Im gefeierten Zenit der angereicherten Realität

Visualität – Begehbarkeit – Audibility

Im gefeierten Zenit der angereicherten Realität

Zu Susanne Kennedys und Markus Selgs I AM (VR) und ihrer Inszenierung von Einstein on the Beach von Philip Glass und Robert Wilson

Frenetisch gefeiert vom Publikum wurde am 1. Juli 2022 auch die zweite der Berliner Aufführungen von Susanne Kennedys und Markus Selgs pausenloser, vierstündiger Operninszenierung von Einstein on the Beach, einer Produktion des Theaters Basel mit den Berliner Festspielen und den Wiener Festwochen. Am Schluss steht das Publikum an der Grenze der Drehbühne und vor dem schmalen Orchestergraben auf dem designten Bühnenteppich, ruft Bravo und applaudiert, als müsse sich nach vierstündiger Non-Stopp-Oper mit rituellen Tanzgesten und zwei Ziegen auf der Bühne eine Faszination entladen. Noch vor geschätzten 20 Minuten hatte sich ein großer Teil des Publikums selbst in der Bühneninstallation mitdrehen lassen. Einzelne hatten die Hand ausgestreckt, um die dressierten Ziegen zu berühren. Wie in einer durch Projektionen angereicherten Welt hatten sich Besucher*innen als vermeintlicher Teil der Inszenierung aufgeführt.

Der Berichterstatter knipst eigentlich immer für seinen Blog drauflos, um eine Visualität vom Geschehen herzustellen. Er weiß nicht, was er sieht und fotografiert. Und dann ist da plötzlich dieser kleine Haustier-Hund vor dem Eingang zum Festspielhaus, der gleich mehrere Blicke auf sich zieht. Ein Hund gehört nicht ins Theater. Doch Tiere gehören bis zum Elefanten zur Geschichte der Oper selbst. Heute seltener, früher im Paris des 19. Jahrhunderts häufiger. Tiere auf den Opernbühnen dieser Welt lösen immer einen Effekt aus. Häufig einen Streichelwunsch, mit dem das Tier auf den oder die Streichelnde aufmerksam werden soll. Streicheln macht glücklich. Susanne Kennedy und Markus Selg laden mit ihrem Angebot auf der Bühne „umher(zu)wandern“ zugleich zum Streicheln ein. Unter einigen Paaren in der Installation gelingt das dann auch. Kennedy und Selg haben mit ihrer Inszenierung etwas geschafft, was selten vorkommt: Das Welterzählungsformat Oper wird mit Einstein on the Beach noch einmal klarer und zugleich radikaler.

Die Virtuelle Realität von I Am und Einstein on the Beach korrespondieren visuell und narrativ miteinander. Zwei Mitarbeiter*innen der Berliner Festspiele begrüßen das Publikum und erklären den Ablauf. Susanne Kennedy geht es um das Ich und das Du. Die Selbstimaginationen und dessen Visualität fast mehr noch als dessen Audibility werden von Kennedy in einer temporären Überschneidung von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart erforscht. Mit I Am unter dem Kopfhörer und der Datenbrille von Oculus werden die Besucher*innen eingeladen, zu sich selbst, sagen wir, auf einer Art fliegendem Teppich zu reisen. Der Raum ist dreidimensional. Die Farben sind intensiv. – Markus Selg und Rodrik Biersteker haben das Visual Design gemacht. Eine männliche Stimme spricht sanft, fast sedierend auf die Ohren der Besucher*innen. Es gibt mehrere Stimmen. Der Text von Susanne Kennedy hat Flow. Virtuelle Realität bietet den Besucher*innen immer auch Entscheidungsmöglichkeiten. Eine blaue Fläche will angeschaut werden. Ich soll den Kopf auf die blaue Fläche, eine Art Fenster richten. Eine Augengraphik erscheint. Dann eine digitale Sanduhr. Das Programm wird geladen.

Mein Körper wird in die VR hineingezogen. Erst stehe ich. Dann setze ich mich auf den runden fliegenden Teppich, den ich entdecke, als ich an mir herunter schaue. Mir kommt die Erzählung Aladin und die Wunderlampe in den Sinn. Zumindest in den trickreichen Filmen, die ich als Kind von Aladin oder dem Baron von Münchhausen im Fernsehen sah, fliegen Aladin und der Baron auf einem Perserteppich. Mein synthetischer Teppich hat ein amorphes Muster. Ich will mich entführen lassen. Eine Glastür öffnet sich nach rechts und links. Ich stoße mit der rechten Schulter an den Türrahmen, als mich der Teppich hindurchfliegt. Doch an meiner Schulter ist nichts zu spüren. Der Film hakt auch nicht. Aha, virtuelle Realität! Alles ist sehr intensiv bunt. Eine Zimmerdecke schiebt sich zur Seite und wallende Wolken werden sichtbar. Dampf. Irgendwann fliegt mich der Teppich zu einer Liegestelle mit Kopfstütze. Ich lege mich neben einen Avatar, dessen Bauchdecke sich gleichmäßig hebt und senkt. Werde ich gleich auf dieselbe Weise atmen?

In der virtuellen Realität ist alles in Bewegung (Programming: Rodrik Biersteker). Blätter bewegen sich. Bauchdecken heben und senken sich. Zimmerdecken geben den Blick auf die Wolken frei, die quellen. Zwutsch – Glastüren öffnen sich zu den Seiten. Die Flammen des Lagerfeuers züngeln. Knistern. Bäume, Farne wiegen sich – im Wind? Sagen wir: im Datenstrom. Sie wiegen sich, als ginge ein Windstoß durch sie hindurch. Es ist alles sehr friedlich. Es geht um mich und das, was ich sehe. Wie ich sehe, dass ich mittendrin bin. Dazu ein Sound (Sound Design: Richard Janssen) auf den Ohren, der mich umschmeichelt. Der Text ist nicht ganz klar verständlich. Vielleicht soll er das auch nicht sein. Es geht um Imagination. Meine Imagination, die irgendwie auch nicht meine ist. Bin ich der fliegende Teppich oder der Baron von Münchhausen? Ist das Lagerfeuer für mich da? Oder weil es so an dieser Stelle programmiert worden ist? Macht das Lagerfeuer mehr, als dass es mich fasziniert?

Irgendwann fliege ich mit meinem Teppich, der eine visuelle Programmierung von Rodrik Biersteker und Ultraworld Productions ist, durch eine Röhre, die in einer großen Höhle endet. Eine Art, wenn ich sie benennen sollte, Mondhöhle aus digitalen Felsen. Wow! Dann geht es hinüber in eine weitere Höhle, in der sich mehrere, bizarre Ringe gleich Himmelsphären umeinander drehen. Alles sehr groß. Monumental. Und ich auf meinem Teppich mittendrin, ziemlich klein, winzig. Alles ausgeleuchtet. Licht ohne Quelle. Unter einem mächtigen Baum – Zweige wiegen sich, Blätter zittern – sitzt ein Wesen, das existiert, dessen Namen ich höre, aber vergessen habe. Ich auf dem Teppich ihm gegenüber. Aber wir sprechen nicht miteinander. Das wäre ja noch etwas gewesen, wenn ich mit ihm gesprochen hätte. – Alexa mach das Licht aus. – Später ein schwebender, digitaler Augapfel mit Wimpern, der mich anblickt.

Auf der Retina spiegeln sich Lichteffekte. Mir ist es etwas unheimlich, wenn mich ein einzelner Augapfel anblickt. Wer blickt? Der Augapfel ohne Nervenbahnen und Sehzentrum im Gehirn? Oder blickt er mich an, weil ich denke, dass er mich anblicken muss. Soll er mir ein Zeichen geben? Für den Psychotiker wird alles zum Zeichen, sagt Jacques Lacan einmal. Man zwinkert ihm zu.[1] Ist das graphisch-mechanische Auf- und Niederschlagen der Wimpern ein Zeichen an mich? – Dann verkehren sich alle visuellen Gebilde in einen leeren Raum, als wolle Susanne Kennedy sagen: Und das bist Du ohne Deine Imaginationen. – Ist es leer in mir? Der fliegende Teppich, auf dem ich saß, ist weg. I AM, ich bin, ich existiere. – Ich setze die Brille und den Kopfhörer ab, hänge sie auf die Halterung an der Wand. – Draußen vor der Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele hat es begonnen zu regnen.

© Susanne Kennedy und Markus Selg in Zusammenarbeit mit Rodrik Biersteker

Susanne Kennedy hätte mit Jacques Lacans Psychose-Seminar vom Oktober 1955 formulieren können, dass das Imaginäre im Realen erscheine.[2] Sie knüpft unterdessen an den Mainzer Neurophilosophen Thomas Metzinger[3], der sich mit der Philosophie des Geistes beschäftigt und in frontiers in Robotics and AI am 13. September 2018 folgende neurophilosophische These veröffentlichte: „The richest, maximally robust, and close-to-perfect VR-experience we currently know is our very own, ordinary, biologically evolved form of waking consciousness itself.”/”Die reichhaltigste, maximal stabile und nahezu perfekte Virtual-Reality-Erfahrung, die wir derzeit kennen, ist unsere ureigene, biologisch entwickelte Form des Wachbewusstseins selbst.”[4] Das liest sich radikal, weil ich dann nur eine „biologisch entwickelte Form des Wachbewusstseins selbst“ bin. Die Neurobiologie wäre dementsprechend ein biochemisches Schaltsystem, dass mir eine VR ins Gehirn spielt. Ich hieße wie in Wolf Singers Walter-Höllerer-Vorlesung an der Technischen Universität Berlin im Juni 2011 ein sich selbst produzierender Effekt der neuronalen Netze.[5] – Psychose oder Neurobiologie?

© Susanne Kennedy und Markus Selg in Zusammenarbeit mit Rodrik Biersteker

I AM, wie es aus nichts beginnt, folgt nicht irgendeinem Narrativ, vielmehr dockt es an eine Welterschaffungserzählung, Genesis, an – „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde.“ Am Anfang war das Nichts, das nichts war. Am Ende werden wir mit dem leeren dreidimensionalen Graphikgitter konfrontiert. Das Gitter ist digital, eine Programmierung oder Modulation aus 0 und 1. Nach Thomas Metzinger hat es die VR schon immer neurobiologisch bei der Gattung Mensch, Homo sapiens sapiens gegeben. Dennoch speist sich die Radikalität seiner These von 2018 aus einer recht aktuellen Umkehrung der Verhältnisse von Mensch und Virtual Reality als relativ junge Technologie. Es ist allerdings 46 Jahre her, dass Philip Glass und Robert Wilson ihr Musiktheaterstück Einstein on the Beach rein pragmatisch ohne Vorwissen entstehen ließen. „We didn’t know where the piece was going – we were too much a part of it.”[6] Doch Susanne Kennedy und Markus Selg inszenieren die vierstündige Non-Stop-Oper ebenfalls als Epos.

Einstein on the Beach als Epos vor Augen und Ohren zu führen, darf man als Invention von Susanne Kennedy und Markus Selg herausstellen. Als im März 2014 im Haus der Berliner Festspiele die quasi restaurierte Originalversion von Einstein on the Beach aufgeführt wurde, wies Robert Wilson auf die Theaterpraxis des Work-in-Progress mit allen Beteiligten hin.[7] Gewiss war schon hinter dem „Happening“ das Epische angelegt. Doch das Zitat von Philip Glass gibt auch einen Wink auf das Imaginäre der Produktionspraxis, die Bilder, Sounds, Performances, Texte entstehen ließ. Die ebenso minimalistische wie eschatologische Choreographie von Ixchel Mendoza Hernandez konzentriert sich ganz auf Gesten, die vage bleiben, doch durch Wiederholungen zu unhintergehbaren Rituale werden. Schon die Zahlenreihen, die die Performer*innen und Tänzer*innen mechanisch vor/zu Beginn der Vorstellung vor sich hinsprechen, wollen und können keinen Sinn ergeben. Die Zahlen von 1 bis 9 lassen sich variieren, sagen aber nichts. Es sei denn, dass sie Zeichen geben. Fotografieren ist ausdrücklich nicht gestattet. Doch immer wieder werden Smartphones zur Abwehr gezückt.

Die Begehbarkeit der Installation auf der Drehbühne durch das Publikum als mit einem Extrazettel im Programm angekündigte Innovation des aktuellen Musiktheaters provoziert derartige Kollisionen von Publikum und Performer*innen, dass sich die inneren Schimpftiraden des Berichterstatters derart zu einer Publikumsbeschimpfung steigerten, dass er gerade aufstehen wollte, als die Projektionen auf der Installation plötzlich erloschen, die Drehbühne stillstand, die Performer*innen das Publikum vom Bühnenrund zu gehen baten, und eine Stimme zu einer Schriftanzeige sagte: „This is you.“ Ploing! Ein innerliches Bravo hörte ich. Geschätzte 20 Minuten weniger als nichts. Bei Robert Wilson war diese Leere und brüllende Stille noch in einen Sternenhimmel geradezu romantisch aufgegangen. Bei Susanne Kennedy gehen einfach die Lichter und Projektionen aus. Das ist tief traurig und berückend schön.   

© Ingo Höhn

Susanne Kennedys Dramaturgie funktioniert gerade dadurch, dass das Publikum alles mitmachen darf. Man könnte sagen, dass beispielsweise seit Richard Wagners Schlusssequenz des „Bühnenweihfestspiels“ Parsifal das Publikum im Festspielhaus sich immer gewünscht hat, mit in der Gralshalle zu stehen und „erlöst“ zu werden.[8] Wagners Parsifal funktioniert so. Aber wie funktioniert denn das „(E)rleben“ des Publikums auf der Drehbühne? Erleben sind heute Smartphone zücken und abdrücken. Möglichst noch als Selfie. Zwei pensionierte Lehrerinnen, nehme ich an, sitzen mit dem Rücken an einen Fels gelehnt und verhalten sich so, als hätten sie die Perspektive gewechselt. Sie wollen gesehen werden. Sie amüsieren sich über das Publikum außerhalb der Drehbühne. Sie tuscheln miteinander. Karussellfahren. Welch eine Gaudi! Die Performer*innen/Tänzer*innen agieren mechanisch. Blicken und sprechen das Publikum an, ohne es wahrzunehmen. Prima Technik. Sehr professionell. Das Publikum will unbedingt angeblickt werden. Doch während einer Aufführung dürfen sich Performer*innen niemals, nie direkt auf das Publikum einlassen. Dann ginge alles kaputt auf dieser Drehbühne. Zappenduster.

© Ingo Höhn

Das Verhalten des Publikums auf der Drehbühne gibt einen Wink. „Auf der Bühne dürfen Sie umherwandern, sich auf die bestehenden Sitzgelegenheiten und den Boden setzen. Die Kapazität ist allerdings beschränkt. Achten Sie bitte auf Ihre Mitmenschen und tauschen Sie hin und wieder die Plätze. So haben alle die Möglichkeit, den Abend aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfahren. Die Drehbühne befindet sich während der gesamten Aufführung in Bewegung.“[9] Die Musik wird anscheinend kaum noch gehört. Sie wird im dritten Teil oder Akt immer schöner. Man könnte in Trance geraten. Weil die Drehbühne sich dreht und Personen sich draufsetzen, muss ein Mitarbeiter der Berliner Festspiele immer darauf achten, dass sich niemand die Patschhändchen klemmt. Während die Mitarbeiter*innen alle Maske tragen, hat sich eine Mehrheit des Publikums vom Maskentragen befreit. Soviel über Solidarität und Achtsamkeit von „Mitmenschen“. Und immer wieder mehr oder weniger heimlich der Griff zum Smartphone.

© Eike Walkenhorst (Performer und Publikum mit Ziege)

Die Installation von Markus Selg erinnert und zitiert das Sternentor aus Fernsehserie Stargate SG-1, das allerdings auf unerklärliche Weise beschädigt ist. Eine Art Ruine des Sternentores, in dem sich Zukunft und Vergangenheit überschneiden. Eine Felsformation mit Höhle und Lagerfeuer wie zu Urzeiten des Anthropozän. Ein kleiner Tempel, in dem Rituale vorgenommen werden und die Ziegen ein Fressnapf findet. Diamanda Dramm hat sich für die Rolle den Kopf scheren lassen und spielt berückend schön die Solo-Geige. Die Performer*innen Suzan Boogoerdt, Tarren Johannson, Frank Willens, Tommy Cattin, Dominic Santia, Ixchel Mendoza Hernández bewegen sich und sprechen immer an der Grenze zur Maschine. Sind sie noch Menschen oder Teil der sich bewegenden Installationsmaschinerie. Einerseits wohnt der Praxis des Tanzes durch die Choreographie immer etwas Maschinelles inne. Das Sound Design von Building Train (Robert Hermann) verschiebt die Stimmen ins Mechanische. Da sprechen heute Alexa oder andere Voice Computer menschlicher mit mir …

Die Frage nach der Virtual Reality, wie sie zwischen I AM und Einstein on the Beach hin- und hergleitet, erinnert immer auch an die Maschine und den Wunsch nach Interaktion. Susanne Kennedy und Markus Selg haben Einstein on the Beach nicht zuletzt mit den aktuellen technischen Mitteln des Theaters radikalisiert. Das gilt nicht nur für die Visualität, sondern auch für die Audibility. Insofern haben sie eine Transformation des epochalen Musiktheaters von Beginn der 1970er Jahre in die 2020er vorgenommen. Erstaunlicher Weise funktionieren die Versprechen auf Partizipation durch Begehbarkeit und Mitmachen immer noch und kollidieren zugleich mit der Realität des Theaters und der Selbstpraktiken.

Torsten Flüh


[1] Zum Zeichen und Zuzwinkern bei Lacan: Torsten Flüh: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[2] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.

[3] Berliner Festspiele: I AM (VR). Programm 30.06.-4.7.2022. Berlin: Berliner Festspiele, 2022, S. 2.

[4] Metzinger TK (2018) Why Is Virtual Reality Interesting for Philosophers? Front. Robot. AI 5:101. doi: 10.3389/frobt.2018.00101
Zu Thomas Metzinger siehe auch: Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.

[5] Siehe Torsten Flüh: Über die Verabschiedung des Ichs in die neuronalen Netze. Wolf Singers Walter-Höllerer-Vorlesung 2011 in der Technischen Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 19, 2011 23:24.

[6] Berliner Festspiele: Einstein on the Beach. Programm 30.6.-3.7.2022. Berlin: Berliner Festspiele, 2022, S. 5.

[7] Siehe: Torsten Flüh: The Moon, the Shooting Star and the Happening. Einstein on the Beach im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 4, 2014 20:46.

[8] Zu Parsifal und der Frage der Erlösung siehe: Torsten Flüh: Das Kreuz mit der Erlösung. Der fliegende Holländer in Kiel und Parsifal an der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 31, 2013 21:44.

[9] Zitiert nach Einlegezettel der Berliner Festspiele vom 1. Juli 2022.

Wechselvolle und dramatische Klimaveränderungen an der Wolga

Fluss – Klima – Mythos

Wechselvolle und dramatische Klimaveränderungen an der Wolga

Zu Janet Hartleys Mosse-Lecture Taming the Volga: Imperial Policies to Control Nature, People and Beliefs mit einer Respondenz von Hans Jürgen Balmes über den Rhein

Angekündigt wurde die Mosse-Lecture von Janet Hartley, die 2021 in der Yale University Press ihr Buch The Volga. A History of Russia’s Greatest River herausgebracht hat, mit dem Semesterplakat Welt im Fluss u.a. gleich neben dem Pförtnerhäuschen zum Innenhof der Humboldt-Universität zu Berlin. Wo dereinst die Zufahrt zur Universität kontrolliert wurde, sitzt schon lange kein die Zugangsberechtigung prüfender Pförtner mehr. Doch seit dem 9. März 2020 blinkt dort eine rote Zahlenkolonne zur Erinnerung und Kontrolle des CO²-Ausstoßes. Angestoßen durch die künstlerisch-wissenschaftliche Intervention der Klimauhr, die „die verbleibende Zeit (anzeigt), in der wir noch CO2 ausstoßen dürfen, bis wir den Betrag erreicht haben, der für ein Überleben auf der Erde zulässig wäre“[1], hat sich die Humboldt-Universität am 9. Dezember 2021 zu „einer Endenergie- und CO2-Einsparung von mindestens 27 Prozent für direkte CO2-Emissionen und mindestens zehn Prozent für indirekte CO2-Emissionen (verpflichtet)“.[2]

Die Klimauhr tickt nicht, aber sie blinkt rot, nicht zuletzt für die Flüsse dieser Erde. Stand sie am 9. März 2020 bei 5 Tage 14 Stunden 28 Minuten 33 Sekunden, so ist sie kurz vor Beginn der Mosse-Lecture zu Wolga und Rhein auf 414 Tage 18 Stunden 51 Minuten 14 Sekunden gesprungen. – Die Anzeige der Klimauhr für die „verbleibende Zeit“ gibt Rätsel auf. Haben wir Zeit dazugewonnen? – Wir werden auf das Klima und die Klimauhr zurückkommen müssen. Janet Hartley richtete ihre Lecture ganz auf die Zähmung (taming) der Wolga aus. Die Naturgewalt der Wolga mit einem Einzugsgebiet von 1.360.000 km² ist seit dem 18. Jahrhundert wohl technologisch gezähmt worden, doch Bevölkerungsgruppen und unterschiedliche Religionen zwischen Muslimen, Juden und russisch-orthodoxem Patriarchat entlang der Wolga lassen sich schwer kontrollieren. Denn das Einzugsgebiet der Wolga ist fast viermal so groß wie die gesamte Fläche der Bundesrepublik Deutschland mit 357.588 km².

Die Mosse-Lectures haben im Sommersemester 2022 einige wenige Flüsse der Erde zum Thema zwischen Geopolitik, Geschichten, Ökologie und Anthropozän gemacht. Gerade wird von der deutschen oder gar Welt-Öffentlichkeit das Schicksal von Euphrat und Tigris im Irak ignoriert. Das Zweistromland gilt als Wiege zumindest der westlichen Menschheit und ihres Wissens von sich selbst. Im Sommersemester 2016 hielt Stefan Maul seinen Vortrag über Wahrsagekunst im Alten Orient zum Semesterthema Zukunftswissen. Vom Orakel zur Prognostik am Beispiel der berühmten Orakellebern[3], die schon Aby Warburg als Wissensobjekte in seinem Bilderatlas Mnemosyne und Georges Didi-Huberman für sein Buch Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft (2016) beschäftigt hatten.[4] Im August 2021 gab der irakische Wasserressourcenminister Mahdi Rasheed al Hamadani an, dass der Pegel von Euphrat und Tigris nur halb so hoch sei wie in den letzten Jahren.[5] Im Juni 2022 beschwerte sich der seit Oktober 2021 regierungslose Irak über die Türkei und den Iran, die die Flüsse und Zuflüsse kontrollierten und den Irak von der Hauptwasserversorgung abschnitten.
“Iraq lost half of its inflow of the waters of the Tigris and Euphrates rivers because of Turkish dams and Iran’s cutoff of most tributaries”.[6]

Klimawandel und national wie religiös motivierte Geopolitik z.B. zwischen Sunniten und Schiiten in einem durch den Islamischen Staat und den fingierten Irak-Krieg der Administration von George W. Bush destabilisierten und besetzten Irak (2003-2011) führen im einst paradiesischen Zweistromland zur Verwüstung, Trinkwasserrationierung, Sandstürmen und Missernten an Weizen.[7] Die Mosse-Lectures haben als Beispiel schon den Nil mit dem Vortrag The Nile. History’s Greatest River and the Confluence of Hydropolitics, Empire and the Postcolonial World von Terje Tvedt am 19. Mai berücksichtigt. Dem Organisationsteam geht es darum, ein „Nachdenken über die raumstrukturierende Dimension der Flüsse, über ihre geographische, geopolitische, wirtschaftshistorische und ökologische Bedeutung mit ihrer Reflexion als Ressource der Selbstdeutung vormoderner und moderner Gesellschaft zu verbinden“.[8] Die Wolga strukturiert die Erde auf eine besondere Weise, insofern sie als größter Fluss Europas gilt. Gleichzeitig dient sie zumindest nach einigen Geographen als dessen kontinentale Grenze zu Asien. Als östliche Außengrenze wird ihre Grenzfunktion vom Fluss Ural wie dem gleichnamigen Gebirge in Russland streitig gemacht.[9]

Die Grenze spielt ebenso in Janet Hartleys Geschichte der Wolga eine prominente Rolle. Bis zur imperialen Ausdehnung der russischen Macht im 19. Jahrhundert bildete sie die südliche Grenze beim heutigen Wolgograd. Das russische Zarenreich, an das Wladimir Putin aktuell durch seinen Selbstvergleich mit Zar Peter I. bzw. Peter den Großen andockt[10], der zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch ein Kanalsystem die Wolga mit der Ostsee verbinden ließ, machte sie zu einer Art wirtschaftlichen, kulturellen und geopolitischen Lebensader, die auf Toleranz basierte, wie Janet Hatley es formuliert:
„The tolerance by the Russian Empire of cultural distinctiveness that did not threaten central power has led it to be termed the  ̀Empire of Difference ́; but was also a practical way of managing the periphery with a small bureaucracy and limited recourse of military force. The result was that by the early nineteenth century, the Volga lands from the north to the south of the river were fully incorporated into the empire. (…) The new unsettled southern border of the Russian Empire was no longer the Volga, but the north Caucasus.”[11]

Ethel Matala de Mazza gab in ihrer Anmoderation der Vorträge von Janet Hartley zur Wolga und Hans Jürgen Balmes‘ Respondenz mit dem Rhein einen Hinweis darauf, dass bei der Planung des Semesterthemas vor allem das Klima in geographischer Hinsicht eine Rolle gespielt habe. Zwischenzeitlich habe sich das politische Klima mit Russland gewandelt, so dass Janet Harleys Vortrag über die russische Geopolitik eine ganz andere Relevanz angenommen habe. Hinzukam bei der Mosse-Lecture im Senatssaal der Humboldt-Universität eine unzeitige Hitzewelle, die die Temperaturen deutlich über ungewöhnliche 30° Celsius steigen ließ und dazu führte, dass Professorin Hartley sich während ihres Vortrages kurzzeitig setzen musste. Das Fließen im mehrdeutigen Titel Welt im Fluss nahm nicht zuletzt mit Wink auf Heraklits πάντα ῥεῖ (alles fließt) ganz konkret eine weitere Bedeutungsvariante an. Ganz zu schweigen von Wladimir Putins Drohungsrhetorik seit dem 22. Februar 2022[12], die viele zum Schwitzen bringt.

Der Begriff Klima hat insbesondere im 20. Jahrhundert in der deutschen Sprache ein breites Bedeutungsspektrum zwischen dem „durchschnittliche(n) Zustand der Atmosphäre“ in einem „bestimmte(n) geografische(n) Gebiet“ und „durch psychologische, soziale o. ä. Umstände bedingte Stimmung, Atmosphäre unter Personen‍(gruppen), in Institutionen, zwischen Staaten“ angenommen.[13] Um 1800 blieb das Klima kurz und gut auf einen „Theil der Erdkugel, welcher zwischen zwey mit dem Äquator parallel gehenden Zirkeln lieget, besonders in Ansehung der Witterung“ beschränkt.[14] Da hatte der Berliner Pastor, Philosoph, homme de lettres und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften Johann Heinrich Samuel Formey im Artikel climat der Erstausgabe der Encyclopédie bereits eine „Tabelle der halbstündigen Klimazonen“ (Table des climats de demi-heure) veröffentlicht.[15] Die Klimauhr im Pförtnerhäuschen der HU kombiniert zunächst einmal zwei Begriffe von geographischem Klima und Uhr als Zeitmessungsinstrument, die bislang so nicht auf einander bezogen wurden.

Deutete sich um 1800 bereits eine Berechenbarkeit des Klimas mit Formeys „Tabelle“ und den „Zirkeln“ aus der Geometrie an, blieb aber mit der „Witterung“ noch elastisch, so wurde der Gebrauch des Begriffs einerseits im 20. Jahrhundert immer stärker mit Daten verrechnet, um andererseits in weiteren Wissenschaftsbereichen wie Psychologie, Soziologie, Ökologie, Ökonomie – Wirtschaftsklima(!) – etc. eine eher elastische Verwendung zu finden. Die „KLIMA-UHR“, so ihre Schreibweise der „Wissenschaftler*innen der Humboldt-Universität zu Berlin, die sich mittwochs um 13 Uhr unter dem Motto „ClimateWednesday“ an diesem „Klimahäuschen“ treffen“, zeigt, jene Zeit an, die wir „zum Schaden zukünftiger Generationen und auf Kosten unserer Umwelt und anderer Menschen weiter CO2“ nach dem 15. März 2020, als das „Klima-Budget“ der Bundesrepublik Deutschland aufgebraucht wurde, verbraucht haben.[16] Berechenbarkeit und Kontrolle spielen für das durch Flüsse generierte Klima wie für das Klima, das Flüsse hervorbringt, eine menschheitsgeschichtliche Rolle. Im alttestamentarischen Auszug aus Ägypten im Buch Mose 15 können auch die Spuren einer Klimaveränderung gelesen werden, als sich das „Meer“ bzw. ein schwer zu lokalisierendes „Schilfmeer“ für die Israeliten teilt, damit sie hindurchziehen können, und über den sie verfolgenden Ägyptern hereinbricht.   

Janet Hartley sprach in ihrer Mosse-Lecture vor allem den Kontrollwunsch der Wolga und ihrer unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an. – Der Vortrag ist bereits auf dem Kanal der Mosse-Lectures von YouTube verfügbar. – Auf ihrer Flusskreuzfahrt berücksichtigt sie die historischen Verschiebungen und die imperiale Politik Russlands gegenüber den Menschen an der Wolga. Während Katharina die Große deutsche Siedler aus verarmten und überbevölkerten Regionen Deutschlands einlud, sich an den fruchtbaren Ufern der Wolga niederzulassen, ließen sich nomadische Völker muslimischen Glaubens an der Wolga schlecht kontrollieren. Die Großstadt Wolgograd, wo der Zufluss Tsarista in die Wolga mündet, wurde im tatarischen Gebiet durch ein russisches Fort gegründet und hieß bis 1925 Tsarítsyn, um in Stalingrad umbenannt zu werden. Kasan an der Wolga ist zugleich Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan und gilt als Zentrum des Islam in Russland, während nach russischem Zensus „2010 zu 48,6 % aus Russen und zu 47,6 % aus Tataren (lebten). Daneben leben in Kasan zahlreiche weitere, kleinere Minderheiten wie etwa Tschuwaschen, Ukrainer, Mari, Russlanddeutsche, Juden und andere.“[17]

Die Wolga und ihre Bevölkerungsdiversität, die vermeintlich gezähmt ist, bietet, wenn man aufmerksam liest, nicht nur mit den „Ukrainer(n)“ ein gewisses Unruhepotential. Menschen und Bevölkerungsgruppen lassen sich nicht einfach durch Grenzziehungen ruhigstellen. Janet Hartleys Mosse-Lecture erinnert mit der Wolga daran, dass Russlands imperiale Politik immer auch einer gewissen Elastizität bedurfte, die durch den Angriffskrieg auf die Ukraine und ethnische Säuberungen im Donbass ad absurdum geführt wird. Die Russische Föderation oder Wladimir Putins Russland ist keine ethnisch oder religiös homogene Nation, sondern windet sich in den Verstrickungen des russischen Imperialismus. Vielleicht gibt der stalinistische Musical-Film Wolga, Wolga, russisch: Bónra, Bónra von 1938 einen Wink auf die Umkehrung der Verhältnisse als Traum und Trauma. Denn die musikalisch beschwingte Reise der sowjetischen Musikamateure geht nicht vom Norden in den Süden als Fließrichtung der Wolga, sondern von der Stadt Melkowodsk im Ural am Fluss Tschussowaja, der ein Nebenfluss der Kama ist, die in die Wolga mündet, diese hinauf zur Moskauer Musikolympiade.[18] Der Siegeszug der lustigen Musikamateure zieht insofern genau gegen die imperiale Machtstruktur Stalins und der Russen.

Kurz angesprochen wurde die Wolga als eine Art Mutter der russischen Nation wie sie über Wolgograd bzw. den russischen und deutschen Toten von Stalingrad zur monumentalen Siegesstatue geworden ist. An dieser Figur der Wolga als Mutter und Quelle der russisch-orthodoxen, patriarchalen Nation in den Waldaihöhen beim Dorf Wolgowerchowje (Волговерховье, 228 m) ist dann vielleicht doch auffällig, dass der Fluss als Strom vor allem durch seine zahlreichen Zuflüsse entsteht und so die Wolga eher eine Tochter eben dieser wäre. Leider ging Hans Jürgen Balmes mit dem „Vater Rhein“ wenig auf diese mythologisch-geschlechtlichen Unterschiede und Umkehrungen der Flüsse ein. Balmes knüpft mit Der Rhein: Biografie eines Flusses mehr an den Anthropozän-Diskurs und eine poetische Natur- und Kulturgeschichte an, wobei er William Turners Skizzenbuch von seiner Rheinreise auf einem der ersten Dampfschiffe heranzieht.

Über Rhein und Wolga ließe sich noch viel mehr bezüglich ihrer Umwelt nachdenken. Vladimir Sorokin hat in seinen Texten über Russland wie Манарага (Manaraga), einem der höchsten Berge des Ural im Nationalpark Jugyd wa, einem zum UNESCO-Welterbe erklärten Urwald in der Republik Komi mehrfach die Islamophobie thematisiert.[19] In Tartaristan wie Komi leben Muslime. Unterdessen könnte nach einer Analyse der russischen Landwirtschaft von 2021 die Wolgaregion, „wo überwiegend Sommerkulturen angebaut werden“, durch den Klimawandel die höchsten Ertragsrückgänge“ im globalen Norden erleiden.[20] Noch in der Zeit zwischen 2004 und 2007 finanzierte die Europäische Kommission in ihrem Bereich „Klimawandel und Umwelt“ das Projekt „Nachhaltige Lösungen für die Wolga“ mit 1.040.000 €, um eine nachhaltige Wirtschaft, die nicht weiter den Strom verschmutzt, zu fördern.[21] Die mangelnde Kontrolle der russischen Wirtschaft und Industrieunternehmen an der Wolga vermüllt und verdreckt sie weiterhin. Das zumindest hat ihr der Rhein voraus, dass er nicht nur mythologisch und geopolitische, sondern auch hydro-ökologisch wertgeschätzt wird.

Torsten Flüh

Nächste und letzte Mosse-Lecture im
Sommersemester 2022
Norbert Scheuer
»Kleine Flüsse, große Fluten. Szenen vom Hochwasser in der Eifel«
Einleitung und Gespräch: Ulrike Vedder
Donnerstag, den 30. Juni 2022 | 19.15 Uhr
 Senatssaal der HU, Unter den Linden 6 (Berlin)
bzw. als Livestream über den Mosse-Lectures YouTube-Kanal


[1] Stefan Müller: Installation der Klimauhr im Pförtnerhäuschen an der Humboldt-Universität. Flickr: Berlin, 09.03.2020.

[2] Frank Aischmann: Humboldt-Universität und das Land Berlin unterzeichnen Klimaschutzvereinbarung. In: Humboldt-Universität zu Berlin: Presseportal 09.12.2021.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[5] joe: Panik im Paradies. Irgendwo nahe den Flüssen Euphrat und Tigris soll der Garten Eden liegen, heißt es. In: Der Spiegel 30.08.2021.

[6] Faris al-Omran: Conflicts exacerbate drought that threatens millions in Syria, Iraq. In: Al-Mashareq 2022-06-01.

[7] Ebenda.

[8] Mosse-Lectures: Programm: Welt im Fluss. Sommersemester 2022. In: Mosse-Lectures an der humboldt-univesität zu Berlin.

[9] Konrad Weber stellt die Überlegung an, dass die Wolga mit tiefsten Punkten die Grenze sein müsse: „Wenn streng die tiefstmögliche natürliche Stelle zwischen Europa und Asien die Grenze sein soll, verläuft die Grenze zwischen dem schwarzen und dem kaspischen Meer durch die Manytsch-Sümpfe (26 m ü.M.), dann entweder der Wolga entlang und durch den Weissen See (140 m ü.M.) zum Weissen Meer (Route 1) resp. der Kama und Petschora entlang (Kulmination auf 185 m ü.M., Route 2) oder – wenn der Ural noch zu Europa gehören soll – durch den Aralsee und die Flüsse Ischim, Irtysch und Ob (höchster Punkt 113 m ü.M., in der Karte Route 3).“ In: Konrad Weber: Geographische Definitionen: Die Abgrenzungen Europas. Ohne Ort, ohne Jahr.

[10] ZEIT-Online: Putin vergleicht sich mit Peter dem Großen. In: ZEIT-online 10. Juni 2022, 0:29 Uhr.

[11] Janet M. Hartley: The Volga. A History of Russia’s Greatest River. New Haven: Yale University Press, 2021, S. 87.

[12] Zur Kriegserklärung von Wladimir Wladimirowitsch Putin am 22. Februar siehe: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.

[13] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Bedeutungsübersicht: Klima.

[14] Siehe: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801): Klima.

[15] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers : CLIMAT (Paris, 1751, p. 534).

[16] Schreiben der Wissenschaftler*innen auf Briefpapier mit Siegel der Humboldt-Universität zu Berlin ohne Datum neben der Klimauhr.

[17] Wikipedia: Kazan.

[18] Janet Hartley sprach nur kurz im Nachgespräch mit Ethel Matal de Mazza den Film Wolga, Wolga als einen großen und prägenden Mythos des Flusses an. Quelle: Wikipedia: Wolga, Wolga (1938).

[19] Siehe: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote PyramideManaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.

[20] Florian Schierhorn: Analyse: Wird die russische Landwirtschaft vom Klimawandel profitieren? In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 18.11.2021.

[21] CORDIS: Klimawandel und Umwelt: Nachhaltige Lösungen für die Wolga. Ein EU-finanziertes Projekt bestimmte die Herausforderungen in Bezug auf eine nachhaltigen Wirtschaft der Wolga und ging diese an. Europäische Kommission 29 Februar 2012.

Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden

Sprachen – Lesen – Troja

Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden

Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum

Erinnern Sie sich noch an die digitale Ausgabe der ZEIT vom 4. Januar 2022 mit einem Porträt Heinrich Schliemanns von Moritz Asslinger? – Eine Schliemann-Collage – Sophia als Model für den „Schatz des Priamos“ ganz links, Heinrich mit Gelehrtenbrille mittig und antike Vasen rechts, Wüstenlandschaft mit Kamelen als Hintergrund[1] – gleich auf dem Cover mit den Zeilen „200 JAHRE HEINRICH SCHLIEMANN – Vom Entdecker zum Plünderer – Warum der weltberühmte Archäologe, der das alte Troja fand, heute als Dieb dasteht.“ Mittlerweile wurde am 6. Januar 2022, genau an Schliemanns Geburtstag, der Titel redaktionell in Ein deutscher Held und Räuber abgewandelt. Und dann fiel Heinrich Schliemann zur Eröffnung seiner persönlichen Jahrhundertausstellung Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. am 13. Mai 2022 dem russischen Angriffskrieg zum Opfer. Denn Schliemann war ausgerechnet in Russland, nämlich St. Petersburg als Kaufmann zu Reichtum und bürgerlichem Ansehen gelangt, bevor er ca. 1867 nach Kiew zog.

Schliemann liegt gerade nicht im Trend, war bei seinem Tod am 26. Dezember 1890 in Neapel allerdings derart deutscher Mythos geworden, dass BERLIN SCHLOSS 882 48 29 nach ST. NEAPEL telegrafierte: „EIN.AUFRICHTIGSTES.BEILEID.ZU.IHREM SCHWEREN.VERLUSTE (…) .WILHELM.“ Er war so berühmt geworden, dass Kaiser Wilhelm II. persönlich „FRAU.DR…HEINRICH SCHLIEMANN“ kondolierte. Die Kopie des Telegramms wird an der letzten Schauwand vor dem Ausgang der Ausstellung präsentiert. Davon weiß noch nicht einmal Wikipedia etwas. Hoch über der breiten Treppe zur James-Simon-Galerie von David Chipperfield hängt neben dem Eingang das Plakat mit den ikonischen Elementen zu Heinrich Schliemann: Homer-Büste, Schliemann in russischem Schlittenmantel mit Zylinder, Sophia mit dem „Schatz des Priamos“ als Kopfschmuck, die Grabanlage von Mykene. Alles zugeschnitten auf die Formate von Biographie und Archäologie des größten Sohnes von Neubuckow – nordöstlich von Wismar.

Heinrich Schliemann verwandelte sich und sein Leben qua Literaturen in einen Aufstiegs- und Bildungsmythos des 19. Jahrhunderts. Am Ende seines Lebens wird er nicht nur in einem antikisierenden Palast in Athen, dem Ιλίου Μέλαθρον, leben, seine griechische Ehefrau Sophia mit antikem Gold-Schmuck behängen und fotografieren lassen, er wird sich auch in einem bereits errichteten Mausoleum im dorischen Stil auf dem Athener Zentralfriedhof mit Blick auf die Akropolis beisetzen lassen. Seine Kinder aus der zweiten Ehe nannte er nach der griechischen Mythologie Agamemnon und Andromache. Neubuckow und Athener Zentralfriedhof haben eine gewisse Spannweite, wobei sich Schliemann zwischen 1866 und 1870, als er in Paris lebte und Immobilien anschaffte, sicher von der Mausoleum-Architektur des Pere Lachaise inspirieren ließ. St. Petersburg und Paris waren im 19. Knotenpunkte von Handel, Kultur und Lifestyle. 

Weniger historisch-kritische Kontextualisierung einer zu erkundenden Biographie hat man in den letzten 20 Jahren in einer großformatigen Ausstellung wie Schliemanns Welten in Berlin selten gesehen. Als sei das 19. Jahrhundert ein blinder Fleck, wird die umstrittene Lebens-, Erfolgs- und Wissenschaftsgeschichte Heinrich Schliemanns in einem Parcours zwischen Neubuckow und Neapel als mehr oder weniger zufälliger Sterbeort erzählt. Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin und damit Hausherr der von Schliemann generierten Troja-Sammlung macht das Genre der Biographie zum Format der Ausstellung. Gut, das 19. Jahrhundert ist nicht Arbeitsfeld der Vor- und Frühgeschichte. Oder vielleicht doch? Biographie geht – und Heinrich Schliemann hatte dafür ein Gespür – jedenfalls so:
„Leidenschaft, unbedingter Wille, Leidensfähigkeit und große Belastbarkeit sind Eigenschaften, die auch die größten Kritiker Heinrich Schliemann nicht absprechen werden. Sein Erfolg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Zu seiner Ausgangssituation hätte die dauerhafte Ausstellung in einem Krämerladen in Fürstenberg an der Havel besser gepasst. Dass er genau diesen Weg nicht gegangen ist, sondern mit hohem Risiko sich neue Handlungsfelder erarbeitet hat, prägte sein Leben. In Amsterdam erkannte er, dass die russische Sprache ihm eine deutlich verbesserte Position im auf den Russlandhandel spezialisierten Kaufmannskontor verschaffte, seitdem war das Sprachenlernen – 8 bis 13 sind es am Ende gewesen, die er mehr oder minder beherrschte – ein Schlüssel für seinen Erfolg in fremden Ländern und ebenso für das Studium der antiken griechischen Literatur.“[2]

Gleich zu Beginn, wenn die Ausstellungsbesucher nach der Zeitfensterkontrolle die Einführung lesen wollen, hören sie in ihrem Rücken eine nicht ganz unbekannte Stimme. Ausgelöst durch einen Bewegungsmelder erscheint wie der fast Leibhaftige Katharina Thalbach als Heinrich Schliemann. Der Ton wird von der Schauspielerin perfekt gesetzt. Er geht immer leicht ins Aufschneiderische. Textlich handelt es sich vermutlich um Collagen aus Schliemanns biographischen Schriften wie Briefen und Büchern. Thalbach spricht mit einer Klarheit und leichten Ironie, die die Selbstlebenserzählungen ebenso glaubhaft wie leicht übertrieben erscheinen lassen. Gleich beim ersten Auftritt wird eine Taschenuhr des Vaters gezeigt, die zwar nur kurz gezückt und erwähnt wird, aber die allergrößte Bedeutung für Schliemann hat. Alles hat allergrößte Bedeutung für Schliemann, was er erzählt. Man kann sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Denn zweifelsohne wird Katharina Thalbach auf diese Weise zum Star von Troja und all dem antiken Goldschmuck.

Wie bereits in der Einführung von Matthias Wemhoff angeschlagen, werden das Sprachenlernen, das Lesen und Übersetzen in Amsterdam zu einem Lebensthema von Heinrich Schliemann. Was sich allerdings in der biographischen Erzählweise wie von selbst zur Erfolgspraxis des Kaufmanns und späteren Wissenschaftlers entwickelt, wäre ein erster Ansatzpunkt, um das so wichtige Feld des Sprachenlernens und der Umbrüche der Kommunikation wie dem Telegramm aus dem Berliner Schloss in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer zu betrachten. In der Ausstellung wird die von Schliemann selbst formalisierte Methode des Sprachenlernens thematisiert und inszeniert. Sie situiert sich nicht zuletzt an der Schnittstelle einer intuitiv wiederholenden Praxis, deren Formalisierung in mehreren Schritten und ihrer Publikation in Heften, die schließlich zu Büchern anwachsen. Wie erfolgreich diese „Methode Schliemann“ nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht schon für ihn selbst wurde, ist nicht überliefert.

Unterdessen verspricht bis auf den heutigen Tag jedes Sprachlernwerk den Schlüssel zum Spracherwerb in fast müheloser Weise. Es sei denn, man benutzt in aller jüngster Zeit eine Übersetzungssoftware, die für einen spricht, was man nicht versteht und man vertraut darauf, dass verstanden wird, was man sagen wollte. Wäre der Spracherwerb derart unproblematisch, gäbe es keine umfangreiche Diskussion zur Fachdidaktik. So heißt es beispielsweise zu den Prinzipien der Fremdsprachendidaktik beim Goethe Institut, dass die „Schülerinnen und Schüler (…) mit wenigen einfachen grammatischen Strukturen und Mustern einfache Sätze (bilden), zum Beispiel: Sie berichten und erzählen über gegenwärtige und vergangene Ereignisse aus dem eigenen Erfahrungsbereich“.[3] Doch die zur „Methode“ formalisierte Sprachlernpraxis Schliemanns funktioniert anders. Literarische Texte sollen gelesen und wiederholt werden. Der Methode wird in der Ausstellung eine Art Kabinett gewidmet.

Immerhin finden sich im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz gleich zwei Titel zur Methode Schliemann, die nach dessen Tod veröffentlicht wurden. Es handelt sich um Lieferungswerke. Also Teile eines umfangreichen Werkes, das nach und nach geliefert wird. Das Lieferungswerk Methode Schliemann Französisch / [nach dem Herrn Schliemann vorgelegten …] wurde 1896 „vom Oberlehrer Otto Badke“ in Stuttgart begonnen.[4] Und Leo Mannow publizierte eben dort noch 1922 Methode Schliemann zum Selbsterlernen fremder Sprachen: Russisch : nach einem von Dr. Heinrich Schliemann gebilligten Plane unter Mitwirkung bewährter Fachleute auf Grund einer für den Lehrgang eigens verfaßten russischen Originalnovelle für den Selbstunterricht[5] Zumindest postum knüpfen Sprachlehrer im Violet-Verlag Stuttgart mehrfach an die Methode Schliemann als „Selbstunterricht“ an. In der Ausstellung wird zu einem interaktiven Versuch eingeladen:
„Für Schliemann war es beim Sprachenlernen wichtig, jemandem Texte laut vorzutragen. Ob die Zuhörer ihn verstanden, war ihm nicht wichtig. An der Wand siehst du in verschiedenen Sprachen einen kurzen Text aus dem Buch „Telemach“, das Schliemann zum Sprachenlernen nutzte.
Suche dir die Sprache(n) aus, die du vortragen willst.
Stell dich vor den Monitor.
Wir hören dir zu.“[6]

In der Sprachlernforschung hat die Methode Schliemann heute keine weite Verbreitung mehr, wird allerdings gelegentlich zitiert. Die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Samida machte zuletzt 2017 auf sie aufmerksam. Schliemanns Methode wird nach Samida „erstmals ausführlicher in der Vorrede zu seinem 1869 erschienen Buch Ithaka und dann nochmals in seiner Autobiographie, die er seinem Werk Ilios (1881) vorangestellt hatte“, erläutert.[7] Nach den von Samida zitierten Quellen wird die Methode Schliemann erst im Kontext der Autobiographie formalisiert und publiziert. Der russische Kontext, wie er nun prominent von Wemhoff angeführt und in der Ausstellung inszeniert wird, erscheint hier noch nicht. Bei den Heften, die in der Ausstellung gezeigt werden, handelt es sich offenbar um jene postumen aus dem Violet-Verlag in Stuttgart: „Papier, Pappe 1913 privat“. Das biographische Verfahren der Ausstellung erweist sich an dieser Stelle als etwas kühn. Aus der Rückschau erscheint die Methode Schliemann als nur allzu verständlich, was nicht zuletzt einem verlegerischen Konzept zu verdanken ist, das an einen gewissermaßen Über-Lehrer der Nation andockt. Es ist ein wenig wie mit den „Zuhörern“, die auf dem Monitor wie auf einem Dachboden interaktiv verstehend erscheinen.

Die für das Ausstellungskonzept strukturierende Autobiographie als „Einleitung“ von Ilios kommt in der Ausstellung selbst nicht vor. Nachdem das Kaufmannsleben im Teil der James-Simon-Galerie mit dem Aufbruch von Paris nach Griechenland endet, betreten die Ausstellungsbesucher*innen sogleich TROJA. Die Autobiographie als narratives Scharnier von 1881 wird über die Archäologie vergessen, als spielte sie weder für Heinrich Schliemann noch die Erfindung der modernen Archäologie eine Rolle. Dass diesem Text keine Funktion in der Ausstellung zugestanden wird, der schon mit der Eröffnungsformulierung die erzählerische Verknüpfung von Selbstlebenserzählung und Archäologie herstellt, darf zumindest als verblüffend auffallen. Es ist indessen ein Symptom für das Konzept der Ausstellung. Mit den entsprechenden Rahmungen heißt es dort:
„I L I O S.
EINLEITUNG.
AUTOBIOGRAPHIE DES VERFASSERS UND GESCHICHTE SEINER ARBEITEN IN TROJA.
I. Kindheit und kaufmännische Laufbahn: 1822 bis 1866.
Wenn ich dieses Werk mit einer Geschichte des eigenen Lebens beginne, so ist es nicht Eitelkeit, die dazu mich veranlasst, wol aber der Wunsch, klar darzulegen, dass die ganze Arbeit meines späteren Lebens durch die Eindrücke meiner frühestem Kindheit bestimmt worden, ja, dass sie die nothwendige Folge der derselben gewesen ist; wurden doch, sozusagen, Hacke und Schaufel für die Ausgrabung Trojas und der Königsräber von Mykenae schon in dem kleinen deutschen Dorfe geschmiedet und geschärft, in dem ich acht Jahre meiner ersten Jugend verbrachte.“[8]  

Bereits der TitelI L I O S – des Buches, das als Schliemanns Hauptwerk gerahmt und in keinem geringeren Bildungsverlag als Brockhaus in Leipzig 1881 veröffentlicht wird, gibt einen Wink auf das literarische Verfahren, mit dem sich Heinrich Schliemann selbst in die Literatur und Geschichte einschreibt, indem er die „Eitelkeit“ als Motiv verneint und bestätigt. Denn ILIOS ist ein Neologismus, Schliemanns eigene Konstruktion aus Ἰλιάς (Ilias) von Homer und Ἶλος (Ilos) als dem Namen des Gründers Trojas.[9] Der Unterschied von ιά und ο in den altgriechischen Schriften bzw. von a und o wird mit der Autobiographie buchstäblich jener Ort, an dem sich Heinrich Schliemann als „ich“ einschreibt. Und dann beginnt die „Geschichte des eigenen Lebens“ mit „Hacke und Schaufel“. Für einen derart kosmopolitischen, vielsprachigen Kaufmann und Reisenden, wie es Heinrich Schliemann geworden sein wird, ist es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht ganz selbstverständlich, dass er seine Werke und ILIOS Stadt und Land der Trojaner: Forschungen und Entdeckungen in der Troas und Besonderes auf der Baustelle von Troja, soweit bekannt, einzig und allein auf Deutsch veröffentlicht hat.

Die Vielsprachigkeit Heinrich Schliemanns, die so prominent in der Ausstellung gesetzt wird, steht seinen Publikation in Deutsch auf bemerkenswerte Weise entgegen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa wie bei Alexander von Humboldt wäre Französisch die Sprache der Wissenschaft gewesen.[10] Mit fließendem Englisch und Erfahrung im Goldgeschäft in Sacramento, den Vereinigten Staaten von Amerika, hätte Schliemann seine Werke ebenso in der kommenden Weltsprache veröffentlichen können. Für Russisch gab es vielleicht keinen Buchmarkt. Doch ILIOS im Brockhaus-Verlag, dem deutschen Enzyklopädie-Verlag des 19. Jahrhunderts schlechthin, formuliert nicht zuletzt einen Anspruch auf Wissen und Wissenschaft, der ebenso populär wie persönlich platziert wird. Reiste Schliemann ohne Reiseführerliteratur? Brauchte er keine Reiseführer, weil er schon früh seine Methode zum Sprachenlernen entwickelt hatte und sie scheinbar mühelos überall anwenden konnte? Was passierte aber, als er nach China reiste und wie im Ausstellungskabinett einfach Chinesisch drauflos redete? – Es dürfte einige Verwunderung und Unverständnis gegeben haben, wenn ein Wort mit einem falschen Ton ausgesprochen wurde… Oder: Heinrich Schliemann bewegte sich in einem Netzwerk internationaler Kaufleute, in dem man eine „eigene“ Sprache sprach.

Liest man die Autobiographie auch nur ansatzweise ein paar Zeilen weiter, springt ein literarischer Diskurs des 19. Jahrhunderts zwischen Romantik und Vor- und Frühgeschichte förmlich heraus. Zwischen „gespenstische(r) Jungfrau“ und „Hünengrab“ wird „Neu-Buckow“ zur romanesken Schnittstelle annährend aller Diskurse des 19. Jahrhunderts. Die Autobiographie wird zu einer komplexen Erzählung von der deutschen Nation. Ob und was davon stimmt oder von Schliemann erfunden worden ist, bleibt unerheblich. Die Herkunft wird tief in die – noch junge – deutsche Geschichte und ihrer narrativen Elemente eingeschrieben. Denn bei aller internationalen Kaufmannstätigkeit rund um den durch Dampfschiffe und Eisenbahnen zugänglichen Erdball muss die dörfliche Herkunft als Identität konstruiert werden. Heinrich Schliemann wird nicht zuletzt Jules Vermes Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873) gelesen haben, die bekanntlich durch eine Wette in einem Londoner Gentemen’s Club ausgelöst wird.
„In unserm Gartenhause sollte der Geist von meines Vaters Vorgänger, dem Pastor von Russdorf, „umgehen“; und dicht hinter unserm Garten befand sich ein kleiner Teich, das sogenannte „Silberschälchen“, dem um Mitternacht eine gespenstische Jungfrau, die eine silberne Schale trug, entsteigen sollte. Ausserdem hatte das Dorf einen kleinen von einem Graben umzogenen Hügel aufzuweisen, wahrscheinlich ein Grab aus heidnischer Vorzeit, ein sogenanntes Hünengrab, in dem der Sage nach ein alter Raubritter sein Lieblingskind in einer goldenen Wiege begraben hatte.“[11]   

In der Eröffnungssequenz seiner Autobiographie legt Schliemann mit „Neu-Buckow“ alle Motive an, die in Troja aufgehen sollen. Die Herkunft wird zur Bestimmung und Legitimation der Ausgrabungen im untergehenden osmanischen Reich. Schliemann und seine Wissenschaft nicht im Geflecht der Diskurse zu thematisieren, kann nur als Paradox des Ausstellungskonzeptes bedacht werden. Gelingt es ihm doch prototypisch, alle zeitgenössischen Diskurse miteinander zu verknüpfen. Das vorzeitliche Hünengrab wird zur Grablege eines „Lieblingskindes in einer goldenen Wiege“ des romantischen „alte(n) Raubritter(s)“. Voller Verständnis werden hunderttausende Leser*innen bei dieser Kombination „Hünengrab“ und „Raubritter“ genickt haben. Oder kündigte sich das sich selbst erzählende Ich damit als legitimer „Raubritter“ an? – „Sein Leben.“ als Programm wird lächerlich. Die Ausstellung verfehlt in der Charakterologie – „Schliemann war auf Anerkennung und Bestätigung aus, dies scheint ein nicht zu unterschätzender Antrieb für ihn gewesen zu sein.“[12] – jene Fragen an das 19. Jahrhundert und die Archäologie, die brennend wichtig gewesen wären. Mythen und Selbst werden von Schliemann als Verfahren des 19. Jahrhunderts ultimativ enggeführt. – „Sein imposantes Grabmal auf dem Athener Friedhof ziert ein Fries, der Szenen aus der Ilias mit Darstellungen seinen Grabungen verbindet, seine Büste über dem Portal wird von der Inschrift begleitet: Dem Helden Schliemann.“[13] – Das könnte nicht trotz des Reichtums als Kaufmann, sondern wegen diesem als eine Signatur des 19. Jahrhunderts gelesen werden.

Ilias und Ilios als Verfahren einer Aneignung von Mythos und Schätzen, wo Mangel herrscht, werden insbesondere im 19. Jahrhundert zu einer Praxis der Herrschaft, um die Leere zu stopfen. Weil sich die industriellen Erfolgsgeschichten wie z.B. die von August Borsig nicht erzählen lassen[14] und die neuen Könige sie nicht selbst erzählen konnten, wurden sie nachträglich zur Geschichte. Diese Figur lässt sich bis nach Paris verfolgen. Heinrich Schliemann muss den Mangel auf irgendeine Weise gespürt haben. Denn die unablässigen Reisen und Unternehmungen bis in den Goldhandel im Wilden Westen und nach Yokohama könnten auch eine gewisse Ruhelosigkeit verraten. Überhaupt werden der sagenhafte Goldhandel in Sacramento und die Finanzierung von Schürfrechten und Goldschürfen durch teure Kredite zu einer Art Vorspiel der Aneignung der antiken Goldschätze. Denn das vermeintlich urwüchsige Goldschürfen wird über Schliemann bereits durch das internationale Bankhaus Rothschild u.a. in Paris finanziert und organisiert, das seinerseits durch die Finanzierung von Eisenbahnstrecken reich und mächtig geworden ist. In der ruhelosesten aller Städte des 19. Jahrhunderts, in Paris[15], fasst der Mann aus „Neu-Buckow“ den Entschluss, Troja mit Homers Ilias in Hisarlik zu suchen und auszugraben, als handele es sich beim Epos um einen neuzeitlichen Reiseführer. Er findet und zerstört erstaunliches, von dem wir weiterhin nicht wissen, ob es Homers Troja war.

Als ein Verfahren der Aneignung wird von Schliemann ebenso das Erlernen der Sprachen nach seiner Methode in Ilios insbesondere durch Wiederholungen beschrieben. Das ist insofern bemerkenswert, als die Wiederholungen ohne Übersetzungen gleichsam als ein Gedächtnistraining formuliert werden, bei dem es nicht um ein Verständnis des Wiederholten geht. Schliemann liest und lernt „den ganzen „Vicar of Wakefield“ von Goldsmith und Walter Scott’s „Ivanhoe“ auswendig“, ohne zu verstehen oder zu wissen, was er auswendig lernt. Er vertraut insofern auf ein nachträgliches Wissen. Vor allem aber macht er sich eine Art Überzeugungskraft zu Nutze, die dadurch funktioniert, dass er „laut“ spricht und die anderen zuhören müssen. Das Selbstlernen findet zudem wie selbstverständlich in der Nacht statt. Man könnte sie fast eine unbewusste Methode der Aneignung nennen:
„Vor übergrosser Aufregung schlief ich nur wenig und brachte alle meine wachen Stunden der Nacht damit zu, das am Abend Gelesene noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Da das Gedächtniss bei Nacht viel concentrirter ist, als bei Tage, fand ich auch diese nächtlichen Wiederholungen von grösstem Nutzen; ich empfehle dies Verfahren Jedermann. So gelang es mir, in Zeit von einem halben Jahre mir gründliche Kenntniss der englischen Sprache anzueignen.“[16]

Die Autobiographie der Ilios lässt sich lesen und sollte nicht einfach nur wiederholt werden. Daran krankt das Ausstellungskonzept über weite Strecken. Um Schliemanns Fotostudio-Inszenierung mit russischem Schlittenmantel als wohlhabender Kaufmann der Kaufmannschaft von St. Peterburg zu verifizieren, wird ein ebensolcher aus dem Magazin des Ethnologischen Museums in der Ausstellung gezeigt. Das kann man machen, allemal im Heinrich-Schliemann-Museum in Ankershagen, aber für die Staatlichen Museen Berlin Preußischer Kulturbesitz wird das etwas unterkomplex, ja, naiv. Die Autobiographie Heinrich Schliemanns ist nicht mehr und nicht weniger als ein Roman des 19. Jahrhunderts. Ihre Musealisierung mit erstaunlichen Funden in Museumssammlungen und Archiven als Ausstellung knüpft selbst an Praktiken des 19. Jahrhunderts an. Die Kaufmanns- und Edelmetallhandelskarriere ist eben kein „neue(s) Handlungsfeld()“ im persönlichen Horizont, sondern Handels- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts mit all ihren Widersprüchen und Merkwürdigkeiten, in die Schliemann auch durch mancherlei Zufälle hineingerät.

Die Ausstellung, die noch bis zum 6. November 2022 geöffnet sein wird, erübrigt nicht zuletzt mit den Leihgaben des National Archaeological Museum Athens in diesem Sommer eine Reise in die brütende Hitze von Athen. Denn darin ist die Ausstellung dann doch grandios, dass sie einen Bogen schlägt zwischen dem Heinrich-Schliemann-Museum Ankershagen und den Leihgaben aus Mykene etc. des National Archaeological Museum Athens. Die Ministerin für Kultur und Sport der Hellenischen Republik, Dr. Lina Mendoni, hat nicht nur ein Grußwort geschrieben, sondern die umfangreiche Ausstellung wesentlich ermöglicht. Wenn es nicht nur ein Zufall war, dass der Berichterstatter nahezu ungestört bis auf die wiederkehrenden Auftritte Katharina Thalbachs als Heinrich Schliemann die Ausstellung allein besuchte, dann hat sie ein Besuchermangelproblem.

Torsten Flüh

Schliemanns Welten
Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos.
bis 6. November 2022
James-Simon-Galerie
Museumsinsel Berlin


[1] Das Cover der Zeitausgabe wird nur noch auf Google Bilder angezeigt.

[2] Zur Archäologie siehe auch die künstlerische Intervention von Helene von Oldenburg und Claudia Reiche in: Torsten Flüh: Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.
Matthias Wemhoff: Schliemanns Welten. In: ders. (Hg.): Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. Leipzig: E.A. Seemann, 2022, S. 11.

[3] Goethe Institut: Prinzipien der Fremdsprachendidaktik. (ohne Jahr/ohne Ort, abgerufen am 18.06.2022).

[4] Otto Badke: Methode Schliemann Französisch / [nach dem Herrn Schliemann vorgelegten und von ihm gebilligten Plane bearb. vom Oberlehrer Otto Badke …] Stuttgart: Violet, 1896.

[5] Leo Mannow: Methode Schliemann zum Selbsterlernen fremder Sprachen: Russisch : nach einem von Dr. Heinrich Schliemann gebilligten Plane unter Mitwirkung bewährter Fachleute auf Grund einer für den Lehrgang eigens verfaßten russischen Originalnovelle für den Selbstunterricht ; mit der Beilage: Das russische Zeitwort, einer Anleitung zum Erlernen der russischen Schreibschrift, der russischen Konversationsschule (Russkoe ėcho) und der russischen Handelskorrespondenz / bearb. von L. Mannow und Otto Breuninger. Stuttgart: Violet 1922.

[6] Zitiert nach Ausstellungstext.

[7] Stefanie Samida: Die ‚Methode Schliemann‘ zur Selbsterlernung von Sprachen: Ein Blick zurück – und auch nach vorn. In: Fokus Lehrerbildung. Blog der Heidelberg School of Education. 12/12/2017.

[8] Heinrich Schliemann: Ilios, Stadt und Land der Trojaner: Forschungen und Entdeckungen in der Troas und Besonderes auf der Baustelle von Troja. Leipzig: Brockhaus, 1881, S. 1. (Heidelberger historische Bestände – digital)

[9] Siehe Wikipedia: Ilos.

[10] Zur Frage der Sprache und des Schreibens von Wissenschaft bei Alexander von Humboldt siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 30, 2015 19:05.

[11] Heinrich Schliemann: Ilios … [wie Anm. 8] S. 2.

[12] Matthias Wemhoff: Schliemanns … [wie Anm. 2] S. 13.

[13] Ebenda.

[14] Zu August Borsig siehe: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[15] Zu Paris im 19. Jahrhundert siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

Im Megaspeicher der Betriebssysteme

Materialität – Speicher – Digitalität

Im Megaspeicher der Betriebssysteme

Zur Fachkonferenz Microsoft Build 2022 in der Lagerhalle 1 des Westhafens

Wie sich die Einladung zur Fachkonferenz Microsoft Build Anfang Mai in mein Outlook-Postfach verirrte, bleibt ein Geheimnis der Speicher und des Internets. Immerhin funktionierte die Registrierung. Eine Woche vor Konferenzbeginn erreichte mich eine „exklusive Einladung zum Live-Event nach Berlin“ in „entspannter Konferenzatmosphäre“. Microsoft Build ist die Messe für „IT-Professionals“ mit eigenem Internetportal, Live Stream, Videos On-demand und „Techwiese“. Wie beziehungsreich die Location Westhafen Event & Convention Center, kurz WECC, für das Live Event ausgesucht worden war, wusste möglicherweise nur ein Event-Scout. Denn die Lagerhalle 1 im Westhafen entstammt einer gänzlich anderen Epoche der Speicher, Lager und Container. Dass sich im zehngeschossigen Westhafenspeicher bis 30. November 2019 die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz befand, wissen wahrscheinlich nur wenige Berliner*innen und Nutzer*innen der Ringbahn, die das unübersehbare Gebäude vorbeiziehen lassen.

Die Geschichte von Microsoft Build erzählt von der Zukunft. Mit der Keynote verkörpert Satya Nadella, Chairman und Chief Executive Officer von Microsoft, wie die Gegenwart sich die Zukunft vorstellt und sie in Animationen visualisiert wird. Im Dezember 2017 hatte er seine Autobiographie auf Deutsch veröffentlicht: Hit Refresh: Wie Microsoft sich neu erfunden hat und die Zukunft verändert. Forbes listete ihn 2019 auf Rang 6 der innovativsten Führungspersönlichkeiten der Welt. Er ist sozusagen der Vater der Cloud-Speicher bei Microsoft. Für die gestreamte Keynote steht Nadella im Poloshirt in einem wohnzimmerartigen Büro mit Retrosessel und minimalistischem Buchregal sowie digitalen Fotorahmen. Satya Nadella könnte vom Outfit und Design in Berlin nebenan wohnen. Doch das Microsoft-Entwickler-Setting für die Keynote wurde bestimmt designt in einem Studio aufgenommen. Denn über die sonstigen Lebensgewohnheiten des Multimillionärs in Bellevue im Bundesstaat Washington ist eher wenig bekannt.

Die Keynote von Satya Nadella wird auf der Seite von Microsoft Build 2022 als Video bereitgehalten. Bekanntlich gehört der Microsoft-Gründer Bill Gates zu den beliebtesten Zielen der Verschwörungsnarrative während der Covid-19-Pandemie. Das ist schon deshalb absurd, weil er längst nicht mehr das operative Geschäft von Microsoft bestimmt. Vielmehr ist es Satya Nadella, der die Agenda für die „Microsoft-Community“ von ca. 31 Millionen Entwickler („developers“) und Entwickler*innen weltweit in 10 Punkten setzt und erklärt – wohl gemerkt aus einer Art Home-Office im Retro-Design. Die Materialität des Home-Offices korreliert mit der Digitalität des Entwickelns. Die 31 Millionen Entwickler*innen und Programmierer*innen haben zumindest einen großen Einfluss auf die Weltbevölkerung von 8 Milliarden und darauf, was sie sieht und wie sie sich verhält.

Im Westhafen Event & Convention Center geht es tiefenentspannt zwischen Home und Konferenz, zwischen Zuhause und Geschäft zu. Vor den zwei Bühnen im Großen und im Kleinen Saal mit Backsteinwänden und freitragendem Eisenbetondach sind Clubsessel zum Chillen aufgebaut. Der Clubsessel im Retro-Design gehört zum materiellen Ambiente der Microsoft-Community. Da das Entwickeln und Programmieren an Rechnern mit Tastaturen geschieht, indem in einer Programmiersprache standardisierte Befehle geschrieben werden, handelt es sich um eine Tätigkeit, die hohe Konzentration erfordert. Vertippen dürfen sich Programmierer*innen nicht. Unabhängig vom Geschlecht könnte jede und jeder codieren. Microsoft setzt auf Diversity in seiner Community. Eine nach Habitus und Körperformen sichtbare Transfrau, die auf der Herrentoilette ihren Lippenstift nachzieht, ist ebenfalls zu Microsoft Build erschienen. Home im Sinne von Heim und Zuhause geht im Design von Microsoft und der Messe ineinander über.    

Wenn es die einzigartig materielle Architektur des Westhafens mit seinem zehngeschossigen Speicher, seinen Lagerhallen, seinen Hafenbecken für Massengüter wie Getreide, seinen Verwaltungsgebäuden, den Halbportalkränen und Gleisen nicht schon geben würde, hätte man diese riesige Infrastruktur für die Entwickler-Konferenz des Digitalen, Microsoft Build, erfinden müssen. Die Backsteinfassaden vermitteln eine „natürliche“ Bauweise mit Steinen aus Ton gebrannt, während schon 1895 ein erster Plan für die Hafenanlage mit Spree-Zugang zur Versorgung der industriellen Groß- und Hauptstadt Berlin entwickelt wurde und wenig später die Konstruktion der Geschosse wie Dächer aus Eisenbeton gefertigt wurden. Der Kornversuchsspeicher am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal unweit des Nordhafens wurde bereits 1897/1898 gebaut.[1] In der zweiten Phase des Kornversuchsspeichers wird eine sichtbare Betonkonstruktion erprobt. 1914 bis 1923 beginnt die BEHALA mit den Erkenntnissen der Versuche, die Lagerhallen und Speicher nach den Entwürfen von Richard Wolffenstein am Westhafen zu bauen.[2] Die Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mbH mit 100-prozentiger Beteiligung des Landes Berlin nimmt offiziell 1923 mit der Fertigstellung des Westhafens ihren Betrieb auf.

Der Westhafen war ein industrielles Zukunftsprojekt für die Versorgung der Großstadt. Doch in der Sichtweise von 1914 „orientieren sich die Lagerhallen stilistisch an der Baukunst um 1800, die in ihrer klassizistischen Schlichtheit vor dem Ersten Weltkrieg als Vorbild für eine moderne Architektur galt“.[3] Anders gesagt: Die Fassade der Lagerhalle 1 versteckt bewusst die technologische Invention der Eisenbetonkonstruktion, die heute, 100 Jahre später für das Event mit farbigem Licht angestrahlt wird. Nach Kriegszerstörungen im Zweiten Weltkrieg musste die Konstruktion zwar erneuert werden, aber die Betonkonstruktion für das Speichergebäude liegt bereits dem „zweigeschossigen Baukörper“ mit „Zwerchhäuser(n)“, „mächtigem Walmdach und den Thermenfenstern in den Giebelfeldern“ zugrunde.[4] Wolffenstein verwendete mit anderen Worten eine Retro-Architektur mit sichtbarer Materialität der Backsteine, wie heute das Retro-Design der Stühle und Tische die zu programmierende Zukunft rahmt. Es funktioniert, als müsste der Zukunft ein künstlicher bzw. materieller Anker verpasst werden. Wenn es für die Entwickler*innen so gut wie kein materielles Zuhause mehr gibt, muss ihre nomadische Existenz ständig an eines virtuell erinnern.

Die heute pittoreske und denkmalgeschützte Hafenanlage als Bestandteil eines Kanal- und Flusssystems lässt sich genauer bedenken. Walther Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt beginnt 1927 mit einer Einstellung auf eine leicht wellige Wasseroberfläche(!), die auf grafisch kreisende Streifen geschnitten wird, die sich montageartig in niedersinkende Bahnschranken verwandeln, um in Untersicht auf eine nahende Dampflokomotive geschnitten zu werden. Mit schnellen Schnittwechseln wird eine Schnellzugfahrt über Land und über Fluss- wie Kanalbrücken am Westhafenspeicher vorbei nach Berlin inszeniert.[5] Zwischen Häfen werden insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts industriell Güter in großen Mengen transportiert und ausgetauscht. Im Englischen heißen Häfen Ports. In der hier angerissenen, kleinen Geschichte der Speicher überschneidet sich der Diskurs des Westhafens mit dem der um die Welt jagenden Daten und Datenpakete, die zwischen zwei Ports(!) ausgetauscht werden. Hinsichtlich digitaler Crypto-Währungen oder im Finanzsystem entsteht sozusagen über die Tauschgeschwindigkeit zwischen den Ports eine Art Mehrwert, der das System am Laufen hält.

Bei der industriellen Großstadt Berlin ging es schon um 1900 nicht allein um einen Endverbrauch oder die Versorgung der Bevölkerung und Industrie. Vielmehr wurde der Westhafen so konzipiert, dass die Speicher und Lagerhallen einzig und allein aus den Frachtschiffen befüllt wurden, um schnell wieder durch Güterzüge oder Lastwagen geleert zu werden. Die Lagerhallen wandelten die Güter in gewisser Weise in Waren um. Vielleicht gibt es noch größere Speicheranlagen des industriellen Zeitalters in den USA oder in Liverpool. Aber in Deutschland oder ganz Europa ist der Westhafen einer der größten Binnenhäfen. Die Architektur wurde für die Distribution konzipiert: „An beiden Seiten des mittleren Hafenbeckens wurden Lager- und Speicherbauten gegenüberliegend angeordnet. Die lang gestreckten Lagerhallen 1, 2 und 3 für Stückgut sind so bemessen, dass vor jeder Halle zeitgleich zwei 600-Tonnen-Schiffe gelöscht werden konnten. Rampen an Wasser- und Landseiten sowie Ladetüren auch im Obergeschoss erleichtern das Be- und Entladen der Lagerräume, wobei die offene Konstruktion des freitragenden Eisenbetondachs eine optimale Nutzung des Dachraums ermöglicht.“[6]

Der Port benennt heute im Protokoll jene Zahlenkombination, die angibt, zwischen welchem Server- und Clientprogramm Datenpakete ausgetauscht werden. Beispielsweise geht es um den Austausch von E-Mails. Der Port 25 ist für das Simple Mail Transfer Protocol (SMTP) reserviert. Falls Sie Ihre E-Mail-Adressen selber unter Windows in Outlook einrichten oder eingerichtet haben, wissen Sie, dass Sie den Port manuell richtig einstellen müssen, um E-Mails vom Server abzurufen und einen weiteren Port zu versenden. Mit Windows 11 werden diese Port-Einstellung unterdessen automatisch in Outlook durchgeführt. Es ist allerdings so, dass zum Beispiel die Telekom oder Strato wiederum manuell eingerichtet werden müssen. Sie kennen das. Weil dann zur Sicherheit noch ein Passwort oder Kennwort abgefragt wird, das sie z.B. auf dem alten PC vor Jahren geändert und irgendwo(!) notiert, aber zwischenzeitlich vergessen haben, müssen Sie in ihrem Telekom-Mailprogramm oder bei Strato wieder ein neues Passwort eingeben … Ich gehe mittlerweile davon aus, dass es nicht nur mich Tage kostete, solche Port-Probleme zu lösen. Jede Vereinfachung führt wieder zu einer Festlegung auf z.B. den Outlook-Server von Windows.

Ist der Port erst einmal erreicht, lassen sich Datenpakete wunderbar in Ordner oder Container hin- und herschieben, um gespeichert zu werden. Die Rahmung von Microsoft Build hat nicht nur Programmierprobleme im Blick, vielmehr informieren Anne Kjaer Bathel & Anastasiya Leukhina im Kleinen Saal über die Schulungsprogramme für Frauen und insbesondere Frauen aus der Ukraine der ReDI School of Digital Integration. Die Microsoft Community braucht besonders in Deutschland programmierende Frauen. Auch Martha Splitthoff ermuntert in ihrem Vortrag Anyone Can Code – Light your Fire for Coding vor allem Frauen zum munteren Codieren. Martha strahlt während ihres Vortrags, als sei das Codieren „awesome“. Überhaupt wird im Wechsel zwischen dem Großen und dem Kleinen Saal mit Live Schaltungen die Konferenz zu einer Art Streaming Service. Überall stehen Kameras, die von einem Regiepult gesteuert werden. Ein Kameramann mit einer Steadicam wechselt zwischen den Sälen und produziert visuelle Nähe. Die Community Sessions sind zwischen Dapr – Entwicklung von Cloud-nativen, verteilten Microservices und Serverless Development mit VS Code und GitHub Codespaces durchgetaktet. Die Fachsprachen der Programmierenden bleiben geheimnisvoll. In den Community Sessions wird vorausgesetzt, dass alle wissen, worum es geht.

Nun kann man nicht gerade sagen, das der Große Saal bei den Community Sessions bis auf den letzten Platz besetzt war. Viele im Publikum wischen lieber auf ihren Smartphones herum oder Twittern, WhatsAppen oder machen Selfies. Die beschworene Community der großen Zahl von 31 Millionen Developers zersplittert am 24. und 25. Mai 2022 im WECC. Intensive Gespräche oder Diskussionen werden in den Community Sessions eher nicht geführt. Eine Moderatorin und ein Moderator wissen, was sie fragen müssen. So erfährt der Berichterstatter, dass es auch kostenlose Programme gibt. – Awesome! – Unterdessen sorgt die Graphikdesignerin und DJ VVET. alias @vvievvirddaswetter für das relaxed Ambiente. Als Hybrid Event lässt Microsoft Build alle an allem teilhaben ob vor Ort oder vor dem Screen, wobei das Live des vor Ort unbedingt mit dem Screen des Smartphone verkoppelt werden muss. Gleichzeitig führt die große Offenheit nicht zu mehr Gemeinschaft. Jede/r programmiert vielmehr allein und kann durch den richtigen oder falschen Code alles verändern. Oder der große Datenaustausch führt zu spam-verstopften Postfächern, E-Mail-Adressen, an die man nicht mehr herankommt, unfassbaren Mengen von inkriminierten Fotos oder Datenträgern, Speichern und Containern, die mit Fotos derart ungeordnet vollgestopft sind, dass ein ganz Bestimmtes sich nie wieder finden lässt.

In einer Fishbowl Discussion sollte am 24. Mai Satya Nadellas Keynote besprochen werden. Der Berichterstatter konnte allerdings aus Termingründen nicht daran teilnehmen. Deshalb wird die Keynote einmal anders nach der Goldfischglas-Methode analysiert. Wir suchen uns die Goldfische einfach mal einzeln heraus. FinanzNachrichten.de berichtete am 25. Mai um 15:07 Uhr zum Aktienkurs der Microsoft Corporation, dass das Kommunikations-Tool Teams eine Reihe neuer Funktionen erhalte, von denen Live-Share „wohl die spannendste“ sei.[7] Während immer mit Algorithmen programmiert wird, bleibt die Einordnung „wohl die spannendste“ ziemlich elastisch. Wie konkret wird Nadella in seiner Keynote? Satya Nadella eröffnet seine Keynote mit den Fragen „What can we build?“ und „What does the world need?”.[8] Die Fragen werden grafisch in Kreisen eingeblendet und die Syntax ist durch Farbgebung zusätzlich strukturiert, „can“ und „build“ sowie „world“ und „need“ werden farblich hervorgehoben. Natürlich stecken Codes hinter den animierten Grafiken, die sich überschneiden sollen. Obwohl sich die Fragen kaum einfacher formulieren lassen, konstruieren sie geradezu ein Weltrettungsnarrativ. Das Coding und die Software von Microsoft soll die Welt nämlich vor den großen Gefahren retten. Immerhin unterscheidet sich das Narrativ der Rettung der Welt von einer Eroberung derselben.

Das Codieren und Programmieren wird von Satya Nadella eröffnend auf geradezu schlichte Weise mit einem Weltnarrativ verknüpft, das gleichsam mythologisch mit einem Cover der Newsweek vom 27. Januar 1975 verknüpft wird.[9] Ein mittelalterlicher Ritter auf einem Pferd, auf dessen Helm das Präsidenten-Siegel der USA prangt und dessen Physiognomie an Gerald Ford erinnern soll, hebt seine Lanze gegen den dreiköpfigen, feuerspeienden Drachen von „INFLATION“, „RECESSION“ und „ENERGY“. Die mythologische Karikatur der Newsweek ist ebenso bedenkenswert, wie deren Kombination mit dem Cover der Zeitschrift Popular Electronics über „World‘s First Minicomputer …“ aus dem gleichen Monat. Um Geschichte und den historischen Moment herzustellen, wird auf den Januar 1975 und dessen historischen Durchbruch wie seinen Schrecken zurückgegriffen. Auf frappierende Weise erinnern die zitierten Cover an die materiellen Retrosessel und transformieren die Frage „What can we build?“ in eine Geschichte kontinuierlicher Entwicklung des Digitalen, der „Minicomputer“ zur Rettung der Menschheit.

Nadella knüpft mit Inflation, Rezession und Energie an ein zumindest für Amerika populäres Krisennarrativ an, das wiederholend als Problem der Welt bemüht wird. Die Cover sollen allerdings nicht zu präsent werden. Sie behaupten lediglich eine Wiederholung der Geschichte, die sich mit ähnlichen Mitteln abwenden lasse. Als Krisen, denen der durchaus etwas zweifelhafte, republikanische Präsident Gerald Ford heute entgegentreten könnte und müsste, hätten Russia, China, Climate Change, Guns etc. auf den Drachenhälsen stehen können und müssen. Gegen den Protektionismus Donald Trumps entwickeln die chinesischen Programmierer*innen seit 2019 allerdings ein eigenes Betriebssystem, das schon auf den Rechnern von Behörden und öffentlichen Einrichtungen als UOS (Unity Operating System) installiert wird.[10] Anders gesagt: In der Diversität von Nadellas Microsoft Community und des „Imagine Cup (…) for the innovators“ gibt es zwar noch Portraits von Chinesen, doch die Volksrepublik China bricht gerade als Markt weg. Was für China technologisch möglich ist, gilt noch lange nicht für die Russische Föderation. Doch Microsoft beteiligt sich an den internationalen Sanktionen gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.   

Nadellas Lösung der Krise erscheint im Video in einer Adressenzeile: „developers and researchers using technology to adress sustainability, inflation, and recession, digital art“.[11] Die Grafik ist komplex, obwohl sie animiert nur wenige Sekunden eingeblendet wird. Denn sie benutzt die Oberfläche des Programms DALL-E, einem Programm für die Produktion von Bilder nach den in „natürlicher Sprache“ eingegebenen Begriffen.[12] Die Bildleiste wird also von einer AI bzw. einer künstlichen Intelligenz generiert. Die Unterschiede der Bilder von z.B. Satya Nadella und seinem Home-Office oder der Cover von Popular Electronics und Newsweek wird damit verwischt. Im schnellen Schnitt der Bildsequenzen schwinden die Unterschiede der Bilder und ihrer Herkunft. Während des Public Viewings der Keynote fielen dem Berichterstatter, diese Unterschiede überhaupt nicht auf. Im Fluss der Bilder und des Sprechens werden virtuelle Anker geworfen, um die Unterschiede zwischen KI und Kamera für die Zukunft verschwinden zu lassen. Auf diese Weise wird die enorme, mediale Konstruktion und das Script der gesamten Keynote erkennbar. Die Zukunft hat längst begonnen, während noch über die neuesten Funktionen von Dapr, Azure, DALL-E und Microsoft Teams diskutiert wird.

Die Keynote von Satya Nadella in ihrer ganzen Konstruktion zu besprechen, sprengte den Rahmen dieses Blogs. Der vermeintliche Fachbezug der Konferenz Microsoft Build im Westhafen in Berlin kann indessen ebenso als ein kulturelle Schnittstelle betrachtet werden. Microsoft programmiert mit seinen Programmen eben auch die Möglichkeiten zukünftiger Bild- und Anwendungswelten. Das ist nicht nichts. Denn Programmiersprachen sind nicht irgendwelche Sprachen, sondern solche die die Wahrnehmungspraktiken von „natürlichen“ Sprachen und Bildern verändern. So wird denn der Name von DALL-E mit dem im Englischen als i ausgesprochenen e als ein Kofferwort von WALL-E und Salvador Dalí hörbar.[13] Ob es sich bei den Bildern unterdessen um solche handelt, die wie bei Dalí aus Träumen und Sprachoperationen hervorgegangen sind, wäre zu untersuchen.

Torsten Flüh


[1] Zum Kornversuchsspeicher und seiner Geschichte siehe: Torsten Flüh: Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher. Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 9, 2018 22:10.

[2] Denkmaldatenbank: Westhafen.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Diese Sequenz variiert in unterschiedlichen, kursierenden Schnittfassungen. Da der Film unterschiedliche Bahnstrecken und Zielbahnhöfe kombiniert, lässt sich der Westhafenspeicher nur annährend bei 3:31 identifizieren. Das Zusammenspiel von Wasserfläche, Wasserstraßen und Eisenbahn gibt bei Ruttmann einen Wink auf die Großstadt als Ziel und Speicher eines großflächigen Netzes. Siehe z.B.: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt ist ein deutscher experimenteller Dokumentarfilm von Walther Ruttmann, der im September 1927 in Berlin uraufgeführt wurde. Zeitreise.

[6] Denkmaldatenbank … [wie Anm.2].

[7] t3n: Microsoft Teams bekommt Live-Share und mehr neue Funktionen. In: FinanzNachrichten 25.05.2022 15:07.

[8] Microsoft Build 2022: Keynote Satya Nadella. Video 44:11 min. In: Microsoft.

[9] Ebenda 01:24.

[10] Siehe Wikipedia: Unity Operating System.

[11] Microsofte Build 2022: Keynote … [wie Anm. 8] 02:11.

[12] Siehe Wikipedia: DALL-E.

[13] Ebenda.

Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis

Kantate – Serie – Mathematik

Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis

Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle

Am 21. Mai 2022 wurde die Aufführung der Kantaten 8, 84 und 105 nach dem Bach-Werke-Verzeichnis durch Mitglieder der Berliner Philharmoniker mit Anna Prohaska, Christoph Ainslie, Patrick Grahl und Bernd Tobias unter der Leitung von Sir Simon Rattle derart frenetisch vom Publikum gefeiert, dass sich das Ensemble wider die strikte Regel des Orchesters nach dem Abgang vom Podium, nicht noch einmal zum Applaus auf diesem zu erscheinen, dazu entschied, doch ein weiteres Mal hervorzukommen. Die Kantate als kirchliche Lied-Form des Barock hat in jüngerer Zeit ein intensiveres Interesse im Konzertsaal erfahren, während sie zugleich aus der Liturgie schwindet, weil die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich immer weniger auf den Besuch der Gottesdienste und die Einnahmen aus Kirchensteuern verlassen kann.

© Frederike van der Straeten 

Die Entdeckung der Kantate, insbesondere der bis zu geschätzten 300 Kantaten von Johann Sebastian Bach für das Konzertpodium, fällt zusammen mit dem Schwinden der gesellschaftlichen Kraft der Evangelischen Kirche wie der Katholischen Kirche in Deutschland. Nach einer kurzen Sichtung der Forschungslage, die allein die Praxis hervorhebt, dass Bach für jeden Gottesdienst zu seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig für die evangelischen Kirchen der Stadt habe komponieren müssen und dass verschiedene Textquellen wie ein Lied von Caspar Neumann oder der Choral der Kantate 105 mit dem Text des Hamburger Barockdichters und Gründers des Elbschwanenordens Johann Rist von ihm zu fünf bis sechsteiligen Kantaten kombiniert und komponiert worden sind, verebben die Fragen nach der Praxis und Form der Kantate. Doch die in Orden hoch organisierte barocke, meist geistliche Dichtung um 1700 ist mit der Wissenschaft auf Basis der Mathematik tief verflochten.

© Frederike van der Straeten

Die Produktion, Komposition und Praxis der Kantate entspringt nicht zuletzt der Serialität, die sich aus dem Kalender des Kirchenjahres wiederholend und wiederholbar ergibt. Johann Sebastian Bach unterlag insofern einem gewissen Produktionsdruck durch den Rhythmus des Kirchenjahres. Im „Late Night“-Konzert wurden nun mit Sir Simon Rattle drei kompositorisch recht unterschiedliche Kantaten auf liebevolle Weise mit hoher Virtuosität herausgearbeitet. Jede Kantate ein klangliches Juwel, das zum Funkeln gebracht wird. Das widerspricht unterdessen nicht nur der Aufführungspraxis im Kirchenraum innerhalb der Liturgie, vielmehr noch werden die Instrumentalisten wie die Vokalisten selten von einer so hochkarätigen Qualität gewesen sein. Die Kantate kann zu Bachs Zeiten in einzelnen Teilen im Wechsel mit Predigt, Lesungen der Episteln wie Evangelien aus dem Alten und Neuen Testament, Glaubensbekenntnis und Vaterunser, Psalm, Fürbitten und Segen aufgeführt worden sein. Die Gottesdienstpraxis, eine Kantate diesem voranzustellen, lässt ihr bereits eine konzertante Form zu eigen werden.

© Frederike van der Straeten

Die Kantaten werden heute nach dem Textanfang des ersten Satzes benannt wie BWV 8 mit »Liebster Gott, wenn werd‘ ich sterben«. Johann Sebastian Bach kombiniert hierfür einen „unbekannten Dichter nach einem Lied von Caspar Neumann“ mit „Daniel Vetter (Nr. 6)“.[1] Caspar Neumann wie Daniel Vetter sind Zeitgenossen Bachs, die heute allerdings nahezu vergessen sind. Keine „großen Namen“, die dennoch und gerade deshalb in die Komposition eingebunden wurden. Sie sind Quellen oder Fragmente, die wie bei Caspar Neumann noch einmal durch einen „unbekannten Dichter“ bearbeitet wurden. Dies gibt einen Wink auf die Praxis des Dichtens und Komponierens. Es geht um kleine Verschiebungen nach gewissen Regeln und keine gänzlich neuen Inventionen. Denn Caspar Neumann (1648-1715) ist als Theologe und Statistiker in die Deutsche Biographie eingegangen.[2] Die Kombination aus Theologie und Statistik als mathematische Wissenschaft lässt sich als barocke Signatur bedenken.

© Frederike van der Straeten

Als „Verfasser geistlicher Lieder“ gehört Caspar Neumann zum Textkorpus für Bachs Kirchenmusik.[3] Seine Kirchenlieder und Gebetsammlung Kern aller Gebeter und Bitten, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Altern zu gebrauchen von 1680 wird noch 1815 wiederaufgelegt.[4] Der Titel der Sammlung formuliert mit der Wiederholung „alle(r)“ Gebrauchsmöglichkeiten eine nahezu totale Abdeckung des protestantischen Lebens. 1798 ist das Lied »Liebster Gott, wenn werd‘ ich sterben« in Martin Grünwalds Andächtiger Seelen, vollständiges Gesangbuch, darinnen der Kern … als Nummer 800 enthalten.[5] Doch Neumann bedichtet nicht nur das Sterben, er erforscht es als Pastor in Breslau zugleich mit der Schlüsselwissenschaft seiner Zeit. Er „unternahm als erster den Versuch, Geburts- und Sterbefälle statistisch zu erfassen, und erstellte darüber 1687-91 sorgfältig ausgearbeitete Tabellen aus den Kirchenbüchern der ev. Gemeinden Breslaus.“ Diese Forschungspraxis kann heute „als bahnbrechend für die moderne Bevölkerungsstatistik betrachtet werden“.[6] Die Mathematik wird von ihm eingesetzt, um göttliches Wirken in den Sterbefällen zu entschlüsseln.  

Die Praxis der Montage zur Generierung der Kantate BWV 8 wird in der Kombination eines Liedes von Caspar Neumann mit dem Choral »Herrscher über Tod und Leben« des Leipziger Organisten und Komponisten Daniel Vetter deutlich. Der Dirigent und Musikologe Melvin Unger hat kürzlich die Choral-Fassung von Daniel Vetter mit der Johann Sebastian Bachs verglichen und herausgearbeitet, dass Bachs Setzungen im Abgesang signifikant kürzer als in seiner Vorlage sind.[7] Das heißt zweierlei: Montage und signifikante Änderung als ein nicht zuletzt mathematisches Prinzip bringen die Kantate als Partitur wie als Text hervor. Und die Reimformen der Texte stellen einerseits eine rhythmische Geschlossenheit her, andererseits verschlüsseln sie die Syntax. Sir Simon Rattle setzt bei seinem Dirigat weniger auf eine Textverständlichkeit als auf den instrumentalen und vokalen Klang.
„Liebster Gott, wenn werd ich sterben?
Meine Zeit läuft immer hin,
Und des alten Adams Erben,
Unter denen ich auch bin,
Haben dies zum Vaterteil,
Dass sie eine kleine Weil
Arm und elend sein auf Erden
Und denn selber Erde werden.“

Bereits im Chor-Teil wird das Reimschema – ABAB CCAA – variiert, um vermeintlich mit der A-Endung -ben in -den zu enden. Die Rhythmisierung und Schematisierung der Sprache und des Sprechens als Gesang korrespondiert mit einem tänzerischen Rhythmus und der hellen, freudigen Tonart, E-Dur. Die Frage nach dem Sterbezeitpunkt, den Caspar Neumann mit seinen Listen und Tabellen mathematisch nach Regeln erforscht, aus denen sich letztlich eine moderne Lebensversicherung berechnen ließe, wird insofern nicht als Schrecken, sondern mit einer fast freudigen Gewissheit gestellt. Die Regelhaftigkeit oder auch Berechenbarkeit des Sterbens erleichtert. Allein die Frage nach dem Tod als Schrecken, die nach Grünwald nicht bei Caspar Neumann vorkommt[8], wird im zweiten Teil als Tenor-Arie, wunderbar von Patrick Grahl gesungen, »Was willst du dich, mein Geist, entsetzen?« im dunkleren Cis-Moll gesetzt.
„Was willst du dich, mein Geist, entsetzen,
Wenn meine letzte Stunde schlägt?
Mein Leib neigt täglich sich zur Erden,
Und da muss seine Ruhstatt werden,
Wohin man so viel tausend trägt.“[9]

Der Schlusssatz der Cantate als Choral entspricht, dann auch textlich wieder ganz Neumanns Lied. Bachs Invention und Abweichung besteht insofern vor allem in einer Formulierung des Schreckens, der sprachlich und wohl auch klanglich nicht bei Neumann und Vetter artikuliert wird. Der Choral als Schlusssatz betont die Geschlossenheit und Berechenbarkeit des christlichen Lebens und Sterbens nach Anspruch und Lehren der evangelischen Kirche. Für Neumann und Vetter geht dies bruchlos auf. Doch Johann Sebastian Bach formuliert für den 24. September 1724 einen nicht nur musikalischen Bruch als Zweifel, bevor nicht zuletzt musikalisch alles „(n)eben frommen Christen“ als Ordnung wieder hergestellt wird.   
„Herrscher über Tod und Leben,
Mach einmal mein Ende gut,
Lehre mich den Geist aufgeben
Mit recht wohlgefasstem Mut.
Hilf, dass ich ein ehrlich Grab
Neben frommen Christen hab
Und auch endlich in der Erde
Nimmermehr zuschanden werde!“[10]

Sir Simon Rattle erweist sich mit seinem „Late Night“-Kantatenabend einmal mehr als Bach-Forscher, indem er drei eher seltener aufgeführte Kantaten in ihrer Vielschichtigkeit auslotet. Bereits 2014 hatte er mit den Berliner Philharmonikern die Johannes-Passion eingespielt, nachdem er anlässlich des 50jährigen Jubiläums des Philharmonie-Neubaus 2013 die Matthäus-Passion aufgeführt hatte. Beim Musikfest 2021 hatte John Eliot Gardiner mit der Gegenüberstellung von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel einen Beitrag zur Kantatenforschung geleistet.[11] Er führte die Choralkantate »Christ lag in Todes Banden«, BWV 4, mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir auf. Die von Rattle ausgewählten Kantaten sind mit den 6 und 5 Sätzen facettenreicher. Für »Christ lag in Todes Banden« konnte Bach auf ein Lied von Martin Luther zurückgreifen, während in BWV 8, 84 und 105 stärker das Kombinatorische als Kantatenpraxis betont wird. Denn in »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke« und »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« werden Texte von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, und Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt, Psalm 143,2 und Johann Rist kombiniert und komponiert.

Die Praxis der Abweichung und Kombinatorik lässt sich ebenso für die Kantate BWV 84 beobachten. »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke« für Sopran und Chor wurde zu einem Triumph für Anna Prohaska. Mit dem Wechsel von zwei Arien, zwei Rezitativen und Choral bietet die Kantate eine Möglichkeit zur barocken Gesangskunst. 1728 hatte Picander in Cantaten auf die Sonn- und Fest-Tage durch das gantze Jahr in Leipzig die Kantate »Ich bin vergnügt mit meinem Stande« veröffentlicht, die allerdings erst von Carl Philipp Emmanuel Bach mit dem Originaltext komponiert wurde.[12] Picander arbeitete auch mit Bach an der Matthäus-Passion. Die Variation von „Glücke“ und „Stande“ könnte dem kompositorischen Arbeitsprozess geschuldet sein. Indessen findet sich bei Grünwald die Formulierung „Ich bin vergnügt“ in drei Variationen: „Ich bin vergnügt in meinem Herzen, und“, „Ich bin vergnügt, nach Gottes willen“ und „Ich bin vergnügt und halte stille, wenn“.[13] Weitere Variationen lauten auf „Ich bin mit Gott vergnügt, der alles“ und „Ich bin mit dir, mein Gott, zufrieden“. Grünwalds „Alphabet-Register“ gibt einen Wink auf die barocke Kompositionspraxis. Dabei ist Grünwald keineswegs vollständig, denn die Kombinationen mit „Glücke“ und „Stande“ fehlen.

Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt wird mit dem Text für den Choral »Ich leb indes in dir vergnüget« von Grünwald 1798 nicht ins evangelische Gesangbuch aufgenommen. Die zwölf Strophen ihres Kirchenliedes »Wer weiß, wie nahe mir mein ende?«, das Bach mehrfach verarbeitet hat, wurde allerdings sehr wohl von Grünwald als Nummer 762 aufgenommen. Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt gibt mit der Veröffentlichung ihrer nahezu 600 Geistliche(n) Lieder 1685 einen weiteren Wink auf die protestantische Praxis der Dichtung in deutscher Sprache im 17. Jahrhundert. Übersetzungen, Wiederholungen, Rhythmisierung und Variationen lassen bereits für Johann Sebastian Bach einen Textkorpus entstehen, aus dem er wiederum schöpfen und variieren kann. Erst im 19. Jahrhundert wird Bach aus einer kollektiven Text- und Musikproduktion isoliert und individualisiert. Die barocke Praxis der Dichtung setzt weniger auf Individualität als vielmehr auf eine Erfüllung des kirchenmusikalischen Programms, in dem das Subjekt als Ich, wie mit der Kantate »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke«, einzig und allein in seinem Verhältnis zu „Gott“ formuliert wird.

Es fällt uns im 21. Jahrhundert schwer, das Regelwerk der Kantatenproduktion zu erfassen. Doch den Regeln lässt sich sehr wohl nachspüren. Eine weitere Textquelle sind die Psalmen, wie Bach den Psalm 143,2 für die Kantate zum 9. Sonntag nach Trinitatis mit »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« verarbeitet. Das Datum des Kirchenjahres gibt bereits einen Textkorpus vor, der sich für Bach kombinieren lässt. Grünwald bietet nicht zuletzt ein „Register über die biblischen Stellen, darüber Lieder vorkommen, auf die Nummern der Gesänge gerichtet“. Möglicherweise hat Grünwald diese Kombination aus seiner eigenen Gottesdienstpraxis als „gewesener Archidiaconi in Zittau“ erstellt. Doch das Register zeigt hier die Regelhaftigkeit an, die schon für Bach verpflichtend war. Der Psalm wird thematisch kombiniert mit einem Gedicht von Johann Rist, dessen Vater zwar Pastor war, der aber als Lehrer und Dichter reüssierte. Rists Dichtungen gehören ebenfalls mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen bis 1668 zu jenem prägenden Textkorpus, auf den Bach für seinen Choral »Nun, ich weiß, du wirst mir stillen« zurückgreifen kann, obwohl Rist eher der weltlichen Dichtung nach antiken Vorbildern zuneigte, wie mit Des Daphnis aus Cimbrien Galathee von 1642 in Hamburg anklingt. Bach greift auf Johann Rists Himmlische Lieder von 1641 zurück.
„Nun, ich weiß, du wirst mir stillen
Mein Gewissen, das mich plagt.
Es wird deine Treu erfüllen,
Was du selber hast gesagt:
Dass auf dieser weiten Erden
Keiner soll verloren werden,
Sondern ewig leben soll,
Wenn er nur ist Glaubens voll.“.[14]

Das „Late Night“-Konzert ist ein eher kleines Konzertformat, das Simon Rattle seit einigen Jahren entwickelt hat. Mit den Bach-Kantaten schöpft er alle Möglichkeiten dieses kleinen Formats aus. Ob es die Solisten wie der Flötist Michael Hase oder Jonathan Kelly an der Oboe sind, alle wären erwähnenswert an dieser großartigen Ensemble-Leistung. Was vermeintlich klein ist und wenig beachtet wird, wurde hier zu einem nuancenreichen Feuerwerk entfaltet. Gerade die heute befremdenden Praktiken der barocken Dichtung und Komposition wurden damit bedenkenswert. – Das Konzert wird noch für die Digital Concert Hall bearbeitet.

Torsten Flüh

Berliner Philharmoniker
»Late Night«-Konzert mit Simon Rattle
vom 21. Mai 2022


[1] Zitiert nach: Berliner Philharmoniker (Hg.): Late Night. Mitglieder der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, Anna Prohaska, Christopher Ainslie, Patrick Grahl, Tobias Berndt. Berlin, Samstag 21.05.22.

[2] Peter Koch: Neumann, Caspar. In: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 156 [Online-Version].

[3] Ebenda.

[4] Caspar Neumann: Kern aller Gebeter und Bitten, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Altern zu gebrauchen. Breslau 1680. 8

[5] Martin Grünwald: Andächtiger Seelen, vollständiges Gesangbuch, darinnen der Kern … : Mit einem Anhange von Morgen- Abend- und … , Zittau, 1798. Siehe Digitalisat der Staatsbibliothek Berlin.

[6] Peter Koch: Neumann … [wie Anm. 2].

[7] Melvin Unger: Cantate Auf sechzehnten Sonntage auf Trinitatis „Liebster Gott, wann werd ich sterben.“ Melvinunger.com Dec-12-2021.

[8] Siehe Martin Grünwald: Kern … [wie Anm. 5] S. 847 (Digitalisat).

[9] Zitiert nach: Walter F. Bischof: BWV 8 Liebster Gott, wenn werd ich sterben. In: ders.: Bach Cantata Pages. University of Alberta, Edmonton. (Link)

[10] Ebenda und bei Martin Grünwald: Andächtiger … [wie Anm. 8].

[11] Siehe: Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[12] Siehe Bach digital: Ich bin vergnügt mit meinem Stande.

[13] Martin Grünwald: Andächtiger … [wie Anm. 5] Alphabet-Register, auf die Nummer und Zahl der Blätter gerichtet (ohne Seitenzahl).

[14] Zitiert nach: Walter F. Bischof: BWV 105 Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht. In: ders.: Bach Cantata Pages. University of Alberta, Edmonton. (Link)

Vom Kampf gegen die Desinformation

Information – Wissen – Wikipedia

Vom Kampf gegen die Desinformation

Zur Diskussionsveranstaltung Für freies Wissen – gegen Desinformation im Rahmen der 27. Mitgliederversammlung des Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung freien Wissens e.V.

Der Veranstaltungsort Amplifier im Amperium am Humboldthain war beziehungsreich für die Mitgliederversammlung des Trägervereins der digitalen Lexikon-Bewegung Wikipedia gewählt. Die Transformation des denkmalgeschützten ehemaligen AEG-Geländes mit Turbinenhalle, Hochspannungswerk und weiteren Gebäuden nach den Plänen von Peter Behrens hat als Amperium eine weitere Stufe erreicht. Die internationale Einheitsbezeichnung für die elektrische Stromstärke Ampere gibt einen Hinweis auf den Stromverbrauch beispielsweise eines Computers und des Internets in Kilowattstunden. Ein Amplifier ist schlechthin ein Verstärker des elektrischen Stroms. Wikipedia verstärkt gewissenmaßen Wissensprozesse weltweit. Im Hochspannungswerk grüßt Peter Behrens (German Architect, Painter, Designer and Typographer) als Graffiti:
WELCOME HOME – ALL YOU BLOGGERS, COWORKERS, CAPITALISTS & CREATIVES, TECHIES, DIGITAL NATIVES & IMMIGRANTS, DREAMERS & DOERS!

Am Vorabend der Mitgliederversammlung ging es in kleinerem Rahmen hybrid, wie es heißt, vor Ort und per Chat im Internet um Wikipedia als Informationsbasis und die Desinformation. Selten zuvor war das von den aktiven Mitgliedern des Vereins kompilierte Wissen politischer und begehrter als seit dem 24. Februar 2022. In Russland werden ganze Wikipedia-Seiten heruntergeladen, bevor der Zugang durch das Putin-Regime blockiert wird, wie der scheidende ehrenamtliche Vorsitzende des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, Lukas Mezger, in der Gesprächsrunde mit Pia Lamberty und Irene Plank, moderiert durch Vera Linß, recht früh verriet. Gleichzeitig verbreiten Plattformen wie RT DE, also der deutschsprachige Sender Russia Today aus Moskau und Berlin, Desinformation über den Krieg Russlands in der Ukraine. Zugleich führt die Desinformation zur Diskreditierung der Information westlicher Medien. Laut einer Umfrage des von Pia Lamberty gegründeten gemeinnützigen Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) glaubt ein Drittel der Befragten, dass „die Berichte westlicher Medien nicht vertrauenswürdig“ sind.

Plötzlich rückt die gezielte Desinformation im Unterschied zur Information in den gesellschaftlichen und informationspolitischen Fokus. Das ist eine semantische Verschiebung gegenüber den Verschwörungstheorien, die ab März 2020 den Diskurs zum Virus Sars-Cov-2 und der Pandemie angriffen und Sinn stifteten.[1] Denkwürdig bleiben die Einlassungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, vom 17. April 2020 zum Ursprung des Virus gegen alle verfügbaren wissenschaftlichen Standards.[2] Informationen stiften keinen Sinn. Erst die Kontextualisierung und die Bestimmung eines oder mehrerer Urheber machen Sinn. In Verschwörungstheorien wird „ein Bedürfnis wirksam, komplexe Zusammenhänge auf einfache Sinngebungen zu reduzieren, wodurch eine psychotische und kollektive Dynamik in Gang gesetzt wird, die eigenen Ängste und Versagungen auf unbekannte Kräfte und geheime Mächte zu projizieren“.[3] Desinformationen sollen dagegen die Verarbeitung von Informationen von vornherein beeinflussen, unterwandern, verfälschen, entwerten.

Im Oktober 2020 machte die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amtes von Irene Plank darauf aufmerksam, dass „Soziale Medien … reichweitenstarke Kraftzentren der digitalen Kommunikation“ seien, „die autoritäre Staaten wie China und Russland intensiv für ihre Propaganda und Desinformation“ nutzten. Die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amts trete „ihnen mit faktenbasierter Information entgegen“.[4] Denn die EU erlebte 2020 „rund um die Corona-Pandemie“ durch eine „Flut an Desinformationen“ den „ersten großen Belastungstest“ für das im März 2019 „zur Überwachung von Falschmeldungen auf der EU-Ebene“ Rapid Alert System (RAS).[5] Am 11. Oktober 2021 erklärte die Bundesregierung unter Angela Merkel auf „eine Kleine Anfrage der FDP“, dass RAS gegen Desinformation „dem gemeinsamen Austausch der EU-Institutionen und der EU-Mitgliedstaaten über eine verschlüsselte digitale Plattform“ diene.[6] Allerdings blieb dabei die Frage offen, ob Donald Trump in seinen psychotischen Reden selbst Desinformation produzierte und verbreitete oder er „nur“ russische Desinformation reproduzierte.

Das Auswärtige Amt musste im Zuge der Informationen um die Europäische Flüchtlingskrise 2015 feststellen, dass durch Desinformationen auf Sozialen Medien wie Facebook, Twitter und dem russischen Telegram die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik durchlässig werden. Das hatte einen Paradigmenwechsel im Auswärtigen Amt zur Folge. Im Gespräch des Rahmenprogramms der Mitgliederversammlung von Wikimedia sagte Irene Plank, dass sie zum ersten Mal anlässlich der Flüchtlingsbewegungen mit dem Problem massiver ausländischer Desinformation konfrontiert worden sei. Eine „Neubestimmung als Bereich der Strategischen Kommunikation innerhalb der Abteilung für Kultur und Kommunikation war die Erkenntnis des sogenannten Review-Prozesses 2015“. Denn dieser hatte deutlich gemacht, „dass in der Außenpolitik die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen“ und die Bundesregierung deshalb ihre „Politik besser kommunizieren“ müsse.[7] Die Digitalisierung von Wissen durch Algorithmen hat zu einer größeren, schnelleren und grenzenlosen Verbreitung von Information wie auch von Desinformation geführt. Anders gesagt: die Ambiguität des Wissens ist gesteigert worden. Das muss eine Informationsgesellschaft entweder aushalten oder aktiv regulieren.

Desinformationen bedrohen und gefährden natürlich „das freie Wissen“ von Wikipedia – „Wir befreien Wissen“. Nichts muss Verschwörungstheoretikern und Desinformanten verlockender erscheinen, als ihre Narrative in den Lexikon-Artikeln von „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ einzuspeisen.[8] Auf der Hauptseite steht unter „Themenportale“ und „Zufälliger Artikel“ gleich „Mitmachen“ in der Navigation. Wikipedia existiert durch das Mitmachen ehrenamtlicher Lexikon-Autor*innen – weltweit. Die Online-Enzyklopädie – „Wissen. Von Vielen. Für Alle.“ (Slogan auf dem Podium der Mitgliederversammlung) – generiert auf auch unsichere Weise das Wissen über die Welt von heute. Hochaktuell. Wissenschaftlich. Transparent. Wikipedia wird geglaubt. Mit dem Budget aus Beiträgen von mehr als 500.000 Mitgliedern und Spendern von Wikimedia Deutschland stärkt und ermöglicht der Verein weniger finanzstarke Wikipedia-Plattformen. Wikimedia funktioniert als ein Global Player im zirkulierenden Wissen der Welt. Die Suchmaschinen wie Google listen Wikimedia meistens an erster Stelle der Ergebnisse, wenn keine WERBUNG oder Eigenseite davor kommt. Der Google-Algorithmus weiß alles, kann es aber nicht immer einordnen.

Wikipedia ist eine durch und durch erstaunliche Wissensbewegung von ehrenamtlichen Autor*innen. Doch von den mehr als eine halbe Million Mitglieder in Deutschland ist nur ein Bruchteil als Autor*innen aktiv. Zugleich versteht sich die „Wikimedia-Bewegung“ als Sammlung von Werten, Projekten, Aktivitäten und Organisationen. Mit der Formulierung von Begriffen – wie Wikimedia-Bewegung – wird Wissen kompiliert, generiert und publiziert. Als umso erstaunlicher muss der Umstand bedacht werden, dass Wikipedia als Wissensinstanz durch die zunehmend verbreiteten Verschwörungstheorien und Desinformationen während der abflachenden Covid-19-Pandemie unbeschädigt blieb. Der Rahmen aus Werten wie Redefreiheit, Wissen für jeden, gemeinschaftliche Teilung und Equity als Steigerung von Equality, indem nämlich Menschen mit Einschränkungen bei der Überwindung von Barrieren geholfen wird, etc. und einem hohen Grad professioneller Institutionalisierung durch die Wikimedia Foundation und ihre „chapters“ schützt sich die Bewegung und ihr Wissen vor einsickernde Desinformation.

Im ABC des Freien Wissens, das am 19. März 2021 mitten im Lockdown mit dem Buchstaben Z „Zwanzig Jahre Wikipedia – Wohin steuert das 8. Weltwunder?“ unter Beteiligung des prominenten Bloggers Sascha Lobo und mit Grußwort des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier feierte, stand am 2. Oktober 2014 mit dem D nicht etwa die Desinformation zur Debatte im Salon, sondern der „Datenberg. Big Data – Datenschutz oder Datenschatz?“.[9] Der „Datenberg“ ist heute weitaus besser zu bewältigen als die Desinformation. Denn die Desinformation geht schneller Verbindungen mit dem Wissen des Subjekts ein, wozu Pia Lamberty als Sozialpsychologin am Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) forscht. Sie gilt als Expertin für Verschwörungstheorien in einer empirisch ausgerichteten Sozialpsychologie und promoviert als externe Doktorandin an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Bereits in seiner Begrüßung verwies der Geschäftsführende Vorstand von Wikimedia Deutschland e.V., Christian Humborg, auf die Emotionalität als Faktor der Digitalität. Die Rationalität und Berechenbarkeit der Digitalität schließt Gefühle nicht aus, vielmehr werden sie hervorgerufen und verstärkt.

Die Emotionalität spielt nach Pia Lamberty eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle bei der Akzeptanz von Verschwörungstheorien und Desinformationen, indem „der Verschwörungsglaube ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit“ befriedige. „Das heißt, man kann sich darüber überhöhen und das Gefühl vermitteln, besonders zu sein, weil man über Geheimwissen verfügt, von dem der „naive“ Rest der Menschheit nichts weiß. Dieses Phänomen ist gut in den Sozialen Medien zu beobachten, wenn Verschwörungsideologen dort sehr lautstark und selbstbewusst ihre Thesen präsentieren.“[10] Die digitalen Sozialen Medien generierten insofern über die Sprache der Verschwörungstheorien ein emotionalisiertes Wissen, das sich als ein besseres aus der Passivität des allgemeinen Wissens heraus- und darüber emporhebt. Es ginge deshalb um eine Form von Wissensdruck, der sich einer digitalen Informationsflut entgegen zu stellen beansprucht, um eine „eigene“ Deutungsmacht zu gewinnen.

In welchem Verhältnis steht ein emotionaler Glaube an Verschwörungsnarrative zur Wahrnehmung des Angriffskriegs auf die Ukraine? Am 6. April 2022 verwies Pia Lamberty auf eine Studie von Cosmo, in der gefragt wurde, „inwiefern Menschen denn zum Beispiel glauben würden, dass der Krieg in der Ukraine nur der Ablenkung der Corona-Pandemie dienen würde.“[11] In dieser Studie wurde eine Korrelation zwischen Impfverweigerung und dem Krieg in der Ukraine aufgedeckt. „Bei Menschen, die mindestens einmal geimpft sind, waren das elf Prozent. Bei Menschen, die noch nicht geimpft sind, waren es 43 Prozent. Das ist schon ja fast die Hälfte eben derer, die nicht geimpft sind und damit auch eine größere Gruppe der Mobilisierung.“[12] Der eigene Körper als „Feld des Imaginären“, wie es Jacques Lacan einmal formuliert hat[13], spielte insofern für die Leugnung des Krieges eine prominente Rolle. Die Akzeptanz von Desinformation und ihre (digitale) Verkörperung in Sozialen Medien, die zugleich als Selbstperformanz gepostet wird, macht insofern kaum einen Unterschied beim Inhalt der Desinformation.

Lukas Mezger betonte im Gespräch mehrfach die Wissenschaftlichkeit als Standard von Wikipedia und den regulierenden Schwarm. Wie wird die Wissenschaftlichkeit als Form in den lexikographischen Artikeln von Wikipedia angewendet? Wie wird der Faktencheck praktiziert? Die Verfahren der Lexikographie haben eine gewisse Bandbreite und Elastizität, die sich insbesondere für das Wissen von Wikipedia in der Covid-19-Pandemie bewährt hat. Schnell wurde die Wissenserschütterung der Pandemie durch das Zitieren wissenschaftlicher Quellen und insbesondere durch die Statistiken und Erfahrungswissen stabilisiert. Die Generierung von Zahlen durch z.B. Umfragen lässt wie bei der Frage nach der Wirksamkeit von Desinformation in der Bevölkerung schnell Verhältnisse entstehen – ein Drittel der Befragten -, die strategisch bewertet werden können. Zahlenwerte generieren Fakten. Wenn sie dann von einer seriösen Quelle mit Orts- und Zeitangabe zitiert werden können, werden sie als wissenschaftlich akzeptiert. Die Wissenschaftlichkeit funktioniert wie es Friedrich Nietzsche einmal formuliert „sammelnd, ökonomisch, machinal“.[14]

Was macht der Schwarm mit der Lexikographie? Lukas Mezger als Vorsitzender des Präsidiums von Wikimedia Deutschland gebrauchte mehrfach den Begriff Schwarm als regulierende Kraft des Wissens auf Wikipedia. Damit knüpft er an die Rede und das Wissen von der Schwarmintelligenz an.[15] „Je größer der Schwarm, desto schneller wird Desinformation auf Wikipedia identifiziert und korrigiert“, sagte Mezger in etwa. Die Lexikographie von Wikimedia generiert sich insofern aus einem permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler ehrenamtlicher Autor*innen, die vielleicht nicht immer mehr wissen, aber zusammen genauer und schneller, sagen wir, Wissenssprünge aufspüren und stufenweise korrigieren. Laut Wikimedia Deutschland „editieren (weltweit) mehr als 125.000 Freiwillige regelmäßig Wikipedia und ihre Schwesterprojekte“. Das unterscheidet Wikimedia dann doch vom RAS des Auswärtigen Amtes auf Europa-Ebene als Strategie gegen Desinformation. Während RAS Informationen der Bundesregierung strategisch verbreitet und verstärkt, generiert Wikimedia das Wissen auf Wikipedia durch einen permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler Freiwilliger, der Schwarmintelligenz genannt wird.

Torsten Flüh   


[1] Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.

[4] Auswärtiges Amt: Feature Strategische Kommunikation. Berlin: Auswärtiges Amt 10.2020. (PDF ohne Seitenzahl).

[5] Ebenda (S. 4).

[6] Rapid Alert System (RAS) gegen Desinformation. Auswärtiges/Antwort – 11.10.2021 (hib 1056/2021). In: Deutscher Bundestag (Hg.): Parlamentsnachrichten.

[7] Auswärtiges Amt: Feature … [wie Anm. 1].

[8] Wikipedia: Hauptseite.

[9] Wikimedia: Das ABC des freien Wissens.

[10] Zitiert nach: Hertie Stiftung: „Vorsicht, Verschwörungsglaube. Sozialpsychologin Pia Lamberty über Verschwörungstheorien und ihren Einfluss auf unsere Gesellschaft. Ohne Datum. (vermutlich vor dem 24. Februar 2022)

[11] Lea Utz: Warum Deutschlands Verschwörungsideologen Putin supporten – und wieso wir das nicht hinnehmen dürfen. In: BR Bayern 2 vom 06.04.2022.

[12] Ebenda.

[13] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18. Siehe auch: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.

[14] Siehe zur Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[15] Zur Schwarmintelligenz siehe: Torsten Flüh: BärCODE für die Berliner Luft. Zum Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021. Und: Schwärme und das Waldbühnen-Konzert, das nicht stattfand. Berliner Philharmoniker sagen ihr Waldbühnen-Konzert 2011 in letzter Minute ab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 4, 2011 20:54.

Innere Stimmen

Angst – Sirenen – Krieg

Innere Stimmen

Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022

Was passiert, wenn der Krieg real wird? Mona Winters Hörspiel Tot im Leben hatte gestern Abend, Freitag, den 29. April 2022 auf RBB Kultur seine Ursendung. Es wird nun in der Mediathek für ein Jahr verfügbar sein. Zwei Kriege werden von Mona Winter in ihrem Hörspiel besprochen: der Zweite Weltkrieg und der Syrienkrieg. Die Figur Gisi weiß vom Zweiten Weltkrieg nur durch die Erzählungen und Übertragungen der Mamá, deshalb kennt sie die Angst des Krieges, die Kriegsangst und möchte, dass sie vorbei ist. Die Figur Maya berichtet von ihren Kriegserlebnissen in Syrien seit 2011. Der Krieg in Syrien wird als Bürgerkrieg/Civil War verortet, obwohl Russland und die USA zutiefst involviert waren und sind. Am 25. April 2022 warnte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor einem dritten Weltkrieg und den Einsatz von Atomwaffen.  

Die Sirenen in Deutschland und besonders in Berlin wurden nach dem Ende des Kalten Krieges in den 90er Jahren abgebaut. Sirenen locken und töten in Homers Odyssee. Doch bereits am 21. März 2022 berichtete rbb24, dass in Berlin für den Katastrophenschutz als Lehre aus der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 und  hinsichtlich der „Ukraine-Krise“ bis zu 400 Sirenen auf Verwaltungsgebäuden installiert werden sollen. In Mona Winters Hörspiel jaulen die Sirenen auf. Sie warnen eröffnend: „Es passiert – Was soll man sagen? Glaub ja nicht, dass es vorbei ist – Ich komm über dich – Wann immer wo immer“. Die Rückkehr der Sirenen, die im Hörspiel nie wirklich weg waren, verletzen ein Sicherheitsgefühl der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Im Ahrtal hat ihre Abwesenheit zu Toten geführt. Sogleich wurde Tot im Leben wegen seiner unzeitigen Zeitlichkeit zum Hörspiel des Monats gewählt.

Als Bildmaterial werden in dieser Besprechung, das muss vorausgeschickt werden, Fotos vom Plötzensee mit der Freibad-Architektur aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eingefügt. Denn im Hörspiel spielt ein frühmorgentliches Schwimmtraining, zu dem Gisi von ihrer Mamá gezwungen wird, eine wichtige Rolle. Weiterhin werden Fotos von den Kriegsgräbern des Friedhofs Plötzensee eingefügt. Sie sind eine Recherche über die Eigentümlichkeit deutscher Kriegsgräber auf deutschen Kirchhöfen. Denn anders als bei privaten Grabstellen auf städtischen und konfessionellen Friedhöfen laufen die Nutzungsrechte nicht nach einer bestimmten Zeit ab. Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft unterliegen einem dauerhaften Ruherecht laut Gräbergesetz.
„Die heutige Opfergräberanlage befindet sich auf dem Gelände des (ehemaligen, T.F.) Neuen St. Paul-Kirchhofs. Sie besteht aus den alten historischen Feldern der Abteilung N und P, welche in den Jahren 1945 bis 1948 mit etwa 2.500 Toten in Einzel- und Sammelgräbern belegt wurden. Die Hälfte der Toten ist bis heute unbekannt.“[1]

Die Sirenen dringen in die Körper ein. Sie gehören seit langem zum Körper der Menschen. Jacques Lacan hat es einmal so formuliert: „Die Beziehung zum eigenen Körper charakterisiert beim Menschen das letztlich reduzierte, aber wahrhaft irreduzible Feld des Imaginären.“[2] Die auditive Verlockung, das Hörspiel, das schon die Sirenen Homers aufführen, dringt stärker noch in Odysseus‘ Körper ein als das, was er sieht. Der „süße Gesang“ der Sirenen dringt Odysseus so sehr in den Körper, beherrscht ihn, dass er „heißes Verlangen fühlt“ und seinen „Freunden Befehle“ gibt, ihn vom Mast loszubinden.[3] Was die Sirenen singen, wird von Homer nicht erzählt. Es geht einzig und allein um die auditive Wahrnehmung des Gesangs als süßen. Odysseus‘ Freunde haben sich zur Sicherheit indessen Wachs in die Ohren gestopft, reagieren nicht auf den „Gesang“ und die „Befehle“. Stattdessen rudern sie nur umso schneller an den gefährlich lockenden Sirenen vorbei.

Für Mona Winters Hörspiel empfiehlt es sich, die – warum nicht: homerische – Kluft zwischen dem Auditiven und dem Visuellen im Voraus zu bedenken. Visuell werden die Sirenen Mischwesen aus Tier und Mensch. Auf Vasenmalereien seit dem 5. Jahrhundert vor unserer europäischen Zeitrechnung werden die namenlosen Sirenen zu Vögeln mit Krallen und einem weiblichen bzw. bartlosen Profil.[4] Deshalb lässt sich sagen, dass sie Mischwesen aus Tier und Mensch, aus Mann und Frau sind. Die Figur der Mischwesen macht die Tiere menschlich und vice versa, ebenso wie Männer weiblicher werden und umgekehrt.  Sirenen lassen sich geschlechtlich zunächst schwer fassen und einordnen. Im 19. Jahrhundert erhalten ihre Körper weiblichere Züge. Der verzweifelte, eröffnende Ausruf der Sirene – „Es passiert – Was soll man sagen? Glaub ja nicht, dass es vorbei ist – Ich komm über dich – Wann immer wo immer“. – lässt sich denn auch nicht so genau als männlich oder weiblich von der Stimme her einordnen. Vielleicht am ehesten eine helle, jüngere Männerstimme. Und dann das Aufheulen der Sirenenmaschine. Mein Nachbar Hasan kennt die Sirenen aus dem Irakkrieg. „Dann kamen die Flugzeuge am Himmel.“

Serielle Grabsteine der Kriegsgräber auf dem Friedhof Plötzensee.

Sirenen sind Maschinen, die akustische Signale produzieren, die bei Mona Winter allerdings ebenfalls sprechen. Sie sind mit einem anderen Wort: Konfliktmaschinen. Sie warnen vor einem Konflikt und dienen Konflikten. Denn sie funktionieren im Hörspiel als eine Art Streitobjekt der Tochter mit der Mutter. Unterschiedliche Formen des Wissens treffen aufeinander. Gisi will sich aus dem Wissen von Krieg und Geschichte befreien. Wozu braucht man noch Sirenen? Wollten sich die Nachkriegsgenerationen nicht immer von den Kriegsgeschichten trennen? Haben die Geschichten von den Russen, die auf Katzen schossen und nach „Urke, Urke“ fragten oder so … und Uhren meinten, nicht enden wollen? Müssen Geschichten nicht irgendwann einmal – Verdammt noch mal! – enden? Es entsteht ein Wissenskonflikt. Oder kehren die Kriegserzählungen immer wieder?
Mamá      Früh genug, Gisi, wirst du dich daran gewöhnen.
GISI        An die Sirene?! Seh ich nicht ein. Ist das nicht alles schon mal passiert? Also unsere Geschichte. (Pause) Frage mich: Was kann die denn schon ausrichten?
MAMÁ   Sei ehrlich, wir brauchen sie! Immer wieder. Eine Kassandra …
GISI (verwirrt, aggressiv) Damit unser Leben wieder perfekt ist? Ehrlich…? Ach was… bitte, ich kapier nicht…also … das ist kalter Kaffee …Vielleicht könnte mir irgendeiner mal erklären …Unsinn…Total-Unsinn… Sag: wozu? …gerade eine Sirene?“[5]

Natürlich hat Mona Winter Tot im Leben nicht punktgenau für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen geschrieben. Vielmehr setzt das Hörspiel mit dem Syrienkrieg ein, der schon wieder aus den – „Pling!“ – News, Eilmeldungen von YouTube und Tagesschau – verschwunden war. Sogar die Flüchtlingskrise von 2015 war aus den Breaking News verschwunden. Nicht einmal die AfD interessierten 2021 Flüchtlinge besonders. „Corona“ bot ein größeres Erregungspotential. Aber auch das spielte dann zur Bundestagswahl im September 2021 fast keine Rolle mehr. Ebenso interessiert Putins Rede vom 24. März 2022 schon fast niemanden mehr.[6] „Pling!“ Stattdessen werfen sich die Meuten lieber auf einen Bundeskanzler, weil er nicht oft genug sabbelt. „Pling!“ Friedrich Merz, die Opposition sucht sich ihr Mütchen zu kühlen, schon lockt machtpolitisch „Pling!“ die nächste Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Newsfeed! So geht das Diskursgeschäft – „Pling!“. Schwere Waffen und zu allem Überfluss – „Pling!“ – Alice Schwarzer, sozusagen die Anti-Scholz, Frieden schaffen ohne Waffen. Die Sirenen machen heute „Pling!“.

Abt. N, in dem zwar noch Namen auf Stahlplatten stehen, aber das Einzelgrab in Reihen aufgelöst ist.

Das Hörspiel passt in der Weise, wie das „Pling!“-Gewitter heute keine Reflektion mehr zulässt, um die Angst selbst zu reflektieren. Woher kommen Ängste? Wann werden Ängste besonders wirksam? Müssen wir vor den Drohungen mit dem dritten Weltkrieg Angst haben? Die Reaktionen sind sehr verschieden, viele Menschen beginnen wegen der Nachrichten Lebensmittel, z. B. Sonnenblumenöl in Wohnzimmer- und Kleiderschränken zu bunkern. Wann löst die „Pling!“-Taktung eine lähmende Angst aus, fesselt? Hat sie das schon? Drohungen sollen Angst auslösen, damit sich die Verängstigten unterwerfen! Hilft denn dagegen gar nichts? „Gibt man sich zu sehr ihren Tönen hin, droht man sich in seinen Ängsten zu verlieren“, sagt Mona Winter. Töne sind noch keine Geschichte. Töne sind eher das maschinelle Jaulen der Sirenen und das „Pling!“-Gewitter, die Newsmaschine. Es geht um die ständige Wiederholung der Töne, des immer gleichen Tons: „Pling!“ Jeder Ton wird ein Befehl. Die geflüchtete Syrerin Maya berichtet indessen in O-Tönen davon, wie man die Angst gegen den Autokraten und Patriarchen Assad umdreht:
„Es ist wahr: In Syrien gab es eine Revolution. Eine echte. Ich meine… so eine ohne Propaganda. Menschen sind friedvoll auf die Straße gegangen. Wie in Belarus … wie im Libanon. Diese friedliche Gesinnung machte Assad mehr Angst als alles andere. Also schleuste er Agents Provocateure in die Demos. Natürlich um die Situation aufzuheizen, zu kriminalisieren.“

Der mütterliche Zwang zum Schwimmen nervt Gisi. Mona Winter spielt den Zwang zum Schwimmen in seiner faschistischen Dimension durch. Das Schwimmen selbst könnte Gisi vielleicht gar Freude bereiten. Doch es sind die Übertragungen der Zwänge der Mutter aus dem faschistischen Regime, die Gisis Widerstand einsetzen lassen. Mamá ist außer Stande, ihre eigene Zwanghaftigkeit zu überdenken. Die Zwänge beherrschen Mamá und ihre Generation. Sie finden sich sogar noch in viel jüngeren Generationen wie den 1933-Geborenen, die bis heute andauern und sogar noch gegenüber dem Verhalten der Enkel artikuliert werden. Die Autorin legt diese Zwanghaftigkeit frei.
„MAMÁ   Mach bitte kein Popanz draus! Wen wundert‘s, dass tausend Leute dann vor dir ins Becken
springen… tauchen (Pause) naja,sich ertüchtigen…und stählen …
GISI       Kaltwasser-Selbstertüchtigung? N‘en rosiger Gedanke…
MAMÁ     Tut mir leid, was soll jetzt schaden? Na, komm schon! Mach hin! Nichts simpler als einfach
mal zu schwimmen … (lacht) In kompletter Selbstertüchtigung … haha! Schwimmen…
schwimmen …
GISI       Wenn du meinst: …gegen den Strom.“

„Abt. N Reihe 15 Nr. 5 Walter Kirsten * 20. 9. 1907 gest. April 1945“

Die dramaturgische Montage, Formulierungen, Schlüsselworte als Auslöser in der Dialogregie, deckt nicht nur die Zwänge der Kriegsgeneration aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Vielmehr gelingt es der Autorin und Regisseurin so, die faschistische Struktur des Patriachats als Tyrannei des Assad-Regimes freizulegen. Maya erzählt Gisi quasi von ihrer Mutter. Faschismus heiße, „zum Sagen zwingen“, hat Roland Barthes einmal gesagt.[7] Er heißt, das Vorgeschriebene und Vorgesprochene zu sagen, zu wiederholen, damit es inkorporiert wird, zur eigenen Wahrheit des Körpers wird. Die Körperlichkeit des Schwimmens überschneidet sich an diesem Punkt.
„MAYA (lacht/ Syrien-Sounds) Gegen den Strom schwimmen … das klingt gefährlich in meinen Ohren …
Als ich fünfzehn war, entschied sich ja mein Vater zurück nach Syrien zu gehen. Seit den 70er
Jahren herrschte hier immer eine Diktatur. Wir erlebten die als Alltagstyrannei!
SIRENE      Schrei – Ich Zeder und Mordio
In jeder Sache, die man macht. Das fühlt man in der Schule. Man fühlt, dass der Diktator
überall ist. Auch in der Familie. Ehrlich gesagt, so etwas wie Freiheit … kannte ich nicht.
SIRENE    Schrei – Ich – Um dein Leben – Gehör zu finden – Für ein Leben – Ist keine Verführung – Kein
fauler Zauber“  

„IN DER REIHE 12 DER ABTEILUNG N RUHEN: … Sowie 25 UNBEKANNTE MÄNNER“

Das Hörspiel Tot im Leben recherchiert und inszeniert Geschichten, die Deutsche hätten hören können, wenn sie den Geflüchteten aus Syrien und dem Irak z.B. Gehör geschenkt hätten. Mona Winter gibt nicht nur den Geflüchteten eine Stimme, sie weckt die inneren Stimmen, die nur zum Schweigen gebracht worden waren. Wie wird in Deutschland geschwiegen? Es wird im Garten gesoffen, damit sich das Leben und die Sirenen nicht melden. Tot im Leben gibt einen Wink auf die Fremdenfeindlichkeit gar in Ostdeutschland. Vielleicht ging es dabei nie so sehr um das Fremde und Andere, als vielmehr um das Eigene mit seinen Sirenen. Denn die Zwänge und Reglementierungen in der DDR haben sich in die Körper eingegraben. Die Ambiguität des Eigenen wie z.B. in der DDR und die permanenten Sirenen machen es so schwierig, sich gegen das Jaulen zu wehren. Es kommt – ja – von Innen.

„IN DER REIHE 4 DER ABTEILUNG P RUHEN: …
SOWIE 22 UNBEKANNTE MÄNNER, 4 UNBKANNTE FRAUEN UND EIN UNBEKANNTES KIND“

Maya lehnt Hoffnung auf den Kollaps des Assad Regimes in Syrien ab. Gisi weiß nicht, was sie tun soll. Hoffnung ist trügerisch. Die Sirenen werden im Hoffen auf Ruhe nicht schweigen. Gisi lässt sich durch Mayas Erzählungen inspirieren. Denn es gibt eine Gemeinsamkeit der Regime auf der arabischen Halbinsel und in Russland. Diese Gemeinsamkeit lässt sich identifizieren jenseits der Propaganda als Sprachmaschine im Krieg. Ob es ein religiös verbrämtes oder laizistisches Regime ist, die Figur des Patriarchen wird von Assad wie Putin aufgeführt. Sie lässt sich in den durch Angst herrschenden Tyrannen oder Diktator transformieren. Sie sind beide zutiefst in ihre eigenen Zwänge verstrickt. Doch das ist keine Legitimation dafür, dass wir uns ihnen unterwerfen.
„MAYA    Ich lebe jetzt nicht in Syrien. So kann ich nicht sagen: Ich habe keine Hoffnung für Syrien. Die
Menschen, die in Syrien leben, haben Hoffnung. Das ist self-defence mechanism … Ich glaube,
es geht nicht über Hoffnung – für mich. Es geht über: WAS EIGENTLICH SEIN MUSS. Und
sein muss: dass diese Regierung raus aus der Macht geht. Jede Diktatur. Jede sexistische,
patriarchalische – RAUS! Und nur mit justice, die wir definieren. Und erreichen wollen … Und
dafür lebe ich …
HOFFNUNG BRINGT MIR NICHTS“

„DEN TOTEN DES WELTKRIEGES 1939-1945 ZUM GEDENKEN DEN LEBENDEN ZUR MAHNUNG UND VERPFLICHTUNG“

Das Eigentümliche der Sirenen als Mischwesen erregt nicht zuletzt den Zorn der Patriachen. Sie brauchen eine dichotomische Struktur von Mann oder Frau, von Mensch oder Tier, von Russe oder Ukrainer, um ihrer Macht Geltung zu verschaffen. Sie formulieren die Dichotomisierung gar als Natur. Das gilt für Kyrill I., Patriarch von Moskau und aller Rus, Baschar al-Assad wie für Wladimir Wladimirowitsch Putin. Kyrill I. hat die menschliche Vielfalt als Sünde und Abweichung vom „menschlichen Verhalten“ markiert.[8] Dabei geht es nicht zuletzt um eine geschlechtliche Hierarchie des Mannes über die Frau. Sexismus ist immer patriarchalisch. Wenn Männer sich auf der 56. Biennale von Venedig beschweren, dass die Urinale abgedeckelt wurden, dann gibt es einen Wink auf eine peniszentrierte Welt. Auf einmal werden Praktiken des Mannes und des Mannseins spürbar, weil sie vereitelt werden. Die Kunstbiennale ist sicher nicht der schlechteste Ort, um Praktiken zu hinterfragen. Mona Winter jedenfalls hat mit Tot im Leben genau hingehört, um hörbar zu machen, was nicht in die Geschichten vom Krieg passte.

Torsten Flüh

Mona Winter
Ursendung
Tot im Leben
mit Patrycia Ziolkowska, Kristof van Boven, Oda Thormeyer, Jörg Pose, Mariana Karkoutly u.v.a.
Regie: Mona Winter
Musik: Bülent Kullukcu
Nächste Sendung auf rbbkultur 01.05.2022 14:00 Uhr
Mediathek/Archiv


[1] Infotafel: Friedhof am Plötzensee – Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Berlin 2014.

[2] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.

[3] Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 236. (Deutsches Textarchiv)

[4] Siehe Wikipedia: Odysseus und die Sirenen (Vasenbild, ca. 475–450 v. Chr.)

[5] Mona Winter: Tot im Leben. Berlin 2022.

[6] Siehe zum Angriffskrieg und Präambel der UN-Charta: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.

[7] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1980, S. 19.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.

Das Phallus-Paradox der Homophobie

Männerbild – Patriarchat – Prozesstexte

Das Phallus-Paradox der Homophobie

Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2

Im Rahmen von Я выхожу!” Berlin trifft Minsk fand am 21. April 2022 die Premiere der Produktion P for Pischevsky statt. Russisch können eher wenige Deutsche lesen. Я выхожу! heißt Ich gehe raus! Es ist ein Romantitel von Raman Bandarenka, der am 12. November 2020 von Anhängern des Lukaschenko Regimes getötet wurde. So ganz weiß der Berichterstatter dann trotzdem noch nicht, um welchen Ausstieg es genau geht. Der aus der belarussischen Gesellschaft, indem man einen Nachtclub in Minsk besucht, um sich über den belarussischen Alltagsstress hinwegzuraven? Als Raver stylt man sich, konsumiert schon mal ein Pils oder eine Pille und raves, was im Englischen mit rasen ebenso wie delirieren und tanzen in Verbindung gebracht wird. Kurz: Rave ist eine Praxis des Ausstiegs. Mikhail Pischevsky war bis Mai 2014 Raver und verstarb an den Folgen einer homophoben Attacke am 15. Oktober 2015 in Minsk.

Rave wird insbesondere in Belarus/Weißrussland als politisch praktiziert und mit dem Hashtag #musikwaffe versehen. Anna Fillipova formulierte am 11. September 2020 auf www.gq.ru: „Rave ist eigentlich die Waffe des Proletariats im 21. Jahrhundert.“ Die „Waffe des Proletariats“ gibt zumindest von der Lexik zu denken. Die Künstlerin Nadzia Sayapina propagierte im November 2020 „Rave statt Erntedank“.[1] Am 16. Oktober 2020 fand im ukrainischen Kiew in der Bar Chwiljowi eine Art „politischer Rave“ von Belaruss*innen im Exil statt.[2] Der Berliner Premiere im HAU ging am 17. Januar 2021 das Streaming von P for Pischevsky voraus. Anders gesagt: die Premiere im HAU2 war nicht nur tief verflochten mit der Pandemie, den Protesten in Belarus zwischen 24. Mai 2020 und 25. März 2021, sowie Fluchtbewegungen in die Ukraine nach Kiew, vielmehr ist sie jetzt auch mit dem Angriffskrieg des homophoben Wladimir Wladimirowitsch Putin verknüpft. Am 30. April gibt es die nächste Aufführung von P for Pischevsky in Dresden-Hellerau.

P for Pischevsky ist eine Art postdramatisches Dokumentartheater mit Rave und DJ Gleb Kovalski. Doch getanzt wird nur auf der Bühne von den Performer*innen Maryna Shukiurava, Oliver Bennett und Jos McKain. Gleb Kovalski aus Minsk kommt schließlich mit seinen meterlangen Haaren in hochhackigen Lacklederstiefeln und kleinem Schwarzen auf die Bühne, um den Text der Verteidigerin im Mordprozess gegen Lukaschewitsch, den homophoben Angreifer Mikhail Pischevskys, zu verlesen. Gleb Kovalski hat einen Instagram Account und bewegt sich genderfluid zwischen Minsk, Kiew und Berlin. Ihre/seine techno mixes & live set recordings wie MOONSISTERS24h können durchaus an die frühen Electronic Works von Éliane Radique erinnern.[3] P for Pischevsky ist nicht zuletzt queeres Rave-Theater. Die Texte aus dem Prozess um den Tod Pischevskys werden zu einer Waffe gegen die politische – homophobe – Justiz des Lukaschenko-Regimes umgewandelt. Indem Homophobie von der Richterin nicht als Tatmotiv genannt und anerkannt wird, leugnet sie regimegetreu diese.

Gleb Kovalski ist als queerer oder genderfluider DJ und Sound Designer hinter dem Publikum nicht nur für den Sound zuständig. Vielmehr sind Rave und DJ, das Musikmachen mit der geschlechterunterwanderden Praxis die Hauptakteure, soweit es bei einem 4- bzw. 5-Personenstück überhaupt Nebenrollen geben kann. Susanne Sachsse wird mit ihren Textpassagen als Video-Projektion auf dem Vorhang eingespielt. Maryna Shukiurava tanzt und singt Klagelieder. Wäscht den Körper des Sohnes im Koma. Sie spricht auch die Mutter auf Russisch. Wiederholt tanzen die Performer*innen ekstatisch kurze Passagen zur Musik von Gleb Kovalski. Lichtblitze zucken. Misha Ksiushina schaltet Live-Visuals von der Bühne auf den Vorhang. Der homophobe Angreifer im Trainingsanzug, Lukaschewitsch, trainiert seinen Körper. Es geht viel um Körper, Körperlichkeit und der Performanz der Körper.

Auf dem halbtransparenten Vorhang wird ein Portrait von Pischevsky im Raver-Look projiziert. Es erscheinen auf diesem nicht nur technischen Vorhang auch die Protokolltexte in Russisch, Englisch und/oder Deutsch, je nachdem in welcher Sprache sie gerade nicht gesprochen werden. Der Vorhang funktioniert auch als visueller Raum des Imaginären. Akustisch gibt es einen permanenten Wechsel zwischen den drei Sprachen, was durchaus eine Herausforderung ist. Um die Texte ganz in der jeweiligen Übersetzung lesen zu können, werden sie zu schnell gesprochen. Der Vorhang wird nicht nur zur lichttechnischen Projektionsfläche von Erinnerungen, Portrait (Hanna Kruk), das sich auch Motion Graphics (Motis Studio, CHEAP) zusammensetzt oder Texten, er wird auch zu einem Zwischenraum, in dem das Imaginäre verhandelt wird.
„Da Lukaschewitsch offiziell arbeitslos ist, zahlt er eine Entschädigung von umgerechnet 3 EUR pro Monat. Das homophobe Tatmotiv wurde vom Gericht erneut geleugnet.“

© Dorothea Tuch

Die Prozesstexte als Stücktext werden so montiert, dass sie einander entlarven. Es sind vor allem die Texte der Richterin und der Verteidigerin von Lukaschewitsch am Schluss, die als paradoxe Rhetorik aufblitzen. Gleichwohl ist die regimegetreue Rhetorik der Richterin scharf wie ein Schwert. Der Angegriffene wird in einen Angreifer nicht zuletzt wegen seines Verhaltens als Raver verdreht. Aber die langen Textpassagen aus dem Prozess blitzen eher auf, als dass sie sich genauer bedenken ließen. Das liegt zunächst an der Mehrsprachigkeit, aber auch der Regie von Vladimir Shcherban. Die Prozesstexte, die so sehr in die Aufmerksamkeit gerückt werden sollen, fliegen delirierend vorbei. Dass allerdings Gleb Kovalski ausgerechnet das Plädoyer der Verteidigerin spricht, die jeglichen homophoben Hintergrund des Angriffs leugnet, lässt eine Kluft zwischen dem Text und seiner Performanz aufbrechen.

© Dorothea Tuch

P for Pischevsky handelt vom Körper und der Körperlichkeit. Denn die Körper gehorchen im Rave nicht dem Diskurs der (staatlichen) Macht. Sie gehorchen nicht dem Aufmarsch der Körper bei der Militärparade zum 9. Mai 1945 in Minsk im Pandemie-Jahr 2020. Zuckende, springende Körper gibt es bei keiner Militärparade. Die in Reih und Glied marschierenden Soldatenkörper symbolisieren nicht nur die belarussische Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und die zentralisierte Macht Lukaschenkos. Sie imaginieren vielmehr die Staatsmacht als funktionierenden Körper. Für die Minsker Rave-Szene und den politischen Protest wurde im Mai 2020 diese Körperlichkeit des Raves mit anderen Worten von Pascha Danko zum Thema.
„,Tagdessiegestagdesabsuden‘ ist eine ausschließlich kulturelle Veranstaltung von Gleichgesinnten des Kulturzentrums ,Korpus‘.
Im einzigen Land, das in einer so schwierigen Zeit eine Militärparade veranstaltet und priorisiert, ist es aus unserer Sicht die einzig mögliche Reaktion auf die Panzer in der Hauptstadt, diese Absurdität auf die Spitze zu treiben und der Angst ins Gesich zu lachen.
Mit diesem Video wollen wir weder jemanden beleidigen oder verletzen, noch das Gedenken an den Sieg am 9. Mai 1945 verhöhnen. Denken Sie daran: Panzer, Schusswaffen, Rauchen sowie der Verzicht auf Selbstisolation und soziale Distanz können Ihrer Gesundheit schaden“.[4]  

© Dorothea Tuch

Pascha Danko hat den Rave in die Dimension des Politischen für Minsk und Belarus in gerückt. Denn der Körper und seine geschlechtliche Performance war besonders im Oktober 2020 in Minsk politisch geworden. Und das hat bis heute nicht nachgelassen. Das Imaginäre des Körpers, wie Jacques Lacan davon gesprochen hat, entfaltet seine politische Kraft gegen die Doxa als vorherrschenden, geschlechtlichen Diskurs in Belarus wie Russland. In Berlin findet aktuell und mit der „pARTisankA-Party“ Ein Waldmarathon am 28. April ab 19:00 Uhr im HAU2 die „Party“ statt, die in Minsk, Kiew und Moskau zur Zeit nicht stattfinden kann.
„Beim „politischen Rave“ am 16. Oktober 2020 in Kiew waren Leute dabei, die sich vorher wahrscheinlich nicht als Fans dieser Kultur betrachtet hatten, keine politischen Aktivist:innen waren, keine Repressionen oder Angst davor erlebt hatten, die nicht in ein anderes Land geflohen waren, um sich psychisch zu erholen oder vorübergehend Zuflucht zu suchen, wie ich nach meiner Verhaftung, Leute, die nicht wussten, dass sie jemals Unterstützung ihnen unbekannter protestierender Belarus:innen tanzen würden. Einst als eine Art Protest mit Musik als Waffe entstanden, ist Rave nach und nach zu einer Massenerscheinung geworden, für alle möglichen Gesellschaftsschichten in verschiedenen Ecken der Welt attraktiv, notwendig und verständlich. Somit gehört er mittlerweile weder zur Untergrund- noch zur Elitekultur. Auch der belarussische Protest 2020 ist spontan, wenn auch nicht zufällig zu einer Massenerscheinung und monatelang zu einer Lebensweise vieler Menschen geworden.“[5]

Alexander Lukaschenko und Wladimir Wladimirowitsch Putin gehören seit Jahrzehnten zu jenen Politikern, die Homophobie in ihren Staaten als Programm propagieren. Geschlechtliche Vielfalt und geschlechtliche Wechsel gehören für sie zu kulturellen wie staatlichen Verfallserscheinungen, die aus dem als weiblich bzw. „weibisch“ markierten Westen als Schwächung bzw. mit den Worten aus der Kriegserklärung vom 24. Februar 2022 als „Entartung“, „Zersetzung“ und „gegen die menschliche Natur“ importiert werden. In der Transkription der Rede Putins in der ZEIT wurden diese entscheidenden Formulierungen ausgelassen[6], weil sie offenbar nicht als maßgeblich oder als redundant gelesen wurden. Indessen hat Deniz Yüzel in seinem Beitrag in der WELT diese Passage am 28. Februar zitiert und hervorgehoben. Qua Lexik oder Schlagworte wurde die Kriegserklärung homophob formuliert:
„In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört, jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“[7]

Deniz Yüzel hat die Schlagworte – „zersetzen“, „Entartung“ und „gegen die menschliche Natur“ – der relativ komplexen Syntax als von Putin im Kontext der Homophobie gebrauchte identifiziert. „HASS AUF HOMOSEXUELLE Die radikalen Putin-Sätze, die zu wenig Beachtung gefunden habe“ (Die Welt 28.02.2022) „(U)nsere traditionellen Werte“ als genuin russische Kultur werden von Putin als Identität postuliert, die vielfältige Geschlechtsoptionen ausschließt. Ohne die „traditionellen“ Geschlechterrollen anzusprechen, die in der Sowjetunion bzw. Sowjetkultur als Menschenbild gesprengt wie zugleich heteronormativ eingehegt wurden, spricht Putin einen Diskurs als eine Art russisches Sozial(ge)wissen an, das den sowjetkulturellen Kontext versteht. Paradoxerweise wurden Art und Natur der Geschlechter der Russen von Patriarch Kyrill I. dann auch noch mit seiner Predigt am Vergebungssonntag, dem 6. März 2022, bestätigt und quasi transzendiert.[8]  
„Patriarch Kirill painted the Russian invasion of Ukraine in more apocalyptic colors as a conflict “far more important than politics.”
“If humanity accepts that sin is not a violation of God’s law, if humanity accepts that sin is a variation of human behavior, then human civilization will end there,” send there.”[9]
(„Wenn die Menschheit/der Humanismus akzeptiert, dass Sünde kein Verstoß gegen Gottes Gesetz ist, wenn die Menschheit/der Humanismus akzeptiert, dass Sünde eine Variation des menschlichen Verhaltens ist, dann wird die menschliche Zivilisation dort enden,“)

Die „traditionellen Werte” gehen nicht nur in der Sowjetkultur auf, sie werden vielmehr vom KGB-Mann und Putin-Intimus Kyrill I.[10] in ein göttliches Gesetz verwandelt, so dass die Werte zur Religion werden. Kyrill I. hat im Namen des Gottesgesetzes (God’s law) die westliche Humanität wie den Humanismus der Aufklärung für Null und nichtig erklärt, wenn sie die „Sünde“ gegen das Geschlecht und die sexuellen Praktiken akzeptiert. Es geht also historisch nicht nur zurück ins 19. Jahrhundert, sondern ins fundamentalistische Mittelalter. Bemerkenswert ist die Dehnbarkeit des Begriffes Sünde (sin), die anspricht, was nicht ausgesprochen werden darf. „Variation“ und Diversität als Geschlechtervielfalt werden zur Sünde erklärt. Es geht dabei keinesfalls um eine Exegese des Alten oder/und des Neuen Testamentes als Texte, die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) längst zu einer anderen Auslegung gekommen ist, wie Bischof Dr. Christian Stäblein mit seiner Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen 2021 bekundet hat, vielmehr geht es um eine qua Amt – Patriarch – rein patriarchale Machtoperation. Was vermeintlich als Geschichte und Tradition in die Vergangenheit verlängert wird, konstruiert eine imaginäre Sünde als Zeichen des Gesetzesbruchs. Das Moskauer Patriarchat schafft sich seine Gesetze, um seine Macht zu installieren! – Der vielgeübte Versuch, Kyrill und Putin aus der Geschichte zu verstehen, erweist sich an dieser Stelle als eklatanter Fehler.

Kyrill I. wie Putin müssen permanent von „Degradierung“, „Entartung“ und der „menschliche(n) Natur“ nach einem Gesetz Gottes sprechen, um den Phallus aufzurichten. Sie postulieren dabei allererst, was „Natur“ ist. Wer allerdings derart psychotisch vom Phallus spricht und ihn mit Waffengewalt, ja, einem Angriffs- und Vernichtungskrieg verteidigen muss, gesteht zugleich ein, dass er imaginär da ist, ihn aber real nicht gibt. Putin wie Kyrills Reden und Predigten beschwören einen Körper als phallischen Männerkörper, als Gott wie auch als „unser Volk“, der sich einzig und allein als imaginär erweist. Jacques Lacan hat diese Formen des Redens als Psychose besprochen. Denn das Phallus-Paradox organisiert sich dadurch, das von etwas gesprochen wird, was Zeichen geworden ist.
„Auf eine allgemeine Weise ist das Material der eigene Körper. Die Beziehung zum eigenen Körper charakterisiert beim Menschen das letztlich reduzierte, aber wahrhaft irreduzible Feld des Imaginären. Wenn irgendwas beim Menschen der imaginären Funktion entspricht, wie sie beim Tier wirksam ist, so ist es all das, was ihn in elektiver, aber stets äußerst schwer erfaßbarer Weise zur allgemeinen Form seines Körpers in Beziehung setzt, wo dieser oder jener Punkt als erogene Zone bezeichnet wird. Nur die analytische Erfahrung hat erlaubt, dieses Verhältnis, immer an der Grenze des Symbolischen, in seinen letzten Beweggründen zu erfassen.“[11]  

Die Homophobie, die Wladimir Wladimirowitsch Putin mehrfach geleugnet hat, um ihr qua Gesetz eine nur umso mächtigere Form zu geben, gibt einen Wink auf „die menschliche Natur“, die göttlich sein soll und keinesfalls human, wenn man Kyrill I. folgen will. Das Zölibat in der Russisch-Orthodoxen Kirche und im Moskauer Patriarchat wäre ebenso zu bedenken. Durch das Zölibat als geleugnete Sexualität gelingt es den Popen überhaupt sich imaginär unter dem Phallus über die Menschen/Männer zu erheben. Das Kriegsverbrechen der Vergewaltigung kann dann als Sünde beim Popen als menschliche Schwäche gebeichtet und verziehen werden. Das Menschliche gibt es nur durch „God’s law“ bzw. durch den Patriarchen. Wird dieses Menschliche erweitert oder geschlechtlich fluid, greift es den Phallus selbst an. Die Angst vor dem Humanum wie dem Humanismus verteidigt ein Gesetz, das selbst nicht funktioniert. P for Pischevsky deckt die Sprachoperationen auf, die die Homophobie als Struktur der Macht bestätigen, indem sie geleugnet wird. Homophobie ist zutiefst im Körper des Mannes eingeschrieben, weil er ein normiertes Männerbild lieben muss. Anders formuliert: Putin und Kyrill haben Angst vor dem, was sie zu verteidigen suchen. Man kann das „unsere traditionellen Werte“, „unser Volk“ oder „menschliche Natur“ nennen.

Torsten Flüh

Ein Waldmarathon
pARTisankA-Party
HAU2
28. April ab 19:00 Uhr

Nebenan/Побач
Kunst aus Belarus
P wie Pischevsky
Hellerau Großer Saal Sa. 30.04.2022 21:30


[1] Zitiert nach: pARTisanka/HAU (Herausgeber:in): pARTisankA N°35, Berlin 2020, S. o.Seitenzahl (98).

[2] Ebenda S. 99.

[3] Zu Éliane Radique siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[4] Pascha Danko zitiert nach: pARTisanka/HAU (Herausgeber:in): pARTisankA … [wie Anm. 1] S. 100.

[5] Ebenda S. 100-101.

[6] Die Rede von Wladimir Putin im Wortlaut. In: Die ZEIT 24. Februar 2022, 5:59 Uhr.

[7] Zitiert nach: Sabine Hannakampf, Christian Knuth: Kriegsgrund Schwulenhass: Patriarch Kyrill I. stützt These von Deniz Yücel. In: männer* vom 9. März 2022.

[8] Ohne Autor: Russian Church Leader Appears to Blame Gay Pride Parades for Ukraine War. In: The Moscow Times March 7, 2022.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. zur Funktion von Kyrill I. auch: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[11] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.

Kraft des Gedenkens

Gedenken – Trauer – Lied

Kraft des Gedenkens

Zum Gedenkkonzert Quand on n’a que l’amour und der Aktion Kinder brauchen Hoffnung

Am 7. April 2022 veranstaltete der dänische Tenor Mads Elung-Jensen mit den Goldvögeln in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Gedenkkonzert. Geplant war dieses Konzert wohl zunächst zum Gedenken an alle Menschen, die wegen der Pandemie Leid und Trauer erfahren. Doch nun wurde es ebenso den Menschen gewidmet, die wegen des Krieges in der Ukraine Leid und Trauer erleben. Das Gedenken der Menschen in Berlin und fast überall auf der Welt wird auf einmal durchkreuzt vor allem von zwei unterschiedlichen Beweggründen: Pandemie und Krieg. Die ökumenische Karfreitagsprozession von der evangelischen Kirche St. Marien am 15. April kreiste mit ihren Lesungen um das Thema Einsamkeit, weil die Covid-19-Pandemie viele Menschen mit Isolation und Einsamkeit konfrontiert hat.

Eine Aktion kann auch eine Form des Gedenkens sein. Noch bis zum 19. April findet an der Auferstehungskirche in der Friedensstraße von Berlin-Friedrichshain die Aktion „Kinder brauchen Hoffnung“ statt. Sie wurde am 12. April mit einem Friedensgebet und einem Infostand in der Kirche mit Edeltraudt Pohl und Christine Cyrus eröffnet. Am Ostersamstag findet um 20:00 Uhr eine Lesung von Gedichten aus der Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina Die verlorene Harfe auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch statt. Vor der Kirche sind Kinderwagen und Kinderspielzeug installiert, die in den ukrainischen Farben eines blauen und eines gelben Streifens angemalt sind. Zu den Toten und vom Tode bedrohten Menschen in der Ukraine gehören Babys, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Schon am 21. März meldete die Ukraine 115 getötete Kinder.

Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt das Gedenken als ein „verstärktes denken“.[1] Ansonsten wird es vielfältig und variabel gebraucht. Es lässt sich schwer festlegen. Das Gedenken überschneidet sich mit dem Denken und wurde häufig auch mit dem Gedächtnis gleichgesetzt. Ohne weiteres gibt es in Deutschland eine Gedenkkultur der Gedenktag und der Gedenkstätten. Insofern die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche schon dem Namen nach der Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. gewidmet wurde, wird an ihr gar ein sich überlagerndes Gedenken praktiziert. Denn der vom Zweiten Weltkrieg ruinierte Turm der alten Kirche wurde zum Gedenken an den Krieg und seiner Opfer stehen gelassen, was sich bautechnisch als äußerst prekär erwiesen hat, weil es wohl kaum etwas Schwierigeres und Aufwendigeres gibt, als Ruinen zum Gedenken zu erhalten. In Europa und insbesondere in Deutschland hat sich seit 1945 eine weltweit einzigartige Gedenk- wie Erinnerungskultur entwickelt. Aber niemals zuvor wurde das Gedenken an Krieg und Pandemie derart überlagert wie jetzt.

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist ein besonders prominenter Gedenkort. Nicht nur das dynastische Gedenken an den Gründer des Deutschen Kaiserreichs, Wilhelm I., wurde hier seit dem 1. September 1895 gestaltet. In der Gedenkhalle des alten Turms des heutigen Ensembles wurde in Mosaiken das Gedenken an den verstorbenen Kaiser wie die Reichsgründung in Bildern visualisiert. Oder auch andersherum: Die prunkvollen Bilder sollten das Gedächtnis erzeugen. Die Turmruine wurde nach 1945 zum Mahnmal gegen den Krieg weltweit und insbesondere gegen den Angriffskrieg des Deutschen Reiches auf Polen 1938 und die Sowjetunion 1941. Die Gedenkhalle wurde so umgewidmet mit dem Nagelkreuz von Coventry als Geschenk. Denn dort hatte am 14. November 1940 die deutsche Luftwaffe die Kathedrale bombardiert und zerstört. Doch am 19. Dezember 2016 kam es auf dem Breitscheidplatz zum Anschlag des islamistischen Terroristen Anis Amri mit einem Sattelzug. 13 Personen starben auf dem Weihnachtsmarkt. Seit 2017 gibt es das Mahnmal der Riss auf den Treppen zur Kirche.   

Die Einzigartigkeit des Gedenkens in diesen Tagen und Wochen muss erst einmal realisiert werden. Am 18. April 2021 fast genau vor einem Jahr fand in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und anderen Orten in Berlin das zentrale „Gedenken für die Opfer in der Corona-Pandemie“ statt.[2] Obwohl seither ungleich mehr Menschen an Sars-Cov-2 verstorben sind – gestern, Gründonnerstag, wurden 309 Todesfälle gemeldet –, wird ihrer aller Voraussicht nach nicht extra auf höchster politischer Ebene gedacht werden. Das Gedenken geschieht entweder zu früh oder spät. Es ist allerdings wohl niemals zu spät, einem oder mehrerer Menschen zu gedenken. Doch diese Art des unzeitgemäßen Gedenkens ließ sich gar im Gedenkkonzert der Goldvögel spüren. Mads Elung-Jensen hatte mehrere Texte während der Pandemie und des Lockdowns geschrieben, die von Matt Long in eine eindrückliche, nuancenreiche Musiksprache eingebettet wurden.

Die Goldvögel – Rolando Guy, Mads Elung-Jensen, Daniel Wendler, Matt Long – kennen sich mit der musikalischen Gestaltung von Trauer aus. Von Juli bis September 2021 veranstalteten sie fünf Konzerte zu Trost und Trauer in der Kapelle des Friedhofs der Friedrichwerderschen Gemeinde an der Bergmannstraße in Kreuzberg. Trauer hat für Mads Elung-Jensen etwas mit dem Erzählen von Trennung, Verlust und Leere, aber auch mit Liebe zu tun. But Broken Lovely ist mir Matt Longs Komposition zu einer Art Melodram geworden. Gefühle werden um das Wort Liebe und den Verlust durchgespielt. Der Liederzyklus Das rote Haus mit Der innere Saboteur, Das schwarze Loch, Die alte Wunde und Leg Deinen Panzer weg verarbeitet die Gedanken und Emotionen, die durch den ersten Lockdown im März 2020 und den weiteren Verlauf der Pandemie ausgelöst wurden. Sie mögen bei jeder und jedem anders gewesen sein, aber die Überraschung und die Härte des Ereignisses sind bislang selten formuliert worden. Jetzt, quasi zu Beginn des dritten Jahrs der Pandemie kam Das rote Haus zu Uraufführung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Suizide, die vom Lockdown ausgelöst wurden oder als Corona-Suizide öffentlich verhandelt worden sind. Die Rede von den Corona-Suiziden vom Mai 2020 ist fast völlig vergessen.[3] Wer will sich heute noch daran erinnern, dass Suizide im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu einem Argument für Corona-Gegner wurden?! Es gab derartige Zuspitzungen, die allerdings nie in größerer Quantität bestätigt werden konnten, während im dritten Pandemie-Jahr mit Impfstoff und besseren Behandlungsmöglichkeiten über Wochen täglich zwischen 200 und 350 Menschen in einer hochentwickelten Informationsgesellschaft sterben. 2020 ging es um einzelne Suizide. Mads Elung-Jensen formuliert in Der innere Saboteur wie die Ausnahmesituation des Lockdowns einen Menschen mit seinen Abgründen konfrontiert. Das erinnert an den titelgebenden Chansonier Jacques Brel, der eine Art Diskurs der abgründigen Liebe wie in Quand on n’a que l’amour oder Ne me quitte pas entwickelte, die zum Programm gehörten. Das „feine() rote() Haus“, das sich ein Mensch „selbst gebaut“ hat, erweist sich als brüchig. Er muss sich mit seinen Zwängen auseinandersetzen.

Der Liederzyklus Das rote Haus besticht in seiner musikalischen Ausgestaltung durch die Stimmungswechsel in einer fast an Franz Schubert erinnernden Härte. Ein Du wird mit sich und seinen Verhaltensweisen konfrontiert. Das funktioniert nicht nur hinsichtlich der Erfahrungen in einer Pandemie, vielmehr gewinnt Das schwarze Loch eine allgemeinere Bedeutung der Selbstbefragung. Der Lockdown wird eher zum Auslöser der Zweifel an der Lebenspraxis und der Selbstbefragung ebenso wie der Ermutigung zur Verhaltensänderung, als dass er deren Ursache wäre. „Liebes Kind, du schaffst es doch.“ Traumatologisch wird Die alte Wunde angesprochen. Das „verstärkte Denken“ findet als ein rasendes Drehen im Kopf statt. Da erinnert viel an Schubert, den der Liedsänger kennt. Traum- wie Traumabearbeitung mit Schubert, sozusagen:
„Im Kopf da dreht’s
lass es nun raufen,
so wie es will
an diesem Tag.“[4]

Die Erfahrung des Lockdowns als radikale Isolation mehr als die der Pandemie – oder gehören sie traumatologisch doch zusammen? – setzen bei Elung-Jensen einen kathartischen Prozess in Gang. Leg deinen Panzer weg pendelt zwischen Zuversicht, Angst und neuem Leichtsinn. Vielleicht war das im Sommer 2021 nach der ersten Impfung schon das Gefühl, dass die Pandemie beherrschbar werden könnte und frau/man sich nun wieder unter Menschen begeben könnte und sollte. Der zweite Lockdown im Frühjahr 2021, in dem zum zweiten Mal das Osterfest nun wegen besonders hoher Infektionszahlen fast gänzlich ausfallen musste, hatte dazu geführt, dass sich viele Menschen einen emotionalen „Panzer“ zulegten. Das war nicht einfach, sich nach der wiederholten Isolation zu öffnen.
„Du sitzt so still und
schaust hinaus,
du kennst dich gar nicht mehr,
kein Rauschen schrill
kommt in dein Haus,
wüst scheint es grad und leer.“

Die Goldvögel haben eine queere Gedenkkultur mit ihrem Konzert entwickelt. Denn die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche liegt nicht nur unweit der Schöneberger Schwulenszene. Rolando Guy, Daniel Wendler, Mads Elung-Jensen und Matt Long haben während der Pandemie auch für sie sehr untypische Formen der Isolation erlebt. Hinzukommt, dass sie als Schwule wie z.B. Roland Schernikau hinlängliche Erfahrungen mit der AIDS-Pandemie, Isolation und Ausbruchspraktiken gemacht haben. Doch bei vielen Ähnlichkeiten verlief diese gänzlich anders mit weitaus weniger Infektionsfällen. Dennoch führte sie ebenso zur Isolation für die meisten Infizierten, die zunächst von Peter Gauweiler und Horst Seehofer in Bayern in Camps isoliert werden sollten. Zwischen Jacques Brel, Francesco Paolo, vielen anderen und Edith Piaf haben sie eine queere Form des Gedenkens aus der Szene heraus entwickelt. Großartige Performer mit Stimmmaterial und Eigeninitiative. Zum Gedenkkonzert steuerte Erling Viktor minimalistische Kathedralen in schwarzer Tusche bei.

An der Auferstehungskirche nimmt das Gedenken andere Formen an. Hier steht das Entsetzen über die Bedrohung der Kinder während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Mittelpunkt. Kinder brauchen Hoffnung erinnert sowohl an die getöteten Kinder als auch an die besondere Hilfsbedürftigkeit von Kindern, die in einem Krieg traumatisiert werden. Klaus-Dieter Ehmke hatte spontan die Idee, Kinderwagen, Koffer und Kinderspielzeug zu sammeln, mit blauen und gelben Streifen zu versehen und vor der Kirche an mehreren Orten zu platzieren.

Ad hoc ist ein Programm für die Karwoche und Ostern entstanden, das seinesgleichen sucht. Gründonnerstag haben bereits Geflüchtete aus Kiew über ihre Flucht berichtet. Für Ostersamstag ist nachmittags Basteln von Friedenstauben und das Anmalen von Ostereiern mit Kindern geplant. Am Ostersonntag hat die Organistin Martina Kürschner mit der jungen Anne Macauley ein Konzert um ein Kinderlied herum vorbereitet.

Frohe Ostertage

Torsten Flüh

Kinder brauchen Hoffnung
Auferstehungskirche

17.04. Nach dem Ostergottesdienst behängen Kinder die Objekte mit Friedenstauben
            20:00 – 21:00 Uhr Musik in der Kirche:
            Konzert um ein Kinderlied herum
            Anne Macauley und Martina Kürschner
18.04.  20:00 -21:00 Uhr Musik in der Kirche: „Verwandlung“
19.04.  18:00 Uhr Friedensgebet mit Pfarrerin Marlén Reinke
            20:00 – 21:00 Uhr DANKE-Schön-Essen als Finissage für alle.

Die Goldvögel

Künftige Termine des Quartetts unter: Mads Elung-Jensen


[1] Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: GEDENKEN.

[2] Siehe Bundesrat: 18.04.2021: Gedenken für die Opfer in der Corona-Pandemie. (online)

[3] Torsten Flüh: Wissen um den Tod. Zum Suizid und Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juli 2020.

[4] Matt Long/Mads Elung-Jensen: Das rote Haus. Zitiert nach Programmzettel vom 7. April 2022.

Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne

Propaganda – Bücherverbrennung – Russland

Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne

Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat

Am 28. März 2022 wurde Propaganda zum DWDS-Artikel des Tages[1] erklärt. Seit Anfang der 50er Jahre war der Gebrauch des Begriffes bis in die Nullerjahre des neuen Jahrtausends ständig gefallen, um auf eher niedriger Gebrauchsfrequenz bei knapp unter 5 je einer Million Tokens zu verharren. Mit den Reden von Wladimir Putin am 21. und 24. Februar 2022 hat der Gebrauch des Begriffs einen kometenhaften Anstieg erfahren. Die Suchkombination „Putin Propaganda“ zeigt jetzt (9. April 2022, 20:02) bei Google 111.000.000 Treffer innerhalb von 0,50 Sekunden an. Vor drei Tagen waren es noch ca. 2 Millionen weniger. Zugleich verschiebt sich der Begriff der Propaganda von einem ideologischen Kontext zu einem Modus der permanenten Wiederholung in einem Krieg der russischen Falschmeldungen und Drohungen.

Putins Reden zeichnen sich durch einen permanenten Modus der Wiederholung und kühne Montagen aus. In seiner Rede vom 24. Februar beginnt Putin damit, was er bereits am 21. gesagt hatte und betont diese Wiederholung, als solle sie Kontinuität und Kausalität herstellen. Vielfach wurden die Reden auf ihre Ideologie hin gelesen und gar als Putinismus diskutiert. Doch als Ideologie taugen die Reden wenig, wenn man sie wie den Leninismus-Stalinismus in den 1920er Jahre als „proletarische Ideologie“ gebraucht, die die sehr subjektive Triebkraft der proletarischen Revolution ausmachte, worauf Slavoj Žižek Anfang der 90er Jahre einmal mit dem „Spectre of Ideology“ hingewiesen hat.[2] 2022 ist alles anders. Die Praxis der Montage im vermeintlich freien und spontanen Sprechen Putins gibt vielmehr einen Wink auf solche der – postmodernen – Literatur, die Narrative wie bei Vladimir Sorokin auf ironische Weise montiert und dekonstruiert, um ihren Aberwitz offen zu legen. Bei Sorokin wird eine Bücherverbrennung ironisch und abgründig – bei Putin stumpfsinnig.

Vladimir Sorokin hat in seinem Text Манарага 2017 (Manaraga) den Begriff Bücherverbrennung nicht gebraucht. Womöglich hat Wladimir Putin indessen von diesem skandalösen, „postmodernen“ Buch gehört, vielleicht es gar heimlich gelesen, als er behauptete, in Deutschland, in Berlin werde russische Literatur verbrannt. Das Tagebuch eines Meisterkochs, so der deutsche Untertitel, beginnt mit dem „13. März“ eines zunächst ungenannten Jahres, das in einer nicht allzu fernen Zukunft liegen könnte. Die illegale Gourmet-Mode „Book `n΄ Grill“ ist ausgebrochen, so dass der Meisterkoch zur Eröffnung eine Erstausgabe von Fjodor Dostojewskijs Roman Der Idiot verbrennt, um „Schaschlyk vom Stör“ zu grillen.[3] Der Koch spricht „leidlich Französisch, Deutsch und Bayrisch“, hat aber mit „dem mündlichen Russischen … Probleme“[4], weshalb eine deutsche Herkunft trotz seines ungarischen Vornamens Géza und seines russisch-klingenden Nachnamens Jasnodvorskij wahrscheinlich ist. Für seine „Lesung(en)“ hat er sich indessen auf russische Literatur verlegt.[5] Bei den Lesungen verbrennt er vorzugsweise antiquarische Ausgaben russischer Literatur aus „Bibliomuseen der Welt“.[6]

Das Verbrechen der Bücherverbrennung dient Vladimir Sorokin auf subtile Weise nicht dem Hass auf Bücher und/oder ihrer Autoren, sondern dem gastrophilen Genuss. Dafür liest und „verbrennt“ Sorokin montageartig Georges Feydeaus schwankhaft-groteske Komödie Der Floh im Ohr von 1907 und Ray Bradburys mehrfach zitierten Science-Fiction Fahrenheit 451 (z.B. S. 118) von 1953, in dem ein Staat verboten hat, Bücher zu besitzen und zu lesen. Dieses Verbot ist in Manaraga nicht mehr nötig, weil die „Gutenberg-Epoche (…) passé (ist), die Elektrizität (…) den Sieg davongetragen (hat)“ und „die Menschheit aufhörte, Bücher zu drucken, und nur die besten der vorhandenen in den Rang von Museumsstücken erhob“.[7] Was in der Literaturgeschichte zur Praxis der Ordnung von Literaturen gehört, „die besten … in den Rang von Museumsstücken“ zu erklären, hat im Roman konkrete Folgen. Die Ambiguität der Praktiken wird en passant freigelegt. Sorokin gebraucht Worte wie „lesen“ oder „Lesung“ ebenso anders wie zynisch. Russland und Russisch sind im „Postsowjetrussland“ aus der Mode gekommen, weshalb russische Meisterköche englische Roman verbrennen:
„Doch da die Russen nun einmal ihrer alten Ordnung verlustig gegangen waren, fanden sie sich in die neue Lage schnell hinein – und arrangierten sich nicht schlechter als andere, das muss man ihnen lassen: drei berühmte Book-`n΄-Grill-Meisterköche, die ausschließlich auf englischen Romanen grillen – unter ihrem russischen Namen.“[8]      

Sorokins Montagetexte sind, um im Bild zu bleiben, messerscharfe Gegenwartsanalysen der russischen Gesellschaft in ihrer globalen Verflechtung. Seine Texte lesen, heißt Russland lesen lernen. Die Weltgemeinschaft der „Book-`n΄-Grill-Meisterköche“ wird aus der subjektiven Haltung eines von ihnen, Géza Jasnodvorskij, als internationale, hochkriminelle Mafia beschrieben, in der eben auch Russen „mitlesen“. Um an die Bücher als „Scheite“ zu gelangen, müssen die „Meisterköche“ kriminell handeln und mit gewalttätigen Antiquaren Geschäfte machen, als werde mit Rauschgift im großen Stil gedealt. Dabei geht es um sehr viel Geld – „10 000 Pfund für den Abend“ –, so dass Sorokin Narrative der Kriminalliteratur nutzt.
„Ich blättere und sage: »Hoffentlich diesmal ohne Körperverletzungen?«
»Mach dir keine Hoffnungen, Géza!«, lachen die beiden.
»Ach. Ist wieder Blut geflossen?«
»Ein paar Nierenschläge, das ist alles.«
»Tz-tz. Musste das wieder sein …«
Erstaunlich, dass es immer noch einzelne Leute gibt, die das Buch hochhalten.“[9]

Seit Manaraga ist das Verbrechen der Bücherverbrennung ironisch und gesellschaftskritisch im 21. Jahrhundert als Gourmet-Trend angekommen. Gourmet-Trends sind schick und teuer geworden. Literaturen transportieren keine Ideologie mehr, sondern werden nach „Gewichtsklasse(n)“ abgemessen. – „Vollwertiger Roman, mittlere Gewichtsklasse: 720g, 509 S., Velinpapier, Ganzleinen. Ausreichend für acht Spieße.“[10] – Auf der Zunge der Gourmets zergeht die Literatur nun nach den knallharten Gesetzen des Marktes, der Kenner der Gerüche – „Die früheste Turgenjew-Gesamtausgabe riecht nach eingelegtem Obst. Der Gesammelte Dostojewski nach Teer, Tolstoi wiederum nach Apfelpastillen, mit Bärengalle versetzt.“[11] – und der Flammbarkeit des Druckpapiers bei ca. 451° Celsius(!), die Meisterköche hervorbringen. Die „Molekulartechnik“ erinnert nicht von ungefähr an die Molekularküche von Ferran Adrià. Géza hat sich seinerseits 3 Flöhe, gekauft, die ihn mit unterschiedlichen Wissensformen informieren.
„Wobei das mich betreffende Monstrum doch sehr viel weiter nördlich von hier seine Höhle hat: im Berg Manaraga. Ein schöner Berg. Manaraga heißt Bärentatze auf Nenzisch, so hat mich der Floh informiert. Passt! Ein steinerner Bär, der dem Himmel droht. Der Großen Küche, genauer gesagt. Und unsereins soll ihn erlegen …“[12]

Das Bild des Bären als Imagination Russlands kehrt in den Texten Sorokins mehrfach wieder. In Manaraga ist er zu einem „steinerne(n) Bär(en)“ geworden, „der dem Himmel droht“, wie der sowjetische Monumentalsoldat von Lew Kerbel des Sowjetischen Ehrenmals über dem Massengrab der Soldaten am Brandenburger Tor in Berlin von 1945. Monstrum, Berg und Bär verschmelzen in der Tagebucheintragung vom 25. März. Nach Dirk Uffelmann pflegt Sorokin in Manaraga „einen islamophoben Diskurs, den die Autorinstanz weder als gut oder schlecht noch als gerechtfertigt oder xenophob bewertet“.[13] Die Islamophobie des Tagebuchschreibers als Meisterkoch ist eine spezifisch russische, die sich nicht einfach als eine mit der Globalisierung verwandte Angst abgleichen lässt. Uffelmann sieht eine narrative Kluft zwischen dem „ausschließlichen Denken des Erzählers in Kategorien von russischer Kultur und Nationalliteratur“ und „der postdystopischen Welt von 2037“.[14] Die nationale und kulturelle Unbehaustheit zeigt sich an der Figur des Tagebuchschreibers Géza Jasnodvorskij, dass er wohl russische Literatur „liest“ in dem Doppelsinn von verbrennen und verstehen, aber kaum russisch spricht, obwohl sein Text in Russisch geschrieben wird. Im Ergebnis diagnostiziere Sorokin „die reaktionäre, globalisierungskritische und islamophobe Litanei seines Icherzählers als xenophob, paradox und selbstzerstörerisch“[15], schreibt Uffelmann. Man könnte dies heute eine Vorstudie zu Wladimir Putins Kriegspolitik von 2022 nennen.

Der in Moskau geborene Autor Vladimir Sorokin hat 2018 mit Zeichnungen von Ivan Razumov den Text Das weiße Quadrat[16] veröffentlicht, in dem in der gleichnamigen „Sendung“ mit vier Gästen das Russlandbild diskutiert wird. Der Text entwickelt sich aus einer postmodernen Montage unterschiedlicher Texte zwischen russischem Konstruktivismus wie Malewitsch, Quizshow, der antiken Schindung des Marsyas und Dostojewski. Er ist dem Theaterregisseur Kirill Serebrennikow gewidmet, der sich nach unbestätigten Meldungen zwischenzeitlich in Deutschland aufhalten soll, nachdem er Ende März 2022 in Moskau in einem politischen Gerichtsverfahren freigesprochen worden war.[17] Der Text spielt im Fernsehstudio in Moskau, auf dem verarmten Land, vor der Kirche des Heilkundigen Pantaleon, im Filmstudio, im Fernsehen und schließlich auf dem Roten Platz, auf dem Alex aus Stanley Kubricks Clockwork Orange schließlich einer Kolonne vorausläuft.[18] Text und Zeichnungen geben in der Kombination eine eigene Visualität ab. Noch bevor der Text beginnt, tritt ein Bär mit einer zaristischen Krone mit Kreuz und Pelzkrempe auf. Er spielt vor einem Publikum auf einem Akkordeon.[19]

Das Russlandbild im russischen Fernsehstudio wird zu einem Problem des Geschlechts. Während ein Moderator „die Staatsform“ als „eine föderative Demokratie (…) inklusive Präsident und Parlament“[20] voraussetzt, sollen 4 Gäste ihr Bild beschreiben. „Irina, Angestellte im öffentlichen Dienst, Juri, Soldat, Anton, Theaterregisseur, Pawel, Geschäftsmann“[21], sollen ihr eigenes Bild beschreiben. Die Frau aus dem „öffentlichen Dienst“ sülzt poetisch von Russland als Lied: „Ein russisches, ganz klein wenig trauriges, langes Lied.“[22] Der „Stör“ kommt in ihrer Erzählung als Pastetenfüllung vor. Der „Stör“ als Geschmackserinnerung verknüpft. Der Theaterregisseur Anton sieht dagegen „unser Land als riesige, gigantische, jedes Menschenmaß sprengende Laus. Steinhart gefroren und in tiefer Anabiose.“[23] Laus und Floh korrespondieren mit einander als parasitäre Menschenplagen. Für den Soldaten Juri „war Russland immer eine Art Höhle. Eine Höhle der Geheimnisse.“[24] Juri meint, es gehe „nicht nur um Gold, um Erdöl oder Gas. Russland ist reich an inneren Werten, also an dem, was es in sich hat, in seiner Seele. Das Geistige! Das ist unser größter Reichtum.“[25] Und für den Geschäftsmann Pawel ist Russland „immer mit der Vorstellung des Kampfes verbunden“. „Kampf ums Überleben, um einen Standpunkt, um Komfort, treue Freunde, die Liebe, nicht zuletzt ums Geschäft.“[26] Er ruft die „Sowjetunion“ als gemeinsame Erinnerung, als Gemeinsamkeit auf.

Das Geschlecht als Frage der Herkunft und Gemeinsamkeiten[27] wird in der russischen Fernsehsendung Das weiße Quadrat zum Streitpunkt zwischen dem Moderator, Pawel, Irina, Anton und Juri. Die Debatte spitzt sich zu, bis Pawel zu einem Punkt kommt, der zwischenzeitlich an erschreckender Aktualität gewonnen hat. Apple hat seinen Verkauf von iPhones in Russland eingestellt.[28] Pawel konnte 2018 noch sagen: „Das iPhone wird in Amerika hergestellt. Russlands Problem besteht darin, dass Mensch und Staat für sich existieren. Zwischen ihnen gähnt eine Kluft. Und sie wächst. Deshalb wird der Überlebenskampf von Jahr zu Jahr schlimmer.“[29] Die Gemeinsamkeiten der 4 Gäste im Studio und des Moderators sind beim Russlandbild kaum auszumachen. Aber sie haben ihre Herkunft aus der Sowjetunion, die in den Weltraum mit Juri Gagarin vorstieß, ein eigenes Internet entwickeln wollte und Atomwaffen konstruierte. Seit weit über 20 Jahren hatte es Russland 2018 nicht geschafft, an die Entwicklung westlicher Industrienationen anzuschließen. Stattdessen wurde das iPhone zum Statussymbol nicht nur für Fernsehmoderatoren wie dem in Das weiße Quadrat. Wo es kaum noch Gemeinsamkeiten gibt, muss ein Feind geschaffen werden.

Rhetorisch wird von Putin ein alter Feind im Innern propagandistisch recycled. Immer wieder wird vom Moderator der Talkshow die „Fünfte Kolonne“ ins Spiel gebracht, die wie „korrupte() Beamte()“ dem russischen Staat schadet. Der Begriff „Fünfte Kolonne“ ist äußerst beweglich und wird in Deutschland eher für eine „Fünfte Kolonne“ aus Moskau gebraucht.[30] Bernard-Henri Lévy sah im November 2015 Marine Le Pen als „Moskaus fünfte Kolonne“.[31] In Putins Russland wird er als bekanntes Zitat aus Stalins Zeit des Großen Terrors in den 30er Jahren gegen den ultimativen, inneren Feind verwendet. Der Staat muss von der „Fünften Kolonne“ und wer dazu erklärt wird, gesäubert werden. Die „Fünfte Kolonne“ formuliert und reproduziert ein totalitäres Phantasma der Reinheit.  
„Den verdeckten Regieanweisungen Stalins folgend und unter dem Beifall handverlesener Claqueure im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses schließt Wyschinskijs Tirade mit den Worten:
„Das genau ist diese Fünfte Kolonne, dieser Ku-Klux-Klan, die zerschlagen und erbarmungslos ausgerottet werden müssen! Ihr Spiel ist entlarvt! Die Maske des Verrats ist ihnen heruntergerissen worden! Erschießen, zerdrücken muss man dieses verfluchte Natterngezücht!““[32]

Vladimir Sorokins Das weiße Quadrat besticht dadurch, dass es als Montage aus Texten zu Russland exakt jene neuralgischen Bereiche anspricht, die mit der Erklärung des Angriffskrieges auf die Ukraine aufgebrochen sind. Kurz: Die Studiogäste bekommen „Weißen Pep“ gespritzt im Land des Psychopharmaka- und/oder Alkoholmissbrauchs, woraufhin sie nicht mehr wissen, was sie tun. Eine dionysische Orgie im Studio wird losgetreten. Die auch Porno ist und von Ivan Razumov so gezeichnet worden ist. Schließlich wird der Moderator auf das weiße Quadrat gebunden und gehäutet. Die Haut des Moderators wird aufgerollt und mit einer goldenen Krawattennadel zu einem Ring geformt, der dem Regisseur aus der Hand in den Schnee vor dem Studiofenster fällt, wo ihn schon eine Krähe stibitzt, die damit davonfliegt, als ihre Artgenossen sie verfolgen. Der Menschenhautring fällt auf einen Lastwagen, der 6 Stunden 18 Minuten damit auf der Jaroslawer Chaussee fährt… Auf dem Land herrscht so große Armut und Brutalität, dass Sascha nicht nur falschen Honig aus „Melasse, altem Honig und Stärke“[33] vor der Kirche des Heilkundigen Pantaleon als „rechtgläubige(n) Honig“[34] verkauft, vielmehr noch wird der Ring in einer Suppe gekocht und teilweise verspeist. 

Der verstörende Ring aus Menschenhaut als Inkorporation der Schrecken des 20. Jahrhunderts, als Medizinverbrecher in den deutschen Konzentrationslagern Verwertungsexperimente mit der Haut von Menschen, Juden, anstellten, wandert in Das weiße Quadrat wie das Ringlein von einem Ort zum andern. Neben Tauben fliegen auf der Schlusszeichnung Krähen und eine Elster mit dem Hautring samt golderner Krawattennadel über dem Roten Platz am Kreml. Das Titelbild gibt ein Zoomorpher mit Nashornkopf ab, über dessen Horn der Hautring mit Nadeln hängt. Zoomorphe spielen in den Texten von Sorokin wiederholt eine Rolle. Das Politbüro auf der Tribüne am Mausoleum ist zoomorph geworden. Das ist ebenso witzig wie schrecklich. Denn ein regulierendes Politbüro gibt es im Herrschaftsapparat von Putin nicht mehr. Die Trennung zwischen Mensch und Tier hat sich in den Zoomorphen offenbar verabschiedet. Humanismus gibt es mit den Kolonnen auf Roten Platz nicht mehr. Der Mensch, insbesondere als russischer, war schon im Fernsehstudio vor laufender Kamera zum Tier geworden. Ein Medieneffekt nur? Oder der unerbittliche Kampf ums Überleben, den Pawel artikuliert hatte?

In der Erzählung Lila Schwäne des Bandes Die rote Pyramide (2022) wird das Trauma der „Fünften Kolonne“ von Sorokin in die Verkündigung eines „Fünften Imperiums“ transformiert. Wie zu Stalins Zeiten wird eine „große Umgestaltung der Welt“ von einem General versprochen: „er trug eine kleine Ikone vor der Brust, die Juri Gagarin mit einem goldenen Heiligenschein zeigte“.[35] Die Ikonographie der Sowjetunion wird mit dem „goldenen Heiligenschein“ Juri Gagarins ins Religiöse gesteigert. Das ist ebenso paradox wie konstruktiv. Denn Juri Gagarin sollte als erster Mensch in einem speziell für ihn entwickelten, indessen fehlerhaften Raumanzug mit Helm im All die sowjetische Wissenschaft gegen die Religion verkörpern.[36] Auf dem Bleiglasfenster im Foyer des Audimax der Humboldt-Universität zu Berlin erscheint Juri Gagarin in seinem orangefarbenen Anzug mit Helm in einem Ensemble von Wissenschaftlern wie Albert Einstein.[37] Die abstruse Ersetzung des Helms durch einen goldenen Heiligenschein füllt auch eine Leerstelle aus.
„Die überirdische Strahlung russischer Geistigkeit geht von ihm (Jossif Stalin, T.F.) aus! Tief durchdringt sie den Planeten! Posaunentöne hallen durch die Welt: Völker und Staaten, bereut, kehrt ein unter der Flagge des Fünften Imperiums, und ihr werdet teilhaftig der großen Umgestaltung der Welt!“[38]

Die Ersetzung der Wissenschaft durch einen religiös gefärbten Personenkult macht die entscheidende Transformation der traumatischen Sowjetunion in das „Fünfte Imperium“ aus. Ironischer Weise wird mit dem „Fünften Imperium“ die inkriminierte „Fünfte Kolonne“ in ein Versprechen umgewandelt. Die Form des Personenkults in der Erzählung Lila Schwäne nimmt nahezu hellsichtig Putins Stadionrede vom 18. März 2022 anlässlich der Annexion der Krim vorweg.[39] Das Reden wird für den Personenkult zur Machtpraxis, wenn Jewgeni vom „Bund russischer Künstler“ mit gekreuzten „Armen vor der Brust“ wie der Moderator in Das weiße Quadrat verkündet:
„»Wir können über alles reden«, sprach er, »wir müssen es sogar! Flüsternd in den Ecken zu stehen wie der schimmelige liberale Klüngel, genügt nicht. Reden Tag und Nacht, stündlich, minütlich, sekündlich, damit man versteht, in welch großartigen Land wir leben und wie viel wir gemeinsam zu tun imstande sind, wie vieles wir noch vor uns haben und was für einen vortrefflichen Präsidenten, was für hervorragende Militärs, Generäle, Starzen und Heilige, Väter, Mütter, Brüder Ehefrauen, Kinder, wir überwinden jedes Hindernis, finden für alles eine Lösung, vorausgesetzt, wir reden, Reden ist die Hauptsache!«“[40]

Das „Fünfte Imperium“ als Transformation der Sowjetunion wird von Sorokin mit dem Zitat der Reise nach Petuschki von 1969 des sowjetischen Schriftstellers Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew angedeutet und paraphrasiert. Ob die Transformation ein Fiebertraum von Alex nach einem „Seeteufel und Koks“ ist oder die lila Schwäne doch ein Zeichen für ein Unheil sind, das über Russland hereinzieht, bleibt offen. Sie könnten auch nuklear verstrahlt sein. Ob sich Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt haben oder nicht. Die Erzählungen wendet sich in einen morgentlichen F*ck, bevor am „Morgenhimmel“ ein „ebenmäßiger violetter Keil“ aus einem Schwarm Schwäne entsteht. Der Traum artikuliert die sowjetische Angst vor der atomaren Bedrohung, wenn sich die Nuklearwaffen als unzureichend erweisen sollten. Der Einsiedler deutet „seltsame Vogelschwärme (, wo die R-20 stationiert sind)“ als Bedrohung.
„»Dieser Vorfall bedroht die Sicherheit unseres Staates, er könnte uns alle in eine schreckliche Katastrophe stürzen. Russland könnte seinen Atomschild verlieren, seine Sicherheitsgarantie.«“[41]

Sorokins Traumerzählung Lila Schwäne und das Trauma bedingen einander. Im Traum liegen die Männer wenigstens homoerotisch beieinander – „In unmittelbarer Nähe, die Wange an Jewgenis Oberschenkel geschmiegt, der BRK-Mann. Hinter dem General dessen Hand ihm als Kopfstütze diente, der Grobschlächtige; seine Füße in den Jockeystiefeln lagen auf dem zuckenden Gesäß des Weißborstigen.“ Und der F*ck mit Alja wird zum Sprachabenteuer und zur Ekstase, in der das Lila ebenfalls wiederkehrt. Krieg, Angst und Sex liegen nah beieinander, lassen sich kaum voneinander unterscheiden.
„was sind da punkte sind das blasen lila blasen im martini im schweren meer was solln im meer die lila punkte immer mehr punkte im meer he was soll das was soll das was kann das sein und wo kommt das her warum wozu warum warum warum wieso die punkte im glas im pokal he hallo ihr punkte was soll das was wohin jetzt wo fliegt ihr nun hin nein wartet wohin ihr wohin ihr blasen im meer bla bla lila woha woha-aha ah-ha-a-a-a-a-a-aahh?!
Er stöhnte auf, umklammerte sie.“

Neben Lila Schwäne aus dem Bereich von Drogen, Angst, Krieg und Sex als russische Männerseele loten die Erzählungen Die rote Pyramide, Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge, Wellen, Das rostige Mädchen, Der Fingernagel, Der Tag des Tschekisten, Das Tuch und Hiroshima diese weiter aus. In Wellen verschmilzt das delirante Nachdenken nach dem Sex wiederum mit Kriegstechnologie – „Sein Hirn aber, sein mächtiges Hirn ließ sich Zeit: »… wie sie … wie sie das macht (…) … die Welle bricht los, bricht los … sie wird gigantisch sein … einhundert Megatonnen … eine Megatonne ist gleich eine Trillion Kilokalorien … einhundert Trillionen … also … der Energiefluss pro laufendem Meter der Wellenfront … die von den Wellen abgetragene Gesamtenergie bleibt praktisch (…) … eine Welle … Wasser … Wassermann … Kapitäne …« Er war eingeschlafen.“[42] – Wellen der Erregung werden mit Wasser- und Druckwellen verschnitten. Krieg und Sex als Penetration und Ejakulation werden von Sorokin metonymisch verkoppelt. Dadurch wird nicht zuletzt das permanente Reden von der Kriegstechnologie und der Atomwaffe in ihrer sexuellen Dimension entlarvt. – Der Erscheinungstermin für den Erzählband Die rote Pyramide war der 10. Februar 2022, vierzehn Tage vor der Kriegserklärung Putins.

Torsten Flüh

Vladimir Sorokin
DAS WEISSE QUADRAT
Aus dem Russischen von Christiane Körner.
Mit Zeichnungen von Ivan Razumov.
No. 17 | 172 Seiten mit zahlreichen zwei Farben (rot/schwarz)-Abbildungen, Format 18 x 18 cm, Hardcover in Fadenheftung mit einfarbiger Prägung, Kapitalband, farbigen Vor- und Nachsatz 
1. limitierte Auflage von 1000 durchnummerierten Exemplaren
ISBN  978-3-945867-17-4
EUR 28,00

Vladimir Sorokin
Die rote Pyramide
Erzählungen
Übersetzt von: Dorothea Trottenberg, Andreas Tretner
Gebundene Ausgabe 22,00 €
E-Book 18,99 €
Erscheinungstermin: 10.02.2022


[1] DWDS: Propaganda.

[2] Žižek hatte das Gespenst der Ideologie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion analysiert. Slavoj Žižek: The Spectre of Ideology. In: Slavoj Žižek (ed.): Mapping Ideology. London/New York: Verso, 1994, S. 9.

[3] Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, S. 5.

[4] Ebenda S. 19.

[5] Ebenda S. 12.

[6] Ebenda S. 27.

[7] Ebenda S. 13.

[8] Ebenda S. 19.

[9] Ebenda S. 27.

[10] Ebenda S. 5.

[11] Ebenda S. 31.

[12] Ebenda S. 158.

[13] Dirk Uffelmann: Vladimir Sorokins Diskurse. Ein Handbuch. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, S. 227.

[14] Ebenda S. 230.

[15] Ebenda S. 231.

[16] Vladimir Sorokin: Das weiße Quadrat. Berlin: circonis circonia, 2018.

[17] Meldung: Regisseur Kirill Serebrennikow nach Deutschland ausgereist. In: nachtkritik vom 31. März 2022.

[18] Dirk Uffelmann hat die Ausgabe von Das weisse Quadrat durch Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski nicht berücksichtigt. Siehe Dirk Uffelmann: Vladimir … [wie 13] S. 276.

[19] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] ohne Seitenzahl (S. 12-13).

[20] Ebenda S. 16.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Ebenda S. 21.

[23] Ebenda S. 25.

[24] Ebenda S. 29.

[25] Ebenda S. 30.

[26] Ebenda S. 32.

[27] „größere Gruppe, deren Mitglieder durch bestimmte Merkmale, Gemeinsamkeiten miteinander in Beziehung stehen“ in DWDS: Geschlecht.

[28] Chip: Apple stellt Verkäufe von iPhones und Co. in Russland ein. Deutsche Presse-Agentur (dpa) 04.03.2022, 06:23.

[29] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] S. 42.

[30] Siehe Wikipedia: Fünfte Kolonne.

[31] Bernard-Henri Lévy: Moskaus fünfte Kolonne. In: IPG 03.11.2015.

[32] Robert Baag: Stalins Schauprozesse gegen den vermeintlichen Gegner. In: Deutschlandfunk 30.10.2012.

[33] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] S. 131.

[34] Ebenda S. 135.

[35] Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2022.

[36] Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017 21:47.

[37] Vladimir Sorokin: Lila Schwäne. In: ders.: Die … [wie Anm. 35] (nach E-Book ohne Seitenzahl zitiert).

[38] Torsten Flüh: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 17, 2015 20:52.

[39] Siehe Torsten Flüh: Animierte Winterreise südafrikanisch. Zu William Kentridges Mosse-Lecture Image & History. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 6, 2014 21:01. (Erstes Foto rechts, mittig, oben).

[40] Vladimir Sorokin: Lila … [wie Anm. 37].

[41] euronews: [LIVE] Putins Rede anlässlich der Krim-Annexion in einem Moskauer Stadion. Live übertragen am 18.03.2022.

[42] Vladimir Sorokin: Lila … [wie Anm. 37].

[43] Ebenda.
[44] Vladimir Sorokin: Wellen. In: ders.: Die … [wie Anm. 35].