vierten Gang der Steinpilz mit „Flatbread, Cep, Ricotta“ wieder. Dieser Teil, auf seinem Steingutteller in beige serviert, ist der gehaltvollste wegen des Brotes, der nun dominanten Steinpilze, des Ricotta und der Shiso wie Mangoldblätter. Die Komposition folgt einer fast klassischen Praxis der Setzung und Wiederholung. Erst im Nachhinein entdeckt man auf dem Menü in kleinerer Schriftgröße, dass sich dieser Gang mit „Organic N25 Caviar“ zusätzlich hätte veredeln lassen. Zugleich steckt in dem Zusatzangebot ein Hinweis, auf welch gastronomischem Niveau sich das Julius am Nettelbeckplatz positioniert. Denn der Stör wird auf dem 25. nördlichen Breitgrad in 2.000 Meter Höhe in frischem Quellwasser gezüchtet und nach der japanischen Umami-Methode fermentiert. Dadurch soll der Bio-Kaviar ein nussig-florales Aroma erhalten. N25 Kaviar wird in Spitzenrestaurants in Deutschland, England, Holland, Japan und Hongkong etc. serviert.

Spätestens beim Muscat de Provence im fünften Gang wird die Klimakomponente der Jahreszeit im Menü deutlich. Denn der orangefleischige Muskatkürbis ist im Oktober bestimmt aus Brandenburg. „Muscat de Provence, Sabayone, Marigold“ sind eine herbstliche Sensation aus der Region um Berlin. Der Muskatkürbis schmeckt besonders aromatisch und die Ringelblumen- oder Calendula-Blütenblätter sind nicht nur auf die Kürbisfarbe, vielmehr noch mit der grünen Schaumcreme auf die Aromen abgestimmt. Die Zubereitungsarten und jahreszeitlichen Kombinationen überzeugen. Die Aromen entfalten sich erst auf der Zunge in einer Weise, die man nie für möglich gehalten hätte.

Im sechsten Gang mit „Oyster, Mussels, Savagnin“ kommt wieder eine ganz andere Geschmacksnote zum Zuge, die diesmal in einem grauen Steingutschälchen serviert wird. Die Auster und die Muscheln sind in einem Sud mit Mangold aus Savagnin bzw. einem Traminer aus ökologischem Anbau gegart worden. Die Zubereitungsart verstärkt den Geschmack nach Meer. Was kann in dieser Steigerung intensiver Geschmacksnoten noch folgen? – Die beiden unterschiedlich zubereiteten Stücke von der Makrele im siebenten Gang mit zwei kleinen Tacos aus Mais und einer Blüte der intensiven Kapuzinerkresse sind ein ebenso glaubwürdiges wie finalisierendes Crescendo. Man folgt Shunsuke Nagaokes Kompositionskunst, seinen Kombinationen, komplexen Variationen und intelligenten Einfällen gern.

Es gibt eine kulinarische Intelligenz, die äußerst komplex ist. Sie ist ebenso regional wie international. Japanische, französische, mexikanische, norwegische und deutsche Ebenen werden erforscht, ausprobiert und in der Küche neu komponiert. Dazu müssen unterschiedliche Bereiche praktischen und theoretischen Wissens verarbeitet werden. Das zeigt sich nicht zuletzt in den letzten beiden Gängen der Desserts. Einmal geht es mit „Quince, Pear, Double Cream“ ins stark Fruchtige, das andere Mal ins Nussige mit „Hojicha, Hazelnut“. Einen Quittesaft mit einer Birne zur Crème Double zu servieren, ist intelligent, weil die eher steinige Quitte als Saft allererst ihr Aroma entfalten kann. Der gefrostete Hoji-Tee, der geröstet worden ist, passt wunderbar zur Haselnuss, die allerdings leicht zu allergischen Reaktionen führen kann, wenn sie nicht ebenfalls etwas angeröstet wird.

Die Carte Blanche im Julius ist eine regelrechte Entdeckungsreise der Kulinarik. Sie braucht Zeit, um ihre ganze Faszination zu entfalten. Wenn man sich zu zweit über die Geschmackserlebnisse austauschen kann, dann wird der Genuss noch verstärkt. Es geht nicht um ein Menü für einen netten Abend mit Freunden, die den Geschmackssinn schon wieder stören könnten. Hier wird der Kaffee für ein nicht ganz so frühes Frühstück am Wochenende von Hand geröstet. Das selbstgebackene, würfelförmige French Toast mit Yuzu-Konfitüre aus Eigenherstellung erfreut bis zum Nachmittag, wenn es nicht schon ausverkauft ist. Naturweine und Säfte oder fermentierte Tees sind ebenso gut zum Chillen wie zum Menü am Abend geeignet. Natürlich wird durch eine gute Portion digitaler Vernetzung im Hintergrund alles organisiert. Aber wirklich wichtig ist die Ebene der Handwerkskunst des Kochens. Gerade das kommt bei jungen Gästen aus aller Welt besonders gut an.

Torsten

Julius
Gerichtstraße 31
13347 Berlin
S+U Wedding


[1] Siehe zu Savvy Contemporary und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

Kriegserfahrungen und die Frage der Indentitäten

Nachkrieg – Gefangen – Freiheit

Kriegserfahrungen und die Frage der Identitäten

Zum Musikfest Berlin 2022-Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Kirill Petrenko mit Werken von Iannis Xenakis, Bernd Alois Zimmermann und Luigi Dallapiccolas Oper Il prigioneiro

Die Berliner Philharmoniker haben das Thema Identitäten zu ihrem Saisonschwerpunkt gemacht. Sie rekurrieren mit der „Frage des Standpunkts“ auf Ludwig van Beethoven, „der dem Wiener Adel ins Gesicht“ gesagt habe, „er halte sich selbst für etwas Besseres“.[1] Sucht die Musik, suchen Komponist*innen seit Beethoven alle nach Identitäten? In Beethovens Kompositionen wird die Frage keineswegs einfach beantwortet, wie es nach der kolportierten Anekdote scheinen könnte. Wo bleibt beispielsweise bei der Missa solemnis der „Standpunkt“? Wenn er denn so klar wäre, suchte nicht jede nennenswerte Interpretation einen anderen herauszuarbeiten, wie erst kürzlich besprochen wurde.[2] Der Gefangene (Il prigioneiro) wird im Programm besonders mit dem Saisonschwerpunkt in Verbindung gebracht. Doch spielt er nicht schon bei den kurzen Kompositionen von Xenakis und Zimmermann eine Rolle?

Die konzertante Aufführung von Luigi Dallapiccolas einaktiger Oper mit einem Prolog von 1950 im Nachkriegsitalien wurde von den Berliner Philharmonikern zum ersten Mal überhaupt aufgeführt. Iannis Xenakis‘ Empreintes und Bernd Alois Zimmermanns Sinfonie in einem Satz von 1953 waren dagegen vom Orchester schon früher einmal aufgeführt worden. Alle drei Kompositionen lassen sich mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit hören. In der Musik werden Spuren von Krieg und Unterdrückung hörbar. Es gibt akustische Zeitspuren. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Faschismus und der Zweite Weltkrieg in Italien und Deutschland mit Identitäten operierten, sie einschüchterten und zerstörten. Nach dem Krieg erlebte Il prigioneiro in Italien kurzzeitig vielfache Aufführungen. In der Philharmonie Berlin wurden nun Kirill Petrenko, Wolfgang Koch, Ekaterina Semenchuk und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke sowie der Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker an drei Abenden gefeiert.

Das zehnminütige Stück für ein Orchester mit 85 Musiker*innen Empreintes aus dem Jahr 1975 von Iannis Xenakis eröffnete das Konzert mit Wucht. Zerlegt Xenakis mit der Komposition das Formenrepertoire der Orchestermusik? Erforscht er das Klangspektrum des Orchesters an den Grenzen der Spielpraktiken? Heult der lange Ton G am Anfang schon? Kirill Petrenko legt mit den Berliner Philharmonikern größte Sorgfalt, um Abdrücke oder Spuren bei den Hörer*innen zu hinterlassen. Oder geht es um eine Aktualisierung von Empreintes als Ein- wie Abdrücke und Spuren, die sich dem, um es einmal so zu sagen, schwerverletzten Kriegsveteran Iannis Xenakis akustisch aufdrängten? Die gestaffelten, markanten Blechbläser – vier Hörner, vier Trompeten, vier Posaunen, eine Tuba – drohen mit kriegerischen Fanfaren nahezu apokalyptisch.

Der Krieg als akustisches Angriffsszenario drängt sich beim Hören auf. Das widerspricht einerseits der von Xenakis praktizierten stochastischen Kompositionsweise, die berechnete, visuelle Klangbilder schaffen will. Andererseits blickte der Komponist jeden Morgen in eine zertrümmerte linke Gesichtshälfte als Kriegsverwundung. Iannis Xenakis wurde im Dezember 1944 nach der Befreiung von den italienischen und deutschen Besatzungstruppen unter britischem Kriegsrecht in Straßenkämpfen gegen britische Panzer schwer in der linken Gesichtshälfte verwundet.[3] Er verlor das linke Auge und musste mit einem Glasauge leben. Die Narben als Spuren des Krieges und der politischen Haltung waren nicht nur sichtbar, sondern hatten den Komponisten mit 22 Jahren auch entstellt. Auf den Portraitfotos wählen die Fotografen zunächst Blickwinkel, die die linke Gesichtshälfte im Halbprofil verstecken.

Iannis Xenakis, geb. 1922 in Brăila, Rumänien, wuchs ab 1932 in Griechenland auf und studierte ab 1940 in Athen an der Technischen Nationaluniversität. 1941 wurde Griechenland von den sogenannten Achsenmächten okkupiert und die deutsche Besatzungsmacht begann mit einer umfangreichen Deportation griechischer Juden z.B. aus Thessaloniki[4], politischer Gegner*innen und Zwangsarbeiter*innen. Im April 1941 brachte die deutsche Luftwaffe Flak-Geschütze auf der Akropolis über Athen in Stellung.[5] Iannis Xenakis kämpfte im Widerstand der ELAS gegen die Besatzungsmächte. Wie Plousia Liakata über ihren Widerstand als junge Frau in der ELAS im Zeitzeug*innen-Projekt MOG der Freien Universität Berlin erzählt, wurde ihre Einheit in Karpenisi bombardiert.[6] Das ist das Umfeld, in dem Iannis Xenakis die Besatzung erlebte. Neben der Verwundung durch die britische Armee hatten sich bei Xenakis die weniger bekannten Kriegserlebnisse aus dem Widerstand eingebrannt. Zu denen gehörte offenbar die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe.

Empreintes lässt sich in der Interpretation von Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern als eine Art Fliegerangriff hören. Der lange Ton G erinnerte den Berichterstatter an eine Sirene.[7] Die gestaffelten Fanfaren und Cluster in den Streichern rufen die sogenannten Jericho Trompeten ins Gedächtnis, die als Sirenen zur Einschüchterung des Gegners an den Fahrwerksbeinen der Sturzkampfflugzeuge vom Typ Junkers 87 angebracht wurden.[8] Es handelte sich deshalb, um ein Mittel der akustisch-psychologischen Kriegsführung. Die Tendenz zum Geräusch im Stück korrespondiert mit der Akustik des Krieges. Insofern lässt sich Empreintes als eine Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse aus dem Widerstand der ELAS hören. Über dreißig Jahre nach dem Krieg komponiert Xenakis ein kurzes Musikstück, das die Akustik des Krieges wachruft, die zweifelsohne für ihn traumatisch gewesen war. Das Kriegstrauma gehörte zur Identität des Komponisten.

Das akustische Szenario, das Bernd Alois Zimmermann mit seiner Sinfonie in einem Satz entfaltet, ist ein anderes. Eine Sinfonie in einem Satz ist hinsichtlich der Form ein Paradox. Denn erst die Durcharbeitung der Themen in mehreren Sätzen einer Sinfonie bringt eine solche hervor. Bernd Alois Zimmermann hat sich mehrfach zu seiner einzigen Sinfonie geäußert, indem er die „Nachkriegszeit“ klanglich beschrieb oder noch während des Komponierens von einer „>Symphonia Apocalyptica< oder >Visionen des Johannes von Patmos<“ sprach.[9] Als Angehöriger des Jahrgangs 1918 wird auch in der Werkeinführung von „den mehrfach geschädigten Jahrgängen, der Entfaltungsmöglichkeiten erst durch die ästhetische Blickverengung der NS-Zeit und dann durch den Krieg – mit Verwundungen, Gefangenschaft, Traumata – enorm beschränkt wurden“, gesprochen.[10] Traumata sind zumindest eine Herausforderung für Identitätsbildung. Es muss mit ihnen auf die eine oder andere Weise umgegangen werden.
„Die Sinfonie entstand in der Nachkriegszeit […], die wohl wie kaum eine andere geartet war. Es gab kein Entrinnen; Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, das drängte zur Darstellung, zur Aussage.“[11]

Bernd Alois Zimmermann komponiert durchaus auf eine Darstellung hin. Eine thematische Entwicklung gibt es nicht. Vielmehr setzt die Sinfonie mit einer Art Einschlag oder Explosion ein, die akustische Zerstörung und Ödnis hinterlässt. Wie verhält sich die Komposition zur inneren wie äußeren Trümmerlandschaft? Mit einer Spieldauer von ca. 15 Minuten scheint in der Fassung von 1953 bereits alles gesagt. Und doch ist die Fassung von 1953 nicht einfach ein Zeitgefühl der „Ungeborgenheit“, wie es Zimmermann später sagt. Die Radikalität der Sinfonie in einem Satz bezieht sich eher auf 1947 vor Gründung der Bundesrepublik als auf einen bzw. zwei bereits gegründete deutsche Staaten. Die unmittelbare Nachkriegszeit von 1947 lässt sich anscheinend schwer in ihrer Unbehaustheit und Ödnis in Klänge übersetzten. Doch wie vielleicht keinem anderen Komponisten gelingt es Zimmermann, das Schleichen in den Trümmerstädten musikalisch umzusetzen. Wie von Fern klingen ein paar Takte Marsch an und werden sogleich wieder verworfen. Der Krieg hinterlässt nicht nur Traumata bei Zimmermann, er reicht auch länger in die Zeit hinein. Der Berichterstatter fühlt sich daran erinnert, dass es bis in die jüngste Zeit dauerte, dass Kriegslücken im Stadtbild von Berlin Wedding mit dauerhaften Neubauten geschlossen wurden. Zimmermanns Sinfonie ist ein Zeitstück.

Die Biographie von Luigi Dallapiccola hinsichtlich seiner Kriegs- und Unterdrückungserfahrungen mit Bezug auf Il prigioniero wird bislang weniger beachtet. Vielmehr werden die literarischen Quellen für seine Oper ins Interesse gerückt. Doch Luigi Dallapiccola musste sich nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau, die in Florenz als Bibliothekarin gearbeitet hatte, auf dem Land bis zum Abzug der Deutschen verstecken. Als Lehrer am Luigi Cherubini Konservatorium in Florenz musste Dallapiccola nicht nur an bessere Zeiten glauben, vielmehr entschied er sich, bei seiner verfolgten Ehefrau zu bleiben. Insofern war er als Komponist seiner Oper zutiefst in „die Tragödie der Verfolgung“ verwickelt. Geht es insofern mit Il prigioniero um Werte und eine Kraft des Glaubens an die Freiheit? Lässt sich dieser Glaube im literarisch offenen Handlungsverlauf der Oper als Identität verstehen? Oder wäre das unterkomplex?
„Es wurde mir immer klarer, dass ich eine Oper schreiben müsste, die […] sowohl ergreifend als auch aktuell war; ein Werk, das die Tragödie unserer Zeiten, die Tragödie der Verfolgung, die Millionen von Individuen fühlten und erlitten, schildern sollte.“[12]   

Die konzertante Aufführung der mit 45 Minuten kurzen Oper durch ein hochkarätiges Ensemble mit Wolfgang Koch als „Der Gefangene“ und Ekaterina Semenchuk als „Die Mutter“ hatte den Vorteil, dass weder Bühnenbild noch Inszenierung, sondern allein die Musik im Vordergrund standen. Das ist nicht ganz unwichtig beim sonst ebenso visuellen Genre Oper. Sie beginnt mit der Traumerzählung der Mutter, einer „Ballata“ als Prolog. Die Traumerzählung stellt der Komponist der Oper voran, weil am Schluss wiederum von einem Traum gesungen wird, der sich in die Realität eines Autodafé verkehrt – oder auch nicht. Wird der Gefangene „wirklich“ verbrannt, um seine Freiheit zu erkennen? Die Traumerzählung wird eher als dramatischer Sprechgesang denn als Lied oder Arie und doch hoch emotional von Ekaterina Semenchuk vorgetragen:
„Inzwischen sind sie aufgegangen
die Nebel meines Schlafes.
Allmählich die Eule (Gufo)
ändert seine Eigenschaften:
Die Augen verschwanden, fast wie von Zauberhand,
Die dunklen Kreise bleiben weiß und leer …
Sie graben ihre Wangen und Haare
sie fallen … Ganz plötzlich
König Philip starrt mich nicht mehr an:
es ist der Tod!
Bestürzt stieß ich einen Schrei aus:
„Mein Kind! Mein Kind!““[13]

Der, sagen wir, Wahrnehmungsmodus Traum ist zugleich ein unsicherer, weil sich das Gesehene mehrfach verwandelt. Die Mutter deutet ihren Traum an der Schwelle zum Erwachen selbst und stößt einen Schrei aus. Weiß sie im Voraus von der Verfolgung und tödlichen Bedrohung des Sohnes? Das Wissen des Traumes wird durch visuelle Verwandlungen generiert. Dabei spielt die „Eule“ – „Allmählich die Eule/ändert ihre Eigenschaft“ – eine weitreichende philosophische Rolle. Denn sie spielt bei dem literarisch und philosophisch gebildeten Komponisten, der sein eigener Librettist ist, auf Hegel an. Genauer auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts mit der rätselhaften Formulierung: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Geschichtsphilosophisch ließe sich damit die Nachträglichkeit des Wissens über ein Ereignis bzw. das Ereignis der Verfolgung bedenken. Die Philosophie konnte und könnte demnach die Tragödie nicht verhindern.
„Religion brings little comfort here. Dallapiccola is indeed close to Sartre, for whom man is ‘absolute’ only ‘in his time, in his surroundings, on his parcel of earth’. To put it another way: in so far as Dallapiccola’s work is ‘committed’, it aspires to the quality of the dialectic.
Unmistakably Hegelian in its metaphysical ambition, Sartre’s argument is also Hegelian in structure.“[14]

Wie Ben Earle kürzlich in seiner Studie zu Luigi Dallapiccola und Il prigioniero formuliert hat, funktioniert der Glaube an die Religion in der Oper nicht mehr. – „Religion brings little comfort here.“ – Vielmehr wird mit dem spanischen König Philip und seiner Inquisition die Religion desavouiert. Im katholischen Italien der Zeit zwischen 1944 und 1948 war diese Dialekt mit dem Handlungsrahmen um 1550 im spanischen Saragossa kein geringes unterfangen. Auf dialektisch verschlüsselte Weise wird dem katholischen Italien ein Spiegel vorgehalten. So ganz verstand man Dallapiccolas Textcollage in Italien wohl nicht. Der Wink mit der Eule/Gufo und ihre Tragweite blieb weithin unbeachtet. Selbst Earle schenkt ihr keine Aufmerksamkeit. Vielmehr liest er die Partitur in einer traditionellen Weise. Der Traum endet in einem Vorwissen.
“At the point where the Mother reaches the word ‘Morte!’ (bar 117), the orchestra, which has been at pianissimo or below for some time, breaks in, fortissimo, with the strident three-chord motive of the A section. In Abbate’s terminology, ‘phenomenal’ and ‘noumenal’ regions collide. The three-chord motive becomes a harbinger of ‘fate’, returning at crucial points in the opera: most notably as the Prisoner is about to ‘escape’ (bars 794–801).”[15]

Die Frage nach dem Schicksal (fate) in der Musik als Vorbote (harbinger) und Vorwissen kollidiert mit der „Gufo“. Oder: der Traum endet in der gleichen Ungewissheit, mit der die Oper endet. Wir wissen anhand des Libretto-Textes nicht, ob der Gefangene aus seinem Traum erwachend auf dem Scheiterhaufen verbrennt.
“DER GEFANGENE (fast bewusstlos; geflüstert)
Die Freiheit…
KAMMERCHOR
O Domine Deus!
Languendo, gemendo et genuflectendo…
[Oh, Herr Gott!
Schmachten, Stöhnen und Knien …]
DER GROSSINQUISITOR
Bruder… lass uns gehen…
(nimmt den Gefangenen bei der Hand und geht mit ihm zum hinteren Teil der Bühne).
DER INTERNE CHOR
Et os meum annuntiabit Iaudem tuam…
[Und mein Mund wird deine Rettung verkünden …]
DER GEFANGENE (fast bewusstlos; flüsternd. Aber dieses Mal in einem Ton deutlich fragend.)
Freiheit?“[16]

Welche dramaturgische Rolle spielt der Chor in der Oper, der groß besetzt mit dem Rundfunkchor Berlin besonders viel Beifall erhielt? Der Chor bzw. die beiden Chöre nutzen ausnahmslos die Kirchensprache Latein. Der Chor erhält nicht nur viel Aufmerksamkeit, er wird als Macht komponiert. Am Schluss steht die besonders hervorgehobene Frage „Freiheit?“, die mehr oder weniger direkt auf das katholische Rettungs- und Freiheitsversprechen des Chores – „Und mein Mund wird deine Rettung verkünden …“ – reagiert. Am Schluss der Oper steht ein Fragezeichen hinter der Freiheit, das nicht beantwortet wird. Der Chor erinnert in seiner Komposition an die Funktion des Chores in der antiken Tragödie. Er äußert und verkörpert, was Roland Barthes die Doxa genannt hat, heute vielleicht mit Mehrheitsmeinung zu übersetzen. In anderen Worten: Der Chor wiederholt den Diskurs der katholischen Restauration in Spanien.[17] Es ist diese bedenkliche Funktion des Chores – und viel weniger der Schrecken des Todes –, der für die „Tragödie der Verfolgung“ die größte Rolle spielt.

Il prigioniero ist nach der Argumentationsweise der Dialektik angelegt. Luigi Dallapiccola gibt dem Opernpublikum eine höchst moderne Denkaufgabe, die heißen könnte: Und wie habt ihr Euch verhalten? Die Haltung Papst Pius XII. während der deutschen Besatzung in Italien zur Judenverfolgung dürfte Luigi Dallapiccolo zumindest ansatzweise bekannt gewesen sein. Die gesellschaftliche Ausgrenzung inklusive Verlusts des Arbeitsplatzes in der Bibliothek hatte er mit seiner Frau in Florenz selbst erleben müssen. In dieser historischen Konstellation bekommt König Philipp von Spanien auf einmal ein anderes Gesicht. Das Melodiös, Kantabile des Chores, der schöne Klang täuscht über die dialektische Funktion hinweg – und generiert im Genre Oper Beifall. Doch schon im Prolog hatte der „Coro Interno“, was mit der Doppelbedeutung von inneres Herz und innerer Chor übersetzt werden kann, der Mutter als Individuum, wie es buchstäblich im Libretto heißt, das Wort abgeschnitten:
„IL CORO INTERNO (schneidet das letzte Wort der Mutter ab)
Lass deine Barmherzigkeit, Herr, über uns sein.
Wie wir auf dich gehofft haben.
Lass deine Priester mit Gerechtigkeit bekleidet sein.
Lass deine Heiligen sich freuen.
(Wenn du den Schleier langsam öffnest.)“[18]

Wie stark die Bibliothekarin und Übersetzerin Laura Luzzatto Coen, die zum Katholizismus übergetreten war, um Luigi Dallapiccola heiraten zu können[19], am Libretto von Il prigioniero mitgearbeitet hat, wissen wir nicht. Doch der Prolog nimmt kein schicksalhaftes Wissen vorweg, sondern gibt auf die Funktion des Chores einen dramaturgischen Wink. Der Chor als durchaus faschistische Mehrheitsmeinung „schneidet das letzte Wort der Mutter ab“. Luigi Dallapiccola kannte sehr genau das Wissensschema der italienischen Oper. In den zeitgenössischen Kritiken wird sofort auf Turandot und Cavalleria rusticana verwiesen. Doch der Komponist montiert mit Il prigioniero 1950 das italienische Kulturgut Oper auf völlig andere Weise, die kaum bedacht wird. Die Frage nach der Freiheit wird nicht zuletzt im Kontext einer vermeintlichen Befreiung gestellt, die das faschistische Italien selbst zum Opfer machte. In Anbetracht der jüngsten italienischen „identitären“ Wahlergebnisse aufgrund einer verdrängten und verpassten historischen Aufarbeitung hat Il prigioniero nicht als Identitätsoper, sondern als dialektische Denkaufgabe höchste Aktualität erlangt, die Kiril Petrenko bei seiner Auswahl nicht einmal ahnen konnte.

Torsten Flüh

Berliner Philharmoniker
Digital Concert Hall
Kirill Petrenko dirigiert Dallapiccolas „Der Gefangene“
17. September 2022


[1] Berliner Philharmoniker: Eine Frage des Standpunkts: Saisonthema „Identitäten“. In: Berliner Philharmoniker Saison 2022/2023.

[2] Siehe Torsten Flüh: Von der Kunst der Messe. Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven und Vespro della Beata Vergine von Claudio Monteverdi beim Musikfest Berlin 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2022.

[3] Siehe die detailliertere Biographie auf Englisch in Wikipedia: Iannis Xenakis.

[4] Zur Deportation und Ermordung der griechischen Juden siehe: Zeugenschaft und der vertrackte Grund. Zur deutschen Ausgabe von Heinz Salvator Kounios Tagebuch. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 17, 2016 22:30.

[5] Siehe: Freie Universität Berlin: MOG: Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland: Die Besatzung. (Ohne Datum)

[6] Ebenda mit Archivzugang Plousia Liakata.

[7] Zu Sirenen als Katastrophenschutz und Kriegsakustik siehe: Torsten Flüh: Innere Stimmen. Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. April 2022.

[8] Siehe z.B.: Stuka Siren: Sound As A Weapon. 09.10.2018.

[9] Zitiert nach: Berliner Philharmoniker: Programm Donnerstag, 15.09.22, 20 Uhr … Berlin, 2022, S. 9-11.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 11.

[12] Ebenda S. 13.

[13] Eigenübersetzung nach Libretto in Italienisch und Latein. (archive.org PDF)

[14] Ben Earle: Luigi Dallapiccola and musical modernism in Fascist Italy. Cambridge : Cambridge University Press, 2019, S. 236-237.

[15] Ebenda S. 271.

[16] Eigenübersetzung … [wie Anm. 13].

[17] Zu König Philipp und dem goldenen Zeitalter in Spanien siehe: Torsten Flüh: Der goldene Kreis der Bilder. Zur bezaubernden und verstörenden Schlüsselausstellung El siglo de Oro in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 10, 2016 20:43.

[18] Eigenübersetzung … [wie Anm. 13].

[19] Siehe Wikipedia: Laura Luzzatto Coen.

Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum

Ethnologie – Zirkulation – Museum

Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum

Zur finalen Eröffnung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum mit Benin-Bronzen, Omaha-Kultur und Rundhaus vom oberen Rio Negro

Seit dem 17. September 2022 ist mit dem Ostflügel des Ethnologischen Museums das Humboldt Forum final eröffnet worden. Die Debatten zur Eröffnung des Humboldt Forums seit dem 20. Juli 2021 haben auf überraschende und durchgreifende Weise Wirkung gezeigt. Auf einem Eröffnungssymposium vom 12. bis 13. September 2022 formulierten die internationalen Partner*innen eine gemeinsame Erklärung zu „Würde – Kontinuität – Transparenz“. Diese sieht eine „ständige indigene Vertretung“ im Humboldt Forum vor. Statt der Präsentation von Artefakten wird nun ein „Zirkulationsprinzip“ zwischen dem Museum und indigenen Gemeinschaften installiert.[1] Das sind weitreichende Veränderungen für das Ethnologische Museum und Museum für Asiatische Kunst. Nun werden erstmals Sammlungsstücke präsentiert, die bislang im Depot in Dahlem unsichtbar blieben.

Eröffnet wurde nicht nur ein riesiger Museumsneubau, einer der größten in Europa, sondern eine neue Art partnerschaftlicher Austausch. Zur Pressekonferenz sprachen außer dem Stiftungs-, Museums- und Forumsleiter Teilnehmer*innen des Symposiums aus Nebraska, Bolivien, Indien und Namibia sowie die Vertreterin des European Centre for Sufism. Sie kamen im Gespräch mit der Kuratorin Andrea Scholz und der Ausstellungsdirektorin Anke Daemgen zu Wort. Wynema Morris mit traditionellen Lederschuhen vom Stamm der Omaha und Lehrbeauftragte am Nebraska Indian Community College eröffnete mit einem Statement das Gesprächshalbrund. Für sie und ihre Angehörigen sind die Ausstellungsstücke der Omaha – Federschmuck, Schuhe, Taschen etc. – in Raum 203 nicht tote Gegenstände, sondern lebendige Zeugnisse der Ahnen einer lebendigen, praktizierten Kultur. Statt die Schätze der Vorfahren zurückzufordern, sieht Morris im Humboldt Forum einen Vorteil für die Omaha in Nebraska.

Der Umbruch, der mit d́́́er gemeinsamen Erklärung für das Ethnologische Museum binnen kaum eines Jahres vollzogen wurde[2], ist in der Wissensgeschichte der Ethnologie ein epochaler. Denn der Weg über den Tod, den die Wissensgenerierung seit dem 19. Jahrhundert einschlug, war ebenso für die Ethnologie entscheidend. Für die Präsentation der „Cultural Belongings“ in der Institution Museum mussten diese, wenn nicht gleich der ganze Stamm für Tod erklärt werden. Deshalb hat Wynema Morris‘ Erzählung von der Lebendigkeit weitreichende Folgen. Für die Ethnologie als Teil der Wissenschaft vom Menschen, der Science humaine formulierte Michel Foucault bezüglich der Medizin einmal, verlangte „das Gleichgewicht der Erfahrung (…), daß der auf das Individuum gerichtete Blick und die Sprache der Beschreibung auf dem festen, sichtbaren und lesbaren Grund des Todes aufruhen“.[3] Dagegen wird nun das Wissen von Menschen in der Welt in Gesprächen und Debatten mit ihnen lebendig.  

Das Konzept eines Museum für Ethnologie war seit dem 19. Jahrhundert ein Mortifizierungsapparat, um ein Wissen von sich selbst über die anderen Ethnien zu gewinnen. Größenverhältnisse des Körpers, Maße, Farben und Formen spielten eine hierarchisierende Rolle. Während sich die Lebensbedingungen der Europäer durch die Industrialisierung um 1800 rasend schnell veränderten, trieb der Wunsch nach positivem Wissen die Forschungen an. Dafür mussten nach Foucault sichtbare und unveränderliche Zeichen von anderen und sich selbst durch tote Körper und Dinge generiert werden. Im Humboldt Forum wird den Dingen durch Kooperation mit den Partnern nun ein Eigenleben im Wandel erlaubt. Künstler*innen und Forscher*innen führen die Wandelbarkeit und Vieldeutigkeit von Zeichen und Dingen vor. Sie zirkulieren.

Die historischen Benin-Bronzen werden mit einer Reliefplatte aus Messing von 2022 des Künstlers Phil Omodamwen aus dem Gießerei Workshop in Benin City präsentiert, die die gewaltsamen Ereignisse von 1897 mit dem lebendigen „kollektiven Gedächtnis“ in Nigeria in Beziehung setzen. Geht man heute über den Flohmarkt an der Straße des 17. Juni, dann bieten afrikanische Händler dort Repliken und Nachgüsse der Benin-Bronzen an. Tatsächlich zirkuliert die geraubte Kultur. Wynema Morris trägt Lederschuhe, wie sie in der temporären Ausstellung Gegen den Strom, so die Übersetzung des Namens Umoⁿhoⁿ, zu sehen sind. Die Fotoausstellung Naga Land mit Fotos und Interviews von Zubeni Lotha bringt die indigene Gruppe der Naga in Nordostindien ins Bewusstsein. Mit der Kamera hatte der österreichische Ethnologe Christoph von Fürer-Haimendorf 1936 die Naga mortifiziert und in Kooperation mit der britischen Kolonialmacht eingeordnet. Last but not least wird das Rundhaus im Humboldt Forum vom Oberlauf des Rio Negro in Bolivien mit Institutionen der höheren indigenen Bildung verknüpft, damit Wissen zirkulieren kann.

Der Ausstellungsführer (2022) des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst thematisiert die Zirkulation der Sammlungsstücke in beispielhafter Weise. Das Rundhaus aus Amazonien wird mit dem Artikel Die Welt als Rundhaus von Andrea Scholz zum Paradigma für den Umgang mit Federschmuck, Lendenschurz und Schutzschild vom oberen Rio Negro. Die Ausstellung der Artefakte und ihre museumsarchitektonische Präsentation in Vitrinen werden bereits seit 2014 für diesen Bereich eingespeist in einen neuen Kreislauf von Praktiken und Wissen. 
„Die Ausstellung im Humboldt Forum steht in zweifacher Hinsicht für einen Neubeginn der Zirkulation. Zum einen ist der weitaus größte Teil der Exponate zum ersten Mal überhaupt einer Öffentlichkeit zugänglich. Zum anderen sind einige der gezeigten Stücke seit 2014 Gegenstand eines Kooperationsprogramms mit indigenen Organisationen und Institutionen höherer Bildung indigener Bildung in Brasilien, Kolumbien und Venezuela, dessen Ergebnisse in die Ausstellung einflossen.“[4] 

Diana Milena Guzmán-Mirigõ als indigene Vertreterin und Lehrerin aus Mitú in Kolumbien betonte in ihrem Statement, dass ihre Vorfahren bei uns seien. Für sie und ihre Angehörigen seien es Lebewesen, die heute hier unter uns sind.[5] Die Präsenz der Lebewesen durch die Artefakte, indem indigene Nachfahren über sie sprechen, wird ebenso verbunden mit „der Bewahrung von Territorien“ zum Beispiel der Ye΄kwana.[6] Denn die Territorien der Ye΄kwana-Gemeinschaft werden in Südamerika durch Abholzung, Brandrodung, Sojaanbau, kommerzielle Interessen und Klimawandel vielfach bedroht. Zeit und Raum werden mit der indigenen Wahrnehmung anders erfahren. Für das Rundhaus ist dies in die Museumsarchitektur eingegangen:
„Die Architektur der Ausstellung ist inspiriert durch die Verbindung zwischen Architektur und indigenen Raum-Zeit-Konzeptionen, als direktes Ergebnis der Kooperation mit den Ye΄kwana aus Venezuela und Brasilien, die seit 2015 mit dem Museum partnerschaftlich verbunden sind.“[7]  

Die Pfeile aus der Sammlung vom Amazonasgebiet an der Decke des Raumes 208 lassen sich vielleicht nicht mehr einzeln betrachten, weil sie dem Blick entzogen werden. Dafür wird mit einem Video das Projekt Wissen teilen vorgestellt. Das Wissen, das mit den Sammlungsstücken in den indigenen Kulturen verknüpft wird, soll nicht nur mit den Museumsbesucher*innen geteilt werden, vielmehr soll es wieder in die indigene Bevölkerung eingespeist werden, um durch Erzählungen und Handlungen neu zu zirkulieren. Das geflochtene Schutzschild der Desana vom oberen Rio Negro mit 4 roten und gelben Federpaaren an Liane-Schnüren wird in einer Vitrine ausgestellt, weil eine „Rückkehr zu den Territorien des Ursprungs (…) Krankheiten und Schlimmeres verursachen“ könnte. Es wurde als „wichtiges Schutzwerkzeug eines Schamanen“ gebraucht. Insofern ist es selbst zu einem Wissensträger geworden, dessen Gefährlichkeit nicht ausgeschlossen werden kann.[8]

Das andere oder indigene Wissen, das in den Sammlungsstücken eingeschrieben wurde, erweist sich an dem Schutzschild als ambig. Denn es kann mit ihm ebenso schlechtes wie gutes Wissen verbunden sein. Es kann die Stämme in ihrem Territorium zugleich stärken und schwächen. Als „Schutzwerkzeug“ sollten an dem 72 cm großen Rundschild schlechte Energien, Gedanken oder Flüche abprallen oder von ihm gespeichert werden. Diese Speicherfunktion des Schildes kann größte Gefahren freisetzen. Als Karl von den Steinen 1884 und 1887 das obere Amazonaseinzugsgebiet bereiste und erforschte, spielten die Entdeckungserzählungen und Legenden um den Fluss Schingú eine initiale Rolle. Der Fluss war nämlich durch Pater und Reisende beschrieben worden, die „alle (…) Deutsche gewesen sind“.[9] Doch auch Erzählungen von Goldschätzen, Kautschuk und Rindviehzucht motivierten von den Steinen zu seiner Reise:
„Heutigentags haben die Kautschukhändler am untern Schingú den Nebenfluss Iriry im Verdacht, dass an seinen Ufern die Goldstätte zu suchen sei. Von den Indianern werde mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel erlaube, berichtet, dass an seiner Mündung mehrfach goldführende (weisse) Männer mit Besitz von Rindvieh erschienen seien; obwohl der Iriry wie der Schingú dort, wo sich beide vereinigen, von gebirgigem Terrain eingefasst werden, und keiner der bekannten Indianerstämme Rinderviehzucht treibt. (…)
Das ist der Sagenkreis der Martyrios, die schon so manches Matogrossenser und Paraenser Herz auf die Folter bangster Erwartungen gespannt, bisher aber keinem die ersehnte Seligkeit beschert haben. Da auch wir, wie ich trauernd vorhersagen will, nicht glücklicher gewesen sind als die frühern Expeditionen, will ich wieder den Boden realerer Verhältnisse betreten und die Bedeutung des Schingú, welche für den Handel und Verkehr der Provinz in Frage kommen könnte, (…) darlegen.“[10]

Karl von den Steinen (1855 – 1929) war Mediziner und schafft durch seine Reisen und Publikationen die „Grundlagen für die brasilianische“ Ethnologie.[11] 1884 ist das Deutsche Kaiserreich von 1871 noch jung. Der Schluss des ersten Kapitels seines bei Brockhaus in Leipzig 1886 veröffentlichten Expeditionsberichtes Durch Central-Brasilien des nicht einmal Dreißigjährigen knüpft an die Hoffnungen der Goldmythen an, um „trauernd“ die brasilianische Ethnologie von den Indianern zu begründen. Die Enttäuschung wird sogleich in Fragen von vielversprechendem „Handel und Verkehr“ transformiert. Als Mediziner knüpft von den Steinen an die zeitgenössischen Diskurse und Techniken der rassistischen Vermessung von Menschen an. Auf beispielhafte Weise wird der medizinische Blick, wie ihn Foucault formuliert hat, auf indigene Menschen übertragen.
„… und Antonio für die reinsten Bakaïrí erklärte, diese waren auch mir als die am meisten typischen Physiognomien erschienen und hatten die meiste Ähnlichkeit mit dem Rio novo-Gepräge. Da Antonio derjenige ist, der sich bereden liess, uns zu begleiten, und so in Rio photographirt werden konnte, darf ich auf sein Bild als auf die getreueste Wiedergabe eines echten Bakaïrí aufmerksam machen.“[12]   

Fotografiert wurde Antonio nach der allerneuesten, standardisierten Methode Bertillon bzw. Bertillonage, die Alphonse Bertillon erst 4 Jahre zuvor in Paris bei der Polizei eingeführt hatte. Antonio wird auf gleicher Distanz als Brustbild und im Halbprofil fotografiert. So wird Antonio zuallererst zu einem „echten Bakaïrí“. Karl von den Steinen brachte von seinen Reisen nicht nur Zeichnungen und Fotografien mit, er sammelte offenbar zugleich indigene Schmuckstücke, Pfeile und Masken. 1914 wurde diese Sammlung von Theodor Koch-Grünberg für das Ethnologische Museum angekauft.
„Bei seinen beiden Reisen (1884 und 1887) traf Karl von den Steinen auf eine beeindruckende Varietät an Gesichts- und Ganzkörpermasken aus Holz, Geflecht und Rinderhaut, die meist Wassergeister verkörperten und in der Regel in Paaren auftraten. Obwohl die Welt der Rituale und Artefakte am oberen Xingú durch eine hohe Stabilität gekennzeichnet ist, besteht seitens der Nachfahr*innen ein großes Interesse an den Masken der Vorfahr*innen in der Sammlung Karl von den Steinens.“[13]

Karl von den Steinen urteilt in seiner Sprache der Beschreibung auf dezidiert abwertende Weise über Kopfschmuck und Schnitzwerk als „Erzeugnisse() der primitivsten Schnitzkunst“. Die runde „Bakaïrí-Festhütte“ wird als „Schuppen ähnlich“ beschrieben und die „Menge verschiedenartigster bunter Kopfaufsätze“ entwertet diese eher, als dass sie von den Steinen fasziniert. Die Zeichnung, eines der „über 100 Text- und Separatbilder“, vom Innern der Festhütte zeigt ein eher unordentliches Szenario. Karl von den Steinens methodischer Blick und seine Beschreibungen sind bislang wenig analysiert worden. Der Kopfschmuck wird mit europäischen Bezeichnungen benannt und als vermeintlich beliebige Kombinationen wie auf einem europäischen Damenhut des 19. Jahrhunderts beschrieben:
„Da gab es offene Cylinder aus Bast von Pappdeckelconsistenz, roth mit schwarzen Quadraten besetzt; zwei grosse Cuyen, die eine mit gelben, die andere mit blauen Federchen beklebt, und kleinere, mit rothen und weissen Flächen bestrichen; am Rande hingen Buritífasern, 1 m lang, wie Frauenhaar herab; ein ausgestopfter Balg eines Füchschens, desgleichen einer Otter, beide mit Strohgerüst zum Aufsetzen.“[14]  

Die vermeintliche Objektivität in der Beschreibung der Artefakte schafft ein Zeichensystem, das keinen Sinn abgeben will und daher bedeutungslos, wertlos erscheinen muss. Was auf den Kopf gesetzt wird, hat keine Bedeutung und steht in keinem Kontext der Ahnen und Erzählungen der „Bakaïrí“. Der ärztliche Blick Karl von den Steinens entwertet  und tötet insofern vor allem. Auf diese Weise formuliert er einen ebenso beispielhaften wie verletzenden Machtdiskurs. Diana Milena Guzmán-Mirigõ hat als Forschungspartnerin dagegen ganz anders vom Kopfschmuck gesprochen. Die unterschiedlichen Redeweisen machen lesbar, was durch Karl von den Steinen im Kontext der Ethnologie an Wissen gelöscht worden ist.
„Erwachsene Tänzer tragen einen Kopfschmuck, der mit einer Basis aus kleinen, weißen Federn beginnt, gefolgt von roten Federn und dann größeren gelben Federn. Die weißen Federn auf der Krone symbolisieren die Reinheit, die roten Federn symbolisieren das menschliche Leben – das Blut – und die gelben Federn symbolisieren die Macht des Schöpfers, die Kraft der Sonne. Jedes Element steht in direktem Zusammenhang mit dem Territorium und seine Bedeutung ist dem Herkunftsrecht des jeweiligen Volkes entnommen.“[15]

Erst im Kontext der rituellen Praxis erhält der Kopfschmuck seine Bedeutung hinsichtlich des Territoriums. Doch Karl von den Steinen hatte sich von Anfang in einen „Schuppen“, eine Abstellkammer begeben, obwohl er sich mit dem Rundhaus im mit Bedeutung aufgeladenen, öffentlichen Raum des Stammes befindet. Zu seiner Beschreibung von 1886 gehört ein gewisser Mutwille. Er bemüht sich gar nicht erst, etwas von dem Wissen des Volkes zu erfahren, das in „merkwürdigen Sachen“ bewahrt wird. Er sieht „Flächen“, wo bereits „Ornamente“ zu erzählen beginnen:
„Jedes Ornament verweist sowohl auf eine aus dem Wissen der Ahnen gegebene Kraft, als auch auf eine menschliche Schwäche. Es verbindet den Tänzer mit seinen Vorfahren, Schöpfern und Herren des Universums. Denn im Moment des Tanzes ist der Tänzer nicht nur ein einfacher Mensch: Es ist der Moment, in dem die Ahnen durch jeden Gegenstand und jedes Instrument, das der Tänzer bei sich trägt, wieder zum Leben erwachen, um ihr Wissen an ihre Kinder weiterzugeben.“[16]

Wir wissen nicht, wie Diana Milena Guzmán-Mirigõ ihr indigenes Wissen generiert hat, zumal die Oberschule in Mitú, an der sie arbeitet, eine katholische Einrichtung ist. Die Übersetzung des Wissens, das in jeder Krone, in jeder Maske eingeschrieben ist, um im rituellen Tanz aktualisiert zu werden, bleibt vage und geheimnisvoll. Vielleicht wird es als oral history vermittelt. Vielleicht entspringt es im Tanz eines Zustandes des Vergessens. So genau lässt es sich nicht formulieren und wissen. Es könnte ebenso sein, dass es ein äußerst elastisches Wissen von den Menschen und ihrem Territorium ist. Im museumsarchitektonischen Rundhaus im Humboldt Forum müssen wir uns vor allem daran erinnern, dass der Kopfschmuck mehr ist als das, was wir im materiellen sehen können.

Torsten Flüh

Ethnologisches Museum
Museum für Asiatische Kunst

im Humboldt Forum
Eintritt frei
kein Zeitfenster-Ticket erforderlich
Deutsch, Englisch
Rollstuhlgerecht
Afrika, 2. OG, Asien, 3. OG, Ozeanien, 2. OG
Öffnungszeiten
Mo, Mi, Do, So: 10:00 – 20:00 Uhr
Fr, Sa: 10:00 – 22:00 Uhr
Di: geschlossen


[1] Humboldt Forum: WÜRDE – KONTINUITÄT – TRANSPARENZ. Berlin18.09.2022.

[2] Siehe zum Konzept des Ethnologischen Museums: Torsten Flüh: Von der Supersammlung zum Debattenraum. Nachgedanken zur Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. In NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2021.

[3] Michel Foulcault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt am Main: Fischer, 1988 (zuerst 1963), S. 207.

[4] Andrea Scholz: Die Welt als Rundhaus. In: Humboldt Forum: Ethnologisches Museum – Museum für Asiatische Kunst. München: Prestel, 2022, S. 81-82.p

[5] Diana Milena Guzmán-Mirigõ: Humboldt Forum: Pressekonferenz zur Eröffnung des Ostflügels im Humboldt Forum. Live übertragen am 15.09.2022, ca. 3154s.

[6] Andrea Scholz. Die … [wie Anm. 4] S. 84.

[7] Ebenda S. 85.

[8] Ebenda.

[9] Karl von den Steinen: Durch Central-Brasilien. Expedition zur Erforschung des Schingú im Jahre 1884. Leipzig: F. A. Brochhaus, 1886, S. 5 (Digitalisat)

[10] S. 13. (Digitalisat)

[11] Siehe Wikipedia: Karl von den Steinen.

[12] Karl von den Steinen: Durch … [wie Anm. 9] S. 120-121.

[13] Andrea Scholz. Die … [wie Anm. 4] S. 87.

[14] Karl von den Steinen: Durch … [wie Anm. 9] S. 170.

[15] Diana Milena Guzmán-Mirigõ: ohne Titel. In: Staatliche Museen zu Berlin (Hg.): macht||beziehungen. Ein Begleitheft zur postkolonialen Provenienzforschung in den Dauerausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. Berlin 2021, S. 58.

[16] Ebenda.

Von der Kunst der Messe

Messe – Liturgie – Konzertsaal

Von der Kunst der Messe

Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven und Vespro della Beata Vergine von Claudio Monteverdi beim Musikfest Berlin 2022

Wie verschieden nicht nur wegen eines musikhistorischen Unterschieds von ca. 200 Jahren die liturgische Form der Messe klingen kann, ließ sich beim Musikfest Berlin 2022 mit zwei hochkarätigen Aufführungen nachhören. Das Orchestre Révolutionnaire et Romantique spielte und der Monteverdi Choir sang mit den Solist*innen Lucy Crow, Ann Hallenberg, Giovanni Sala und William Thomas am 31. August unter der Leitung von John Eliot Gardiner die Missa solemnis von 1823/24. Am 14. September folgte die Aufführung der Vespro della Beata Vergine von 1610 durch das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe. Für beide Komponisten war es eine Ausnahme und Herausforderung, eine Messe für die Kirche bzw. den Gottesdienst zu komponieren. In der Forschung ist das mehrfach thematisiert worden.

Wofür und weshalb komponierte der Hofmusiker von Mantua die Vespro della Beata Vergine? War er unzufrieden in Mantua und wollte sich für die Kirchenmusik in Rom beim Papst empfehlen? Warum wandte sich der Klaviervirtuose und Tonkünstler Beethoven dem Genre der Kirchenmusik mit der Missa solemnis zu? Die Fragen sind auf die eine oder andere Weise beantwortet worden. Doch Anlass und Kontext bleiben vage. Zwar folgen beide Komponisten den katholischen Liturgien ihrer Zeit, aber musikalisch sprengen sie die zeitgenössischen Grenzen der Kirchenmusik. Denn Beethovens musikalisches Hochamt konnte kaum noch in einer Kirche, nicht einmal im Wenzelsdom in Olmütz aufgeführt werden. Es erlebte erst am 7. April 1824 von der Philharmonischen Gesellschaft in St. Petersburg im Konzertsaal seine Uraufführung. Philharmonie als Religion? Beim Musikfest wurden beide Konzertmessen vom Publikum frenetisch gefeiert.

Die Orgel als Kirchenmusikinstrument kommt in beiden Messen zum Einsatz. Doch in der Konzeption John Eliot Gardiners (79) verschwindet sie geradewegs aus dem Klangspektrum, weil nicht die Orgel der Berliner Philharmonie, sondern eine kleine, zeitgenössische Kapellenorgel verwendet wird. Beethoven setzt die Orgel vor allem als Begleitinstrument neben den Streichern für den Chor ein, wie sich aus der erstmals 1827 bei Schott gedruckten Partitur ersehen lässt.[1] Es ist das Todesjahr Beethovens, der am 26. März in Wien starb. Welche Quellen lassen sich einsehen? In der musikhistorischen Forschung wird erwähnt, dass es bei der Aufführung in St. Petersburg zu Fehlern durch die Kopisten gekommen war. Die Staatsbibliothek zu Berlin hütet in ihrer bedeutenden Beethoven-Sammlung den undatierten, digitalisierten „Entwurf eines Briefes von der Hand Anton Schindlers betr. Angebot der Missa solemnis an die Höfe Europas“.[2] Nach einem ersten Entwurf mit Tinte wurde dieser offenbar mit Bleistift von Beethovens Sekretär ergänzt. Wie und ob überhaupt dieser Entwurf realisiert wurde, ist nicht bekannt.

Die Verschiebung der Kirchenmusik mit der Orgel zu einem Volumeninstrument in einem groß besetzten Sinfonieorchester zeigt bereits Beethovens Ansatz für die Komposition dieser Messe an. Die Liturgie wird damit als Praxis des Gottesdienstes ebenfalls verschoben, wenn nicht gar ausgehöhlt. Die „Gemeinde“ kann und soll nicht mehr wenigstens passagenweise mitsingen. Die Kenntnis der Orgel als Kirchenmusikinstrument ist heute in den meisten europäischen Ländern nicht mehr beim Konzertpublikum vorauszusetzen. Die Gottesdienste der Katholischen, Anglikanischen und Evangelischen Kirchen werden i.d.R. spärlich besucht. Kirchenaustritte führen zu Zusammenlegungen von Kirchengemeinden oder Schließung, Verpachtung und Umnutzung von Kirchen. Insofern ist die Aufführung der Missa solemnis durch John Eliot Gardiner in der Philharmonie dysfunktional und zugleich treffend, weil der funktionale Kontext bereits bei der Komposition durch Beethoven vage bleibt.

© Fabian Schellhorn

Persönliche, theologische, wirtschaftliche, philosophische und kirchenmusikalische Narrative vermischen sich am Ursprung von Beethovens Missa solemnis. Überliefert ist Beethovens Freundschaft zu seinem Klavierschüler und Mäzen Erzherzog Rudolph von Österreich aus dem Hause Habsburg-Lothringen. Dieser sollte 1820 mit 32 Jahren zum Erzbischof von Olmütz im Kaiserreich Österreich-Ungarn inthronisiert werden. Doch der Kardinal Rudolph erkannte wohl beim Empfang der Partitur, dass eine derartige Kirchenmusik im Norden Mährens nicht zu bewerkstelligen war. Harald Hodeige macht dagegen in seinem Essay für das Programm des Musikfestes Berlin 2022 auf eine von Beethoven ins Manuskript eingetragene Devise als Zitat seines Bekannten und ab 1826 Regensburger Bischofs Johann Michael Sailer aufmerksam. Dieser sei „eine zentrale Figur in der geistlichen Lebenswelt des Komponisten (geworden), der aufgrund seines Hörverlusts und schwerer Erkrankung eine tiefe Lebenskrise durchlitt und Trost suchte“.[3] „Trotz aufgeklärtem Denken stand Sailer Mystik und romantischen Strömungen nahe und propagierte ein inneren Werten verpflichtetes Christentum.“[4]

© Fabian Schellhorn

Mit Beethovens Missa solemnis werden gleich mehrere Fragenfelder eröffnet: Trägt die neuartige (katholische) Messe kirchenreformatorische Züge? Hat Beethoven im Format der Messe sein persönliches Leiden geradewegs hoffnungsselig verarbeitet? Sollte die Messe für ein Hochamt an den katholischen Höfen Europas um 1820 Beethovens Einkommenssituation verbessern, wenn man den Briefentwurf von Anton Schindler bedenkt? Verband Beethoven mit der Zusendung an seinen einstigen Schüler und Mäzen Erzherzog Rudolph als Erzbischof von Olmütz in Mähren an der Grenze zu Schlesien finanzielle Interessen? Erkannte Rudolph gar den abweichenden Charakter der Messe, der die Autorität der Katholischen Kirche mit dem Papst an ihrer Spitze beeinflussen könnte? Oder war Olmütz schlicht zu klein und zu entfernt, um die musikalischen Anforderungen personell zu erfüllen? Oder entwickelte Beethoven beim Komponieren der Missa solemnis eine musikalische Logik, die jene der Messe auf die Spitze treibt und die Form selbst angreift?  

© Fabian Schellhorn

Die Frage der musikalischen Logik betrifft die Kompositionspraxis. Adolf Nowak hat die „Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten“ über einen langen Zeitraum seiner Lehrtätigkeit als Musikwissenschaftler untersucht. 2015 wurde Musikalische Logik als Band 10 der „Studien zur Geschichte der Musiktheorie“ veröffentlicht.[5] Dass Ludwig van Beethoven abschließend bei der Drucklegung seiner Partitur höchste Sorgfalt walten ließ, kann an den überprüften Abschriften für die Stichvorlage im Mainzer Verlag Schott eingesehen werden.[6] Die sorgfältigen Korrekturen legen einen durchdachten Eigensinn der Komposition dar. Überhaupt gibt es mehrere Skizzen zur Missa solemnis, mit denen verschiedene, sagen wir, musikalische Denkmöglichkeiten ausprobiert werden. Das gibt erstens einen Wink darauf, dass sich der Komponist mit dem musikalischen Format der Messe selbst auseinandersetzt. Zweitens wird das Sailer-Zitat „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehen!“[7] als Gefühlsübertragung von christlichem Glauben irreführend. Die Korrekturen könnten ebenso auf die eigensinnigen Abweichungen vom Messe-Format hinweisen.

© Fabian Schellhorn

Adolf Nowak lässt mit Beethoven in der Musiktheorie einen neuartigen Logikbegriff entstehen. Es sei „vor allem die Sonatenform, wie sie Beethoven ausgeprägt hat, die in der Ästhetik als Modell der Bildung und Entwicklung musikalischer Gedanken in Anspruch genommen wird.“[8] Eine derart formulierte Ästhetik der Sonatenform trifft mit der Missa solemnis auf ein Regelwerk, das den „musikalischen Gedanken“ enge Grenzen setzt. Nowak zitiert Friedrich Theodor Vischers Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen von 1857, für die die „Freiheit“ als „freie() musikalische() Gedankenentwicklung“ entscheidend ist.[9] Die Sonatenform als schematisches Denken in der Musik wird im 19. Jahrhundert an die Musik Mozarts und vor allem Beethovens herangetragen.[10] Zugleich transportiert die Sonatenform einen aufklärerischen Gestus der Freiheit des Denkens in der Musik. Wo bleibt dann der Trost? Bei Beethoven wird der „Widerstand gegen das Ordnungsprinzip der Melodie (…) zu einem Versprechen der Freiheit“.[11]

Wie sich beim Musikfest Berlin 2020 an den Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven mit Igor Levitt nachdenken ließ, bietet die Sonatenform als „freie() musikalische() Gedankenentwicklung“ einige Fallstricke. Wohin führt die radikale, musikalische Freiheit? – Es ist nicht zuletzt Theodor W. Adorno, der mit seiner Philosophie der Musik an Ludwig van Beethovens Missa solemnis nach eigener Formulierung scheiterte: „Bislang kam es nicht zur Niederschrift, vor allem weil die Anstrengungen des Autors immer wieder an der Missa Solemnis scheiterten.“[12] Es blieben indessen nicht mehr und nicht weniger als Fragmente. Möglicherweise wurde die Frage des Zusammenhangs, mit der Adorno Beethovens Musik analysierte, zum entscheidenden Problem bei der Missa solemnis.
„Der Z u s a m m e n h a n g bei Beethoven kommt immer dadurch zustande[,] daß der jeweilige Formteil die Tonalität verwirklicht, darstellt, und das Movens, das das Detail über sich hinausstrebt, ist allemal das Bedürfnis der Tonalität nach dem nächsten um sich selber zu erfüllen.“[13]

Die Logik der Tonalität wird denn auch für Adolf Nowak zur entscheidenden Kompositionspraxis bei Beethoven. Im Unterschied zur Melodie produziert die Tonalität im Format der Messe zwischen Kyrie und Agnus Dei musikalische Höhepunkte. Doch indem die Höhepunkte allein aus der Tonalität generiert werden, schießen sie auch ins Leere oder „haben etwas Metphysisches“ wie es unlängst Ricardo Muti formulierte. In der ZEIT hat der Stardirigent gerade in einem Interview gesagt, dass er „fünfzig Jahre gebraucht“ habe, „um die Missa solemnis zu durchdringen“.[14] Anlässlich seines fünfzigjährigen Jubiläums bei den Salzburger Festspielen hatte er 2021 mit den Wiener Philharmonikern und dem Konzertverein Wiener Staatsopernchor im Großen Festspielhaus erstmals die Missa solemnis dirigiert. In den im Internet verfügbaren Ausschnitten von 2021 und 2022 fehlt die Orgel ganz. Die Messe wird zum symphonisch-monumentalen Chorwerk. Man könnte diese Form der Interpretation auch eine Logik der Tonalität nennen, in der der Orchesterapparat und große Chor bis an die Grenzen des tonalen Volumens geführt werden. Alles ist auf Volumen, Größe ausgelegt, das physisch ist, dieses aber nach Muti übersteigen oder hinter sich lassen soll.

Im Unterschied zu Ricardo Muti auf der Breitwandbühne des Großen Festspielhauses in Salzburg nimmt sich John Eliot Gardiners historisch-kritische Interpretation in der Berliner Philharmonie fast schon bescheiden aus. Orchesterapparat und „Denktätigkeit des Subjekts“ wie es Adorno in Bezug auf Kant nennt, stehen fast gegeneinander. Beethoven habe „die durch die Tonalität objektiv bewährten Formen in kritischer Reflexion als Synthesis ermöglichendes musikalisches Apriori reproduziert“.[15] Die musikalische Logik der Missa solemnis setzt auf physisch, akustische Überwältigung durch Volumen. Das funktioniert schon bei John Eliot Gardiner, aber kommt bei Ricardo Muti mit 81 Jahren in einer Art Karajan-Nachfolge zur vollen Entfaltung. Die Praxis der Überwältigung wird von Beethoven eigensinnig mit jedem noch so feinen Notenzeichen durchgeplant, wie die Korrekturen zu den Stichplatten bedenken lassen. Nach erheblichem Furor endet die Missa solemnis auf „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem” – „gib uns deinen Frieden“ fast schon leise. Die finale, liturgisch vorgeformte Bitte um den Sündenerlass, aus dem der Friede erwächst, wird im Konzertsaal vom Publikum kaum noch nachvollzogen.   

Ludwig van Beethovens Missa solemnis schwankt zwischen Kirchenmusikformat und musikalischer Denktätigkeit des Subjekts, das selbst nicht immer weiß, was es denkt. Was mag noch alles in die Komposition als Denken in Musik hineingespielt haben? – Wir wissen es nicht. Beklatscht das überwiegend kirchenferne Publikum heute mehr als eine musikalische Größe, von der es sich überwältigt fühlt und die es für einen Moment genießt? Dona nobis pacem bringt in der aktuellen Welt- und Gaslage trotzdem keinen Frieden mehr. Ob Beethoven damit um seinen eignen Seelenfrieden gebeten hat, wissen wir nicht. Doch das wäre der Wunsch nach Trost gewesen, den Harald Hodeige durch das Zitat unterstellt. Später im 19. Jahrhundert wird der Organist Franz Bruckner seine Musik inklusive Messen und 1852 einem Magnificat in b Dur für den lieben Gott komponieren, an den Beethoven schon nicht mehr so ganz glauben mag.

Claudio Monteverdis bisweilen volkstümlich klingende Vespro della Beata Vergine verdankt sich einem gewissen kompositorischen Pragmatismus. 2017 erklang sie zuletzt mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre unter der Leitung von Justin Doyle im Pierre Boulez-Saal beim Musikfest Berlin.[16] Das Collegium Vocale Gent und sein Ensemble spielte nun die Messe mit Orgel (Lorenzo Feder) und historischen Instrumenten unter Leitung des Barockexperten Philippe Herreweghe. Für die gregorianischen Passagen der Messe zog das Collegium seine Schola Gregoriana unter der Leitung von Barbora Kabátková hinzu. Diese Aufteilung des Vesper in zwei Gesangsgruppen machte die musikalische Kombinatorik aus Gregorianik, Kunst- und Volksmusik bei Claudio Monteverdi noch deutlicher als 2017. Monteverdis Messe ist keinesfalls aus einem, sagen wir, kompositorischen Guss, vielmehr ist das Kombinatorische besonders gut von Herreweghe, der ebenfalls 81 Jahre alt ist, herausgearbeitet.

Gregorianik, Orgel als Begleitinstrument, Volksmusik, Psalm und weltliche erprobte Kunstmusik kommen bei Monteverdi zum Zuge. 1607 hatte er die „Favola in musica“ L’Orfeo am Hof von Mantua aufführen lassen. Erst 1632 ließ er sich unter dem Eindruck der Pestepidemie in Venedig zum Priester weihen. Zuvor hatte er schon seit 1613 als gewählter Kapellmeister am Markusdom gearbeitet. Obwohl Monteverdi 1610 noch als Hofkapellmeister in Mantua arbeitete, pflegte er also eine wesentlich stärkere Nähe zur Kirchenmusik als Beethoven ca. 200 Jahre später. Für die Vespro della Beata Vergine kombiniert er Melodien des bäuerlichen Tanzes aus Bergamo, der Bergamasca, und dem Satzmodell der Romanesca. Die Komposition korrespondiert auf musikalischer Ebene mit den Allegorien als Literatur. Der religiöse Sinn entsteht insofern aus einer neuartigen Kombinatorik in Form der Allegorie. Insofern allegoría ἀλληγορία andere Sprache heißt, kündigt sich mit der Allegorie eine Art Übersetzung des Gleichen über mehrere Sprachen bzw. formulierten Bildern hinweg an.

© Fabian Schellhorn

Der Wechsel von Concertos, Psalmen und Antiphon ist selbst auf die Wiederholung als Form in unterschiedlichen Registern angelegt. In Audi coelum/Höre Himmel als Concerto wird die Verknüpfung zwischen Himmel und Erde bzw. Geist und Körper nicht nur als allegorische Erzählung vorgenommen. Vielmehr wird die Funktion des Echos, wie sie Monteverdi schon im L’Orfeo zum Modus der Kommunikation zwischen Mensch und Gott gemacht hatte, nun kirchenmusikalisch eingesetzt. In der Wiederholung antwortet der Himmel als Echo. Auf faszinierende Weise komponiert Claudio Monteverdi einen sinnlosen Natureffekt der Akustik zur sinngesättigten Gegenwart des Himmels und der Jungfrau Maria.
Audi coelum, verba mea,              Höre, o Himmel, meine Worte,
plena desiderio                           die voll Verlangen sind
et perfuse gaudio.                       und vor Freude überströmen.
… audio.                                    … ich höre.
…                                             …  
Dic nam ista pulchra ut luna,         Sprich, ist sie doch schön wie der Mond,
electa ut sol,                              erlesen wie die Sonne,
replet laetitia terras,                   erfüllt mit Freude den Erdkreis,
coelos, maria.                   die Himmel und die Meere.
… Mariá.                                    … Maria.[17]

© Fabian Schellhorn

Das lateinische Reimschema – gaudio … audio/maria. … Mariá – generiert mit winzigen phonetischen Verschiebungen im Echo göttlichen Sinn. Reimdichtung und musikalische Variation generieren ein Frage-Antwort-Echo als eine Wahrheit der Messe. – Orientalis? … Talis./vita? … ita./remedium? … Medium. Die Lobpreisung der Heiligen Jungfrau entsteht aus einer syntagmatischen Operationen. Das gesprochene bzw. gesungene Wort steht bei Claudio Monteverdi unter Anwendung einer barocken Rhetorik ganz im Vordergrund der kirchenmusikalischen Form. Nowak nennt das eine „Umwandlung sprachmelodischer in musikalische Logik“. Der „Sinn des gesprochenen Satzes“ kann nach Nowak bei Monteverdi „durch die Sprachmelodie ausgedrückt“ werden.[18] Die barocke Form der Messe folgt einem rhetorischen Regelwerk, das die Wahrheit in der Anwendung und Wiederholung der Regeln selbst findet. Vielleicht ist die Praxis des Komponierens nach kombinierten Regeln Monteverdis eigentlicher Beitrag zum Format Messe. Als Markusdom-Kapellmeister gestaltet Monteverdi denn auch ein ausgeklügeltes Regelwerk auf einander folgender kirchenmusikalischer Ereignisse.

Torsten Flüh   


[1] Ludwig van Beethoven, Messe für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel (D-Dur) op. 123 (Missa solemnis), Stimmen, Schott, 2534, Mainz: Schott, 1827. (Beethoven-Haus).

[2] Die genau Entzifferung des Briefes wurde bislang nicht geleistet. Nicht ganz auszuschließen ist, dass es sich bei den Bleistift-Notaten um Ergänzungen von Beethoven selbst handelt. Denn er war bereits ertaubt.

Beethoven digital: Entwurf eines Briefes von der Hand Anton Schindlers betr. Angebot der Missa solemnis an die Höfe Europas. Staatsbibliothek zu Berlin. (Digitalisat)

[3] Harald Hodeige: „Mein größtes Werk“. Beethovens Missa solemnis. In: Musikfest Berlin: 31.8.2022 Orchestre Révolutionnaire et Romantique & Monteverdi Choir – John Eliot Gardiner Ludwig van Beethoven Missa solemnis. Berlin 2022, S. 6. (Abendprogramm)

[4] Ebenda.

[5] Adolf Nowak: Musikalische Logik. Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten. Hildesheim: Olms, 2015.

[6] Beethoven-Haus Bonn: Ludwig van Beethoven, Messe für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel (D-Dur) op. 123 (Missa solemnis), Partitur, Überprüfte Abschrift. Beethoven-Haus Bonn, NE 269.

[7] Zitiert nach Harald Hodeige: „Mein … [wie Anm. 3] S. 6.

[8] Adolf Nowak: Musikalische … [wie Anm. 5] S. 255.

[9] Ebenda.

[10] Siehe zur Sonatenform: Torsten Flüh: Heitere Harmonie und Zersplitterung. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2020.

[11] Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[12] Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. (Herausgegeben von Rolf Tiedemann) Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2004, S. 3 und 10.

[13] Ebenda S. 82.

[14] Ricardo Muti: »Mein Vater fand, Musiker zu werden sei für einen Süditaliener ungefähr so, wie zum Mond zu fliegen« In: DIE ZEIT vom 22. September 2022 S. 46.

[15] Theodor W. Adorno: Beethoven … [wie Anm. 12] S. 293.

[16] Torsten Flüh: Strahlendes Antrittskonzert mit dem Geheimnis der Musik. Justin Doyle bringt Monteverdis Marienvesper mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre zum Strahlen. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 18, 2017 18:53.

[17] IX Concerto zitiert nach Abendprogramm S. 13-14.

[18] Adolf Nowak: Musikalische … [wie Anm. 5] S. 55.