Fragen der Intelligenz

Intelligenz – Krieg – Torheit

Fragen der Intelligenz

Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall

Wieweit reicht die Intelligenz Wladimir Wladimirowitsch Putins? Seit dem 24. Februar 2022 führt der Präsident der Russischen Föderation einen lange vorbereiteten und gegen alle völkerrechtlichen Friedensappelle begonnenen, auf ihn hoch personalisierten Krieg. In den Medien wird seither kontrovers diskutiert, wie intelligent Putin sei. Die Frage der Intelligenz spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung von Stärke oder Schwäche des Staatspräsidenten und vermeintlich obersten Heerführers der russischen Invasoren. Mit geringfügiger Verspätung hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude unter Zustimmung aller Parteien zwischen AfD und Linke eine politische, genauer sicherheitspolitische „Zeitenwende“ angekündigt, während in Berlin 500.000 Menschen auf der Straße des 17. Juni, um die Siegessäule, im östlichen Tiergarten, am Brandenburger Tor und Unter den Linden gegen den Angriffskrieg protestierten.

Am 5. und 6. März veranstaltete die Neue Nationalgalerie auf Initiative von Klaus Biesenbach eine 36stündige Mahnwache über 2 Tage und 2 Nächte und die Spendenaktion Our Space to Help mit der Berliner Initiative Be an Angel e. V. Vor der Neuen Nationalgalerie, der Gemäldegalerie – „Höllenschwarz und Sternenlicht“ – und der Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße waren und sind Fahnen in den ukrainischen Farben Blau und Gelb aufgezogen. Weitere Hilfs- und Spendenaktionen fanden im Humboldt Forum, in der Staatsoper Unter den Linden, dem Museum für Europäische Kulturen etc. statt. Die Kulturszene hat sich nahezu ausnahmslos mit den Bürgern der Ukraine solidarisiert. Dennoch kommt es in eher privaten Kulturveranstaltungen wie Lesungen zu engagierten Diskussionen zwischen Menschen, die Putin für intelligent halten, und solchen, die vom Gegenteil sprechen. Dabei nahm jüngst Barbara W. Tuchmans populärhistorisches Buch The March of Folly von 1984 eine wichtige Rolle in der Deutung von Geschichte ein.[1]  

Die Demokratie nicht nur der Ukraine, sondern Europas und der westlichen Welt soll von Ukrainer*innen verteidigt werden, ohne dass die NATO in den Krieg eingreift, weil dann ein Dritter Weltkrieg insbesondere mit Atomwaffen drohen würde. Damit befinden sich Deutschland und Europa vor allem mit der Atommacht Frankreich in einem Dilemma. Das Vereinigte Königreich als weitere Atommacht mit einem kaum handlungsfähigen Premierminister nimmt eine bedauerlich marginale Rolle ein. Boris Johnson suchte anscheinend nicht das Gespräch mit Putin und wurde auch gar nicht erst vorgelassen. Vermutlich müssten große Teile der englischen Upper Class auf Ascot, Privatschulen, Internate, Royal Opera House und andere Kulturinstitutionen ohne russische Oligarchen verzichten. Im hohen Takt der Eilmeldungen – News Alert – scheint Putin, Deutschland und die EU sowie das Vereinigte Königreich vorzuführen.

Der 22. Februar 2022 markiert nach dem März 2020 eine epochale Wissenserschütterung.[2] Das ist Putin gelungen. Weder wissen wir, wann wieder Frieden in Europa einkehren wird, noch wissen wir, welche Kriegsverbrechen Putin und seine Führungsriege noch alle begehen werden. Derweil inszeniert sich Putin als ein Alleinherrscher und Tyrann, der selbst seinen Chef des Auslandsgeheimdienstes öffentlich zusammenfaltet, damit dieser seine Einwilligung zur Unabhängigkeit von Luhansk und Donezk gibt, weil endlich der Grund zur „militärischen Operation“ geschaffen werden muss.[3] Derartiges hat die Welt nicht einmal von Donald Trump erlebt[4], der immerhin seinen Chefepidemiologen Anthony Fauci düprierte in der größten und verheerendsten Pandemie der Geschichte mit bis heute laut CoronaVirus Resource Center der Johns Hopkins Universität 6.003.925 Toten, davon bis heute 959.625 in den USA.[5] Doch die Wissenserschütterung rührt auch von den Eilmeldungen und Mobile-Videos, die den Krieg versuchen, wahrnehmbar und verständlich zu machen. Aber der Krieg und seine Schrecken entziehen sich aus spektakuläre Weise, so dass nichts bleibt als Spekulation.

Die Kriegsberichterstattung verfehlt auf spektakuläre Weise den Krieg. Zu erinnern ist dafür an das Semesterthema der Mosse-Lectures vom Sommersemester 2014 mit dem Titel Vom Krieg berichten.[6] Nur diesmal sind die Gerüchte, Zweifel und Falschmeldungen intensiver und näher. Die Kriegsreporterin Antonia Rados beklagte in ihrer Mosse-Lecture im Senatssaal der Humboldt-Universität vor allem den „Mangel am Zusehen“. Niemand, „der nicht parteiisch beteiligt ist“, wolle die Kriegsberichterstattung mit wechselnden Kriegsschauplätzen lesen oder sehen.[7] Doch diesmal ist Deutschland, ist Europa parteiisch, weil es durch Putins mangelnde Verhandlungsbereitschaft zur Partei gemacht worden ist. Putins Ukrainekriege hat Deutschland und die Deutschen parteiisch gemacht. War das kalkuliert? Oder hatte er einfach übersehen, dass er anders als in Syrien Deutschland und Europa zu Parteinahme zwingen würde? Wie intelligent war schon alles vorbereitet? Oder hat Putins „folly“, um an Barbara W. Tuchman anzuknüpfen, ihn in einen Krieg getrieben, den er nicht gewinnen kann?

Der anglo-amerikanische Begriff folly hat eine Bedeutungsbreite, die im Deutschen mit Torheit, Narrheit, Verrücktheit und Unverstand, aber nicht mit Dummheit übersetzt werden kann. Am häufigsten wird folly als „Foolishness that results from a lack of foresight or lack of practicality” gebraucht.[8] Die Formulierung „This is a war of folly to continue“ wird für politische Entscheidungen benutzt. Wobei „a war of folly“ sich kaum mit „Krieg des Unverstands“ ins Deutsche übersetzen lässt. Weiterhin findet der Begriff seine Verwendung für „Thoughtless action resulting in tragic consequence“.[9] Folly spielt im Englischen insofern auf all jene Handlungen und Prozesse an, die sich jenseits von Verstand und Intelligenz abspielen. Zugleich lässt sich folly schlecht eingrenzen und beherrschen. Mit dem Namen Les Folies Berger gibt der Begriff einen Wink auf die Unterhaltung durch Revuen um 1900, die sich am Rande der vorherrschenden Kultur und Moral mit erotischen und sexualisierten Darstellungen situiert. Diese Verrückten – Folies – brachen zur Unterhaltung mit den Regeln der Moral.

Die Eskalation des Krieges findet in der Sprache statt. Schon droht Putin mit Atomwaffen als „Abschreckungskräfte“, die auf Europa und die USA zielen, während der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Aktivierung der russischen Atomsprengköpfe als „gefährliche Rhetorik“ verurteilt.[10] Tiefer als es die meisten Kommentator*innen und Kriegsreporter*innen realisieren, wenn sie ein wenig verächtlich von „Putins Narrativ“ sprechen, ist ein Krieg der Begriffe, der Narrative, der Geschichten und Bilder ausgebrochen. Auf der arabischen Halbinsel, die für Antonia Rados entscheidend war, spielte sich der russische Krieg jenseits Europas ab. Das unterscheidet den aktuellen Krieg in Europa von Putins Kriegsschauplatz in Syrien, wo immerhin das Assad-Regime weiterhin einen halbwegs funktionierenden Staat beherrscht, während die Amerikaner auf den Straßen der Internationalen Zone von Bagdad (Irak) damit rechnen müssen, erschossen zu werden. Die arabischen Nachrichtenkanäle schienen Anfangs über Deutschland und die Sanktionen gegen Russland zu lästern. Putin als patriarchale Figur erschien mächtiger als Scholz oder Biden. Doch zwischenzeitlich zeigt ein Überblick der Meldungen zur Ukraine von AlJazeera auf Englisch, dass die „arabische Welt“ für die Ukraine parteiisch wird.[11]

Der aktuelle Krieg findet womöglich stärker als jemals zuvor als ein Krieg der Rhetorik statt. Die semantischen Operationen sind fast abenteuerlicher als das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Russland schottet seine Narrative als Herrschaftsnarrative ab. Die Bevölkerung wird mit brachialen Mitteln gezwungen, nicht etwa zu schweigen, sondern die Parolen zu wiederholen, als hätte es den Bruch mit der Sowjetunion nie gegeben. Die Putin-Administration setzt auf „Fake News“ Haftstrafen von bis 15 Jahren aus, so dass BBC, ARD und ZDF ihre Moskauer Büros schließen und ihre Korrespondent*innen abziehen. Die rhetorische wie praktische Kriegsspirale kennt anscheinend keine Grenzen mehr, weil die Praxis die Rhetorik ebenso wie die Narrative braucht. Kriegsreporter*innen sprechen in Live-Schaltungen von „Putins Narrativ“, als ginge es nun um einen Krieg der Narrative oder gleich Clash of Narrativs. Ist Narrativ schon zu einem Synonym für Propaganda geworden? Oder sind alle Narrative lächerlich, weil sie doch nicht die Grausamkeit des Krieges vermitteln können?

Die Rede von der Intelligenz und ihren mehr als unsicheren Parametern wie dem ihr innewohnenden Schrecken der Maschine ist nicht zuletzt seit Friedrich Nietzsches „intelligente(n) Maschinen“ fragwürdig.[12] Hat sich Wladimir Wladimirowitsch Putin in eine Kriegsmaschine ohne menschliche Gefühle verwandelt? Die Frage der Intelligenz wie der Künstlichen Intelligenz kristallisiert sich nicht zuletzt mit maschinellen Ent- und Verschlüsselungen bei Alan Turing während des 2. Weltkriegs und danach mit dem Turing-Test heraus.[13] Das Internet und Künstliche Intelligenz sind Kriegstechnologien, die popularisiert und kommerzialisiert worden sind. Benjamin Peters hat 2016 im Lab Verhaltensdesign an der Technischen Universität eine „Global History of Partial Cybernetics“ in In the Dashes of the Military-Industrial-Academic Complex angerissen.[14] Die Kybernetik situiert sich „an der Schnittstelle von Medizin, Konditionierung und Optimierung nicht nur von Arbeitsprozessen, sondern des Menschen und seiner Fähigkeiten selbst“.[15] Ungeachtet der prekären Geschichte von Kybernetik, Künstlicher Intelligenz und Intelligenz in der Philosophie sowie Science Fiction wie mit Stanislaw Lems Golem XIV. von 1973[16] kehrt die Rede von der Intelligenz ausgerechnet im Moment einer fundamentalen Wissenserschütterung wieder, um die Handlungen und Praktiken Putins zu sanktionieren.

In einer Epoche, in der die Intelligenz beispielsweise als eine des atomaren Wettrüstens und Abschreckung noch höher im Kurs stand als heute, schrieb vor 1984 Barbara W. Tuchman ihren Bestseller The March of Folly From Troy to Vietnam.[17] In ihrem ersten Kapitel fragt Tuchman einleitend: „Why does intelligent mental process seem so often not to function?”[18] Die Frage lässt sich leicht als eine unter anderen überlesen. Denn die Autorin wurde in Newsweek für ihr „superb storytelling“ gelobt, das „deceit, cant and pomposity“ (Täuschung, Heuchelei und Wichtigtuerei) demaskiere.[19] Der „intelligent mental process“ spielt auf all jene Abläufe an, die sich als intelligent ebenso in den wachsenden Bereichen der Datenverarbeitung wie Digitalisierung und militärischen Steuerung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts anbahnten. Die Verdrängung der analogen Fotografie durch die digitale kündigte sich gerade an. Akademische Abschlussarbeiten wurden auf Computern geschrieben, die noch nicht mit dem Internet verkoppelt waren. 1971 war die erste E-Mail verschickt worden. Blogs gab es noch nicht.

Das Gespenst (spectre) eines nuklearen Krieges schwebe über The March of Folly, schrieb der Rezensent der Chicago Tribune.[20] Insofern könnte Barbara W. Tuchmans als Die Torheit der Regierenden schon 1984 in Deutsch bei S. Fischer[21] erschienene, gut erzählte und enzyklopädisch von Troja bis Vietnam angelegte Geschichte eine gewisse Aktualität haben. Dem Mythos von der Intelligenz der Herrschenden setzt die Autorin einen Anti-Mythos der „Folly“ entgegen. Wie konnte ihr das theoretisch gelingen? Einschneidend war für Tuchman offenbar das Debakel des Krieges in Vietnam für die amerikanischen Streitkräfte und die Washingtoner Administration. „America Betrays Herself in Vietnam“ nennt sie ihr Schlusskapitel, bevor sie dem mit dem Zitat „A Lantern on the Stern“ (Eine Laterne am Heck) einen analytischen Epilog nachschickt. Tuchman ist keine Theoretikerin für Geschichte. Allerdings schreibt sie Geschichte um und „breaks all the rules“ (Newsweek) der Geschichtserzählung. Sie knüpft an die Psychoanalyse und das Unbewusste bei Freud an:
„Reason returned for a brief brilliant reign in the 18th century, since when Freud has brought us back to Euripides and the controlling power of the dark, buried forces of the soul, which not being subject to the mind are incorrigible by good intentions or rational will.”[22]  

Der Verstand (reason) kann nach Tuchmans Geschichtsauffassung nicht die „power of the dark“, das Unbewusste wie das Nichtwissen bei politischen, gar kriegerischen Entscheidungen kontrollieren. Gleichwohl hält sie an Platon und seiner Politeia fest, wenn sie schreibt, dass ein „Übermaß an Macht“ (excess of power) ein wichtiger „Auslöser für die Torheit“ sei. Deshalb sei Platon zu dem Schluss gekommen, dass „Gesetze (…) der einzige Schutz (seien)“.[23] Wir haben erlebt, wie Wladimir Putin in seinem Machtrausch das Gesetz, internationales Recht gebrochen hat und weiterhin alle Gesetze z.B. hinsichtlich eines Schutzes der Zivilbevölkerung oder der Atomkraftwerke bricht. Was macht seine Macht so verführerisch und anhaltend? Aus welchen Energien, um nicht zu sagen Trieb, speist sich Putins anhaltende Macht? Warum könnte es befriedigend sein, den Roten Knopf zur Entfesselung der atomaren Macht zu drücken?

Barbara W. Tuchman kommt zu dem Schluss, dass sich die Macht nur durch den Souverän in einer Demokratie, nämlich den Wähler*innen an der Wahlurne durchsetzen lasse, wobei sie 1984 auf „bessere Zeiten“ in Amerika hoffte, in denen „eine weisere Regierung des Nährbodens einer dynamischen, statt einer geängstigten, verwirrten Gesellschaft“ bedürfe.[24] Mit Donald Trump war 2016 das Gegenteil eingetreten. Das Zitat als Titel geht auf Samuel Taylor Coleridge zurück, von dem am 18. Dezember 1831 in seinen Table Talks notiert wird: „If men could learn from history, what lessons it might teach us! But passion and party blind our eyes, and the light which experience gives is a lantern on the stern, which shines only on the waves behind us!“[25] Coleridge paraphrasiert mit seiner Vergeblichkeit und Nachträglichkeit der Geschichtspädagogik Hegels Formulierung vom Fluge der Eule der Minerva in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts vom 25. Juni 1820:
„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“[26]

Die Erkenntnis als Form des Wissens geschieht nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel nachträglich bzw. dann, wenn sie nichts mehr nützt. In ähnlicher Weise verblenden uns bei Coleridge Leidenschaft und Parteilichkeit, die uns verwehren Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Das Licht der Laterne am Heck eines Schiffes erleuchtet nur noch die Wellen, die wir ziehen und hinter uns lassen. Die Weltordnung nach dem 2. Weltkrieg durch die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 sollte die Lernfähigkeit der Menschheit und der Staaten beweisen.[27] Nach der Präambel der Charta soll sie „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. In Artikel 1 setzt sie das Ziel „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“. Die Russische Föderation hat mit Putins Angriffskrieg dieses verpflichtende Wissen gebrochen.

Wie lässt sich über den epochalen Bruch sprechen? Für die Aktion Our Space to Help war in der Neuen Nationalgalerie „ein „offenes Mikrophon“, um eigene Gedanken, Musik oder Literatur miteinander zu teilen,“ aufgestellt worden.[28] Als der Berichterstatter die Neue Nationalgalerie fotografierte, sprach niemand, machte niemand Musik und las auch niemand Literatur vor. Hatte Putins Intelligenz gesiegt, während doch die News-Maschine unablässig Kommentare produziert? Nein! Es geht darum, ein Nicht-Wissen auszuhalten. Putin weiß nicht mehr als jeder x-beliebige Mensch auf diesem Planeten. Stattdessen produziert er in Wort und Bild Pornos, wenn es um die Vergewaltigung der Ukraine als Frau geht. Robert Habeck hat in seiner Rede als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag diese Geschlechtung der Ukraine als Frau, die sich bei einer Vergewaltigung nicht so zieren solle, eindrücklich in Erinnerung gerufen. In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Macron habe Putin aus einem russischen Kinderlied zitiert, „das Mädchen manchmal beim Kämmen der Haare vorgesungen wird, wenn es ziept. Das ist aber auch ein Synonym für Vergewaltigung: Die Ukraine solle sich nicht so anstellen, sie würde jetzt halt vergewaltigt werden. – So hat der Präsident gesprochen.“[29] Präsident Putin lässt sich mit Flugbegleiter*innen als Patriarch filmen, um seinen „Söhnen“ zu zeigen, dass hier niemand anderes als er selbst diese Schönheiten fickt. Denn die Logik des Patriarchats besteht darin, den „Söhnen“ den Sex zu zeigen, um ihnen diesen vorzuenthalten und ihn selbst zu genießen. Putins biologisches Alter von 69 Jahren spielt für das Imaginäre keine Rolle. Dreißig unterschiedliche, „fuckable“ Frauentypen werden am Tisch versammelt, um von Putin wie im Schulmädchen Report der 70er Jahre belehrt zu werden. Putin genießt den Sex mit den Flugbegleiterinnen, während er das Kriegsrecht erklärt.[30] Und das soll jede und jeder sehen.

Sex spielt in der Darstellung und Selbstdarstellung von Wladimir Waldimirowitsch Putins Krieg eine entscheidende, narzisstische Rolle. Er spricht nicht gegenüber Olaf Scholz, aber sehr wohl gegenüber Emanuel Macron als Konkurrenten von Vergewaltigung. Er zeigt sich mit Flugbegleiterinnen beim Sex, indem er den Krieg erklärt. Krieg als Männersache schloss und schließt in den meisten Fällen bis auf den heutigen Tag beispielsweise in Arabien oder Afghanistan die Vergewaltigung der weiblichen Geisel ein. Gelegentlich sind auch homo- und transsexuelle Personen betroffen, wenn sich nicht gleich exekutiert werden. Doch wenn sie exekutiert sind, lässt sich an ihnen nicht mehr die Macht genießen. Die amerikanische Philosophin Alenka Zupančič hat kürzlich gefragt: Was ist Sex?[31] Die „sehr weitreichende Erfindung auf der Ebene des Begriffs“ in der Psychoanalyse betrifft nach Zupančič ein fundamentales Nicht-Wissen.[32] Sie knüpft dafür an eine Formulierung Lacans an: „Unbewusstes Wissen ist ein Wissen, dass sich selbst nicht weiß.“[33] Das Problem beginnt mit dem Genießen, das Putin geradezu obsessiv vorführt. Ob er selbst weiß, dass er es tut, wissen wir nicht. Barbara W. Tuchman würde heute wohl nicht mehr von „dark power“ sprechen. Doch die Torheit der Kombination einer Supermacht im Informationszeitalter von Macht, Krieg und Sex ist frappierend.

Putin führt nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine als Staat und Frau, vielmehr inszeniert er sich als Retter der Männlichkeit und des Patriarchats. Frauen spielen in diesem Narrativ vor allem eine Rolle als Lustobjekte und Gebärerinnen von Söhnen, an denen sich die Macht des Vaters symbolisch und real genießen lässt. Mit der Charta der Vereinten Nationen lässt sich dieses Rollenspiel kaum vereinbaren. Anders gesagt: Putin Intelligenz zuzuschreiben, ist gefährlich und kann nur dem Interesse eigener Machtphantasien auf gleichem Niveau entspringen. Zu offensichtlich wenden sie sich gegen „die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“, die in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen verbürgt sind. Jede Bombe, jeder Schuss gegen die Menschen in der Ukraine von russischen Flugzeugen und Soldaten, gilt dem Gesetz, das sich und UNS die Weltgemeinschaft am 26. Juni 1945 in San Francisco gegeben hat.

Torsten Flüh

Neue Nationalgalerie
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[1] Burkhard Müller verdanke ich den Hinweis auf The March of Folly.

[2] Zur Wissenserschütterung siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[3] Siehe dazu: Spiegel: »Das diskutieren wir hier nicht« 23.02.2022, 15.42 Uhr.

[4] Zu Donald Trump im April 2020: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[5] Johns Hopkins Coronavirus Resource Center: Global Map.

[6] Torsten Flüh: Vom Dilemma von Zweifel und Glauben an das Gerücht. Antonia Rados‘ Mosse Lecture zum Semesterthema Vom Krieg berichten. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 11, 2014 19:58.

[7] Ebenda.

[8] Siehe Wiktionary: folly.

[9] Ebenda.

[10] Siehe: Carla Bleiker: Wladimir Putins Atomdrohung: Wie ernst ist die Lage wirklich? In: DW 02.03.2022.

[11] AlJazeera: Ukraine: https://www.aljazeera.com/where/ukraine/

[12] Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[13] Zu Alain Turing und Künstlicher Intelligenz siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[14] Torsten Flüh: Von der Design-Wende. Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 14, 2016 21:12. Siehe auch den Konferenzband als Open Source: Jeannie Moser / Christina Vagt (Hg.): Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre. Bielefeld: transcript, 2018. (Open Access).

[15] Ebenda.

[16] Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[17] Barbara W. Tuchman: The March of Folly From Troy to Vietnam. New York: Alfred. A.Knopf, 1984. Zitiert nach der Erstausgabe von Ballantine Books Edition: March 1985.

[18] Ebenda S. 4.

[19] Ebenda ohne Seitenzahl.

[20] Chicago Tribune: “The spectre of this ultimate folly [nuclear war] hangs over Barbara Tuchman’s brilliant and troubling book.” Ebenda ohne Seitenzahl.

[21] Barbara W. Tuchman: Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. (Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser) Frankfurt am Main: S. Fischer, 1984.

[22] Barbara W. Tuchman: The … [wie Anm. 17] S. 381.

[23] Dies.: Die Torheit … [wie Anm. 21] S. 479.

[24] Ebenda S. 485.

[25] „Wenn die Menschen aus der Geschichte lernen könnten, welche Lehren könnte sie uns lehren! Aber Leidenschaft und Partei blenden unsere Augen, und das Licht, das Erfahrung gibt, ist eine Laterne am Heck, die nur auf die Wellen hinter uns scheint!“ (Übersetzung T.F.)

[26] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin: Nicolai, 1821, S. XXIV. (Digitalisat)

[27] Vereinte Nationen: Die Charta der Vereinten Nationen (UNRIC).

[28] Neue Nationalgalerie: Our Space to Help: Spendenaktion in der Neuen Nationalgalerie am 5. und 6. März 2022. 04.03.2022.

[29] Die Bundesregierung: Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Robert Habeck in der Sondersitzung zum Krieg gegen die Ukraine vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 in Berlin. Bulletin 25-5.

[30] Der Spiegel: Bizarre Inszenierung: Putin besucht Flugbegleiterinnen. 06.03.2022.

[31] Alenka Zupančič: Was ist Sex? Psychoanalyse und Ontologie. Wien – Berlin: Turia + Kant 2021.

[32] Ebenda S. 8.

[33] Ebenda S. 36.

Bilderzeugungstechnologien zwischen Rassismus und Krieg

Sehen – Bilderzeugung – Rassismus

Bilderzeugungstechnologien zwischen Rassismus und Krieg

Fortsetzung zur Berlinale 2022 und Closer to the Ground in der Betonhalle des Silent Green

Gibt es einen optisch-mechanischen Rassismus der Fotografie? Können Algorithmen gegen den optischen Rassismus helfen? Wie können die Grenzen der Sichtbarkeit erweitert werden? Und was wird wann auf welche Weise im Film sichtbar? In den Installationen in der Betonhalle des Silent Green widmen sich mehrere Künstler*innen den Fragen der Grenzen von Sichtbarkeit und ihrer Darstellung in visuellen Medien. Paula Gaitán lässt einen Weg in Se hace camino al andar (2021) durch das Gehen eines Mannes entstehen. Die queere Filmemacherin Thirza Cuthand aus der kanadischen Provinz Saskatchewan erzählt in Medicine and Magic (2020) von Schamanismus und Hexerei. Sie montiert Flammen über eine Landschaft. Der in Taipei und Berlin lebende Filmemacher Musquiqui Chihying fragt in The Lighting (2021), wie wir sehen sollen.

Wir sehen längst Algorithmen. Die Kameraprogramme unserer Smartphones und Digitalkameras erstellen nicht nur Panoramafotos. Sie funktionieren über eine ganze Anzahl von Algorithmen, die fokussieren, berechnen und belichten. Operationen, die Fotograf*innen an analogen Kameras per Hand einstellten und es kreativ weiterhin tun. Die Leuchtschriftzüge von Siskas Kino Projekt lassen sich schwer fotografieren. Das Licht ist zu stark, es überblendet die Schriftzüge. Das menschliche Auge geht damit anders um. Erst durch eine Neuberechnung mit dem Helligkeitsalgorithmus von Photoshop beginnt sich, der Kinoname „Apollo“ abzuzeichnen. Der Algorithmus der Kamera ist mit dem Neonlicht überfordert. Die Be- oder Ausleuchtung nicht erst und nicht nur in der digitalen Photographie ist grundlegend. Am Lighting, um Musquiqui Chihying zu zitieren, scheiden sich die Geister. Es entscheidet wie scharf oder unscharf, focused oder out of focus z.B. ein Gesicht in einem Foto zu sehen sein wird. – Closer to the Ground ist noch bis 13. März 2022 in der Betonhalle zu sehen.

Paula Gaitán glaubt an die Zeugenschaft des Kinos, wenn sie im Interview mit Ulrich Ziemons zu ihrem Film sagt, dass „wir auf die Zeit der Dinge achten“ müssten, „auf die Eintragung der Dinge in die Welt“, damit „Entdeckungen stattfinden können“. Das Kino sei in der Lage, dies zu bezeugen und festzuhalten.[1] Der Film ist mit Originalgesängen der indigenen Kuikuro vertont. Ein Mann geht durch ein hüfthohes Maisfeld, das bis an den Horizont reicht. In der Konstellation mit den Gesängen auf Kuikuro ist das endlose Maisfeld ein Widerspruch. Indigene Kuikuro legen keine endlosen Maisfelder an, für deren Anbau Maschinen eingesetzt werden müssen. Doch der sprichwörtliche Titel auf Spanisch scheint ein eigensinniges Wissen über das Leben zu versprechen. Geht es mit dem Kino hier um eine Art Volksweisheit? Oder geht es eher um das paradoxe Bild eines endlosen Nutzpflanzenfeldes, durch das ein Mann sich einen Weg bahnt? Die Kuikuro sind durch das endlos schattierende Grün einer industriellen Nutzpflanze aus dem Bild verdrängt, aber noch zu hören.

Man muss sich auf das Kino einlassen, fordert Paula Gaitán anscheinend. Das vermeintlich natürliche Grün täuscht ebenso sehr wie die Ruhe des Mannes beim Gehen. Mich irritierte zumindest das Bild vom einzelnen Mann in dem Grün, das, denke ich das Paradox mit dem Gesang der Kuikuro weiter, eine genmanipulierte Nutzpflanze eines multinationalen Agrarkonzerns auf indigenem Boden im Amazonasgebiet sein könnte. Ein Bild des globalen Kapitalismus, der Naturzerstörung und des Rassismus. „Der Weg entsteht durch Gehen“, lässt sich der Titel ins Deutsche übersetzen. Wer oder was geht hier falsch? Juliana Costa formuliert diese Fragen in ihrem Essay zum Film nicht und geht eher eklektizistisch mit Vergleichen zu anderen Filmen von Gaitán und des brasilianischen Kinos vor, wenn sie von „Grünverschiebung“ schreibt.[2] Für mich geht das Kino unterdessen erst dann richtig los, wenn die grüne Fläche zu einer Art Vorhang wird. Es ist für mich nicht entscheidend, das Werk Paula Gaitáns zu kennen. Ganz werde ich mich schon nicht täuschen, wenn die Gesänge der Kuikuro hinter dem grünen Vorhang hörbar werden.

Indigenes Kino funktioniert anders als ein Kino der Kolonisatoren.[3] Doch Thirza Cuthand, die in Saskatchewan in einer überwiegend indigenen Familie aufgewachsen ist, nur ihre schottische Großmutter war eine weiße Frau, hat ihren Film Medicine and Magic überwiegend mit Stock-Material, also Bildmaterial aus kommerziellen Datenbanken montiert, um in zwei parallellaufenden Filmen ihre indigene Geschichte der Nêhiyawak-Familie und ihre mögliche schottische zu erzählen.[4] Während die Nêhiyawak-Geschichte als jene der Medizin erzählt wird, formuliert sie die schottische Geschichte von Isobelle Sinclair als eine der Zauberei und Hexe, die durch christliche Kolonisatoren in Schottland bekämpft wurde. Die queere und indigene Filmemacherin montiert für die Erzählungen sowohl indigene Oral-History wie eine durch Internet-Recherche generierte Hexengeschichte. Im Gespräch mit Ariel Smith bekräftigt Thirza Cuthand ihre Arbeitsweise als eine, die ihr nicht durch die Covid-19-Pandemie aufgezwungen worden ist. Eigenes Bildmaterial von Bären und Kühen wird für sie nicht nur wegen der Einschränkungen beim Filmen mit Stock-Material kombiniert, vielmehr ermöglicht das Internet heute Imaginationen aus kursierendem Bildmaterial zu generieren und Familienforschung zu betreiben wie zu erzählen.

Thirza Cuthands montierte Familiengeschichten als Identitätsgeschichte wird möglicherweise nur deshalb in dieser Erzähl- und Produktionsform möglich, weil sie sich selbst als queer verortet. Queere Menschen müssen sich in der Regel ganz andere Geschichten erzählen als jene, die in der heteronormativen Supererzählung ohnehin vorkommen. Das Indigene wie das Queere erfordern eine Selbstermächtigung zum Erzählen anderer Geschichten. Cuthand parallelisiert die kanadisch-indigene Geschichte mit der schottischen, indem Bären und Kühe zu Motiven werden, an denen sich unsichtbare Mächte zeigen. Oral History, Open Source und Stock-Material ermöglichen es zumindest Thirza Cuthand, eine eigene Geschichte zu erzählen, die nur sie so erzählen kann. Zugleich spricht sie von einer Distanz, die sie sonst nicht in ihren Filmen einnimmt.
„Ohne COVID wäre es vielleicht anders geworden. Ich bin mir nicht sicher. Die Möglichkeiten, die mir zur Verfügung gestanden hätten, wären größer gewesen. Gleichzeitig denke ich, dass die Nutzung von Stock-Material zu der Distanz zwischen mir und den beiden Geschichten passt. Normalerweise bin ich selbst in meinen Videos, aber diese Geschichten handeln von realen Personen, nicht von mir, so erschien es mir besser, sie durch die Tiere zu repräsentieren, mit denen sie in den beiden Geschichten verbunden sind: Bären und Kühe.“[5]

Kino entsteht heute durch unterschiedliches Bildmaterial wie bei Thirza Cuthand, geb. 1974. Es ist im Vergleich mit Paula Gaitán, geb. 1954, auch eine generationelle Frage, welches Bildmaterial verwendet und wie die Kamera reflektiert wird. Musquiqui Chihying wurde 1985 in Taiwan geboren und macht das Bildmaterial wie dessen Produktion in The Lighting zum radikalen Thema zwischen analoger und digitaler Fotografie, bildgebenden Verfahren und Computeranimation. Er greift für seinen Film das Beispiel des Fotografierens von schwarzen Pferden auf. Schwarze Pferde verschwinden nicht nur einfach in der Dunkelheit, sie werden vielmehr seit Beginn der Fotografie um 1840 zu einem permanenten Problem der neuen visuellen Kunst. Unter Fotografen werden Tricks zum Fotografieren von schwarzen Pferden immer wieder engagiert diskutiert. Roberto R. löste 2006 mit seinem Post in der fotocommunity eine Diskussion mit 83 Reposts aus:
„Ich habe einer Freundin von mir versprochen ihren schwarzen Oldenburger zu Fotografieren. Leider sehen die Foto´s immer k…. aus. Das Pferd ist stellenweise Unterbelichtet, details saufen im schwarz ab. Womit habt ihr die besten Erfahrungen gemacht?
Ich habe schon versucht etwas Überzubelichten ( +2/3) das war aber auch nicht der Bringer …“[6]

In seinem Vorspann zu The Lighting kombiniert Chihying Grafiken von Fasern, Nebeln, dem All mit Sternen, Meteoriten mit Virenbildern, die an Grippe- und Corona-Viren erinnern können. Bilder aus unterschiedlichen Wissensbereichen werden zu kinematografisch-digital montiert, geschnitten und überblendet. Er formuliert die Frage, wie wir sehen sollen. Der animierte Strom der Bilder von Meteoriten wie Viren muss erst einmal als solcher auffallen, visualisiert werden. Man muss erst einmal die Unterschiede der Formen erkennen und darüber ins Stolpern geraten, ob überhaupt die Meteoriten- und Virenbilder sich in einem Raum, einem virtuellen All des Sichtbaren bewegen können. Chihying fragt: „How should we look“. Sowohl große bis sehr große Meteoriten konnten bislang kaum fotografiert werden. Durch Reportagen, visuelle Wissensformate in den Medien, Nachrichten sind die Techniken zur Erzeugung beispielsweise von Tiefe, Nähe und Ferne etc. weit verbreitet und Bestandteil eines visuellen Wissens. Dafür bedurfte es immer der Rechenprozesse und Algorithmen sowie eine Verkettung der Bilder in einer Syntax.

Die Welträume des Kinos und unserer Vorstellungskraft in Namen, Formen und Farben werden aus Bildern und Bewegungen generiert. Eine Bildsequenz wird syntagmatisch geordnet. Das Auftauchen der Virenbilder in diesem Raum wirkt komisch. Die Widerhaken oder Spikes der kugeligen Virenbilder unterscheiden sich von den Bruchkanten der Meteoriten. Die Widerhaken/Spikes illustrieren die Informationsübertragungen von Viren, insofern sie anders als Bakterien ein informationelles Krankheitsmodell verkörpern, wie u.a. mit Die Kontaktperson als Schnittstelle besprochen wurde. Weltraum und Körperimagination werden von Chihying verschnitten. Denn es ist genau jenes Bildverfahren, das das russische Fernsehen einsetzte, um seinen an die glorreichen Zeiten der sowjetischen Weltraumfahrt anknüpfenden Impfstoff Sputnik V im Juli 2020 zu propagieren.[7] Gegen diese Art des Kinos empfiehlt Musquiqui Chihying „Kungflu“ mit l wie Grippe als Kampf gegen falsches Sehen und Aussehen. Es geht vor allem darum, Strategien zu entwickeln, Bilder auf ihre Funktionen, Herkunft, Kombinationen und Inszenierungen zu befragen. Denn damit kämpfen jene jüngeren Generationen, die täglich mehrere Hundert Videos auf ihrem Smartphone von YouTube mit einem Pling „angeboten“ bekommen: Körperbilder, Kriegsbilder, Katastrophenbilder. In der Flut machen sie die Konsument*innen hilflos, apathisch, depressiv oder aggressiv.

Wir haben uns z.B. an die Bilder der NASA vom Mars gewöhnt. Noch ehe ein H²O-Moleküle gefunden werden konnte, wurden ganze Landschaften mit Flussläufen und Meeren visuell auf dem Mars generiert bzw. belichtet – und gelesen mit der händeringenden Frage, ob es dem Mars Leben gibt, gegeben hat oder es sich dort leben ließe. Die Forscher*innen und Künstler*innen Helene von Oldenburg und Claudia Reiche eröffneten schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf ihrer Mars Exhibition Site einen virtuellen Ausstellungsraum, um andere Bilder vom Mars zu ermöglichen. Ähnlich wie Kungflu ist das Mars Project auf die Hinterfragung von visuellen Narrativen angelegt. Denn die visuellen Narrative sind nicht etwa objektiv oder subjektiv, einfach sichtbar oder überbelichtet, scharf oder out of focus, sondern sind mit dem Bild vom Menschen und dessen Rahmungen wie Konstruktionen abhängig. Bilder lassen sich nicht nur mit dem Smartphon machen. Sie werden abgeglichen, verglichen und in kapitalistische Prozesse eingespeist. – Datenbanken wie sie z.B. von Thirza Cuthand genutzt werden, operieren mit visuellem Kapital. Musquiqui arbeitet in diesem Bereich.
„Specialising in the use of multimedia such as film and sound, he investigates the human condition and environmental system in the age of global capitalisation and engages in the inquiry of and research on issues of subjectivity in contemporary social culture in the Global South.“[8]

Musquiqui Chihying ist Forscher, Aktivist und Filmemacher zugleich, das macht seinen Film-Essay besonders vielschichtig, wobei der technische Rassismus der Fotografie sein Hauptinteresse wird. Er analysiert Smartphonfotos oder kurz Pics auf ihre Algorithmen. Zugleich lässt er „schwarze“ Fotograf*innen über den technischen Rassismus der Fotografie sprechen. – „If mirage has a colour“ – Für ihn wird Licht „das Gespenst“.[9] Damit dreht er nicht zuletzt die Lichtmetaphorik der europäischen Philosophie seit Platon’s Höhlengleichnis um. Licht ist keinesfalls zugleich Erkenntnis, sondern abhängig von Oberflächen, Emulsionen oder Algorithmen, auf die es trifft.
„Von analog zu digital, von der lichtempfindlichen Beschichtung bis hin zu Computeralgorithmen – Licht nimmt immer einen unersetzlichen Platz in den konkurrierenden Technologien der Bilderzeugung ein. Jedoch ist im gesamten Prozess der Arbeit mit Licht der Einfluss weißer Vorherrschaft nicht zu leugnen, der „unbewusst“ und „unbemerkt“ menschliche Vorurteile geprägt hat.“[10]

Der Filmemacher setzt seine eigene Filmtechnik zwischen Kodak Ektachrom und digitaler Animation des computergenerierten Kungfu-Stars Bruce Lee, dessen Mimik mit Hilfe von Motion-Capture-Technologie und einem Spracherkennungsalgorithmus trainiert wurde, zur Befragung und Erforschung des rassistischen Lichts ein. Kungflu lässt sich als ein ebenso wissenschaftliches wie witziges Verfahren der Bildanalyse und -verarbeitung verstehen. Dafür knüpft er filmhistorisch an Jean-Luc Godard an.
„Jean-Luc Godard war einer der ersten Weißen, der diese Krise in den Diskursen des ehemaligen Westens reflektierte. Als er 1977/78 nach Mosambik eingeladen wurde, um die Filmproduktion des Landes zu unterstützen, stellte er fest, dass die damals gängigen Kodak-Filme für Porträts von Personen mit dunkler Hautfarbe nicht richtig belichtet werden konnten. Man kann dieses technische Versagen nicht einfach auf eine damalige unzureichende Ausrüstung zurückführen, denn selbst die modernsten Algorithmen, die heute verwendet werden, weisen immer noch eine ziemlich hohe Fehlerquote bei der Bestimmung bestimmter Personengruppen und ihrer Hauttöne auf.“[11]  

Seit dem 24. Februar 2022 ist das Lügengespinst des Krieges nach Europa zurückgekehrt. Bilderfluten machen das Verbrechen des Angriffskrieges nicht transparenter, sondern werden auf die eine oder andere Weise für Narrative gebraucht. Al Dschazira versetzt die arabisch-sprechende Welt in eine patriarchales Tyrannennarrativ, mit dem Putin vermeintlich Europa und die USA in die Knie zwingt. Das Tyrannennarrativ verlangt nach der islamischen Logik Unterwerfung. In deutschen Flüchtlingsheimen werden arabischen Geflüchteten 3.000,- Euro pro Monat für eine Teilnahme im Krieg für oder gegen die Ukraine angeboten. Die Massen der Bilder und Kommentare werden zur Destabilisierung Europas und der westlichen Welt eingesetzt, während einige arabische Staaten wie Ägypten von ukrainischem Weizen abhängig sind. Es wird versucht, verschreckte, vor dem Krieg des IS Geflüchtete bei ihrer Ehre zu packen, um sie als Söldnern zu verheizen. Andererseits gibt es genug junge Geflüchtete, die derart vom Krieg in Syrien, Irak oder Libanon traumatisiert sind, dass sie kaum noch schlafen können. Eine erste Strategie wäre Kungflu und den Bilderstrom des Endless Reality Cinema zu unterbrechen. Wir müssen Fragen an die Bilder stellen.

Torsten Flüh

Forum Expanded
CLOSER TO THE GROUND
bis 13.3. Di–So 14–19 Uhr
Tickets: € 8,00 / € 6,00
Zeitfensterbuchung erforderlich
silent green Kulturquartier
Gerichtstraße 35
13347 Berlin   


[1] Siehe: Arsenal: Se hace camino al andar/The Path Is Made by Walking. Bonusmaterial. Ulrich Ziemons im Gespräch mit der Künstlerin Paula Gaitán. (Arsenal)

[2] Ebenda: Juliana Costa: Grünverschiebung.

[3] Zum indigenen Kino und seinen Transformationen siehe auch: Torsten Flüh: Get the spirit. Eröffnung der Berlinale-Sonderreihe NATIVe im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 9, 2013 23:23.

[4] Forum Expanded: MEDICINE AND MAGIC – Thirza Cuthand im Gespräch mit Ariel Smith. (Arsenal)

[5] Ebenda.

[6] Orthographie- und Interpunktionsfehler im Original. fotocommunity: schwarze Pferde Fotografieren. (Forum Naturfotografie)

[7] Vgl. Torsten Flüh: Sputnik 5 und Hegels Weltgeist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2020.

[8] Musquiqui Chihying: About. In: http://musquiquiabout.blogspot.com

[9] Forum Expanded: The Lighting: Kommentar des Künstlers.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

Der Vorhang des Kinos

Berlinale – Publikum – Vorhang

Der Vorhang des Kinos

Zur Berlinale 2022 und Forum Expanded im Kulturquartier Silent Green

Was ist Kino? In der Fernsehnachrichten wurde bereits am Mittwochabend die Preisverleihung der Berlinale Bären gezeigt, als habe ein fast normales Internationales Filmfestival stattgefunden. Iris Berben hatte zuvor auf dem Roten Teppich vor dem Berlinale Palast zur Eröffnung von einem gespaltenen Gefühl gesprochen. Die Berlinale wollte und sollte das Kino retten. Doch längst wird fast alles auf die 55- bis 75-Zoll-Bildschirme im Kleinkinoformat zuhause gestreamt. Die Berlinale war bis zum Februar 2020 vor allem eine Feier des Kinos ohne Werbevorspann, mit Kartenkauffieber, Schlangestehen, überraschenden Treffen von Freund*innen, Gedrängel, Sitzplatzsuche, Vorhang. Bei der zweiten Vorführung nach der Weltpremiere von Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz am 26. Februar 2020 am nächsten Morgen um 9:15 Uhr im fast ausverkauften Friedrichstadt-Palast saß neben mir ein Paar aus Italien.[1]

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Kino ist Publikum. Nirgendwo sonst wurde das Kino als Publikumsfestival im doppelten Sinne so sehr gefeiert wie bei der Berlinale. Publikum ist mehr als eine Person vor einem Flachbildschirm. Publikum ist auch mehr als ein halb von Menschen, die sich ohne Wahl ein Ticket online gekauft haben, gefüllter Kinosaal. Es ist nicht die Einzelperson vor dem Bildschirm bei einem gestreamten Festival. Nicht nur ich habe eine unbändige Sehnsucht nach Publikum, obwohl ich weiß, dass die Omikron-Welle der Covid-19-Pandemie den Organisator*innen gar keine andere Wahl ließ. Die Berlinale 2022 ist wieder ein Gespenst geworden. Sie wurde der Versuch, der Festivalmacher*innen wie der neuen Kulturstaatsministerin Claudia Roth wenigstens Bilder, „Boulevard 2022“, „Starportraits 2022“, Videos, „Best of Berlinale 2022“ und Texte für die Online-Präsenz und das Fernsehen zu produzieren, die an ein Festival für das Kino erinnerten. Ein Zipfel Berlinale und Kino ließ sich dann doch noch beim von Ulrich Ziemans und Ala Younis geleiteten Forum Expanded in der Betonhalle des Silent Green erhaschen. Überraschend intensive Filme z.B. aus Indien ließen sich dort entdecken. Die Ausstellung ist noch bis 13. März 2022 zu sehen.

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Mit Neonlichtschrift in z.B. Arabisch eröffnet Das Kino Projekt des Künstlers Siska den Zugang zur Betonhalle. Derartige Neonschriftzüge mit Kinonamen gibt es noch vereinzelt in Berlin und anderen Städten. Viel öfter aber sind sie verschwunden, nach Schließung eines Kinos abmontiert, bevor ein Ramschladen im ausgefrästen Kinoraum eröffnete. Siska zeigt während der Berlinale jene Kinonamenszüge, die für Das Kino Projekt in den letzten 10 Jahren entworfen wurden. Denn Siska recherchiert wie in Köln verschwundene Kinos z.B. das Lux Kino, wo heute Media Markt Flachbildschirme in Full High Definition verkauft. In Tripoli fand er das Cinema الكواكب  (El Kawakeb – Planeten). Doch Das Kino Projekt reist auch um die Welt, um lokale Amateurfilm-Archive als eine Frage des kulturellen Gedächtnisses aufzuspüren und zu zeigen. Der Amateurfilm auf Normal- oder Super-8 und 16mm ist unterdessen heute dem Tsunami der TicToc-Filmchen gewichen. Eine Art Kurzzeitgedächtnis, das sich selbst löscht.[2]

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Ulrich Ziemons und Ala Younis haben sich in der Realität der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung intensiv mit dem Film als kulturelle Be- und Verarbeitung ebenso wie mit dem Kino befassen müssen. – „Denn es bedeutet einen Unterschied, etwas gemeinsam in einem Kino auf einer angemessen großen Leinwand zu erleben oder allein zuhause zu sitzen und es sich auf einem kleineren Bildschirm anzusehen.“ (Ulrich Ziemons)[3] – Die Pandemie hat mit der umgangssprachlichen Verkürzung Corona nicht nur die Perzeption von Filmen verändert, die zu Beginn von Covid-19 bereits fertig oder fast fertig waren. – „Wir sehen sehr deutlich, wie Corona und die Situation, in der wir uns befinden, die Themen und Bilder überschatten.“ (Ala Younis)[4] – Sie wirkt auch stark auf neue Filme ein. Die Wahrnehmung des Publikums trifft beispielsweise bei der 1-Kanal-Videoinstallation Jole Dobe Na (Those who do not drown/Diejenigen, die nicht ertrinken) von Naeem Mohaimen von 2020 nicht nur auf eine Trauererzählung, sondern auf die Imagination einer Atemmaske unter rotem Alarmlicht.

Als der Berichterstatter den Raum mit der Videoinstallation betritt, blickt er auf eine junge Frau unter einer Atemmaske auf der Leinwand. Das schockiert und fasziniert ihn, ohne dass er weiß, wann die Aufnahmen wo gemacht wurden. Die Videoinstallation wiederholt sich alle 64 Minuten. Sie ist so eingerichtet, dass das Publikum einzeln an jeder Stelle des Films eintreten kann. Das unterscheidet die Videoinstallation von einem Film im Kino, wo der meist rote Samtvorhang zu einer bestimmten Zeit vor dem versammelten Publikum auf- oder hochgezogen wird. Während der Berlinale wird der Vorhang in den Kinos besonders stark inszeniert. Auf ihn folgt der Berlinale Trailer mit einer eigenen Soundmarke. Der Vorhang ist für das Kino wesentlich. Er wird an einer anderen Stelle in der Ausstellung zitiert. Jole Dobe Na erweist sich nach und nach als eine vielschichtige Arbeit der Trauer. Die Räume eines verlassenen, kolonialen Krankenhauses in Kalkutta werden zum Schauplatz einer Trauerarbeit am Kolonialismus wie an der Transkription indischer Namen und einer (westlichen) Medizin. Denn die Frau, die eine Diagnose über eine Blutkrankheit gestellt bekommt, verweigert sich der Medikation und stirbt.

Jole Dobe Na verhandelt mit der Trauer Jyotis (Sagnik Mukherjee) um seine Frau Sufiya (Kheya Chattopadhyay) und dem verlassenen, gleichwohl pittoresken Krankenhaus einen Kolonialismus, der tief in die Körper eingedrungen ist. Visuell werden Blutbilder ebenso aufgerufen und montiert wie Beschriftungen – „No gift or tips to employees“ –, verlassene Krankensäle und ein alter elektrischer Aufzug, der durch Schnitte ständig zwischen abwärts und aufwärts wechselt. Zugleich befinden sich Sufiya und Jyotis sprichwörtlich hinter Gittern im Aufzug. In einer Einstellung kämmt Jyotis das lange Haar von Sufiya, die auf einem alten Röntgentisch wie auf einer Totenbahre liegt. Die Bildmontagen kippen ins Surreale und werden ambig. Es geht um Formen medizinischen Wissens und eine Liebesgeschichte. Der Film ist keinesfalls nur dramatisch oder nur dokumentarisch. Vielmehr wird das Dokument des verlassenen Hospitals zum Schauplatz des Wartens auf den Tod oder auch des Dramas vom Vereinigten Königreich und Indien.

Die Erfahrung der Covid-19-Pandemie wirkt auf die Wahrnehmung von Jole Dobe Na ein. Sie verändert, was wir sehen oder übersehen. Sie hat wohl zumindest den Schnitt in der Produktion noch beeinflusst, wenn Ala Younis sagt, dass Jole dobe na „kurz vor der Pandemie gedreht“ wurde. „Als Naeem Mohaiemen mit dem Schnitt begann, schlug das Virus zu. Plötzlich lebten viele Menschen allein, weil sie ihre Liebsten verloren hatten oder von ihnen getrennt wurden. Damit nahm der Film eine ganz neue Bedeutung an, obwohl diese weder Teil der anfänglichen Konzeption des Projekts noch das vom Filmemacher intendierte Ziel war.“[5] Wie hätte Mohaiemen den Film, ohne den Einbruch der Pandemie geschnitten? Obwohl der Schnitt fast noch wichtiger ist als das Bildmaterial, weil er allererst die Bilder sequenziert und eine visuelle Rhetorik erstellt, lässt sich schwer sagen, wie der Einbruch der Pandemie den Schnitt verändert hat. Wir wissen es nicht. Und vermutlich könnte es der 1969 in London geborene Fotograf, Filmemacher und Cutter Naeem Mohaiemen selbst kaum sagen.

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Naeem Mohaiemen geht es um Sichtbarkeiten und Strukturen der „globalen Geschichte“ nach dem Historiker und Juristen Samuel Moyn. Er nahm 2017 an der documenta 14 mit seinem Digitalvideo Tripoli Cancelled teil.[6] Das gibt einen Wink auf Jole Dobe Na und die Sichtbarkeit eines Blutbildes bzw. dem schemenhaften Foto von Blutkörperchen unter dem Mikroskop. Was lässt sich dort sehen? Mit dem Ausbruch von Sars-Cov-2 und seiner Visualisierung als Kugel mit Widerhaken durch ein digitales, bildgebendes Verfahren bzw. Grafikprogramm, hat das visuelle Gedächtnis der Welt schlagartig und nachhaltig verändert. Das Bild vom Virus entfaltete eine nie gekannte Wissensmacht. Im Frühjahr und Sommer 2020 herrschte in Deutschland eine Grafik vor, die zwischenzeitlich modifiziert und diversifiziert worden ist. Es ist dadurch zugleich weniger mächtig geworden. Bereits mit dem Werbevideo für den russischen Impfstoff Sputnik V, von dem kaum noch etwas zu hören ist, weil er sich offenbar in den Wellen der Mutationen nicht anpassen ließ, kippte die Visualisierung in eine Art kosmologischen Comic.[7]

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Die Frage nach der Sichtbarkeit von Kolonialismus und Rassismus, von Wissen und Körper spielen in Naeem Mohaiemens Jole Dobe Na eine entscheidende Rolle, die ebenso in der Covid-19-Pandemie geradezu brennend wurden. Wichtiger als die Geschichte einer Verweigerung, ein Medikament zu nehmen, sind die Bildkompositionen, wenn beispielsweise Sufiya von zwei Scheinwerfern links und rechts angestrahlt wird. Welche Funktion haben die Scheinwerfer, die wechselweise an und ausgeschaltet werden? Was machen diese Scheinwerfer am Gesicht sichtbar oder nicht? Die Schauspielerin blickt regungslos in die Kamera. Die Scheinwerfer, die wie medizinische Leuchten das Gesicht von der Seite erhellen, machen offenbar nichts weiter sichtbar. Das verlassene Krankenhaus funktioniert zugleich als eine Erinnerung an die klinischen Operationen und heute befremdlichen Maschinen, die das Wissen vom Körper generierten. Der Ort der Klinik in Kalkutta erinnert in Naeem Mohaiemens Film nicht zuletzt an das Gespenstische ihrer Konstruktion im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Sie ist auch ein Gebilde der Macht. Vorhänge, das nur nebenbei, spielen übrigens in der Klinik des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.

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Die 3-Kanal-Videoinstallation The Wake von The Living and the Dead Ensemble kreist um die Frage des Unsichtbaren oder der Unsichtbaren. In der Betonhalle verbirgt sich die Installation hinter einem roten, kinoartigen Vorhang. Mit den Lebenden und den Toten wird aktuell ein Bereich angesprochen, der bei immer noch an einem Tag von 210 gemeldeten Toten mit Sars-Cov-2 ein Verhältnis von An- und Abwesenheit anspricht, das geflissentlich verdrängt wird. Die Lebenden wollen das „normale“ Leben zurück und „Freiheit“. Die Toten werden verdrängt. Doch The Living and the Dead Ensemble geht noch weiter: Sind die Toten wirklich abwesend? Oder sind sie nicht allgegenwärtig? Der rote abschirmende Vorhang gibt hier einen Wink: War Kino nicht immer eine Form der Totenpraxis? Wir sehen etwas, was definitiv abwesend ist. Im Kino erscheinen immer Tote auf der Leinwand, selbst dann, wenn die Darsteller*innen noch leben. Das Kino war immer eine Geisterkunst. Auch das verschiebt sich mit dem Heimkino in HD.

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Der rote Kinovorhang um die Videoinstallation weckt den Wunsch, hinter ihn zu blicken. Hinter dem Vorhang muss sich etwas verbergen. Auf die Funktion des Vorhangs hat Jacques Lacan einmal, am 4. März 1964, mit der Erzählung vom Vorhang des Parrhasios hingewiesen.[8] Dabei geht es nicht nur um die Malerei. Parrhasios gewann den antiken Malwettbewerb mit Zeuxis, indem er einen Vorhang auf eine Wand malte, den Zeuxis zur Seite schieben wollte. – „er möge ihm doch zeigen, was dahinter gemalt sei“(!) – Der gemalte Vorhang täuschte (selbst) den Malerkonkurrenten. Die Wand wie der Vorhang oder auch die Wand als Vorhang lassen den menschlichen Wunsch nach dem Wissen, was dahintersteckt, an eine Grenze stoßen. Was sich hinter dem Vorhang abspielt – nichts –, ist vollkommen unerheblich dafür, was der Blick produziert. In der Pandemie hat sich der Zwang zum Sehenwollen nicht zuletzt in sogenannten Verschwörungstheorien[9] bis hin zum Versuch, den kanadischen Staat durch Trucker-Barrikaden in Ottawa nicht nur zu behindern, sondern zu zerstören, verstärkt. Jene Trucker können es vor allem nicht aushalten, nicht hinter den Vorhang sehen zu können. Deshalb inszenieren sie ein kinoreifes Spektakel, ein Schauspiel vor dem Vorhang, das behauptet, die Wahrheit hinter dem Vorhang zu sein.

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Das The Living and the Dead Ensemble zeigt mit The Wake nach 2020 seine zweite Produktion zum Sichtbarwerden der Unsichtbaren.[10] In Anknüpfung an kreolische Totenkulte lassen die Künstler aus Haiti, Frankreich und England jene sichtbar werden, die an die städtischen wie weltweiten Randgebiete „im Moment unserer globalen Krise“ gedrängt worden sind.[11] Die jungen Männer im Film rufen die Toten an, weil sie sich selbst als Zombies oder Untote, als Chancenlose und Nicht-gesehene empfinden. Die Marginalisierung nicht zuletzt Jugendlicher an der Peripherie von Großstädten in Frankreich wie in Haiti oder im Vereinigten Königreich macht sie im Stadtbild, in den Zentren und High Streets unsichtbar. Sie bilden Ghettos als vermeintliche Schutzräume und tragen durch Immobilität innerhalb der Städte zur eigenen Unsichtbarkeit bei. Das Ghetto bildet einen Schutzraum, in dem eine eigene Sprache Wissen und Regeln generiert. Das Ensemble aus Schauspieler*innen und Dichter*innen macht im Schutz der Nacht die nicht zuletzt durch Rassismus Unsichtbaren sichtbar.

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Ulrich Ziemons und Ala Younis wollen mit dem Titel Closer to the Ground darauf aufmerksam machen, dass ein Ort, an dem wir durch die weltweiten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wie Kontakt-Beschränkungen, Travel bans, Reisebeschränkungen oder Quarantäne gebunden werden, als Grund und Halt wichtiger geworden ist. „Es geht tatsächlich um das Nachdenken darüber, wo man sich befindet, wo man verortet ist. Viele der Filme im Programm erzählen von einem konkreten Ort und versuchen, ihn zu ergründen. Sie sind in einer bestimmten Situation verankert und vermessen diese Situation und diese Örtlichkeit sehr detailliert, lassen uns näher hinschauen um andere Dinge zu entdecken als die, welche man sehen könnte, wenn man geradeaus oder in die Ferne schaut.“[12] Die Reaktion insbesondere jüngerer Menschen auf die globale Krise der Pandemie und ihrer Folgen, aber auch der zugleich verstärkten Klimakrise wäre demnach eine neuartige Geologik der Verortung, die eine Art Grund und Boden unter den Füßen und für die Psyche verspricht.

Torsten Flüh

Fortsetzung folgt.

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[1] Siehe Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[2] Siehe auch: Siska: Kino Projekt Berlinale 2022 und ausführlicher Kino Projekt Blog.

[3] Zitiert nach: Berlinale: Forum Expanded 2022: Closer to the Ground. Interview mit Ulrich Ziemans und Ala Younis.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] Vgl. documenta 14: Artists: Naeem Mohaiemen.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Sputnik 5 und Hegels Weltgeist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2020.

[8] Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. S. 109.

[9] Siehe die Besprechungen auf NIGHT OUT @ BERLIN zum Suchbegriff Verschwörung.

[10] Siehe: The Living und the Dead Ensemble: The Ensemble.

[11] Übersetzt und zitiert nach: Ebenda: The Wake.

[12] Berlinale: Forum Expanded … [wie Anm. 3].

Wissensverarbeitung mit Konjunktiv

Wissen – Pandemie – Regeln

Wissensverarbeitung mit Konjunktiv

Über das Pandemiegeschehen und die Nachträglichkeit des Wissens sowie Kerstin Drechsels visuelle Frauenforschung

Das Paradox des Wissens lässt sich nicht auflösen. Wir müssen es aushalten. Im Unterschied zum Februar und März 2020 wissen wir aus der virologischen Forschung heute unendlich viel mehr über SARS-Cov-2. Im Vergleich mit Februar 2021 genießen Geimpfte und Geboosterte heute weitaus größere Freiheiten, als wir sie uns noch vor einem Jahr erhoffen durften. Trotzdem gelten weiterhin Quarantäne-Regeln, die für Geboosterte „möglich(e)“ Ausnahmen vorsehen. Und Christian Drosten hat in seinem jüngsten Interview mit dem „Coronavirus-Update“ des NDR ausführlich auf seine Verwendung des Konjunktivs verwiesen, der in der Sekundärberichterstattung unversehens in einen Indikativ also die Wirklichkeitsform verwandelt worden ist. Die Modi der Aussage spielen mächtig ins zirkulierende Wissen von SARS-Cov-2 und seinen Unterarten hinein.

Visuell wird die Besprechung der anhaltenden COVID-19-Pandemie mit Arbeiten von Kerstin Drechsel aus aktuellen Ausstellungen konstelliert. Die Aquarelle wie Installationen von Kerstin Drechsel kreisen um Wärmespeichersysteme (2011), E-Werke (2018) oder Dritte_Haut (2022). Es geht um visuelle Erzählungen und die Paradoxien zwischenmenschlicher Beziehungen zwischen Geborgenheit und Einschließung. Schriftzüge intervenieren häufig in die Bilder. Die Mehrdeutigkeit der Bilder, die die Installationen erzeugen, konkurriert mit Bildern von Messietum über Obdachlosigkeit bis zu intensivmedizinischer Versorgung. Sie arbeitet insofern in einem visuellen Bereich, der mit der Wahrnehmung der Pandemie korrespondiert. Chaos und Kontrollmechanismen erzeugen eine intensiv heillose Wirklichkeit. Derzeit sind Arbeiten von Kerstin Drechsel in der Galerie Zwinger und im Kunstverein Tiergarten ausgestellt, um erforscht zu werden.

Im Projektraum Zwitschermaschine an der Potsdamer Straße faszinierte mich Ende September eine Installation in Orange. Die Signalfarbe Orange lässt sich mit Rettungswesten assoziieren. Flüchtende an den südlichen Grenzen Europas tragen, wenn sie Glück haben, orange Rettungswesten beim Einsteigen in ein Boot. Orange ist stark und traumatisch. Ein Bekannter wird bei seiner Flucht von der Türkei nach Griechenland im Dezember 2015 auch eine orange Rettungsweste getragen haben, bevor das Boot mit Kindern kenterte, er ins Meer glitt und sogleich ohnmächtig wurde. Kürzlich kaufte er sich eine orange Daunenjacke, um sie dann doch gegen eine in Anthrazit umzutauschen. Erinnerung? Trauma? Die Installation in der Zwitschermaschine unter Plexiglas trägt sowohl fröhliche wie traumatische Züge von Rettung und Ruhigstellung. Orange Schirme erinnern an Sonnenschirme. Eine Sonnenbank? Oder liegt hier eine wahrscheinlich weibliche Puppe wie unter einer Beatmungsmaschine des Medizin- und Sicherheitstechnik-Herstellers Draeger?

Unterschiedliche Wissensformen zur Pandemie kursieren und konkurrieren gerade in einer Gesellschaft, die sich um 2013 noch „Wissensgesellschaft“ nannte und 2022 durch die Bundesregierung als „Informationsgesellschaft“ formuliert worden ist.[1] Doch mehr Wissen zu SARS-Cov-2 und seinen Varianten bis zum Omikron-Subtyp BA.2 generiert derzeit keine lockereren Regeln. Christian Drosten sprach im NDR am 1. Februar von „mehr PS“ des Omikron-Subtyps BA.2[2], während die Mehrheit der Bevölkerung sich erst einmal mit Omikron überhaupt beginnt auseinanderzusetzen. Das Virus mutiert schneller, als sich das der Großteil der Bevölkerung überhaupt vorzustellen vermag. Was kann man noch glauben, wenn sich das Wissen schon morgen wieder verändert hat, fragen sich viele.
Drosten: Richtig. Das würde jetzt bedeuten, diese zwei Autos, die wir hier vergleichen, die Reifen, die sind nicht bei dem einen deutlich breiter, sodass es über den Sandweg besser drüberfahren kann, also Immunescape, also die Immunität als hindernde Maßnahme, als Schlamm auf dem Sandweg. Und das Immunescape, das in Form von breiten Reifen ausgedrückt wird, sodass man über den Schlamm besser drüberfahren kann, obwohl man den gleich schwachen Motor hat, und dann auch mit schwachem Motor besser vorankommt, das wäre Immunescape.
Während aus dieser Studie für mich eher der Eindruck erwächst, das ist nicht unbedingt so stark Immunescape, sondern mehr Fitness. Das heißt, das Auto hat fast gleich breite Reifen, aber der Motor hat schon ein paar PS mehr.“[3]

Neben dem hoch dynamischen Wissenswandel über SARS-Cov-2 durch Daten ist es nicht zuletzt die sprachliche Formulierung und Transformation der Daten in Narrative, die bedenkenswert sind. Im NDR-Podcast spricht Drosten von Autos, um die Wirkungsweise des neuen Subtyps, das „Immunescape“ zu erklären. Das ist nicht nur unterhaltend für das Medienformat Podcast, vielmehr formuliert es zugleich mit der „Studie“ ein neues Wissen – „mehr PS“ – in Abgrenzung zur Interpretation der „breiter(en) Reifen“. Der NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ wird anscheinend vor allem von interessierten Akademiker*innen und Wissenschaftsjournalist*innen gehört oder gelesen und für die Meinungsbildung wie Wissensverarbeitung genutzt. Ca. 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die sich in ein alternatives impfskeptisches bis impffeindliches Wissensmilieu zurückgezogen haben, werden die neuerliche Argumentation für eine Impfung bestimmt gar nicht erst hören wollen.

Die Dynamik des Wissenswandels der letzten 24 Monate oder 730 Tage konfrontiert die Menschen weltweit mit immer wieder neuen Verhaltensanpassungen. Anders formuliert: Das Virus mutiert schneller, als sich das Wissen von ihm ad hoc und mittelfristig in politische Maßnahmen umsetzen lässt. Das Wissen von der Pandemie bekommt, um Drosten zu zitieren, immer „mehr PS“. Politische Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie durch Regeln können immer nur mit einem nachträglichen Wissen, das schon wieder veraltet sein könnte, eingeleitet oder angepasst werden. Darüber entstehen politische Debatten bis zur mutwilligen Beschädigung des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts als „zentrale(r) Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention“[4], Lothar Wieler. Natürlich können Vertreter einer Regierungspartei die Arbeit einer ihr unterstellten Institutsleitung kritisieren, aber damit die wissenschaftliche Basis politischer Entscheidungen mitten in der Pandemie zu beschädigen, ruft eher nach personellen Konsequenzen in der FDP.

Das Paradox des Wissens hat allein durch sprachliche Prozesse eine Wissensstabilität längst unterminiert. Trotzdem braucht es unterschiedliche Wissensbereiche, die in Gesetzestexten konsensualisiert werden müssen. So unterliegen denn auch Gesetzestexte bzw. gesetzesförmige Beschlusstexte der Ministerpräsidentenkonferenz einem ständigen Wandel in der Pandemie. Diese Prozesse lassen sich in Deutschland transparent nachverfolgen, wobei der Konjunktiv einer prognostischen Wissenschaftsformulierung juristisch eine wichtige Rolle spielt. Die Möglichkeitsform schafft Entscheidungsspielräume, die dennoch hinsichtlich des epidemiologischen Geschehens nicht maximal ausgeschöpft werden sollten. Die Spielräume des Möglichen werden in vielen Medien allerdings weder praktiziert noch berücksichtigt.
Drosten: … Oder im Deutschlandfunk hatte ich auch mal irgendetwas gesagt, das so sehr stark Richtung „Vorsicht vor dem nächsten Winter“ ging. Also da hatte ich dann gesagt, das Virus ist durchaus noch wandlungsfähig und es könnte sein, dass Omikron auch noch mal wieder gefährlicher wird. Und dann hieß es gleich: „Drosten warnt vor der neuen gefährlichen Omikron-Variante“. Also das ist immer eine große Verwirrung, die sich da im Moment auch in den Medien vor allem einstellt, während das Fahrwasser eigentlich immer bekannter wird.“[5]

Die „Verwirrung“ durch sprachliche Prozesse in den Medien, die Christian Drosten beklagt, obwohl „das Fahrwasser eigentlich immer bekannter wird“ und sich nahezu eine Stabilisierung des Wissens über SARS-Cov-2 und seine Mutationen abzeichnet, gehört zum Modus der Pandemie selbst. Sie ist nicht einfach „nur“ eine bedauernswerte Abweichung, sondern der Verarbeitung von Wissen selbst inhärent. Verstärkt wird sie durch die sogenannten Social Media. Facebook-Posts und Tweets als Mikroblogs sind keine Medien des Konjunktiv. Sie wollen mit Aussagen Wirklichkeit herstellen oder mit der Befehlsform – Imperativ – Wirklichkeit schaffen, ohne auch nur annährend zu wissen, ob diese bestand haben könnte. Dass sich die Pandemie ihrem Ende nähern könnte, ließe sich in den Prozessen der Wissensverarbeitung ablesen. In der Phase des rudimentären Wissens über das Virus im Frühjahr 2020 zeichnete sich eine Wissenserschütterung ab, die nur geringe Handlungsspielräume zwischen Lockdown und Öffnung zuließ. Im Januar 2022 haben sich Wissenscluster herausgebildet, die „Ausnahmen möglich“ machen z.B. für Kontaktpersonen, die „geboostert“ sind. Mit den Worten des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 7. und 24. Januar 2022.
„Ausnahmen von der Quarantäne:
An dieser Stelle erfolgt keine grundsätzliche Neudefinition der u.g. Personengruppen, sondern es handelt sich ausnahmslos um eine Definition, wann für diese Gruppen eine Ausnahme von der Quarantäne (Absonderung) möglich ist:“[6]

Demnach sind Ausnahmen von der Quarantäne „möglich“, werden aber nicht empfohlen. In juristischen Texten wird die Möglichkeitsform regelmäßig mit dem Verb können/kann formuliert und unterscheidet sich von soll– und muss-Formulierungen. Für einen plötzlich zur Kontaktperson gewordenen, „geboosterten“ Bundesbürger ist dieser feine Unterschied in einem gesetzesförmigen Text ausdrücklich hinsichtlich der „Omikron-Virusvariante“ beachtenswert. Denn es heißt, dass der Beschluss „für alle gegenwärtig in Deutschland zirkulierenden Virusvarianten einschließlich der Omikron-Virusvariante“[7] gültig ist. Während allenthalben Erzählungen von milden Verläufen durch Omikron bei geimpften und geboosterten Bundesbürger*innen kursieren und alles als nicht so schlimm, ja, vielleicht sogar als wünschenswert besprochen wird, gelten die „Quarantäne- und Isolierungsdauern bei SARS-Cov-2-Expositionen und -Infektionen“ weiterhin.
„1. Personen mit einer Auffrischimpfung (Boosterimpfung), insgesamt drei Impfungen erforderlich (auch bei jeglicher Kombination mit COVID-19 Vaccine Janssen (Johnson & Johnson))“.[8]

Die Möglichkeit stellt unterdessen keine Regel, sondern eine Art Spielraum oder auch Wissensunschärfe her. Der Apell eines Facharztes, die Möglichkeit trotzdem nicht in Anspruch zu nehmen, bis ein zweiter PCR-Test nach 7 Tagen ebenfalls negativ ausfällt, sollte nicht nur, sondern muss ernst genommen werden. Denn die sehr hohen Inzidenzen z.B. im eher bürgerlichen Berliner Bezirk Wilmersdorf-Charlottenburg von 3.592,7 am 6. Februar 2022[9] generieren sich derzeit aus diesem Spielraum des Möglichen für Kontaktpersonen. Vor fast genau einem Jahr wurde der Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie[10] mit einer kurzen Begriffsgeschichte nachgedacht. Angesichts der hohen Inzidenzen haben die Gesundheitsämter in den letzten Wochen unterdessen eine Kontaktpersonen-Nachverfolgung eingestellt. Dennoch gelten in sensiblen Bereichen wie z.B. an Arbeitsplätzen und in KITAs und Schulen weiterhin die Quarantäne- und Isolierungsregeln. Es wird allerdings immer schwieriger, die Ausnahmen als Ausnahmen durchzusetzen. Vielmehr hat die „Auffrischimpfung“ zu einem Versprechen der Befreiung aus den Quarantäneregeln geführt.

Das Versprechen der Freiheit durch eine Auffrischimpfung erweist sich gerade als äußerst prekär. Schon werden Forderungen nach einer Aufhebung der Regeln wie der Maskenpflicht nach dem Beispiel Dänemarks laut. Doch niemand kann genau sagen, wohin ein freies Zirkulieren der Virusvarianten führen und möglicherweise doch verheerend für den gut durchgeimpften Staat Dänemark sein wird. Dänemark und Spanien erhalten Beifall, ohne dass die Folgen der vermeintlichen Freiheiten bekannt wären. Das Risiko als Form eines definitiven Nicht-Wissens erhält Zustimmung, weil es sich an Freiheits- und Normalitätsversprechen andocken lässt. Insbesondere die Freie Demokratische Partei (FDP) als Akteurin eines neuen Liberalismus in der Pandemie versucht den Freiheitsbegriff in Konkurrenz zur AfD neu zu besetzen. Parteipolitisch mag sich die Begriffsbesetzung empfehlen, klug ist sie derzeit trotzdem nicht.

Neue oder neu gebrauchte Begriffe als Neologismen spielen für das Wissen von der Pandemie weiterhin eine herausragende Rolle. Das Institut für Deutsche Sprache verzeichnete schon im Dezember 2021 für das Neologismenwörterbuch „mehr als 2.000 Begriffe allein im Corona-Bereich“ wie „Corona-Koller, Corona-Clausur, coronakonform“.[11] Der Titel des SWR – Corona hat auch unsere Sprache infiziert – fällt eher unbeholfen und irreführend aus. Denn die Sprache versucht das Virus eher einzuholen, als dass es sie veränderte. Der Neue() Wortschatz rund um die Coronapandemie hat mittlerweile höchst beeindruckende Ausmaße angenommen. Unter O finden sich zwar heute am 7. Februar sogar „Omikron“, „Omikrongipfel“, „Omikronmutante“, „Omikronmutation“, „Omikronregel“ und „Omikronvariante“[12], aber noch kein „Omikron-Subtyp BA.2“. Die Wörter lassen sich in der Liste des Wortschatzes anklicken, so dass man in einem Fenster z.B. bei Omikron sogleich die Information zur Bedeutung und Ersterfassung bekommt:
„Omicron
(vermutlich) hoch ansteckende Mutation des SARS-CoV-2-Virus, die zum ersten Mal in Südafrika nachgewiesen wurde

Die als »besorgniserregend« eingestufte Coronavariante Omikron wurde inzwischen in 24 Ländern nachgewiesen. Neue Zahlen aus Südafrika deuten darauf hin, dass die Mutation die vorherrschende Deltavariante regional verdrängen könnte. (www.spiegel.de; datiert vom 02.12.2021)“[13]

OWID ausgesprochen hört sich fast an wie Ovid, dem römischen Dichter, ist jedoch die Abkürzung für „Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS), Mannheim“. Anders gesagt OWID spielt mit seinem Namen auch auf ein zumindest literarisches Wissen des Ovid und von ihm an. OWID versteht sich als „wissenschaftliche, korpusbasierte Lexikografie des Deutschen“.[14] Diese Lexikografie ist hinsichtlich der COVID-19-Pandemie hoch komplex und äußerst dynamisch. Sie erfasst beispielsweise die Verzögerung bei der Erfassung von „Omikron“ und der Einführung neuer Regeln für die Virusvariante unter dem Lemma „Omikronregel“. Es dauerte kaum einen Monat vom Bekanntwerden von „Omikron“ bis zur Ausarbeitung von entsprechenden Regeln. Das ist für die Politik Hochgeschwindigkeit.
„Omikron-Regel, Omicron-Regel, Omicronregel,

aufgrund der in der COVID-19-Pandemie aufgekommenen Virusvariante B.1.1.529 des Coronavirus SARS-CoV-2 erlassene Regelung, die die Ausbreitung des Virus verlangsamen soll

Corona: Holetschek für bundesweite Omikron-Regeln [Überschrift] Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) fordert von der für Freitag angesetzten Ministerpräsidentenkonferenz bundeseinheitliche Regelungen, um die Omikron-Variante einzudämmen. (www.br.de; datiert vom 04.01.2022)“[15]

Es ist die Frage einer wissenschaftlichen Haltung, ob man den rasanten Begriffswandel mit einem Wissenswandel korreliert oder die Neologismen „nur“ als neue Wörter einschätzt, als ob in der Sprache etwas Nebensächliches passierte. Mit OWID zeichnet sich allerdings ab, dass es nie zuvor in der Geschichte der deutschen Sprache einen vergleichbaren Veränderungsschub gegeben hat. Man weiß nicht, ob diese Corona-Sprache mit dem Ende der Pandemie einfach verschwinden, untergehen wird oder ob sie das Deutsche nachhaltig verändern wird. Doch worum geht es mit all diesen Wörtern, die bereits unter der Wahrnehmungsschwelle zirkulierten, bevor sie dann zum ersten Mal nachweislich z.B. von einem Gesundheitsminister gebraucht werden? Geht es um ein bereits vorhandenes Wissen? Um eine neue Kombinatorik z.B. von Omikron und Regel? Oder geht es darum, ein „Zeichen“ zu setzen?

© Kerstin Drechsel

In dem ein wenig erzählseligen Roman Der Trafikant von Robert Seethaler geht es in mehrfacher Hinsicht um das Wissen der Psychoanalyse und Sigmund Freud. Seethaler erzählt davon als eine nicht zuletzt politische Geschichte eines jungen Mannes um 1938 in Wien. Franz Huchel kommt als 17jährger aus dem ländlichen Salzkammergut nach Wien, wird Lehrling in einem Zeitungskiosk, der in Wien Trafik heißt, trifft den über 80jährigen Sigmund Freud, wird dessen Freund und lernt die Liebe kennen. Gegen Ende der Erzählung und als eine Art Höhepunkt kommt es zu einem letzten Gespräch mit Freud.
„Freud seufzte: »Immerhin kommen mir die meisten Wege schon irgendwie bekannt vor. Aber eigentlich ist es ja gar nicht unsere Bestimmung, die Wege zu kennen. Es ist gerade unsere Bestimmung, sie nicht zu kennen. Wir kommen nicht auf die Welt, um Antworten zu finden, sondern um Fragen zu stellen. Man tapst sozusagen in einer immerwährenden Dunkelheit herum, und nur mit viel Glück sieht man manchmal ein Lichtlein aufflammen. Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder Dummheit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen!«“[16]

© Kerstin Drechsel

Robert Seethaler bringt mit dieser Formulierung über Freuds oder auch das Wissen der Methode der Psychoanalyse als Wissenschaft und ihrem Wert für die Wissenschaft sehr nah. Das Nicht vor kennen markiert er gar kursiv. Freud weist die Frage nach seinem Wissen zurück, um die Gebrechlichkeit des Wissens selbst zu erklären. Eingedenk der nicht enden wollenden Erzählungen seiner Patient*innen, geht es immer auch um die Produktion von Wissen der Triebe. Doch Freud sagt: „Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder Dummheit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen!“ Weniger geht nicht mehr. Es bleiben nur Zeichen in ihrer Ambiguität. Für die überwältigende Wörterproduktion in der COVID-19-Pandemie, der unfassbar vielen Interviews, Talkshows, Reportagen, Reden etc. heißt das auch, dass es darum geht, immer auch mit einem Nicht-Wissen umzugehen oder eben damit nicht umgehen zu können. Niemand weiß etwas über zukünftige Mutationen, ganz zu schweigen über, was als einfachstes und wirksamstes Mittel gegen die Pandemie erschien, das Verhalten der Menschen.

© Kerstin Drechsel

Kerstin Drechsel baut mit ihren E-Werken verschachtelte Schaltschränke aus Bildern und Schriftzügen, aus denen Leitungen auf dem Boden liegen. Es sind zweifelsohne Wissensprozesse, die in den Schaltschränken stattfinden. Aber sie lassen sich nicht fassen oder stillstellen. Allenfalls lässt sich sagen, dass sie einen feministischen Wink geben. Frauen, Frauenkörper, Frauennamen, Frauengeschichten spielen eine exponierte Rolle. Es ist nicht zuletzt eine visuelle Frauenforschung. In den Iglus oder Zelten mit der Benennung Dritte_Haut geht es um deren Schutzfunktion. Zugleich erinnern sie an Flüchtende und Obdachlose. Schriftzüge wie „DEINE SCHEISS ANGST SICH ZU HÄUFIG ZU SEHEN“ oder „DEINE SCHEISSANGST VOR MEINER UNMÄSSIGKEIT“ geben einen Wink, wie sich der Schutz in eine Bedrohung verkehren kann. Gerade in der Pandemie sind sowohl die Wünsche wie die Ängste intensiver geworden.

Torsten Flüh

Kerstin Drechsel

Gruppenausstellung
Scheitere an einem anderen Tag
bis Mittwoch 23.2.2022
Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten
Dienstag – Samstag 12 – 19 Uhr
Turmstraße 75
10551 Berlin

Einzelausstellung
Dritte_Haut
bis 19. März 2022
Zwinger Galerie
Mansteinstrasse 5
10783 Berlin          


[1] Die Bundesregierung: Informationsgesellschaft. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2022.

[2] NDR: (109) Coronavirus-Update: Omikron-Subtyp BA.2 mit mehr PS. Stand: 01.02.2022 17:00 Uhr.

[3] Ebenda.

[4] Robert-Koch-Institut: Institut. Stand 06.05.2020.

[5] NDR: (109) … [wie Anm. 2].

[6] Robert-Koch-Institut: Quarantäne- und Isolierungsdauern bei SARS-CoV-2-Expositionen und -Infektionen; entsprechend Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 7. und 24. Januar 2022. Stand: 03.02.2022.

[7] Ebenda.

[8] Ebenda.

[9] Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin – Senatskanzlei: Lagebericht 07.02.2022.

[10] Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[11] SWR Aktuell: Corona hat auch unsere Sprache infiziert. STAND: 7.12.2021, 9:18 UHR.

[12] OWID: Neologismenwörterbuch. Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie. (07.02.2022).        

[13] Siehe ebenda O>Omikron.

[14] OWID: Über OWID.

[15] OWID: Neologismenwörterbuch … [wie Anm. 12] Omikronregel.

[16] Robert Seethaler: Der Trafikant. Zürich – Berlin: Kein & Aber, 2012, S.223-224.

Der Tic am Tiefen See

Szene – Tourette – Theater

Der Tic am Tiefen See

Zum Theatertreffen-Nachspiel 20 von Chinchilla Arschloch, waswas im Hans Otto Theater

Für solche Vorstellungen wie Chinchilla Arschloch, waswas vom Rimini Protokoll beim Theatertreffen der Berliner Festspiele gibt‘s doch eh gar keine Karten. Kannste dir sparen. Und dann noch ein Stück von Helgard Haug, das sich bestimmt nicht streamen lässt. Streamen geht da gar nicht. Das Ganze ist mehr ein Experiment, bei dem das Theater als Theater auf dem Spiel steht. Aber unbedingt live. Jeden Moment könnte der Laden hochgehen, obwohl man es vorher hätte wissen können. Im Hans Otto Theater am Tiefen See in Potsdam lacht, kreischt das Publikum fast. Beim Schlussapplaus ist es kaum noch zu halten. Beifallsstürme. Bravos. Mehrfach müssen die Akteur*innen von der Hinterbühne nach vorn rennen, um den Applaus entgegen zu nehmen. Da ist sich fast jeder sicher, dass es keine Schauspieler*innen sind. Deshalb bekommen sie besonders viel Applaus. Ein Paradox, das sich nicht auflösen lässt.

Die Szene im Hans Otto Theater in Potsdam ist eine andere im Vergleich zur Schaubühne am Lehniner Platz oder noch mal anders zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Das Hans Otto Theater leuchtet rot am See, durch den die Havel fließt. Das Publikum ist gediegener, um es einmal so zu formulieren, als am Bertold-Brecht-Platz. Es kommt eher aus Potsdam, Babelsberg, Wannsee und Kleinmachnow oder Gross Glienicke und Kladow als aus Wedding, obwohl sich der Weg gelohnt hätte. Als Nachspiel des Theatertreffens 20 im Mai 2020 – Deutschland berappelte sich gerade aus der ersten Covid-19-Pandemie-Welle und wusste noch nichts von einem Impfstoff – wurden nun 3 Vorstellungen in Potsdam nachgeholt. Unvorhersehbare Szenen der Akteure werden an den Abenden stattgefunden haben. Sie waren einkalkuliert. Die Unberechenbarkeit der Tics dreier an Tourette erkrankter Menschen – Christian Hempel, Benjamin Jürgens und Bijan Kaffenberger – generiert das Stück selbst.

In Anknüpfung an das Semesterthema der Mosse-Lectures Theater der Gegenwart, das Juliane Vogel mit ihrem Vortrag Die Beweglichkeit der Szene eröffnet hatte, widmet sich diese Besprechung dem Stück Chinchilla Arschloch, waswas von Helgard Haug, das am 11. April 2019 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt von Rimini Protokoll in Kooperation mit dem Westdeutschen Rundfunk und HAU am Halleschen Ufer in Berlin uraufgeführt wurde. Seither ist das Stück bis nach Basel und Aarhus getourt. Vorstellungen in München, Hannover und Düsseldorf mussten wegen der Maßnahmen zur Eingrenzung der COVID-19-Pandemie 2020 entweder abgesagt oder verschoben werden. Das ist die Theaterrealität der Gegenwart in der Covid-19-Pandemie. Am 12. Januar fand sie nun wie im Hochsicherheitstrakt einer Psychiatrie unter 2G-plus-Regeln – Genesen, Geimpft und Geboostert oder Getestet – im Hans Otto Theater statt. Und das ist ein enormer Fortschritt in den Freiheiten der Pandemie. Vor 12 Monaten war es noch undenkbar. Im Stück geht es um die Szene in Form der unberechenbaren Tics der Tourette-Erkrankten.

Was ist ein Tic? Tics treten nicht nur bei Tourette auf. Das Nomen Tic aus dem Französischen wird selbst onomatopoetisch von einem Moment der Gegenwart abgeleitet. Tic ahmt insofern den Moment eines einzelnen Lauts oder Geräusches nach. Nach dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache wird der Tic bereits im 18. Jahrhundert, als Europa französisch spricht, ins Deutsche übernommen.[1]  Im Französischen benennt der Tic zunächst „eine fehlerhafte Angewohnheit von Pferden, ungewöhnliche Bewegungen zu machen“. Das Pferd soll funktionieren und keine Tics haben. Die Erstausgabe der Encyclopédie von 1751 kennt den Tic für Personen ebenso wie in der Armee für Pferde.[2] Der Tic wird von D’Alembert und Diderot vor allem mit umgangssprachlichen Redewendungen beschrieben und gehört im 18. Jahrhundert fast zur condition humaine, wenn es heißt, dass es wohl niemanden gibt, der nicht irgendeinen Tic hat:
„TIC, s. m. (Gram.) geste habituel & déplaisant : il se dit au simple & au figuré. Il a le tic de remuer toujours les piés. Il veut faire des vers, c’est sa maladie, son tic. Il n’y a peut-être personne qui, examiné de près, ne décelât quelque tic ridicule dans le corps ou dans l’esprit.”
(Tic, s. m. (Grammatik) gewohnheitsmäßige & unangenehme Geste: es wird einfach & bildlich gesagt. Er hat die Angewohnheit, seine Füße immer zu bewegen. Er will Gedichte schreiben, es ist seine Krankheit, sein Tick. Es gibt vielleicht niemanden, der bei näherer Betrachtung nicht irgendeinen lächerlichen Tick im Körper oder im Geist verraten würde.)

Der frühe Gebrauch des Tics im 18. Jahrhundert, bevor er im 19. Jahrhundert z. B. mit Gilles de la Tourette in das Wissen der Humanmedizin eingeht, sollte nicht vergessen werden. Der Tic hat von Anfang an das Potential zu stören und pendelt zwischen einer Schwäche, Gedichte zu schreiben, und einem „tic ridicule“. Wirkliche Probleme bereitet der Tic zunächst im Militärwesen, wenn Pferde einen Tic haben. Gab es im 18. Jahrhundert mehr Menschen mit Tic? Tics beim Menschen bereiten den Enzyklopädisten noch keine großen Sorgen. Es werden keine Gegenmaßnahmen beschrieben. Für Pferde wird dagegen ganz praktische Abhilfe empfohlen, um das Verhalten zu ändern, was Tierschützern und Pferdenarren heute bestimmt nicht gefallen würde.
„Es gibt mehrere Linderungsmittel für diese Unannehmlichkeiten, die nur wenige Tage anhalten, wie z. B. den Hals in der Nähe des Kopfes mit einem etwas engen Lederriemen zu umgeben, den Rand der Krippe mit Eisen- oder Kupferklingen auszukleiden, um die Krippe mit etwas sehr bitterem Gras einzureiben, oder mit Kuh- oder Hundemist, oder mit Schaffell; aber am besten und wirksamsten ist es, den Hafer in einem Ranzen zu geben, der vom Kopf des Pferdes hängt, und seine Krippe zu entfernen.“[3]

Die Ernsthaftigkeit der Erkrankung an Tourette bzw. das von Gilles de la Tourette für die Neurologie 1885 gebildete Syndrom – „affection nerveuse characterisée par de l’incoordination motrice accompagnée d’écholalie et de coprolalie“ – soll durch den kurzen Exkurs auf den Tic nicht geschmälert werden.[4] Der Tic hat die Dynamik und Macht, die Betroffenen durch Zuckungen, Echolalie und Koprolalie, wenn schmutzige und skatologische Wörter ausgestoßen werden, aus der Gesellschaft zu katapultieren. Dennoch gibt die Herkunft des Begriffs Tic aus dem Französischen des 18. Jahrhunderts einen Wink. Er wird nämlich erstmals 1751 im Umfeld einer Wissenschaft vom Menschen – nach d’Alemberts Vorwort zur Encyclopédie: „science humaine“[5] – systematisch eingeführt, als die Aufklärung, sozusagen, Fahrt aufnimmt. Um das Jahr 1751 hat sich die Mathematik bereits als Leitwissenschaft etabliert[6] und Julien Offray de la Mettrie hatte 1748 anonym seine Schrift L’Homme Machine veröffentlicht.[7] Das Modell für die Menschmaschine ist die Uhr. Im Französischen wird denn auch der Uhrmacher, der das Uhrwerk konstruiert, „machiniste“ genannt.[8] Die Uhrmacherei wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Art Schlüsselindustrie.[9] Mit anderen Worten: Der Tic betritt in dem Moment die Bühne der Sprache, als der Mensch aus sich selbst mehr und mehr wie eine Maschine nach dem Modell des Uhrwerks funktionieren soll.

Bevor der Tic mit nervösem Zucken, Echolalien und Koprolalie durch Tourette pathologisch wird, bildet sich ein Menschenbild heraus, das diese Symptome nicht mehr akzeptieren kann. Eine entscheidende Rolle spielt die Echolalie als Symptom und Sprachstörung. Die Echolalie als sinnfreies Sprechen und Kombinieren von Worten wie eben „Chinchilla Arschloch, waswas“ greift die Subjektbindung des Sprechens selbst an. „Chinchilla Arschloch“ macht keinen Sinn und kann doch durch die Kombination des Schimpfwortes Arschloch mit der Edelwolle des Chinchilla als massive Beleidigung verstanden werden. An Tourette erkrankte Menschen können unterdessen nicht kontrollieren, in welchem sozialen Kontext sie plötzlich unter Zwang eine derartige Beschimpfung und Drohung – „waswas“ – ausstoßen. Auf dem Theater und in der Theatermaschinerie wird allerdings erwartet, dass jede Formulierung mit schauspielerischer Absicht artikuliert wird. Jedes Zucken einer Augenbraue wird zur Performance. Jedes Sprechen eine Message. Jede Koprolalie zwischen „Scheiße“ und „Kackwurst“ – „Ich schmier dir gleich Scheiße in dein Maul.“ – wird als Absicht aufgenommen. – Es ist durchaus schwierig, so etwas in einem Blog zu schreiben, weil man annehmen muss, dass es nicht nur als Beispiel für eine Koprolalie verstanden wird. Darum geht’s.

Jetzt, seit der Uraufführung von Chinchilla Arschloch, waswas, steht Tourette in aller Öffentlichkeit auf der Bühne. Das hat nicht zuletzt mit der Eigeninitiative bzw. einer erst in den letzten Jahren entwickelten zivilgesellschaftlichen Selbsthilfe-Bewegung zu tun. Eine „Krankheit“, wie sie schon in der Encyclopédie mit dem Tic zur Sprache kommt, wird öffentlich gemacht. Christian Hempel, Benjamin Jürgens und Bijan Kaffenberger haben ihre Tourette-Erkrankungen öffentlich gemacht. Das hat viel mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen in Deutschland der vielleicht letzten 30 Jahre zu tun. Als ich meinem Nachbarn aus dem Irak die Spiegel-Reportage über Bijan Kaffenberger auf YouTube zeige[10], sagt er, dass Bijan im Irak sofort gesellschaftlich marginalisiert werden würde. Seine Eltern hätten ihn vermutlich einfach weggeschlossen. Doch Bijan Kaffenberger ist seit 2019 der erste deutsche Abgeordnete im Hessischen Landtag und in der deutschen Politik überhaupt, der seine Erkrankung 2018 öffentlich gemacht hatte. Dass sich 2021 das ZDF-Magazin 37 Grad mit Bijan Kaffenbergers Tourette in einer Dokumentation – Karriere mit Tourette: So tickt Bijan – zugewandt hat, zeigt, dass das Theaterprojekt zu einer weiteren öffentlichen Diskussion von Tourette beiträgt. Dabei hat eine sprachliche Verschiebung stattgefunden. Das „Syndrom“ als Krankheitsbild aus mehreren Krankheitszeichen wird fast nicht mehr gebraucht.

Chinchilla Arschloch, waswasNachrichten aus dem Zwischenhirn spielt auf zwei Bereiche an: Die Behinderung durch Tourette und das Theater als öffentlicher Raum, der weder für Behinderte zugänglich gemacht wird noch Behinderung auf der Bühne thematisiert. Die Theatermaschinerie marginalisiert Behinderung effektvoll. Die meisten Theaterinszenierungen sind für Menschen ohne Behinderung gemacht. Schauspieler*innen sollen vielmehr fit und hyperaktiv sein. Im Programmheft für das Stück wurde ein Interview mit der Theaterwissenschaftlerin und Access-Expertin Noa Winter abgedruckt. Bijan Kaffenberger wird mit der Aussage zitiert: „Für mich wäre ein Erfolg, wenn ich mal eine Headline über den Inhalt meiner Rede bekäme und nicht über die Tatsache, dass ich zucke, wenn ich rede.“[11] Und Noa Winter fordert: „Weg mit den Barrieren, her mit der Freiheit.“ Denn: „Auch zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, die die rechtliche Gleichberechtigung behinderter Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen gewährleisten soll, sehen wir in Deutschland kaum Veränderungen – dies spiegelt sich natürlich auch im Theater wider.“ Koprolalie als unbeherrschbarer Tic wird höchstens erst nach einem Outing als Tourette-Betroffener als Behinderung wahrgenommen und respektiert.

Wenn das Publikum in den Zuschauerraum kommt, dann sitzt im Halbdunkel Barbara Morgenstern schon auf der Bühne an einem Flügel und spielt Jazziges. Ein schmaler Mann bewegt sich auf der in Einzelteile zerstückelten Bühnenbühne (Bühne: Mascha Mazur). Was gehört hier wie zusammen. Im Laufe des Abends werden die Einzelteile mit Bühnenarbeitern mehr und mehr zusammengesetzt. Im Halbdunkel steht ein Clubsessel so futuristisch wie in den 80er Jahren. Ein Standaschenbecher wird von dem Mann vom Halbrundsofa benutzt, als er sich kurz eine Zigarette anzündet. Er steht unter Strom. Es vergeht Zeit mit Musik. Zuschauer*innen kommen herein. Der Mann von der Bühne verlässt sie und macht für ein älteres Paar den Platzanweiser. Eine Grenzüberschreitung. Vielleicht ist er etwas unruhig. Vielleicht spielt er einen Tic, indem er den Bühnenraum verlässt. Eine Skala im Halbrund über der Bühne steht auf 0. Oder hat der Mann einen Tic? Bei Schauspielern weiß man es nie genau. Irgendwann werden die Saaltüren geschlossen. Die Scheinwerfer gehen an und Barbara Morgenstern geht an ein Standmikrophon. Sie fragt sich, welche Art Publikum wohl jetzt in Potsdam im Theater sitzt. Will es sich passiv stellend bedienen lassen oder mitmachen? Sie spielt das mit Gesten. Zuschauer mussten auch erst einmal Zuschauer*innen im Stadt- und Staatstheater werden, die den Akteur*innen auf der Bühne keine Unflätigkeit entgegenrufen.

Das Theater der Gegenwart befindet sich in einer Selbstanalyse nicht erst seit und mit Chinchilla Arschloch, waswas. Das hat auch der Vortrag von Juliane Vogel zur Szene im Theater und in der Theatertheorie gezeigt. Das Team von Rimini Protokoll holt nicht nur Gegenwart auf die Bühne. Vielmehr befragt es seine Rahmungen von Gegenwart. Das war schon so bei Uncanny Valley von Thomas Melle im Januar 2020[12], bevor es dann mit der Covid-Pandemie, den Virusgraphiken, den Algorithmen und Inzidenzen unheimlicher wurde, als sich das ein Theaterautor hätte ausdenken können. Tics sind auch unheimlich. Kontrolle und Kontrollverlust spielen auf jeweils verschiedene Art in den beiden Stücken von Stefan Kaegi und Helgard Haug eine entscheidende Rolle. Theater ist mit seinem Timing, seinen Gesten, dem Text und dem Sprechen auf der Bühne eine Darstellung von Leben unter Kontrolle und absichtlich, wie es Barbara Morgenstern formuliert:
„AUF DER BÜHNE GESCHIEHT ALLES MIT ABSICHT.
DAS LICHT GEHT AN, MIT ABSICHT.
DIE STIMME WIRD EINGESETZT, MIT ABSICHT.
DER KÖRPER BEWEGT SICH, MIT ABSICHT.
DIE ÜBERRASCHUNGEN FINDEN STATT, MIT ABSICHT.“[13]

Überhaupt passiert heute fast alles mit Absicht im Leben wie auf der Bühne, insofern es sich kaum mehr irgendwelchen Algorithmen oder Modellierungen entziehen lässt. Millionen Kontakte geschahen mit Absicht im Frühjahr 2020 und im Winter wie Frühjahr 2021, obwohl sie nicht hätten stattfinden sollen. Und bei Galeria wurde heute etwas lascher auf 2G kontrolliert, wobei man nicht weiß, ob eh alle Kontrollen bei einer Inzidenz von weit über 2.000 in Berlin-Mitte egal sind oder die Geschäftsleitung des Kaufhauskonzerns verzweifelt. – Einmal ganz abgesehen davon, dass die Kontrollen von irgendwelchen Security-Mitarbeiter*innen durchgeführt werden, die vor Kurzem noch recht unkontrolliert ihre Tage verbrachten. – Benjamin Jürgens, der Mann, der absichtlich zunächst im Halbdunkel auf der Bühne ist, hat schon im Juni 2016 seinen Tourette-Song Cavacasey Immer wenn du austicst mit Unterstützung der Kaufmännischen Krankenkasse und dem Interessenverband Tic und Tourette Syndrom e.V. auf YouTube veröffentlicht.[14] Hilfe zur Selbsthilfe mit dem Ziel, möglichst ohne Psychopharmaka mit Tourette zu leben. Tourette-Tics ereignen sich nach seiner Erfahrung in einem Paradox von Verboten:
„An sich hat man weniger Tourette-Tics, wenn es erlaubt ist. Aber die Aufregung und die äußeren Reize befördern Tourette wiederum. So ist das Publikum ein Trigger, wenn es hustet und raschelt. Man steht durch Tourette ständig unter Strom. Und so eine Theateraufführung ist an sich schon sehr kraftraubend. Ein Arzt sagte mir mal, ich solle darauf achten, täglich ca. 5000 Kalorien zu mir zu nehmen, da ich durch Tourette einfach extrem viel Energie verbrauche. Nach drei Aufführungen am Stück falle ich komplett ausgepowert ins Bett.“[15]

Tics sind nicht nur auf der Bühne angekommen, vielmehr sieht Bijan Kaffenberger sie auch in der Politik bei der AfD. „AfD-Sprech“ und AfD-Tic funktionieren so zielsicher auf Verbote hin, dass sie sich ebenso als Tourette-Syndrom lesen ließen. Wird zum Impfen aufgerufen, lassen sich AfD-Politiker*innen extra nicht impfen. Der Tic wird mit zunehmender Verbotsschwelle lauter und obszöner, Echolalien und Koprolalie stellen sich, wo Anspruch auf Werte erhoben wird. Je feiner die Gesellschaft – Chinchilla –, desto stärker das Schimpfwort – Arschloch. Im Theater in Potsdam erhält Bijan Kaffenberger viel Beifall für seinen AfD-Vergleich. Dabei sind weder die AfD-Tics nur lächerlich noch ist es lustig, mit Tourette zu leben. Schließlich ist die Skala bei 28 angelangt und das Stück ist aus. – Aber was misst die Skala über der Bühne? Es sind nicht nur die 28 abgemessene Szenen, sondern auch Zuschauer, die in ihrer Zustimmung gemessen werden. Beifallsstürme. Tourette ist vielschichtiger geworden, als es vorher denkbar war.

Torsten Flüh

Rimini Protokoll
Chinchilla Arschloch, waswas
weitere Nachholtermine


[1] Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: Tic, der.

[2] D’Alembert, Diderot: L’Encyclopédie, 1re éd. 1751 (Tome 16, p. 318): TIC (Wikisource).

[3] Ebenda.

[4] G. Gilles de la Tourette: Étude sur une affection nerveuse characterisée par de l’incoordination motrice accompagnée d’écholalie et de coprolalie. (Jumping, Latah, Myriachit, maladie des tics convulsifs, maladie de Gilles de la Tourette). Paris, Delahaye et Lecrosnier 1885.

[5] Jean le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire des Éditeurs. Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers Texte établi par D’Alembert, Diderot, 1751 (Tome 1, p. i-xlv). (Wikisource)

[6] Vgl. zur Mathematik als Leitwissenschaft für Leibniz: Torsten Flüh: Vom Rätsel der Schrift im Anbruch der Moderne. Zum Museum für Asiatische Kunst im Humboldt Forum und China. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2022.

[7] Vgl. Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.

[8] D’Alembert, Diderot: L’Encyclopédie … [wie Anm. 2] MACHINISTE.

[9] Friedrich II. kauft nicht nur prächtige Uhren aus Paris an, vielmehr wirbt er 1765 den Uhrmacher Abraham-Louis Huguein aus La Chaux-de-Fonds als „Inspecteur Général d’Horolgerie á Berlin“ für die Königliche Uhrenmanufaktur an. Die Uhr wird bei noch lokal völlig unterschiedlichen Zeiten zu einer Schlüsselindustrie, die einen europäischen Machtanspruch verkörpert. Siehe: Silke Kiesant: Prunkuhren im Neuen Palais. In: Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.): Friederisiko – Friedrich der Große. Ausstellung. München: Hirmer, 2012, S. 386. 

[10] Der Spiegel: SPD-Politiker mit Tourette-Syndrom: Warum Bijan Kaffenberger anders tickt. 29.04.2019. (YouTube)

[11] Schauspiel Frankfurt / Künstlerhaus Mousonturm: Chinchilla Arschloch, waswas – Nachrichten aus dem Zwischenhirn. SPIELZEIT 2018/19, Frankfurt 2019. (PDF)

[12] Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.

[13] Zitiert nach Schauspiel Frankfurt / Künstlerhaus Mousonturm: Chinchilla … [wie Anm. 11].

[14] IVTS e.V. – Tourette-Song, Musik und Text von Benjamin Jürgens: Cavacasy – Immer wenn du austicst. YoutTube 05.06.2016. Siehe auch IVTS.

[15] Benjamin Jürgens im Interview mit Lea Matika: „Ich darf nicht, also muss ich“ In: TTBlog 2020.

Vom Rätsel der Schrift im Anbruch der Moderne

China – Berlin – Schrift

Vom Rätsel der Schrift im Anbruch der Moderne

Zum Museum für Asiatische Kunst im Humboldt Forum und China

Das Museum für Asiatische Kunst im Humboldt Forum unterscheidet sich schon dem Namen nach vom Ethnologischen Museum. Das Museumskonzept wird mit dem Namen von der Ethnologie in Richtung eines Kunstbegriffs verschoben. Die Asiatische Kunst unterscheidet sich demnach von einem ethnologischen Wissen, das die Kunst Afrikas und Ozeaniens weniger nach ästhetischen Kriterien als nach ethnischen sammelte, ordnete und ausstellte. Woher kommt diese Unterscheidung, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Völkerkundemuseum herausbildet? Was verraten die Sammlungsbestände des Asiatischen Museums, wie sie im Humboldt Forum angeordnet und ausgestellt werden? Und welche Rolle spielen die Schriften des Konfuzius in Übersetzungen des 17. Jahrhunderts sowie das Rätsel der chinesischen Schriftzeichen und das Yi Ging für Gottfried Wilhelm Leibniz?

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Als erste Besprechung im neuen Jahr möchte diese zur Debatte um das Humboldt Forum, dessen Architektur, Museen und Ausstellungen beitragen. Denn das Forum ist keine geschlossene Institution, vielmehr wird es als Platz zum Austausch von Inventionen aus Wissenschaft, Kunst und Kultur abhängig sein. Die Debatte im Feuilleton hat sich bislang darauf versteift, die Museen, Akteure und insbesondere die Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf Fehler, Versäumnisse und unabgeschlossene Konzepte zu kritisieren. Das ist wenig produktiv. Bereits im Frühjahr 2020 machte während einer informellen Sitzung im Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin der damalige Präsident, Physiker und Experte für Nanooptik Prof. Dr. Jürgen Mlynek darauf aufmerksam, dass es völlig offen sei, was im Berliner Schloss, das wieder aufgebaut werden sollte, stattfinden werde, und dass die Humboldt-Universität sich dort engagieren, wenn nicht gar den Namen Humboldt dort anbringen müsse. Das Humboldt-Forum verdankt seinen Namen und den Konnex zur Wissenschaft nicht zuletzt Jürgen Mlynek.

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Obwohl der große, international kursierende und bekannte Name Humboldt das Forum benennt, wird es damit nicht mit einem Wissen geschlossen. Vielmehr sind Foren seit der Antike Plätze des Austausches, des Handels, der Geschichtenerzähler, der Wissensvermittlung und der Umwandlung von Wissen. Schon das Forum Romanum gilt als ältestes seiner Art und als Mittelpunkt des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Lebens in Rom. Das Forum Fridericianum, wenige hundert Meter auf der Straße Unter den Linden entfernt, wurde als ein politischer Platz des Austausches mit Oper, katholischer St. Hedwig-Kathedrale und Bibliothek von Friedrich II. konzipiert. Im 19. Jahrhundert eröffnete die Dresdner Bank ihr Haus am Forum Fridericianum. In dieser Hinsicht hat das Museum für Asiatische Kunst im Humboldt Forum seine Funktion schon jetzt überdacht im Doppelsinn des Verbs im Perfekt von überdenken und überdachen.

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Der chinesische Architekt und Künstler Wang Shu, der an der China Academy of Art in Hangzhou, Volksrepublik China, lehrt, hat im Auftrag des Museums mit Unterstützung von privaten Spendern wie Bayer, Linde, SAP etc. den Saal China und Europa mit einer traditionellen, chinesischen Holzkonstruktion überdacht. Die Sammlung dieses Saals wird vom 19. Jahrhundert und des prekären Engagements des Deutschen Kaiserreichs um 1900 in China geprägt. Kaiser Wilhelm II. kaufte das 10 Meter breite Buddhagemälde auf Seide des Hofmalers Ding Guanpeng von 1770, dessen Zentrum eine Fontäne bildet, wie sie nur in europäischen Palastgärten bekannt war. Der Kaiserthron aus dem Palast von Panchan aus der Zeit nach 1661 gelangte über den Asiatikasammler Fritz Löw-Beer in die Museumssammlung.[1] Die beiden Schnitzlack-Bilder auf Holz vom Feldzug in Taiwan von 1787 und 1789 wurden 1905 von Ludwig Glenk für das Museum für Völkerkunde und Kaiser Wilhelm II. erworben, der „Kämpfe bei Dabulin“ bei seiner Abreise ins niederländische Exil offenbar mitnehmen ließ. Denn es ist eine „Leihgabe aus Huis Doorn“.[2]

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Das Verhältnis Preußens und Berlins zu China ist seit dem 17. Jahrhundert komplex und widersprüchlich. Wilhelm II. betrieb im Windschatten später kolonialer Interessen eine katastrophale, feindselige, ja demütigende China-Politik. Darüber können Kaiserthron und Prachtmalerei ebenso wie Schnitz-Lack-Arbeiten nicht hinwegtäuschen. Das Arrangement der Kunststücke hat Sprengkraft. Mit der Rede vom 27. Juli 1900 an die nach China entsendeten Soldaten, die als „Hunnenrede“ in die deutsche Geschichte eingegangen ist, formulierte Wilhelm II. eine koloniale Hybris, die in der Inszenierung der Unterwerfung durch das chinesische Kaiserhaus im Grottensaal des Neuen Palais am 4. September 1901 gipfelte. Die Hochachtung, die der Berliner Hof und Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. und 18. Jahrhundert der Kultur Chinas entgegengebracht hatten, wurde folgenreich verhöhnt.[3] Statt Bewunderung einer anderen, hochentwickelten Kultur, wie sie Leibniz als Philosoph und Gelehrter formulierte, wurde China im 19. Jahrhundert kolonisiert und rassifiziert.

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Die Farbe Gelb für kaiserliche Gewänder wie den gelben Drachen in blauen Wolken der Drachenrobe für kaiserliche Prinzen aus der Qing-Dynastie oder die Seide, in der das Kapitulationsschreiben des chinesischen Kaiserreichs an den deutschen Kaiser 1901 im Neuen Palais eingeschlagen vom Bruder des letzten Kaisers überreicht wurde, verkehrte sich bis in die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zu einer „gelben Rasse“ in Kinderbüchern. Das koloniale Pejorativ von der „gelben Gefahr“, das der Schriftsteller Stefan von Kotze 1904 zu einer 40seitigen Broschüre verfasste und in Berlin veröffentlichte[4], verkoppelte Rassentheorie mit kolonialen Interessen. Schon 1903 hatte H. Gottwaldt als „(v)olkswirtschaftl. Studie“ in Bremen die Schrift Die überseeische Auswanderung der Chinesen und ihre Einwirkung auf die gelbe und weisse Rasse in der Grauzone von Volkswirtschaft und Rassentheorie veröffentlicht.[5] 1912 war der rassistische Begriff für die multiethnischen Chinesen so populär geworden, dass Max Mark in Berlin den Stummfilm Die gelbe Rasse inszenierte und herausbrachte.[6] Eine Räuberpistole über chinesische Opiumhöhlen in San Franciscos Chinatown.

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Neben Japanern und Koreanern wurden vor allem Chinesen gelb. Noch im 17. und 18. Jahrhundert spielte die visuelle Kategorie der Hautfarbe keine Rolle für die China-Narrative. Immanuel Kant[7] geht in dem während des 18. Jahrhunderts kursierenden Rassenkonzept von 4 Rassen aus: „1. die Race der W e i s s e n, 2. die N e g e r r a c e, 3. die H u n n s c h e (Mungalische oder Kalmukische) Race, 4. die Hinduische oder H i n d i s t a n i s c h e Race“.[8] Eine chinesische oder gelbe Rasse gibt es nach Kants Rasseneinteilung nicht. Vielmehr wird China auf bedenkenswerte Weise in der Beschreibung der „Hindistanische(n) Race“ ausgespart. „Die H i n d i s t a n i s c h e  R a c e  ist in dem Lande dieses Namens sehr rein und uralt, aber von dem Volke auf der jenseitigen Halbinsel Indiens unterschieden.“ Die „Schinesen“ werden von ihm als eine „vermischte Race“ beschrieben[9], die im 19. Jahrhundert bzw. um 1900 homogenisiert wird. Statt der Hautfarbe dockt Kant an die visuellen Merkmale der „schwarze(n) Haare, das bartlose Kinn, das flache Gesicht, und langgeschlitzte wenig geöffnete Augen“ an.[10]

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Die Konstruktion unterschiedlicher Rassen und ihre visuellen Merkmale bereitet Immanuel Kant Schwierigkeiten, die die Absurdität einer „gelben Rasse“ im 19. Jahrhundert für die Völkerkunde verdeutlichen. Das Rassenkonzept wird zu einer Frage der Vererbungslehre. Die Farbe Gelb entsteht bei Kant nun aus einem vererbten Mischungsverhältnis. In der Schrift Bestimmung des Begriffs einer Menschen-Race von 1785 führt er den Begriff der Vererbung oder Anerbung ein und kommt zu einer bedenkenswerten Farbenlehre der Hautfarben, bei denen Gelb wiederum nicht den Chinesen zugeschrieben wird:
„Der Weiße mit der Negerin, und umgekehrt, geben den M u l a t t en, mit der Indianierinn, den g e l b en, und mit dem Amerikaner den r o t h en Mestizen; der Amerikaner mit dem Neger den s c h w a r z en K a r a i b en, und umgekehrt. (Die Vermischung des Indiers mit dem Neger hat man noch nicht versucht).“[11]

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In der Mitte des von Wang Shu kuratierten Saales, Raum 320, werden Keramiken und Porzellane, Lackarbeiten, Artefakte aus Jade wie ein 如意 (Wunschzepter – rúyì – aus Jade) etc. der 251 Objekte gezeigt, die die Volksrepublik China 1950 der Deutschen Demokratischen Republik anlässlich des 10järhigen Bestehens der beiden kommunistischen Staaten zum Geschenk machte. Die Frage der Provenienz ist bei diesen Objekten nur teilweise geklärt, um u.a. mit der Shanghai Universität weiter erforscht zu werden.[12] Komplexer sind die Nachforschungen zum Kaiserthron oder den Schnitzlack-Bildern, die im Kunsthandel wie beim Berliner Kunsthändler Ludwig Glenk für das Museum für Völkerkunde erworben wurden. Denn dort endet die Forschung nach der Provenienz nicht. Mit dem Jahr 1900 spitzt sich vielmehr die Frage nach der Provenienz von Sammlungsstücken zu.

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Die Entsendung der kaiserlichen Soldaten von Bremerhaven aus nach 青岛市, Tsingtao nach der deutschen Umschrift bzw. Qīngdǎo Shì nach der Pinyin-Umschrift, die am 6. Februar 1956 vom Staatsrat der Volksrepublik China als Alphabetisierungsprojekt beschlossen wurde, hatte Folgen, die für die Provenienz relevant werden. Bereits am 13. August 1900 erfolgte die Einnahme Pekings und des Palastmuseums in der Verbotenen Stadt durch einen westlichen Truppenverbund aus 8 Nationen, wesentlich, aber britisch-indischen, russischen, japanischen und US-Truppen. Kulturgüter wurden seit diesem Zeitpunkt im großen Umfang von Angehörigen der Truppen, auch der deutschen, geraubt. Sie erschienen wenige Zeit später im internationalen Kunsthandel in Europa wie zum Beispiel beim „Hofanitquar Sr. Majestät des Kaisers und Königs“ Ludwig Glenk Unter den Linden 31.[13] Dieser Kunsthandel hatte eine andere Qualität als jener, mit dem im 16. Jahrhundert vor allem durch die holländische Ostindienkompanie über Amsterdam in europäische Kaufmanns- und Herrscherhäuser gelangten.

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Das Alphabetisierungsprojekt der chinesischen Schriftsprache mit Betonungszeichen, wie es 1956 in der Volksrepublik eingeführt wurde, um z.B. Straßenschilder zu beschriften, macht auf ein Problem der Übertragung aufmerksam, das schon die europäischen Gelehrten im 17. Jahrhundert beschäftigte. Es handelt sich nämlich um eine standardisierte Umschrift der Aussprache der Schriftzeichen nach der sogenannten Beamtensprache Mandarin. Anders als die europäischen oder selbst die arabische Schriftsprache handelt es sich um keine Lautschrift. Sie geht also von den Schriftzeichen aus, wie sie in normierter Weise ausgesprochen werden. Doch die Variabilität, der aus unterschiedlichen Strichen und Punkten generierten Zeichen, ist weitaus größer als die lautliche. Daher kommt es in Pinyin zu einer Vielzahl an Homophonen, die größer ist als in europäischen Sprachen. Das System der Schriftzeichen bringt insofern allererst einen vereinheitlichenden Machtapparat in China hervor. Deshalb setzte Leibniz bereits 1697 in die besondere Art der chinesischen Schrift große Hoffnungen und erhoffte sich von der „chinesische(n) Sprache“ eine „universale Verständigung“.[14]

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Im Raum 319 gleich neben dem von Wang Shu kuratierten wird vom Museum für Asiatische Kunst die chinesische Schrift mit Beiträgen zeitgenössischer Künstler*innen wie Gu Gan oder Chen Guangwu und einem historischen Schrifträtsel inszeniert. Aus dem Magazin der Staatsbibliothek Preußische Kulturbesitz hat jene, einzigartige Schranktruhe Eingang ins Humboldt Forum gefunden, mit der der Probst von St. Nikolai in Berlin Andreas Müller (1630-1694) versprach, das Rätsel der chinesischen Schrift zu lösen. Müller war neben seiner Tätigkeit als evangelischer Geistlicher ein früher Orientalist und Sinologe. Er kaufte für die Bibliothek des Brandenburgischen Kurfürsten die Schranktruhe mit 3.287 einzeln in Holzwürfel geschnittenen Zeichen, damit sie entschlüsselt und für die Kommunikation mit dem Hof in Peking verwendet werden könnten.

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Chen Guangwus 2.772 Schriftzeichen in Tusche auf Holzklötzchen, die das Vorwort zur Gedichtsammlung von der Zusammenkunft im Orchideenpavillon von Wang Xizhi (307-365) bilden, korrespondieren mit denen der Typographia Sinica, die Andreas Müller ca. 1680 ankaufte. Einerseits wird die Schranktruhe zu Recht als „Geschichte des Ortes“ und „Spur 32“ in Bezug auf das Humboldt Forum im Berliner Schloss kommentiert und ausgestellt. Andererseits wird mit dieser Einordnung die Funktion der Typographia Sinica für Brandenburg und die europäische Aufklärung mit Leibniz als Korrespondent und Philosoph sträflich verkleinert. Über die Mathematik als Leitwissenschaft der Aufklärung werden für Leibniz die chinesische Schrift und ihre Struktur zu einer Schnittstelle des Leibnizschen Denkens und seiner Korrespondenzen mit der Schrift Erklärung der Binärarithmetik, die nur die Zeichen 0 & 1 verwendet; mit Bemerkungen zu seiner Nützlichkeit und zur Bedeutung der alten chinesischen Figur Fuxi (Explication de L’Arithmetique Binaire, qui se ser des seuls caracteres 0 & 1; avec des Remarques sur son utilité, & sur ce qu’elle donne le sens des anciennes figures Chinoises de Fohy):
„Or comme l’on croit à la Chine que Fohy est encore Auteure des Characteres Chinois, quoique fort altérés par la suite de tems, son Essais d’Arithmétique fait juger qu’il pourroit bien s’y trouver encore quelque chose de considérable par rapport aux nombres & aux idées, si l’on pouvoit déterrer se fondement de l’Ecriture Chinoise, d’autant plus qu’on croit à la Chine, qu’il a eu égard aux nombres en l’établissant …“[15]     
(Da jedoch in China angenommen wird, dass (Fuxi) immer schon Autor der chinesischen Schriftzeichen ist, auch wenn diese im Laufe der Zeit stark verändert wurden, lassen seine Essays of Arithmetic den Schluss zu, dass es im Vergleich zu Zahlen und Ideen durchaus noch etwas Bemerkenswertes geben könnte, wenn wir die Grundlage der Chinesischen Schrift ausgraben könnten, zumal wir an China glauben, da es sich um Zahlen handelte, indem wir es begründeten …)[16]

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Die Leibniz-Forschung hat in den letzten Jahren wiederholt China in ein philosophiehistorisches Interesse gerückt. 2011 hat der damalige Präsident der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft und ehemalige Kultusminister in Niedersachsen Prof. Rolf Wernstedt den Vortrag Zum Unterschied des Interesses an China bei Leibniz und im heutigen Europa/Deutschland an der Tongji Universität in Shanghai, der Universität Hefei wie auch am 25. November in der Leibnizgesellschaft in Hannover gehalten.[17] 2015 hat der Leibniz-Professor Li Wenchao seine Forschungsergebnisse mit Konfuzius in der deutschen Frühaufklärung veröffentlicht.[18] Beide philosophiehistorisch angelegten Schriften gehen weniger detailliert auf das Quellenmaterial von und zu Leibniz ein. Die Akademie-Ausgabe der Leibniz-Edition an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in Potsdam, Münster und Hannover ist nicht abgeschlossen. Die Edition ist in 8 Reihen unterteilt, die die Komplexität der Korrespondenz von Leibniz zwischen Allgemeiner, politischer und historischer Briefwechsel (Hannover) und Naturwissenschaftliche, medizinische und technische Schriften (Berlin) auffächert.

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Die Leibniz-Edition macht nicht zuletzt die Wissensproduktion in der Frühaufklärung aus einem internationalen, wenn nicht gar globalen Korrespondentennetzwerk bis nach China systematisch zugänglich. Latein, Französisch, Englisch und Deutsch werden von Leibniz anscheinend mühelos in der handschriftlichen Korrespondenz verwendet. Arabisch und Übersetzungen aus dem Arabischen spielten um 1700 bereits eine Rolle u. a. für die Mathematik. Gottfried Wilhelm Leibniz war eine, wenn nicht die international wichtigste Schnitt- und Schaltstelle der Korrespondenzen und Wissenszirkulation um 1700. Denn er war Mitglied der wichtigsten Akademien der sich herausbildenden Wissenschaften und Präsident der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Durch die Mehrsprachigkeit der handschriftlichen Korrespondenzen entziehen sie sich seit geraumer auch eines populären Zugriffs. Doch das Leibnizsche Wissen und Denken entsteht aus den ständigen Übersetzungsprozessen, die wie oben beispielsweise den mythologischen Kulturstifter 伏戲 als „Fohy“ bei Leibniz oder Fuxi wie auch Fu Hsi umschreiben lassen.

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Die Funktion der Mathematik für die Philosophie der Aufklärung bei Leibniz ist nicht nur zentral, vielmehr zitiert er in diesem Kontext die chinesische Wissensfigur 伏戲. Wie sehr sich die Wissensfigur historisch als „Autor“ personalisieren lässt, bleibt völlig offen. Das ist selbst Leibniz in seiner Schrift klar. Aber es zirkuliert in Europa bereits der Essay of Arithmetic von „Fohy“.[19] Die „Grundlagen (fondement) der Chinesischen Schrift“ sind für Leibniz als Form des Denkens nicht mit, sondern im Unterschied zu „Zahlen und Ideen“ denkbar. Er kann es nur nicht formulieren. Was sind Zahlen? Und was sind Ideen? Ideen müssen sprachlich formuliert werden, könnte man mit Leibniz sagen. Sind Zahlen eine eigene Sprache? Leibniz hat sich zu jener Zeit mehrfach mit Andreas Müller in Berlin schriftlich und möglicherweise auch mündlich ausgetauscht. Doch mit dem Todesjahr 1694 ist Andreas Müller bereits verstorben, als die Berliner Akademie gegründet wird. Andreas Müller hatte versprochen, gleichsam mathematisch-geometrisch mit einem „Schlüssel“ das Rätsel der Chinesischen Schrift gelöst zu haben.

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Nicht Konfuzius ist für Gottfried Wilhelm Leibniz der entscheidende Anknüpfungspunkt für die Aufklärung, sondern die Wissensfigur, die er mir „Fohy“ übersetzt. Nach dem Rekurs auf ein Drittes, das Grundlage der chinesischen Schriftzeichen sein könnte, schließt Leibniz seine akademische „Mémoire“ mit der Formulierung: „Es ist so, dass jede Schlussfolgerung, die aus Begriffen gezogen werden kann, durch ein Kalkül aus ihren Grundlagen gezogen werden könnte, was eines der wichtigsten Mittel wäre, dem menschlichen Geist (l’ésprit humain) zu helfen.“[20] Damit werden allerdings bei einer altertümlichen Syntax die Begriffe und ihr Gebrauch zu einer Frage des Kalküls bzw. der Berechnung oder Abwägung. Sinn oder Ideen generierten sich erst nachträglich. Der „l’ésprit humain“ emanzipierte sie demnach bei Leibniz ganz entschieden von einem göttlichen. Darum geht es Leibniz mit dem Rätsel der chinesischen Schrift. Sie ermöglicht ihm über die Mathematik und chinesische Schriftzeichen, das mit Europa Undenkbare zu denken. Die Typographia Sinica ist dafür das ebenso sichtbare wie rätselhafte Anschauungsobjekt, ein Artefakt.  

Torsten Flüh

Humboldt Forum
Ethnologisches Museum und Museum für Asiatische Kunst
Schlossplatz
10187 Berlin   


[1] Siehe: Elke Linda Buchholz: Die Pfirsiche der Unsterblichkeit. In: Der Tagesspiegel 12.01.2016, 08:55 Uhr.

[2] Zitiert nach Legende im Wang Shu-Saal

[3] Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin Brandenburg: Neues Palais/1901.

[4] Siehe Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin: Die gelbe Gefahr.

[5] Ebenda: Die überseeische Auswanderung der Chinesen und ihre Einwirkung auf die gelbe und weisse Rasse (Kriegsverlust)

[6] Wikipedia: Die gelbe Rasse.

[7] Zu Immanuel Kant siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[8] Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen. In: Immanuel Kant’s vermischte Schriften. Zweiter Band. Halle: Rengersche Buchhandlung, 1799, S. 613. (Digitalisat)

[9] Ebenda S. 614.

[10] Ebenda S. 615.

[11] Immanuel Kant: Bestimmung des Begriffs einer Menschen-Race. In: Ebenda S. 642. (Digitalisat)

[12] Siehe: Humboldt Forum: Staatsgeschenk der Volksrepublik China an die DDR, Deutschland. 29.09.2021. (YouTube)

[13] Siehe: Humboldt Forum: Offiziersportrait. 29.09.2021. (YouTube)

[14] Siehe Torsten Flüh: Anders denken in der Moderne. Wang Huis Mosse-Lecture zum Thema Europa im Blick der »Anderen«. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 14, 2013 22:10.

[15] Godefroy-Guillaume Leibnitz: Explication de L’Arithmetique Binaire, qui se ser des seuls caracteres 0 & 1; ave des Remarques sur son utilité, & sur ce qu’elle donne le sens des anciennes figures Chinoises de Fohy. Mémoires de mathématique et de physique de l’Académie royale des sciences, Académie royale des sciences. (Paris) 5. Mai 1703, S. 89. (PDF Hal) Der Ort der Veröffentlichung wird nicht angegeben. Leibniz war zu jener Zeit sowohl Präsident der in Berlin neu gegründeten Akademie der Wissenschaft, in der man nach dem Vorbild der Pariser Akademie französisch sprach und publizierte, als auch Mitglied eben dieser. Aus dem Digitalisat der französischen Datenbank hal.archives-ouverts.fr geht das nicht hervor.

[16] Mit Fohy ist der legendäre chinesische Gelehrte Fuxi oder Fu Hsi 伏戲, der 2.600 vor christlicher Zeitrechnung gelebt haben soll.

[17] Rolf Wernstedt: Zum Unterschied des Interesses an China bei Leibniz und im heutigen Europa/Deutschland. Hannover, 2011. (Word.doc)

[18] Li Wenchao: Konfuzius in der der deutschen Frühaufklärung. Hannover/Potsdam, 2015. (PDF)

[19] Zur binären Arithmetik wird Leibniz‘ Schrift immer wieder als Fachwissen oder als Geschichte des Algorithmus zitiert. Z.B.: Jean-Luc Chabert: A History of Algotithms: From the Pebble to the Microchip. Berin/Heidelberg: Springer, S. 41 (Google)

[20] Übersetzung T.F., Original: “C’est que tout raisonnement qu’on peut tirer des notions, pourroit être tire de leurs Carackteres par une manière de calcul, qui feroit un des plus importans moyens d’aider l’esprit humain.” (S. 89)

Bezaubernd verhext

Konzert – Epoche – Sprache

Bezaubernd verhext

Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie

Der Name Endor gab am 19. Dezember 2021 den Titel für das Konzert mit der faszinierenden, in Berlin lebenden Koloratursopranistin Anna Prohaska, dem Ausnahme-Cellisten Nicolas Altstaedt und dem nicht minder arrivierten Cembalisten Francesco Corti. Allein die Kombination dieser drei international herausragenden, jüngeren Musiker*innen sollte Konzertsäle füllen, wenn der Konzertbetrieb in Berlin und anderswo nicht weiterhin unter Beschränkungen und Ängsten vor einer Infektion mit Sarc-Cov-2 und seinen Mutanten leiden müsste. Das Konzert hätte im Rahmen des Musikfestes Berlin 2021 im September aufgeführt werden sollen, musste wegen Krankheit abgesagt werden und konnte nun kurz vor Jahresende im Kammermusiksaal immerhin nachgeholt werden. An Applaus und Bravos mangelte es nicht am Schluss.

Endor spannte einen Bogen der Epochen von Kompositionen des 17. Jahrhunderts bis zu den Uraufführungen von Wolfgang Rihm und Jörg Widmann. Von fern winkte mit dem Programm im Rahmen des Musikfestes die Kompositionspraxis im Spätwerk von Igor Strawinsky herüber. Denn es war Strawinsky, der in seinem Spätwerk in Epochen gezwängte Kompositionsweisen mit großer Freiheit und eigenen Textkombinationen zu Neuem komponierte.[1] Anna Prohaska hatte mit Nicolas Alstaedt das epochensprengende Programm angedacht, um schließlich Francesco Corti mit dem Cembalo und weiteren Tasteninstrumenten hinzuzuholen. Einerseits ist Anna Prohaska dafür bekannt, mit Musikstilen in überraschenden Programmen zu experimentieren. Kombiniert wird, was thematisch und von der Stimmung her passt. Andererseits wird unter dem Namen der biblischen Stadt Endor und der dort angesiedelten Magierin bzw. Hexe des ersten Buches Samuel ein Erzählstrang in Opern, Kantaten und Musiktheaterstücken herausgearbeitet und montiert.

Endor ist selbst zu einer Komposition geworden. So wies denn auch Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter des Musikfestes, vor Beginn darauf hin, dass die beiden Teile vor und nach der Pause attacca aufgeführt würden. Gewünscht wurde auf diese Weise, dass sich das Publikum auf die vielschichtige Kombination von mehreren Sprachen zwischen Russisch, Deutsch, Italienisch und Englisch auf das Klangerlebnis einlasse. Elektronische Textanzeigen wurden nicht über der Bühne aufgehängt, was neuerdings im Konzertsaal und in Opernhäusern fast zur Regel geworden ist, um eine bessere Verständlichkeit zu ermöglichen. Gleichzeitig nahmen Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt damit ein Thema auf, das in der Oper Babylon von Jörg Widmann mit dem Text von Peter Sloterdijk eine wichtige Rolle spielt. So ist der Sprechgesang der Opernfigur Tod in der nun uraufgeführten Unterweltszene Schwester Tod onomatopoetisch angelegt:
„I – nanna,
mrdk, nanna, mrd,
uhu,
ugu,
uru,
…“[2]

© Phillippe Rebosz

Wie schon beim Eröffnungskonzert des Musikfestes am 30. August 2021 mit der Uraufführung von Heiner Goebbels A House of Call wird mit Endor das landläufige Konzertformat als Musikwissen wenigstens anders gewendet. Wie sehr eine derartige Aufführungspraxis das Publikum verunsichern kann, wurde bei einer Sitznachbarin deutlich, die in der abgedämpften Beleuchtung auf störende Weise partout im Programmheft nachlesen wollte, was denn nun gespielt und gesungen würde. Nein, Endor war – und ist hoffentlich bei weiteren Aufführungen – auf ein anderes Hörverstehen angelegt. Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt mit seinem sehr kantablen Cellospiel lenken das Hörverstehen vielmehr auf den Klang und das Zusammenspiel der Instrumente. Ebenso gilt es, die Klangfarben und -schichten des Cembalo jenseits einer Epochenzuordnung neu zu hören und zu entdecken. Anders gesagt: die Musiker*innen betreiben mit Endor nicht weniger als ein Dekomponieren und ein Erforschen, was mit anderen Kombinationen klanglich möglich wird. Nachhören und Nachdenken sind gefragt.

© Phillippe Rebosz

War das Konzertformat auf seine Weise nicht immer schon Musiktheater? Endor ist nicht nur mit Wolfgang Rihms Gebet der Hexe von Endor und Schwester Tod musiktheatralisch bis zum Sprechgesang von Nicolas Altstaedt und Francesco Corti, vielmehr wird von den Musiker*innen bereits John Taveners Данте/Dante aus seinen Akhmatova Songs (1993) für Sopran und Violoncello musiktheatralisch angelegt. John Tavener hat Anna Achmatowas Dante-Gedicht nicht ganz für seine Komposition verwendet, sondern einige Verse weggelassen.[3] Motivisch wird von Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt mit dem Lied die Reise in die Unterwelt als Thema angeschlagen. Denn Dante besucht bekanntlich in der Devina Commedia als Dichter die Unterwelt und die Hölle, woran die russische Dichterin 1936 mit ihrem Gedicht anknüpft und sich selbst mit ihm identifiziert.
„Он и после смерти не вернулся
В старую Флоренцию свою.
Этот, уходя, не оглянулся,
Этому я эту песнь пою
.…“[4]
(Er, sogar nach dem Tod, kehrte nicht zurück
Zu seinem alten Florenz.
Dieser, der ging, schaute nicht zurück,
Dazu singe ich dieses Lied.)[5]

© Phillippe Rebosz

Weltliche und geistliche Musik werden mit Endor zur musikalischen Montage unterschiedlicher Genres, die dennoch zusammenklingen. An die weltliche Komposition von John Tavener wird Franz Tunders musikalische wie textliche Bearbeitung des Psalm 137 mit An Wasserflüssen Babylon von 1645 montiert. Dazu erklingt mit Francesco Corti das Kircheninstrument Orgel. John Tavener wie Franz Tunder gehören nicht eben zu den oft gespielten Komponisten in der ohnehin schon marginalisierten Kammermusik. Vielleicht ermöglicht gerade der eher geringe Bekanntheitsgrad außerhalb der Fachforschung, dass sie überhaupt von Prohaska und Altstaedt kombiniert werden können. Franz Tunder wirkte als Organist und das heißt in Kirchen vor allem in Lübeck und am Hof Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf, welcher Schloss Gottorf quasi zu einem barocken Wissenschaftszentrum mit Riesenglobus ausbaute. Damit wird Tunder auch zu einem Protagonisten eines Wechsels von Wissenspraktiken.

© Phillippe Rebosz

Franz Tunder dichtet den Psalm 137 in Abweichung zur Lutherbibel mit barockem Reimschema – ABABCCDEED – nach. Der Reim wird dabei selbst zur narrativen Komposition. Das Schicksal der Israeliten im heutigen Hilla südlich von Bagdad im Irak wird vor allem hinsichtlich einer Gefangenschaft in Psalm 137 besungen. Ob es sich dabei um eine Gefangenschaft unter Nebukadnezar oder ein Exil einer jüdischen Oberschicht im späten Assyrien bzw. Babylon handelt, wird in der historischen Forschung kontrovers diskutiert. Im Barock wird die lyrische Form der Psalmen unterdessen stärker narrativ strukturiert, was besonders mit Franz Tunders An Wasserflüssen Babylon lesbar wird.  
„An Wasserflüssen Babylon,
da saßen wir mit Schmerzen,
als wir gedachten an Zion,
da weinten wir von Herzen,
wir hingen auf mit schwerem Muth
die Orgeln und die Harfen gut
an ihre Bäum‘ der Weiden,
die drinnen sind in ihrem Land,
da mussten wir viel Schmach und Schand‘
täglich von ihnen leiden.“[6]

Die Ebene der Narration funktioniert in der Endor-Komposition, obwohl der Text in seiner Mehrsprachigkeit nicht verstanden werden muss oder auf Verstehen angelegt ist. Die alttestamentarische Suche nach einem anderen Wissen von der Zukunft, einem Zukunftswissen wie es im Sommersemester 2016 in den Mosse Lectures diskutiert wurde, als einer Abweichung vom monotheistischen Gott, der sein Wissen und Walten im Voraus[7] nicht preisgibt, rahmt die Geschichte der Hexe von Endor. Der frühe Monotheismus mit einem erst nachträglich enthüllten Wissen als Wahrheit Gottes trifft in dieser Passage auf den Wunsch eines früher praktizierten Zukunftswissens, das die Macht der assyrischen wie babylonischen Herrscher hervorbrachte und lange Zeit sicherte. Einerseits sorgt sich König Saul um Israel. Doch „der Herr antwortete nicht, weder durch Träume noch durchs Licht, noch durch Propheten“.[8] Andererseits ist der Prophet Samuel, „der Seher und Freund Gottes“ gestorben und begraben. Saul hatte „die Wahrsager und Zeichendeuter“ Babylons selbst aus seinem, dem Land der Israeliten, vertrieben. In dieser Not einer Wissenslücke oder eines Unwissens wird Saul von seinem Knecht an ein Weib mit einem „Wahrsagergeist“ in Endor verwiesen. Diese sogenannte Hexe von Endor beherrscht anscheinend Wissenspraktiken, die zuvor ausgelöscht werden sollten. Angesprochen wird so ein fundamentaler Praxiswechsel zum Generieren von Wissen.

Der Name Endor und die Geschichte von Saul werden seither in Variationen und beispielsweise als „merkwürdige() Fälle aus dem Gebiet des Übersinnlichen von 1200 vor bis 1800 nach Christus“ bearbeitet.[9] „Übersinnlich“ ist an der biblischen Erzählung indessen nichts! Doch der Konflikt unterschiedlicher Wissenspraktiken wird mit dem Endor-Stoff bzw. der biblischen Geschichte von Saul im 16. und 17. Jahrhundert, als es mit der Aufklärung wiederum um einen tiefgreifenden Wechsel von Wissen und Wissenschaft geht, wiederholt künstlerisch bearbeitet. Dementsprechend kombinieren Prohaska und Altstaedt auch zwei Arien aus der Oper Saul von Georg Friedrich Händel aus dem Jahr 1738 mit den Kantaten und Liedern. Die fundamentale Veränderung der Wissenspraktiken durch die monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – gegenüber älteren bzw. assyrischen oder babylonischen Praktiken der Wissensgenerierung z.B. durch den Verbrauch einer Unmenge von Opfertieren, die ein sprachlich elastisches Wissen hervorbringen, ist beispielsweise mit den Wahrsagelebern archäologisch überliefert.[10]

© Phillippe Rebosz

Georges Didi-Huberman hat sich diesen Wissenspraktiken intensiv gewidmet. So geht er auf „ein etruskisches Modell einer Wahrsageleber“ ein, das „über dieselben Charakteristika wie ihre babylonischen Vorgänger“ verfüge: „einen ausreichenden Realismus, um sich in der Morphologie des Organs präzise orientieren zu können; und einen extremen Symbolismus, der die Fläche einteilt – ein Kreis, mehrere Dreiecke, ein Randstreifen, der genau den gebogenen Konturen des Objekts folgt –, die darüber hinaus mit Schriftzeichen überzogen sind“.[11] Die etruskische Wahrsageleber sei „eine Montage aus kultischen, kulturellen und zeitlichen Heterogenitäten“, schreibt Didi-Huberman, die „durchzogen (sei) von exogenen Glaubensüberzeugungen“.[12] Er entwickelt daran eine Theorie des Atlas‘, die von einer „Beunruhigung der Vernunft angesichts von Bildern“ durchbrochen sei.[13] Mit seinem Mnemosyne-Atlas habe Aby Warburg einen „konkrete(n) Apparat eines Denkens“ konzipiert, der die Aufgabe habe, noch einmal oder neu zu lesen:
„So als ob »Was nie geschrieben wurde, lesen« die Praxis eines immer wieder neu beginnenden Lesens erfordern würde: die Praxis, unablässig die Welt neu zu lesen.“[14]

© Phillippe Rebosz

Die monotheistische Gesetzgebung, wie sie in den 10 Geboten des Alten Testaments als verbindliche Handlungsanweisung formuliert worden ist, wird nicht zuletzt mit der Hexe von Endor als weiterhin brüchig angeschrieben. Die Geschichte von Saul wird mit Endor auf diese Weise zur Chiffre nicht nur zweifelhaften oder falschen Wissens, sondern zur Abgrenzung gegen das imaginäre Wissen der Träume und der Leberbilder, denen in den monotheistischen Religionen einen anders ausgerichteten und einzigen Ursprung in Gott zugeschrieben wird. Zugleich wird die Montage der Kompositionen unter dem Titel Endor zu einer anderen Form des Konzerts, indem kombiniert und verwoben wird, was einer Logik der Stimmung gehorcht. Im Interview mit Barbara Barthelmes sagte Anna Prohaska:
„Wie zum Beispiel die Frage, was von der Stimmung her komplett rausfällt oder sehr gut passt. Besonders gut passte der Marche des Scythes von Joseph-Nicolas-Pancrace Royer zu Alexander Therepnins Tartar Dance. Dieser Marsch ist ein sehr berühmtes Stück für Cembalo. Es wirkt wie ein Dance macabre (Totentanz), und legt somit einen weiteren roten Faden durch das Programm. Denn die Hexe von Endor ist auch eine Art Todesbeschwörerin.“[15] 

© Phillippe Rebosz

Die Logik der Stimmung wie sie von Prohaska und Altstaedt mit dem Programm praktiziert wird, kreist um ein diskretes Wissen von Babylon. Dementsprechend endete der erste Teil mit der Uraufführung des Gebets der Hexe von Endor, einem Text von Botho Strauß, das Wolfgang Rihm für Prohaska komponiert hat. Botho Strauß hat in seinem Text Psalm 77 mit dem Babylonischen Klagelied kombiniert und verarbeitet. Doch durch diese Textausgangslage wird nicht, wie Didi-Huberman schreibt, das zwischen Imagination und Wahnsinn schwankende Wissen der Bilder formuliert[16], vielmehr wird das Ausbleiben der Bilder durch „Gott“ beklagt. Die „Fackel“ des anderen imaginären Wissens ist erloschen. In dem Gebet an Gott und nicht mehrere Gottheiten, wie sie z.B. auf Wahrsagelebern kartographiert worden waren, bestätigt bereits die Vormacht des israelitischen Gotts.
„Löse meine Sünde, meine Missetat, meinen Frevel.
Übersieh meine Verfehlung, nimm mein Gebet an.
Löse meine Fessel, bewirke meine Befreiung.
Leite meine Pfade recht, daß ich glänzend wie ein
vornehmes Weib unter den Menschen meine Straße ziehen kann.
Laß meine Fackel, die erlosch, wieder leuchten!“[17]     

Die Stimmung wird im Gebet der Hexe von Endor insbesondere durch das Violoncello von Nicolas Altstaedt erzeugt. Anders als es eine Klavierbegleitung jemals vermöchte, werden zwischen Sopran und Violoncello kantabile Spannungsbögen aufgebaut, was besonders reizvoll ist. Altstaedt trägt quasi Prohaskas Gebet. Es wird zur Zwiesprache mit Gott, der sich nach dem korrespondierenden Psalm 137 in Babylon als ein abwesender zeigt. Ihm wird von der Hexe der göttliche Zorn als Bestrafung unterstellt. Obwohl Botho Strauß keine Fragezeichen in die Schlussverse setzt, werden sie doch als fragende Behauptungen formuliert. Das Gebet der Hexe von Endor wird nur oberflächlich als Bitte formuliert, um in einer Anschuldigung oder Anklage zu enden bzw. syntagmatisch offen zu lassen, ob gar Lob gesprochen wird.  Diese Stimmungswechsel in Stimme und Artikulation lassen sich im Liedklang hören, ohne dass jedes Wort verstanden werden müsste.
„Dein Weg war im Meer und dein Pfad
in großen Wassern, und man spürte doch
Deinen Fuß nicht.
Hat Gott vergessen, gnädig zu sein,
und seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen.“[18]   

Die Hexe von Endor ist ganz und gar keine gläubige Jungfrau des Lobgesangs. Erst in der stimmlichen und klanglichen Dramatik wird die Tragweite dieses Gebets deutlich. Die unterschiedlichen Stimmungen eines Gebets in der spirituellen Praxis werden von Strauß und Rihm mit dem Gebet der Hexe von Endor ausgelotet und kontrastiert, um damit das Genre des Gebets in der Liedliteratur zu befragen. Als kanonisches Wissen des Alten Testaments taugt die Passage der Hexe von Endor ebenso wenig, wie als Darstellung der Macht Gottes. Indem sie durch Imagination einen Kontakt zur Unterwelt, also den Toten hält, verletzt sie auch die Grenze des Todes, über die allein Gott zu entscheiden vermag. Einerseits kehren dadurch Motive der Seelenwanderung wieder, die mit den Texten der Bibel konkurrieren. Der Tag der Auferstehung und damit Wiederkehr der Toten wird allein durch den biblischen Gott bestimmt. Andererseits wird die imaginäre Überschreitung der Grenze des Todes zu einer Machtfrage. Man muss Rihms Gebet der Hexe von Endor insofern gegen vielerlei Erwartung durch das Gebet in der Liedliteratur hören – lesen.

Jörg Widmann hat mit seiner Unterweltszene Schwester Tod aus seiner Oper Babylon mit dem Text von Peter Sloterdijk in gewisser Weise welt-philosophischer und weniger biblisch angelegt. Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti führen mit Schwester Tod singend, sprechsingend und mehrere Instrumente spielend – Prohaska streicht über den Gong, Altstaedt grummelt den Tod, Corti spricht die Pförtner – ein veritables Musiktheaterstück auf. Hier wird nicht nur eine Handlung, sondern das Musikmachen in Szene gesetzt. Die Musiker*innen haben bei äußerster Konzentration sichtlich Spaß daran. Die Begegnung zwischen Schwester Wollust Inanna (Prohaska) und Schwester Tod (Altstaedt) ist nicht nur gendersensibel angelegt, vielmehr lotet Sloterdijk das Wesen der Schwestern aus. Dabei wird, sozusagen, die Orpheus-Erzählung geschlechtlich umgedreht.
Inanna
Schwester Tod,
o meine Schwester,
sei einmal, einmal größer als du selbst,
gib mir Tamma jetzt,
meinen Geliebten,
der Sonne wieder
und lass ihn fallen
in die Liebe.“[19]

Die Schwester Tod wird trotzdem weiter als „Der Tod“ angeschrieben, um nur noch stärker auf die Geschlechtsbestimmung des Todes aufmerksam zu machen. – „Ich bin der Tod, weil ich die Regel bin. Niemand kehrt zurück.“ – Die Allegorie der Schwestern hätte mit dem Französischen „la petite mort“ als Orgasmus eine sprachliche Weisheit. Denn in der Orpheus-Erzählung wird dem Protagonisten verboten, sich begehrend oder in Wollust nach Eurydike umzuschauen. Als er es doch tut, verschwindet die Geliebte für immer. Doch so weit geht dann die Unterweltszene intersprachlich nicht. Der Tod ist im Französischen so oder so weiblich. Offen bleibt in dieser Szene, ob der Tod Tamma freilässt. Aber die Schlussformulierung gibt einen Wink: „Wahnsinn ist, Schwester,/was du verlangst./Doch Lust auf Wahnsinn/hast du mir gemacht!“ – Demnach wäre die Wollust (la volupté auch Sinnlichkeit) stärker als das Gesetz des Todes bzw. der Tod als Gesetz und es käme zu einem wollüstigen Happy End zwischen Inanna und Tamma. Eine kleine höchst sinnliche Szene, die mit Bravos belohnt wurde.

Torsten Flüh


[1] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Visuelle Musik. Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. September 2021.

[2] Jörg Widmann: Schwester Tod. Unterweltszene aus der Oper Babylon. (Text: Peter Sloterdijk) In: Musikfest Berlin 2021: Endor. 19.12.2021. Berlin: Berliner Festspiele 2021, S. 9.

[3] Vgl. The LiederNet Archive: Данте. (Researcher for this text: Emily Ezust)

[4] Ebenda.

[5] Eigene Übersetzung. (Zu Dante in der Lyrik von Anna Achmatova siehe auch Christine Fischer: Nachwort. In: Anna Achmatowa: 50 Gedichte. Planet Lyrik 2011 (zuerst 2002).

[6] Musikfest Berlin 2021: Endor. 19.12.2021. Berlin: Berliner Festspiele 2021, S. 6.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse Lectures. In. NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.

[8] Zitiert nach: Enno Nielsen (Hrsg.): Die Hexe von Endor. Die merkwürdigen Fälle aus dem Gebiet des Übersinnlichen von 1200 vor bis 1800 nach Christus. München 1978, S. 7.

[9] Ebenda.

[10] Torsten Flüh: Big … [wie Anm. 7].

[11] Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Das Auge der Geschichte III. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 43.

[12] Ebenda S. 46.

[13] Ebenda S. 48.

[14] Ebenda S. 67.

[15] Gespräch: Von Magierinnen, Geistern und Biblischen Figuren. Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt über ihr gemeinsames ENDOR-Projekt mit Francesco Corti. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 14.

[16] Vgl. Georges Didi-Huberman: Atlas … [wie Anm. 11] S. 42.

[17] Wolfgang Rihm: Gebet der Hexe von Endor. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 7.

[18] Ebenda.

[19] Jörg Widmann: Schwester Tod. Unterweltszene aus der Oper Babylon. In: Ebenda S. 11.

Von der Supersammlung zum Debattenraum

Museum – Ethnologie – Kolonialismus

Von der Supersammlung zum Debattenraum

Nachgedanken zur Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum

Am 22. September 2021 wurden mit einer Festrede der nigerianischen Schriftstellerin, Afrika-Forscherin, Feministin und LGBT-Aktivistin Chimamanda Ngozi Adichie das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst im Humboldt Forum eröffnet. Die Form der Festrede wurde zu einer ebenso anekdotischen Erzählung von afrikanischer Kunst, Spiritualität und Artefakten wie ein restitutionspolitischer Apell, mit dem sie das Humboldt Forum gegen die Praktiken keiner geringeren Institution als dem British Museum in London in Stellung brachte. Adichie appellierte nicht nur an Deutschland, vielmehr ging es in ihrer Rede um Europa mit Konkretionen zu Belgien, dem Vatikan und London. Als afrikanische Katholikin, die es in den USA zu höchsten Schriftsteller*innen-Ehren und auch akademischen gebracht hat, legte sie ihre Berliner Festrede insofern weit höher, wie manch eine und einer erwartet hatte. – Vor dem Eingang zum Ethnologischen Museum sind Uhren mit den unterschiedlichen Zeiten an Orten installiert, mit denen Alexander von Humboldt korrespondierte. Zu seiner Zeit vor der Einführung der gesetzlichen Normalzeit herrschten noch in Berlin und Dresden etc. unterschiedliche Uhrzeiten.

Die Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum fällt in eine Zeit, in der nicht nur die akademische Disziplin Ethnologie, wie sie von Adichie in ihrer Rede als eine Wissenschaft der Kategorisierung von Anderen erwähnt wird, zur kritischen Diskussion steht. Vielmehr wird die Institution Museum im künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs seit geraumer Zeit befragt. Damit werden nicht nur Ausstellungskurator*innen gefordert, über das Museum nachzudenken, sondern Museumsbesucher*innen sollten ebenso ihre Wahrnehmungspraktiken überdenken. So glänzte das British Museum bislang mit einer Art Supersammlung, die alle Besucher*innen zum Staunen brachte. Legendär waren und sind die „Benin-Bronzes“ und das überwältigende Ausmaß dieser Sammlung.[1] Hinter den konzeptuellen Fragen an das Museum und die Ethnologie nehmen sich die Aufregungsthemen von Kolonialismuskritik und Restitutionsdebatte fast nebensächlich aus.

Was passiert, wenn ein im akademischen Raum auf dem Campus der Freien Universität fast marginalisiertes Museum mit hochkarätiger Sammlung von Dahlem in die Mitte von Berlin als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland zieht? Bereits 1906 war ein Teil der völkerkundlichen bzw. ethnologischen Sammlung auf das Gelände der Domäne Dahlem gezogen. 1921 wurde das Asiatische Museum als erstes von mehreren geplanten nach dem Ersten Weltkrieg dort eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Schicksal des Museums und der Sammlung noch komplizierter. Von Forschungsreisenden und Wissenschaftlern war seit den 1870er Jahren eine Sammlung zusammengetragen worden, die einerseits der Rettung untergehender Kulturen und Völker verschrieben war und andererseits dem Denken des Ursprungs und Ursprünglichen verfiel. Die Frage nach der kulturellen Herkunft eines Volkes wurde zur vorherrschenden Frage bei der Konstruktion von Ethnien. Im Ethnologischen Museum sollte an Artefakten insbesondere die Herkunft des Eigenen am Fremden sichtbar und erzählbar werden.  

Ansichtssache(n) – Wie blicken Gesellschaften in Kamerun, Namibia und Ozeanien auf Europa …

Die Sammlung zur, wie es hieß, Völkerkunde, zum Wissen von den Völkern sollte einen Mangel über das Wissen von dem, was ein Volk genannt werden soll, schließen. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatte sich beispielsweise die Frage zugespitzt, was deutsch und deutsche Kultur sein sollte. Nachträglich wurde Johann Wolfgang Goethes Text Von deutscher Baukunst über das Straßburger Münster und seinem schwer zu verifizierenden Bauherrn Erwin von Steinbach mit der Veröffentlichung in Herders Sammlung „(e)inige(r) fliegende(r) Blätter“ Von Deutscher Art und Kunst zu einem fehlerhaften Ursprungsmythos.[2] Denn schon Goethe musste eingestehen, dass die Gotik nicht deutschen, sondern französischen Ursprungs war. Doch um 1810 wurde die Gotik in Berlin und Preußen identifikatorisch zum Vaterländischen Stil umgedeutet.[3] Bereits Goethes Identifikation mit Erwin als „deutschem“ Genie füllt eine Leerstelle. Denn Goethe suchte mit dem Grabstein Erwins ein Artefakt – und konnte es nicht finden. Im 19. Jahrhundert wurde die Frage nach dem Eigenen drängender. Deshalb nimmt nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs die Suche nach den anderen Ethnien und Kulturen so stark zu, dass gesammelt wurde, was möglich war, um an dem Fremden das Eigene –  das Deutsche – herausarbeiten zu können.  

Ansichtssache(n)

Das Sammeln wurde nicht nur politisch, um einen Machtanspruch in Europa vor allem in Konkurrenz zu England zu legitimieren. Es wurde auch maßlos. Das Ethnologische Museum und Museum für Asiatische Kunst in Dahlem nach 1945 waren immer zu klein für die Massen in den Depots der nach Kriegs- und Reparationsverlusten geretteten, immer noch beachtlichen Sammlung. Im Dahlemer Museum störte die Sammlung schon deshalb nicht besonders, weil der Museumsbau in der Takustraße eine Art Behelf war, was schon daran erkennbar wird, dass er nicht einmal unter Denkmalschutz steht, und nur ein kleiner Bruchteil ausgestellt werden konnte. Politisch rückten Depots und Sammlung erst ins Interesse, als sie im Humboldt Forum ausgestellt, sichtbar werden sollten. Einen ersten Vorgeschmack gab die Ausstellung Unvergleichlich 2018, als Kunst aus Afrika im Bode Museum ausgestellt wurde.[4] Die Ausstellungsarchitektur von Franco Stella, wie sie nun z.B. für die Tufan-Expeditionen auf dem von Ferdinand von Richthofen 1877 erstmals „Seidenstraße“ genannten Handelsweg zwischen China und Europa unter unterschiedlichen, projizierten Himmelskarten entstanden ist, setzt auf eine fast monumentale Darstellung der Schätze. Endlich sollte das weltweit Einmalige langfristig gezeigt und inszeniert werden, das in den Depots verwahrt worden war.

Ansichtssache(n)

In der Ausstellungsarchitektur von Franco Stella sind gar schon die hochwertigen, massiven Präsentationtische für die Benin-Bronzen und die Präsentationswände der einzigartigen Gips-Reliefs von Angkor Wat im Ostflügel der 42.000 qm des Ethnologischen Museums fertiggestellt. Nicht einmal Jacky Onansis sah die Reliefs, als sie 1967 Angkor Wat besuchte. Denn sie waren vor Ort zerstört und befanden sich als Abgüsse seit Beginn des 20. Jahrhundert in Berlin bzw. im Dahlemer Depot. Womöglich und durchaus nach der Festrede von Chimamanda Adichie[5] werden auf den Präsentationstischen für die Benin-Bronzen im Sommer 2022 diese nicht zu sehen sein. Was zu präsentieren geplant wurde, hat der Diskurs als Wissensgenerator hinweggefegt. Hinzukommt, dass die neue Bundesregierung mit Claudia Roth als Staatsministerin für Kultur ihre Beine während der Festrede wohl weniger provokativ ausgestreckt hätte als ihre Vorgängerin im Amt Monika Grütters. Die ausgestreckten Beine und verschränkten Arme, die im Video von der Festrede einige Male ins Bild kommen[6], signalisieren weniger Entspannung als ein gewisses Desinteresse. Die Ausstellungsarchitektur könnte auf diese Weise zu einem Denkmal für den Diskurswechsel von Zeigen und Debattieren werden.

Die Benin-Bronzen als ethnologische(!) Artefakte könnten im Sommer 2022 im Ostflügel des Humboldt Forums fehlen, um gerade dadurch über dessen Konzept als Gegenstände des Wissens im Museum nachdenken zu machen.[7] Denn das Humboldt Forum mit seinen Museen und Ausstellungen ist schon jetzt mit der Gründungsintendanz von Hartmut Dorgerloh viel stärker zu einem transdisziplinären Debattenraum geworden. Debatten aus Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft, Geschlecht, Geschichte, Politik, Recht, Afrika, Spiritualität, Europa, Kolonialismus etc. beginnen sich nun zu überschneiden. Das Humboldt Forum ist insbesondere mit dem Ethnologischen Museum zu einem, wie es Adichie zur Sprache bringt, über die Kolonialismusfrage zum Debattenraum für Europa geworden. Im Hintergrund spielt gar die Frage Kant – Ein Rassist? zu Immanuel Kant, wie sie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften diskutiert wurde und wird, eine Rolle. Wem gehören die Artefakte? Wem sind sie wie entwendet worden? Und welches Wissen kann an ihnen wie sichtbar werden? Wie können die Artefakte angeblickt werden? Sollten sie überhaupt ausgestellt werden? Oder verletzt das Ausstellen andere Wissensformen?

Chimamanda Adichie spricht in ihrer Rede aus einer afrikanisch-nigerianischen Perspektive, die sie an führenden Universitäten in den USA ausgebildet hat. Sie eröffnete ihre Festrede mit einer Geschichte, auf die sie stieß, als sie für ihr Buch A Half of a Yellow Sun (2006) über den Biafra-Krieg in Nigeria recherchierte. Es geht dabei um ein Ding, das vor dem Zugriff nigerianischer Soldaten gerettet wird.
„The elderly father was a wealthy man. But the only thing he rushed to take with him was his ikenga. A piece of wood. A beautifully carved of wood. But it wasn’t just a piece of wood. It was also the repository of spiritual meaning. The kanga represented his chi. His personal spirit as well as his ancestors, his guardian angels.
I was struck by this story. This man facing the possibility of never seeing his home again choose the thing that mattered most to him. Of course he cared about his material positions. But he believed that those could eventually be replaced. While his ikenga was irreplaceable.
There are ikengas in various museums all over the world. And it is easy to forget as we stare and admire them behind cold and clinical glass barriers, that these are objects, that are religious, spiritual, sacred.
Art lives in history and history lives in art. Much of what we call African art are also documents that tell stories. Some are literal in the storytelling like the beautiful ornate Benin stool, that was sent to the Oba of Benin by his people, when he was exiled by the British and which he looked at and immediately could deduce from the carvings the state of his British plundered land.”[8]  

Gewiss nicht alle, aber viele Artefakte des Ethnologischen Museums wie des Asiatischen Museums sind als Sammlungsstücke in ganz andere Praktiken, Erzählungen und Geschichten verwickelt. Adichie erzählt plötzlich die Geschichte eines Ikenga mit einem Wissen, das nicht einfach als Sammlungsstück konserviert und transportiert werden kann. Im Deutschen ist der Begriff Ikenga unbekannt. Immerhin ist er im Englischen durch die Fachliteratur und durch den gleichnamigen Roman von Nnedi Okorafor für Wikipedia bekannt geworden. Und in der Sprache der südnigerianischen Igbo wird er ebenso bei Wikipedia geführt. Demnach dürften Ikengas Träger eines einmaligen und generationellen Wissens sein. Doch dieses Wissen kann nicht einfach hinter kalten und klinischen Glasbarrieren sichtbar gemacht werden. So faszinierend die materiellen Ikengas ästhetisch sein mögen, so unmöglich ist es doch, das mit ihnen verknüpfte Wissen zu übersetzen. In der Sprache Igbo liegen die Macht eines Ikenga und seine Wertlosigkeit gar sprichwörtlich beieinander.
„Ikenga na adigh ile, anya ya nku“
(Ein Ikenga, das inaktiv ist, zerhacke es zu Feuerholz.)[9]

Die Praktiken aus denen Artefakte entstanden sind und in die sie eingebunden wurden, um ihren Wert zu erhalten oder gar einen totalen Wertverlust zu erleiden, werden im ethnologischen Diskurs und der Museumsbesuchspraxis weiterhin unterschätzt. Ja, oft einfach ignoriert. Die Ästhetisierung beispielsweise eines Ikenga verfehlt die Praktiken, wenn man an Adichie anknüpft, doppelt. Es ist nicht nur und nicht immer von unschätzbarem Wert, sondern es kann auch wertlos geworden sein, so dass womöglich etliche Ikengas in Museen gelangt sind, weil sie „inaktiv“ waren. Das lässt sich meistens sehr schwer oder gar nicht rekonstruieren. Wie viele Ikengas gibt es in europäischen Museen, die schlechthin lieber verkauft wurden, als sie zu Feuerholz zu zerhacken? Chimamanda Adichie zitiert das Igbo-Sprichwort nicht. Sie macht allerdings auf Wissenspraktiken aufmerksam, um schließlich daraus ihre Restitutionsforderung der Benin-Bronzen und des geschnitzten Thronstuhls für den Oba von Benin im British Museum abzuleiten. Dafür gab es Applaus.

Der Restitutionsdiskurs schreibt aktuell die Geschichten vor allem in den Museen weltweit um. Die ästhetischen und oft auch restauratorischen Fragen geraten in den Hintergrund angesichts der Rechtsfrage von Eigentum. Adichie betont in ihrer Festrede auf die Eröffnung des Ethnologischen Museums die Frage des Rechts als Recht der Völker, die die Artefakte gemacht und gebraucht haben. Doch die Rückgabe beispielsweise der Benin-Bronzen ist schon deshalb nicht so einfach, weil nicht so leicht geklärt werden kann, wer konkret in den Herkunftsländern, sozusagen, Rechtsnachfolger des Königreichs von Benin heute ist. Die politischen Formen und Machtstrukturen haben sich im Laufe der Geschichte verändert, verschoben oder entbehren gar einer rechtsstaatlichen Legitimation. Kunst lebt nicht nur in Geschichte und vice versa, sondern Kunst und Geschichte befinden sich in permanenten Veränderungsprozessen, die ambig ausfallen. Sie sind oft so widersprüchlich und komplex, dass sie sich meistens schwer be- oder gar festschreiben lassen.

Ich möchte einmal die ethnologische Geschichtsschreibung mit einer aktuellen Kulturdebatte in der arabischen Welt, konkret Irak, bedenken. In der arabischen Welt ist der ägyptische Schauspieler und Rapper Mohamed Ramadan ein Popstar mit fast 20 Millionen Followers auf Instagram. Das Bildmedium Instagram und der YouTube-Kanal Mohamed Ramadan mit 13,5 Millionen Abonnenten und wohl gar arabisch-muslimischen Abonnentinnen werden so ziemlich überall von jungen Menschen aus der Arabisch sprechenden Welt genutzt. Nach bestem Rapper-Format gibt es in den Musikvideos von Mohamed Ramadan große Autos, teure Sonnenbrille, schöne Frauen, viel Glitzer, Parties, Waffen und nackte Bauchmuskulatur zu sehen. Das Rapper-Format huldigt einer Konsumkultur, die nicht nur den Taliban in Afghanistan, sondern auch den Mullahs im Irak zuwider ist. Sie gilt ihnen schlechthin als haram, als unrein. Andersherum lässt Mohamed Ramadan Abermillionen Muslime von Freiheit, undzwar auch sexueller, träumen. Der Künstlername Mohamed Ramadan ist eine effektvolle Verkürzung auf die ersten beiden Vornamen von Mohamed Ramadan Mahmoud Hijazi. Mohamed als Name des Propheten wie Gottesgesandten und Ramadan als die Spiritualität steigernder Fastenmonat erheben zum Namen kombiniert quasi einen religiösen Anspruch.

Als Mohamed Ramadan vor einigen Wochen ein Open-Air-Konzert in der Nähe von Bagdad vor 30.000 Zuschauern gab, platzte den irakischen Mullahs der Kragen. Die Zuschauer hätten diesem „Neger“ ihre Luxusuhren zugeworfen.[10] Auf Instagram und YouTube erfährt man alles vom Künstler, und es bleibt doch völlig offen, wo genau er sich gerade aufhält. Schon kursiert die Annahme, er lebe jetzt in den USA. In Ägypten sollen seine Konten gesperrt worden sein, weil er in einen Zwischenfall mit Flugraumverletzung durch ein Privatflugzeug verwickelt war. Hin und wieder tauchen Fotos aus Dhaka von einer Dachterrasse oder sonstwo auf, auf denen er auch mit israelischen Sängern und Fußballern zu sehen sein soll. Im August 2021 erschien das Musikvideo Alla Allah auf YouTube, das in einer Terroristenästhetik wenigstens als Satire auf die islamischen Gotteskrieger gelesen werden kann. Es wurde weit über 35.000.000-mal aufgerufen. Soweit mir übersetzt wurde, wird eine Art Non-Sense-Text gesungen und das Sixpack ausführlich performt. Text und Bild werden insofern gegen eine fundamentalistische Allah-Verehrung ausgespielt. Dass es sich dabei um die Form der Satire handeln könnte, ist den meisten Abonnenten nicht bewusst. 

Gehört ein arabischer Popstar wie Mohamed Ramadan in die Ethnologie oder gar ins Ethnologische Museum? Mit dem Einschub zu Mohamed Ramadan soll deutlich gemacht werden, auf welchen Konstruktionen die Ethnologie und das Ethnologische Museum weiterhin zurückgreifen. Denn erstens wird die islamische Kunst bekanntlich im Pergamonmuseum auf der Museumsinsel gezeigt. Und zweitens wird über Mohamed Ramadan und seinen Rapp noch nicht einmal in öffentlich-rechtlichen Auslandsjournalen berichtet und diskutiert, obwohl sich gerade viele arabische Geflüchtete in Deutschland mit ihm identifizieren. Die Ethnologie geht wegen der schwierigen, wenn nicht verbrecherischen Provenienz z.B. des Luf-Bootes vom Verschwinden oder Aussterben einer Ethnie und Kultur wie die der Hermit aus. Die Hermit gingen wegen der deutschen Übermacht von ihrem Aussterben aus, weshalb sie weniger und kleinere Boote als das Pracht-Luf-Booten bauten. Sie sind allerdings nicht ausgestorben, sondern kommen nun in der aufwendigen neuen Museumsarchitektur selbst zu Wort. Obschon der ozeanische Raum eröffnet worden ist, wird er weiter ausgestattet. Denn die Inseln Ozeaniens werden heute durch den Klimawandel bedroht.

Das ethnologische Wissen geht neue Verknüpfungen ein. Das Luf-Boot wird jetzt in Kontexten von Klimawandel und Eigenwahrnehmung christlich-gläubiger Hermit gezeigt. Das Luf-Boot wird in einem Debattenraum in Bewegung gesetzt. Denn das moderne Wissen generierte sich, wie Michel Foucault mit Der Geburt der Klinik am „ärztlichen Blick“ in der Medizin 1963 gezeigt hat, über den Tod. Diese Wissenspraxis spielte für die Ethnologie in Verschränkung mit dem Museum eine entscheidende Rolle. Indem das tote Ding als Artefakt einer aussterbenden oder bereits ausgestorbenen Ethnie gezeigt wurde, behauptete die Ethnologie, man wisse alles oder zumindest etwas Entscheidendes und Unterscheidendes über sie. Der Tod ist der Ethnologie zutiefst eingeschrieben. Schon deshalb wurde sie als Ethnographie dynamisiert. Heute aber wird sie anders kontextualisiert, was sich in der Ausstellungsarchitektur leicht übersehen lässt, aber im Debattenraum praktiziert werden muss. Das anachronistisch Ethnologisches genannte Museum wird durch das Humboldt Forum als Laboratorium neu gerahmt.

Torsten Flüh

PS: Derzeit ist das Besucheraufkommen geringer als das Zeitfenster-Angebot für ein kostenloses Ticket. Gehen Sie ins Museum.

Humboldt Forum
Ethnologisches Museum und Museum für Asiatische Kunst
Schlossplatz
10187 Berlin    


[1] Siehe: British Museum: Benin Bronzes.

[2] Siehe u.a. Torsten Flüh: Abseits gelegen. Mittelalter-Konjunktur und -Projektionen. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 1, 2013 21:04.

[3] Ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 37-54.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Afrikanische Kunst praktisch gesehen. Zur Ausstellung Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode-Museum bis auf weiteres. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 23, 2018 22:06.

[5] Humboldt Forum digital: Festrede von Chimamanda Adichie anlässlich der Eröffnung des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst am 22. September 2021.

[6] Ebenda bei 2:24.

[7] Zum Artefakt siehe auch: Torsten Flüh: Wie der Löwe vom Alex die Sumpfschildkröte aus dem Tiergarten riss. Zum Showcase Archäologie in Berlin und dem Buch Archäologie Berlins. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 22, 2015 20:30.

[8] Da die Festrede wohl als Video, aber nicht als digitaler oder gedruckter Text zugänglich ist, musste er transkribiert werden.

[9] Zitiert nach Wikipedia: Ikenga.

[10] Ein irakischer Freund in Berlin war durch einen Freund auf das Video aufmerksam gemacht worden. Er regte sich über die Mullahs in seinem Heimatland und die Wortwahl auf. Ich habe da etwas genauer nachgefragt und mir einiges übersetzen lassen.

Sportlicher Begriffswandel oder „geboostert“

Wort – Gegenwart – Szene

Sportlicher Begriffswandel oder „geboostert“

Zu Juliane Vogels Mosse-Lecture Die Beweglichkeit der Szene und der Semesterreihe Theater der Gegenwart

Nie zuvor wurde die Gegenwart wörtlich so schnell gerahmt, ausgebildet und hinweggerissen wie in der Covid-19-Pandemie. Was wir von der Gegenwart wissen, wird seit 24 Monaten, wenn man den Zeitpunkt des Ausbruchs von Sars-Cov-2 in Wuhan ansetzt, von einer Flut an neuen oder anders gebrauchten Begriffen formiert. Bemühte ich mich gestern noch, den Begriff to boost mit boosted korrekt zu gebrauchen, heißt es nun in einem Spiegel-Titel: Mehr als 15 Millionen Menschen in Deutschland sind geboostert. 2015 kaufte ich mir den Laufschuh Adidas Ultraboost und lernte den Begriff als Werbestrategie wie auch Laufschuhsohlen-Technologie kennen. Das erste Modell war nach ca. 3 Jahren abgelaufen und musste durch einen neuen Boost ersetzt werden. Im Internet wurde das Originalmodell mit vergoldeten Streifen zu Mondpreisen gehandelt, weil die meisten Käufer*innen Ultraboost haben, aber nicht laufen wollten. – Die Karriere von boost im deutschen Wortschatz ist bedenkenswert.

Die Wintersemester-Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Theater der Gegenwart wurde in Präsenz einiger Dutzend Hörer*innen im Senatssaal der Humboldt-Universität von Juliane Vogel mit dem Vortrag Die Beweglichkeit der Szene eröffnet. Weitere Zuhörer*innen sahen und hörten den Vortrag im Livestream, was eine neuartige Form der Gegenwart ist. Die Gegenwart im Senatssaal ist eine andere als im Livestream. Wiederum weitere Aufrufe werden auf YouTube eine nachträgliche Gegenwart geteilt haben. Sie kann heute medial auf verschiedenen Ebenen hergestellt, unter- und abgebrochen werden. Am 4. November eröffnete Stefan Willer denn auch den Vortrag wie die Reihe mit dem Hinweis, dass „in diesen Wochen an den Universitäten (…) von kaum etwas so häufig die Rede“ sei „wie die Präsenz“. Weil die Studierenden zwischen unterschiedlichen Präsenzformaten wie Veranstaltungen im Seminarraum und/oder im Livestream hin- und hergerissen würden. Heute, am 9. Dezember, sind wir in der vierten Welle wieder ausschließlich auf den Livestream zurückgeworfen.

Die Gegenwart mehrerer Personen in einem Innenraum kann jetzt Verzicht- oder Fluchtimpulse freisetzen oder gar, wenn keine medizinischen Masken oder FFP2-Masken getragen werden, nach dem „Bußgeldkatalog zur Ahndung von Verstößen im Bereich des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit der Dritten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in Berlin“ vom 7. Dezember 2021 zu einem Bußgeld zwischen 100 und 500 Euro führen.[1] Die temporäre räumliche Gegenwart zeitigt während der Covid-19-Pandemie genaue Beschreibungen derselben, wenn es am 8. Dezember 2021 zu „Öffentliche Veranstaltungen und Kulturleben: Konzerte, Theater, Kinos und Museen“ heißt, dass in „geschlossenen Räumen (…) das 2G-Modell inklusive Maskenpflicht bei Veranstaltungen mit mehr als 20 Teilnehmer:innen angewandt werden“ müsse. „Tanzveranstaltungen in geschlossenen Räumen sind verboten.“[2] Anders formuliert: Die Gegenwart wird jetzt von einem nach Infektionswellen aktualisierten Rahmen geskripted. Eine genau beschriebene Gegenwart.

Über mehrere Apps wie die CoronaWarn- oder die Luca-App werden mit dem Ein- und Auschecken über einen QR-Code die Zeiträume meiner Gegenwart in Restaurants, Museen, Theatern, Kaufhäusern, Schwimmhallen etc. gemessen und auf „Risiko-Begegnungen“ abgeglichen. Das Semesterthema der Mosse-Lectures soll die Gegenwartsbegriffe erkunden: „Den gemeinsamen Hintergrund moderner Gegenwartsreflexionen bildet die widersprüchliche Erfahrung einer angesichts zunehmender Beschleunigungs- und Innovationsprozesse „schrumpfenden Gegenwart“ (Hermann Lübbe), die zugleich „breiter“ (Hans Ulrich Gumbrecht) erscheint, insofern eben jene (digitalen) Innovationen, aber auch veränderte theoretische Perspektiven auf Geschichte die Simultanität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen führen.“[3] Doch mit ihrer Mosse-Lecture gab und gibt Juliane Vogel auf YouTube weiterhin mit der Beweglichkeit der Szene zu bedenken, wie schwierig sich die „Szene“ schon in der Theatertheorie der französischen Klassik regeln und kontrollieren ließ. „Szenen versetzen das Gefüge in Unruhe, in das sie eingebunden sind“[4], schickte sie bereits ihrem Vortrag voraus und merkte gleich an, dass der Titel ihres Vortrags auch „Die Unbeherrschbarkeit der Szene“ hätte heißen können.

Was ist eine Szene? Welche Gebrauchsmöglichkeiten eröffnet der Begriff Szene? Und welchen Bedeutungswandel hat er erfahren? Nach der Wortverlaufskurve des Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache hatte Szene in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts den Höhepunkt seiner Gebrauchshäufigkeit. In den 2000er Jahren bleibt die Gebrauchshäufigkeit schwankend auf hohem Niveau.[5] Im aktuellen Corona-Glossar, das der sprachlichen Formatierung der Covid-19-Pandemie Rechnung trägt, wie schon zu Beginn des Jahres mit der Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie von NIGHT OUT @ BERLIN thematisiert wurde, kommt die Szene allerdings nicht vor, während der Booster als „Substanz, z.B. ein Impfstoff, die das Immunsystem stärkt“, aufgelistet wird. Juliane Vogel stieg bei der Szene als „politische(r) Form“ ein, die „ein hohe(s) emanzipatorische(s) Potential“ habe. Sie knüpfte damit zunächst an Jacques Rancière als einen Theoretiker der Szene an, der von ihr schreibt, dass sie die Möglichkeit bietet, „die Unsichtbaren in unserer Gesellschaft in die Sichtbarkeit zu heben“. Das Bedeutungsspektrum von Szene schwankt u.a. zwischen Theater- und Politiktheorie. Es geht mit ihr um Modi der Kontrolle, der Benennung, der Darstellung und des Entzugs durch Bewegungen im Raum.

Jacques Rancière hat neuerlich vielleicht am stärksten eine Theorie der Szene an der Schnittstelle von Kunst und Politik durchgearbeitet. In seinem Buch Aisthesis. Vierzehn Szenen hat er die Szene 2011 noch einmal genauer formuliert. Er nennt sie dort „eine kleine optische Maschine, die uns zeigt, wie das Denken damit beschäftigt ist, die Verknüpfungen zwischen Wahrnehmungen, den Affekten, den Namen und den Ideen herzustellen und die sinnliche Gemeinschaft, zu der sich diese Verbindungen verweben, und die intellektuelle Gemeinschaft, die das Verweben denkbar macht, zu errichten“.[6] Die Szene wird so zu einer komplexen Maschine, die „ein Nachdenken über das Denkbare, ein Denken, das das Denken verändert, indem es aufnimmt, was undenkbar gewesen ist“. Auf diese Weise transformiert er Szenen zu „Denkszenen“.[7] Trotz, wie man annehmen könnte, dieser Maschinenrhetorik lässt sich die Szene nicht beherrschen. Das Politische der Szene in den Künsten arbeitet Rancière dadurch heraus, dass er „die ästhetische Revolution“ zur Mutter der „gesellschaftliche(n)“ macht:
„Die gesellschaftliche Revolution ist eine Tochter der ästhetischen Revolution und hat diese Abstammung nur verleugnen können, indem sie den strategischen Willen, der seine Welt verloren hatte, in eine Polizei der Ausnahme verwandelte.“[8]  

Juliane Vogel arbeitet ihre „Praxis der Szene“ mit dem Theater aus. So hat sie zusammen mit Bettine Menke 2018 den Band Flucht und Szene – Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden im Verlag Theater der Zeit herausgegeben.[9] Insbesondere der Aspekt, dass Flüchtlinge nach 2015 zunehmend selbst auf dem Theater und in ihm in Erscheinung treten, wird von den Herausgeberinnen berücksichtigt: „Das aktuelle Theater ist zu einem Ort für Flüchtlinge geworden, der neben ihren Anliegen auch diese selbst auftreten lässt.“[10] Doch das szenische Auftreten und „In-Erscheinung-treten“ wurde nicht erst mit dem „aktuellen Theater“ erfunden, vielmehr hat Hannah Arendt nach Juliane Vogel dieses bereits in ihrer Politiktheorie bedacht. Im Februar 1966 beginnt Hannah Arendt sich stärker mit dem „In-Erscheinung-Treten“ zu befassen. Den Anstoß gibt nach ihrem Denktagebuch eine Lektüre des Schweizer Anthropologen und Naturphilosophen Adolf Portmann, der über Gestalt und Darstellung publiziert hatte und an den Arendt mit dem Zitat „»eigentliche und uneigentliche Erscheinung«“ andockt.[11] Aus der Paraphrasierung dieses Zitats entspinnt sich ein weiteres Nachdenken über das Innere und Äußere wie das „In-Erscheinung-Treten“.

Zwischen Jacques Rancière und dem Denken des Erscheinens bei Hannah Arendt ergeben sich Korrespondenzen.[12] Juliane Vogel dockt an Hannah Arendts Vita activa (1960) an, das zuerst 1958 als The Human Condition in Chicago erschienen war. Sie kommt insofern mit dem Denktagebuch Anfang 1966 auf ein Thema zurück. Zugleich lassen sich die Hefte des Denktagebuchs als ein „In-Erscheinung-Treten“ des Denkens selbst durch eine Praxis des Lesendenkens in Wiederholungen und Nachdenken beschreiben. Die Tagebucheintragungen werden – mit einem Begriff Rancières – „Denkszenen“. Während Rancière von der Szene als „eine kleine optische Maschine“ schreibt, nähert sich Arendt mit dem „Funktionieren des Innen“ (Funktionieren ist unterstrichen – die Unterstreichung wird von der verwendeten WordPress-Software nicht unterstützt, T.F.) ebenfalls einer maschinellen Rhetorik.[13] Das Funktionieren wird von ihr durch Unterstreichung als Modus der Praxis hervorgehoben. Es wird eine Voraussetzung des Erscheinens:
„Das Denken ist das Funktionieren (unterstrichen, T.F.) des Innen; es selbst ist ganz unscheinbar, aber ohne es gibt es kein Erscheinen. Dem Denken und In-Erscheinung-Treten des Individuums entspricht das Beratschlagen und In-Aktion-Treten politischer Körper. (?)“[14]

Die Vorgeschichte der Szene wird von Juliane Vogel als eine „Geschichte der Emanzipation und ihrer Gegenkräfte“ beschrieben. Sie beginnt mit den „Poetiken des 17. Jahrhunderts“, die ein Regelwerk für die Szene formulieren. Die Doctrine classique, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts von Namen wie Racine oder Corneille ausgearbeitet wird, erstellt eine Ordnung, die nach Juliane Vogel die Einheit des Dramas sichern soll. Mit zahlreichen Zitaten illustriert/e sie, wie die Szene immer wieder zu einem Problem der Einheit wird. Während im 18. Jahrhundert Johann Christoph Gottsched dieses Regelwerk für den deutschen Sprachraum übernimmt und beispielsweise in Berlin auf dem Gendarmenmarkt noch im Französischen Komödienhaus vor allem für den Adel Dramen nach den Regeln und in der Sprache der Doctrine classique aufgeführt werden, bringt Gotthold Ephraim Lessing in einer Gegenlektüre die Regellosigkeit der englischen Dramen in seiner Hamburgischen Dramaturgie in Stellung. Anders gesagt Lessing gibt den Szenen aus der englischen Dramenliteratur Raum. Dies trifft nach ihm besonders für den „Humor“ der englischen Komödien zu, wie er am 22. März 1768 formuliert. Die gebräuchliche Formulierung Eine-Szene-machen wird von Lessing als „sich durch etwas Eigentümliches merkbar zu machen“ umschrieben.
„Der Humor, den wir den Engländern itzt so vorzüglich zuschreiben, war damals bei ihnen großenteils Affektation; und vornehmlich diese Affektation lächerlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen, müßte auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand der Komödie sein. Denn nur die Begierde, sich vor andern auszuzeichnen, sich durch etwas Eigentümliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie wählt, sehr lächerlich oder auch sehr strafbar werden kann.“ 

Die Veröffentlichungsform der Hamburgischen Dramaturgie als einzelne, durchgezählte „Stück(e)“ nimmt schließlich selbst die Form einer Szene an. Am 19. April 1768 veröffentlicht er gegen seine Regeln das Blatt als „Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stück“.[15] Er hatte sich nicht nur „vorgenommen, den Jahrgang dieser Blätter nur aus hundert Stücken bestehen zu lassen“, vielmehr setzt er sich als „Ich“ selbst in Szene. Zugleich wird der Regelverstoß selbst in Szene gesetzt. Aus dem Regelbruch wird eine Ablehnung der Regeln der Doctrine classique. Er macht den Regeln der Doctrine classique gleichsam eine Szene, in die sich Lessing zutiefst verwickelt, weil eingeschränkt und kontrolliert fühlt.
„Wir haben das auch lange so fest geglaubt, daß bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, ebensoviel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten.
      Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefühl bestehen. Dieses ward, glücklicherweise, durch einige englische Stücke aus seinem Schlummer erweckt, und wir machten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als ihr Corneille und Racine zu erteilen vermocht. (…)
      Und das hätte noch hingehen mögen! – Aber mit d i e s e n Regeln fing man an, a l l e Regeln zu vermengen, und es überhaupt für Pedanterie zu erklären, dem Genie vorzuschreiben, was es thun, und was es nicht thun müsse.“[16]           

Der Sperrdruck setzt den Aufschrei des Individuums als „Genie“ in Szene. Lessings letztes „Stück“ des zweiten Bandes seiner Hamburgischen Dramaturgie könnte den Eigensinn der Szene nicht besser erscheinen lassen. Die Begriffe Szene oder Auftritt werden von Lessing nicht verwendet. Er verhandelt die Szene nicht. Aber er löst die Einheit auf, die von der Doctrine classique behauptet und eingefordert worden war. Die Auflösung der Fiktion von Einheit geht soweit, dass er in Selbstreflektionen über seine auch zerstückelte Dramaturgie und damit dem Gegenteil sich selbst erlaubt, sich zu widersprechen wie schon am 29. März 1768 im „Fünfundneunzigste(n) Stück“:
„Das ist die Schwierigkeit! – Ich erinnere hier meine Leser, daß diese Blätter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten auszulösen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es dann nur Gedanken sind, bei welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis ausstreuen.“[17]     

Juliane Vogel zeigte zum Schluss ihres Vortrags einen Ausschnitt aus Philip Scheffners Film Havarie von 2016. Ein Gast auf einem Kreuzfahrtschiff hatte am 16. September 2012 ein unscharfes Video von der Begegnung mit einem Flüchtlingsboot ins Netz gestellt. Philip Scheffner war darauf aufmerksam geworden und hatte das Fottage mit einer Toncollage und der sanften Motorenakustik eines Kreuzfahrtschiffes zu einem 90 minütigen Film verarbeitet. Juliane Vogel nennt die Szene des Flüchtlingsbootes nach Hannah Arendt einen Erscheinungsraum auf mehreren Ebenen. Es ist ein unsicherer, gleichsam schwankender Erscheinungsraum politischer Körper, der sich auf die Dauer kaum aushalten lässt. Die Erzählungen und Gespräche zwischen der Seenotrettung und dem Schiff aus dem Off – „Adventures of the Seas? Hier spricht Radio Cartagena. – Madam, ich höre Sie laut und deutlich. Eins null bitte, auf eins null …“ – verfehlen das Video. Aber die Unruhe der Szene setzt gerade dadurch ein Nachdenken in gang.

Torsten Flüh

Mosse-Lectures Wintersemester 2021/2022
Theater der Gegenwart
Barrie Kosky
Die Gegenwart der Komödie
9. Dezember 2021, 19 Uhr ct
(ausschließlich digital)   

Juliane Vogel
Die Beweglichkeit der Szene
4. November 2021
(YouTube)


[1] Siehe: Senatsverwaltung: Bußgeldkatalog zur Ahndung von Verstößen im Bereich des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit der Dritten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in Berlin. Berlin 07.12.2021.

[2] Siehe: Senatsverwaltung: Veranstaltungen, Versammlungen und Kulturleben. Berlin 08.12.2021.

[3] Mosse-Lectures Wintersemester 2021/2022: Theater der Gegenwart. (Programm)

[4] Ebenda Juliane Vogel.

[5] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Wortverlaufskurve: Szene.

[6] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen, 2013, S. 14.

[7] Ebenda.

[8] Ebenda S. 21.

[9] Bettine Menke, Juliane Vogel (Hg.): Flucht und Szene – Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Recherchen 135. Berlin: Theater der Zeit, 2018.

[10] Ebenda: Ankündigungstext.

[11] Hannah Arendt: Denktagebuch. Zweiter Band. München: Piper, 2016, S. 645. Zum Denktagebuch vgl. auch: Torsten Flüh: Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Unterhaltung. Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2020.

[12] Siehe auch: Wolfgang Heuer: Rancière und Arendt – eine „Hassliebe“. In: hannaharendt.net Ausgabe 1, Band 9 – November 2018.

[13] Hannah Arendt: Denktagebuch… [wie Anm. 11] S. 645.

[14] Ebenda.

[15] Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart: Göschen, 1890, S. 331. (archive.org)

[16] Ebenda S. 336-337.

[17] Ebenda S. 315.

Genealogische Operationen mit Witz

Genealogie – Gedicht – Maschine

Genealogische Operationen mit Witz

Nathan In The Box von und mit Bridge Markland wird bei der Premiere gefeiert

In der Brotfabrik am Caligariplatz hatte am 25. November Nathan In The Box unter 2G-Regeln+ mit FFP2-Maske sozusagen im Dachstübchen Premiere. Aufgeführt wurde also eines der Hauptwerke der deutschen Aufklärung von Gotthold Ephraim Lessing, nämlich Nathan der Weise von 1773 als Puppen- in gewisser Weise gar Marionettentheater. Bridge Markland erweckt zum wiederholten Mal in wechselnden männlichen und weiblichen Rollen von Eva Garland entworfene und angefertigte Handpuppen zum Leben und sendet insbesondere mit dieser Inszenierung „Message!“. Nämlich die der Freiheit des Menschen von den Religionen und ganz besonders vom Christentum wie der Katholischen Kirche. Mit der Konstellation von Religionen, Menschen und Handpuppen geht es in diesen Zeiten einer insbesondere in deutschsprachigen Ländern – Österreich, Deutschland, Schweiz – mutwilligen, todbringenden Vierten Welle der Covid-19-Pandemie um die Fragen der Aufklärung von Abstammung und Familie, Vernunft, Wissen und Freiheit.

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Bridge Markland – Idee / Soundcollage / Co-Regie / Performance – erhält nach dem stürmischen Schlussapplaus das fachmännische Lob eines 10jährigen Jungen, dass Nathan nun sein „Lieblingsstück“ sei. Obwohl sich die Performerin und Produzentin lange Zeit nicht an den deutschen Theater-Klassiker Nathan der Weise herantrauen wollte, weil es noch nicht einmal eine Komödie, ein Lustspiel, Schwank oder Drama, sondern ein „Dramatisches Gedicht“ als Genrebezeichnung ist, kommt Nathan In The Box nun besonders gut an. Die Sperrigkeit des Dramatischen Gedichts als Text korrespondiert wunderbar mit dem Medium Puppenspiel. Bridge Markland hat mit Nils Foerster den Originaltext so transformiert, dass die Syntax und Lexik dem heutigen Sprachgebrauch angeglichen und die Lessingsche Message klar wird. Das überrascht selbst Deutschlehrer*innen am Premierenabend.

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Nathan der Weise steht – noch immer – im Lehrplan des Deutschunterrichts in den deutschen Ländern wie z.B. und natürlich in Hamburg[1], denn schließlich hatte Lessing 1767 und 1769 hier seine tagebuchartige Hamburgische Dramaturgie veröffentlicht, worauf das gebildete Hamburg immer noch stolz ist. Doch Nathan der Weise wurde nicht in Hamburg und in keinem Staatstheater uraufgeführt, sondern am 14. April 1783 im Döbblinschen Theater in der Behrenstraße in Berlin. Wo heute Karl Friedrich Schinkels Schauspielhaus als Konzerthaus nach historisierendem Wiederaufbau[2] auf dem Gendarmenmarkt zwischen Französischem und Deutschem Dom steht, stand das Französische Komödienhaus, das Döbblin zuvor als Spielstätte gedient hatte. Und die Theatertruppe Karl Theophil Döbbelins wurde erst 1786 von König Friedrich Wilhelm II. zu Nationalschauspielern erhoben. Insofern lässt sich sagen, dass der Klassiker am Rande des zeitgenössischen Theaters wie der Politik zum ersten Mal aufgeführt wird.

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Die dramatische Figur „Nathan, ein reicher Jude aus Jerusalem“ wird in der Forschung mit dem Berliner Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn 1729-1786 in Verbindung gebracht. Anders gesagt: Moses Mendelssohn lebt in Berlin, als das Stück im zeitlichen Umfeld seines Engagements in der Gesellschaft der Freunde der Aufklärung oder Berliner Mittwochsgesellschaft aufgeführt wird. Moses Mendelssohn war als Talmudschüler, Bettelstudent und Hauslehrer des Seidenhändlers und -fabrikanten Bernhard Isaak 1754 in Berlin zu dessen Buchhalter geworden. Seidenproduktion und -verarbeitung sollte zu einem wirtschaftlichen Standbein im sprichwörtlichen Streusand um Berlin werden. Denn Friedrich II. hatte nicht nur vor dem Oranienburger Tore, sondern für ganz Preußen verfügt, dass Maulbeerbaumplantagen zur Züchtung von Seidenraupen angebaut werden sollten.[3] In diesen Kontext fällt die Gründung der Seidenfabrik durch Bernhard Isaak, deren Geschäftsführer und schließlich Teilhaber Moses Mendelssohn wird. Friedrich II. spricht sich jedoch 1771 gegen seine Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften aus.

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Lessing setzt in seinem Gedicht nicht nur die Ideen der Aufklärung dramatisch in Szene und legt eine Identifikation von Moses Mendelssohn, mit dem er vertraut war, mit seiner Hauptfigur nahe, vielmehr verschlüsselt er die Forderungen der Aufklärung durch eine historische Erzählung von den Tempelrittern im frühen Mittelalter zu Zeiten des jüdischen Philosophen Moses Maimonides, der in al-Andalus, heute Andalusien, Marokko und Ägypten wirkte.[4] Er und seine Familie wurden 1150 und 1160 in Fez gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Doch Jerusalem als Schauplatz und die Zeit „um 1192“ ließen sich für Zeitgenossen beispielsweise als Berlin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lesen. Der Berliner Adel und die Hohenzollern als herrschendes Adelshaus werden vom Berliner Bürgertum langsam in Frage gestellt. In Nathan der Weise steckt mehr Hamburg und Berlin als Jerusalem drin, um es einmal so zu formulieren.

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Im Druck erscheint Nathan der Weise 1779 bei Christian Friedrich Voß und Sohn in Berlin.[5] Der Titelzusatz, dass das Buch „Mit Churfürstl. Sächsischem Privilegio.“ und nicht etwa mit königlich preußischem gedruckt werde, gibt einen Wink auf die politisch brisante Veröffentlichung. Auch kann man schon hier darauf hinweisen, dass die Figurenkonzeption als „reicher Jude in Jerusalem“ ein wenig unbestimmt und unrichtig ist. Denn Nathan ist im Gedicht vor allem ein international agierender Kaufmann mit eigenen Handelsschiffen. „Seine Tragetiere treiben auf allen Straßen, ziehen / Durch alle Wüsten; seine Schiffe liegen / In allen Häfen“, heißt es bei Markland, weil „Sein Saumthier treibt“[6] wie im Original heute kaum noch gebräuchlich ist. Irritierend ist auch das poetische Singular. Wenn Saladin sagt, „Denn er handelt; wie ich höre.“[7], betrifft dies nicht nur den Kaufmann und Händler, vielmehr „handelt“ Nathan ebenso aufgeklärt wie weise.

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Welche Funktion רבי משה בן מימון, arabisch أبو عمران موسى بن عبيد الله ميمون القرطبي, Moses Maimonides und David Hirschel Fränkels Herausgabe des מורה נבוכים – More NewuchimFührer der Unschlüssigen 1739 für Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing einnahm, ist bislang kaum erforscht worden.[8] Der Dessauer Oberrabiner Fränkel war indessen Mendelssohns Lehrer. In der dramatischen Figur Nathan und der Ringparabel überschneiden sich Maimonides‘ und Mendelssohns Schriften. Denn es ist insbesondere das einunddreißigste Kapitel vom Führer der Unschlüssigen, das nach einer übersetzenden Zusammenfassung von Adolf Weiss Vernunft und Wissenschaft in einer Weise verhandelt, an die sich mit dem Denken der Aufklärung anknüpfen ließ.
„In diesem Kapitel bespricht der Verfasser zum Teil die menschliche Vernunft. Er sagt, daß sie eine Grenze hat, die sie nicht überschreiten kann, und daß es Dinge gibt, die die Vernunft nicht erkennen kann und daß es Menschen gibt, die manche Wissenschaften verstehen, andere hingegen, die sie ungeachtet aller Mühe und allen Studiums nicht verstehen, daß aber das Wissen im allgemeinen mangelhaft ist. Er sagt, daß es vier Dinge gibt, welche den Menschen hindern, die Wissenschaft zu erlangen, die Herrschsucht, die Tiefe der Geheimnisse der Wissenschaft die Unzulänglichkeit der Geisteskraft des Lernenden und seine Nachlässigkeit, sowie das Festhalten an üblen Gewohnheiten.“[9]

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Am Schluss von Lessings dramatischem Gedicht erweisen sich Recha und der junge Tempelherr als Nichte und Neffe des Sultans Saladin und seiner Schwester Sittah. Die genealogische Konstruktion des Muslims „Assad“, der sich als deutscher Adliger und Christ ausgibt, möglicherweise konvertiert war, und „Wolf von Filnek“ nennt, während er mit einer „Stauffin“ verheiratet ist und „am liebsten Persisch“ spricht, darf selbst für das frühe Mittelalter der Mauren als so abenteuerlich gelten, dass Herkunft und Namen immer auch verfehlt werden. Mit dem dramatischen Spiel der Namen und der Herkunft, an die eine Religionszugehörigkeit geknüpft wird, werden diese zugleich in Frage gestellt. Das dramatische Gedicht als Gedankenspiel, dem Schachspiel gleich, endet mit der unwahrscheinlichen familialen Vereinigung von Recha, Tempelherr, Sultan Saladin und Sittah. Welch eine Überraschung! Das ist nicht nur ein Happy End, sondern durchaus witzig. – Wobei der Witz im Schluss selbst in der durchaus witzigen Inszenierung von Bridge Markland mit den Puppen etwas stärker ausgespielt werden könnte.

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Nach Lessings Hamburgischer Dramaturgie bleibt mit dem Format Gedicht offen, ob es sich um eine Tragödie oder Komödie handelt. Denn dort heißt es: „Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften, nützliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, in so fern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung überhaupt ist, nicht aber in so fern sie Tragödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist.“[10] In der Frage der „Gattungen“ kommt es Lessing im „Sieben und siebzigste(n) Stücke“ vom „26sten Janauar, 1768“ darauf an, dass „uns alle Gattungen der Poesie (bessern sollen)“. Tragödie, Epopee und Komödie sind nach seiner Konzeption vom 13. Oktober 1767 Gedichte als „ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen (…), durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag“.[11] Dementsprechend entbehrt das „dramatische Gedicht“ des Witzes als Überraschung nicht.

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Die Genealogie als Wissens- und Herrschaftsmodell wird von dem bürgerlichen Gelehrten und Dichter Lessing mit den beinahe satirischen Familienkonstruktionen angegriffen. Die Familie Nathans wird ausgelöscht bzw. muss ausgelöscht werden, damit er eine Art aufgeklärter, moderner Modellfamilie aus dem Juden, einer christlichen Pflegemutter Daja und letztlich muslimisch-christlichen Tochter Recha schaffen kann. Nathan nimmt die Position des Vaters aus „Vernunft“ ein, wenn er erzählt: „Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.“ Er nimmt das Kleinkind, das er Recha nennen wird, aus „Vernunft“ an. Doch wie funktioniert diese „Vernunft“? – Sie lässt sich als Kalkül formulieren, denn der Verlust der Söhne, die Leerstelle, die die ermordeten Söhne hinterlassen, wird mit einer Tochter besetzt. Das ist eine erstaunliche Arithmetik des Verlustes und der Ersetzung – „Ich nahm/Das Kind, küßt‘ es, warf/Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben/Doch nun schon Eines wieder!“ Es bleibt offen, ob in diesem Wechsel der Familienstruktur das Schluchzen aus Trauer, Freude oder Witz über die fatale Wendung geschieht. Bridge Markland kommentiert Nathans Handlung als Heilung mit “Heal the world, make it a better place,/for you and for me and the entire human race” von Maati Baani als Tribute an Michael Jackson.

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Der Witz als dramatisches Verfahren des Lehrgedichtes Nathan der Weise wird immer noch unterschätzt. In der verlinkten „Interpretation“ des Hamburger Bildungsservers kommt der Witz nicht vor.[12] Dass das Spiel der Namen, Genealogien und vor allem der Schluss witzig sein könnten und gerade damit eine aufklärerische Freiheit in Szene gesetzt wird, hat anscheinend wenig Beachtung in der Lessing-Forschung gefunden. Frank Schlossbauer hat 1989 auf „Nathans Witz“ als „Formprinzip“ hingewiesen.[13] Der Witz sei „die hauptsächliche Waffe im intellektuellen Streitgespräch, das die meisten Szenen des Stückes“ präge, schreibt Schlossbauer. Er sei „das sprachliche Äquivalent den von Lessing verfochtenen geistigen und affektiven Freiheitsprinzips“.[14] Doch bereits die Suche nach der Herkunft und die familialen Konstruktionen sind witzig angelegt. Denn das familiale Verhältnisse wird für Nathan und Recha mit Vater und Tochter früh als ebenso zufällig wie vernünftig entschlüsselt, um am Schluss als berechtigt von Saladin mit einer witzigen Formulierungen sanktioniert zu werden.
„Das Blut allein
Macht noch lange nicht den Vater!
Und weißt du was? Sobald der Väter zwei
Sich um dich streiten: nimm
Den dritten! Nimm mich zu deinem Vater!
Ich will ein guter Vater sein! Doch halt!
Was brauchst du denn
Der Väter überhaupt? Wenn sie nun sterben?“[15]

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Die Position des Vaters, des Patriarchen, nicht nur des leiblichen oder familialen wird von Lessing in Nathan der Weise permanent verhandelt und in Frage gezogen. Marklands „Patriarch“ setzt mit der linken Hand insbesondere den gebietenden Zeigefinge in Szene. Es ist denn auch der „Patriarch“, den der Tempelherr um Rat bittet, um sogleich in seinem patriarchalen Urteil als „Blutgier des Patriarchen“ verworfen zu werden. Der „ehrwürdige Vater“, der das christliche Gesetz und die Katholische Kirche verkörpert, wird in Nathan In The Box ganz zu Recht zur lächerlichsten Figur. Bei Lessing steht wirklich: „Was brauchst du denn/Der Väter überhaupt? Wenn sie nun sterben?“[16] Die Freiheit, die Lessing in seinem dramatischen Gedicht vorführt, wird vor allem als eine ohne gebieterischen Vater formuliert. Dass Saladin am Schluss dann trotzdem über die Kinder seines Bruders zum Vater wird, lässt sich als Herzensangelegenheit und Witz, aber nicht mehr als hierarchische Position beschreiben. Für die muslimische Familienkonstruktionen ist die scheinbare Blutsverwandtschaft am Schluss denn auch eher eine utopische. Der popmusikalische Kommentar bekommt eine ironische Note mit „Es sieht gut aus: Gut aus, es sieht gut aus, es geht gut aus“, von der Frank Spilker Gruppe.

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Die Suche nach dem Vater und sein überraschendes Auffinden als Bruder des Saladin berührt zugleich die Ursprungsfrage in der Moderne. Indem der Übervater Gott wie in Nathans Trauer- und Annahmeszene als eine Art Zufallsgenerator funktioniert, wird die Autorität des monotheistischen Gottes nachhaltig angegriffen. Die Schöpfer- und Richterfunktion Gottes steht im dramatischen Gedicht Nathan der Weise grundsätzlich in Frage. Die „Stimme der Natur“, die vom jungen Tempelherrn im Kontext der Familie und Abstammung gegen Nathan herbei zitiert wird, wird zwar am Schluss gewissermaßen erhört, aber auf eine Weise, die zugleich als witziges Namenspiel eingelöst wird. Indem in der Lessing-Forschung weiterhin an der Genealogie festgehalten, sie als Problem ausgeblendet wird, erweist sich selbst im 21. Jahrhundert und legaler Regenbogenfamilien die Erzählung von Ursprung und Herkunft weiterhin als ausgesprochen mächtig. Die Gewalt der Genealogie artikuliert sich im Verstehenwollen der wahren oder eigentlichen Familiengeschichte und dem nachhaltigen Wunsch nach dem Vater, die nicht umsonst der deutsche Rapper mit tunesischem Vater und japanischen Künstlernamen Bushido für Nathan In The Box rappt:
„Wo bist du? Ohne dich kann ich nicht schlafen, … Er ist doch nur mein Papa, nur nur meiner …“

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Auf der anderen Seite der Genealogie, der Familie und des Vaters steht der Freund. Mit dem Freund geht Lessing weitaus sparsamer um als mit dem lexikalisch dominanten Vater. Der Freund wird frei und gegen alle konfessionellen Grenzen gewählt. „Tempelherr. Das habt Ihr! –Ich schäme mich,/Euch einen Augenblick verkannt zu haben./Wir müssen Freunde werden./Nathan. Sind/Es schon.“ Freunde zu werden, könnte ein Akt der Vernunft sein. Doch so deutlich komponiert es Lessing nicht. Vielmehr wird mit der Scham des Tempelherrn und Nathans Annahme der Freundschaft eine plötzliche, nicht ganz beherrschbare Gefühlsebene angesprochen. Der Freund wird immer dann, als Argument herbeizitiert, wenn es mit der Logik der Erzählung und den Vorurteilen hapert. Bridge Markland unterstreicht den Wunsch nach Freundschaft popmusikalisch sogleich mit „Ein Freund ein guter Freund: Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibt auf der Welt“ aus dem Film Die drei von der Tankstelle (1930).

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Das Schachspiel nimmt in Nathan der Weise eine wichtige Funktion ein. Ins Fenster der Box hängt Bridge Markland das genähte Bild von einem Schachbrett mit Figuren. Zunächst spielen Saladin und Sittah Schach. Sie sprechen dabei über eine Heirat von Sittah über die Religionsgrenzen hinweg. Bezeichnenderweise erwähnt Lessing die Figur der Konversion nicht, obwohl beispielsweise die Konversion von Juden zum Christentum in Berlin eine zunehmende Glaubens- bzw. Religionspraxis wurde. Der Tausch bzw. der Austausch der Religionen durch Konversion bleibt im dramatischen Gedicht ausgeblendet. Stattdessen wird beim Schach von Heirat bzw. Heiratspolitik gesprochen, als ließen sich die Menschen wie Figuren über ein gerastertes Terrain verschieben. Im geschwisterlichen Schachspiel zwischen Saladin und Sittah gewinnt die Schwester und Frau. Roland Kaiser singt dazu den Text von Bernd Dietrich, Gerd Grabowski und Heino Petrik:
„Schach Matt – denn sie spielte sehr klug
Schach Matt – packte mich Zug um Zug
Die Frau – bringt mich um den Verstand.“

Das Schachspiel übt in der Frage von Vernunft, später auch Intelligenz, eine besondere Faszination aus. Nach wie vor werden nervenzerreißende Schachweltmeisterschaften abgehalten, obwohl der noch recht große Schachcomputer Deep Blue bereits 1996 gegen den Schachweltmeister Garri Kasparow gewann. Im Roland Kaiser-Schlager wird eine Art emotionaler Beziehungsschach von einer Frau gespielt, um den Mann „um den Verstand“ zu bringen. Bei Lessing siegt Sittah gegen Saladin auf dem Schachbrett. Mit anderen Worten: Frauen sind vernunftbegabt und können rechnen. Das gerasterte Schlachtfeld des Schachbrettes wird zwischenzeitlich von Computern bzw. Prozessoren beherrscht. Es gibt indessen viele Menschen, die sich trotzdem dem Vergnügen eines Schachspiels hingeben. Doch genau an diesem Punkt kommen die Puppen, Automaten und Marionetten ins Spiel, die in der Literatur um 1800 den Leser*innen etwa von E.T.A. Hoffmanns Erzählungen einen gehörigen Schrecken einjagen.[17] Schon 1769, zehn Jahre vor Veröffentlichung von Nathan der Weise, hatte der österreich-ungarische Hofbeamte und Mechaniker Wolfgang von Kempelen den sogenannten Schachtürken konstruiert und damit europaweit für Aufsehen gesorgt. An der Diskussion, ob in dem Schrank unter dem Schachbrett ein Mensch versteckt sei oder eine Art Uhrwerk die Züge der als Türke gekleideten Puppe vornehme, schieden sich Europas Geister.[18] Im Zuge der Befreiungsgeste, wie sie im Schach durchgespielt und zugleich mit der Maschine bedrohlich wird, steht recht früh mit L’Homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie der Mensch als Maschine im Raum.[19]

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Lessings Auflösung oder Zerstreuung – „Tempelherr. (aus seiner wilden, stummen Zerstreuung auffahrend.)“ – eines vererbten Wissens von den Religionen wird Zug um Zug dramaturgisch am Schachbrett vorgenommen. Denn es ist nicht zuletzt das neuartige Wissensmodell des Binarismus, das seit der Aufklärung schon bei Gotthold Wilhelm Leibniz ins digitale Zeitalter hineinwirkt. Für das Klassenzimmer könnte im Zusammenschnitt der Stimmen und der Popmusik mit den Puppen fast noch mehr Tablet oder Smartphone – iPhone – eingesetzt werden, um Lessings Logik der Aufklärung mit Nathan der Weise in die Gegenwart zu holen. Heute heißen die Schachspiele anders. Vielleicht Candy Crush oder so, aber die Verhaltensformatierung findet offensichtlich nach ähnlichen Prinzipien längst woanders als in der Hamburgischen Dramaturgie statt. Es sind die Game Boxes und Konsolen, die heute Jugendliche zu richtigen Menschen als Gamer machen, wo es wenigstens noch die Fiktion einer Beherrschung der Maschine gibt. Mit etwas Glück könnte ihnen allerdings auch mit Bridge Marklands und Nils Foersters Nathan In The Box auffallen, dass ein höchst maschinelles Format wie Classic In The Box Freude und Nachdenken bereiten kann.

Torsten Flüh

Bridge Markland
Nathan In The Box
2.12.-4.12.2021 20:00 Uhr
13.01.-15.01.2022 20:00 Uhr
Brotfabrik
Caligariplatz 1
13089 Berlin


[1] Siehe Hamburger Bildungsserver – Unterrichtsmaterialien, Linklisten, Prüfungsvorbereitungsmaterial: Sprachen: Deutsch: Deutschsprachige Autorinnen und Autoren: Aufklärung: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise.

[2] Zur vor allem im Zuschauerraum historisierenden Gestaltung vergleiche: Torsten Flüh: Aus Beethovens Geisterreich. Zur Uraufführung von Hoffmanns Erzählungen als Stummfilm mit der Musik von Johannes Kalitzke im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2021.

[3] Auf dem ehemaligen Gelände des Französischen Krankenhauses an der Friedrichstraße auf der Claire-Waldoff-Straße lässt sich noch heute ein uralter Maulbeerbaum aus jener Zeit sehen.

[4] Zu Maimonidies vgl. die Mosse-Lecture von Sarah Stroumsa: Torsten Flüh: Vom Umkehren, Bekennen und Schmuggeln. Zur aktuellen Reihe Konversionen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 21, 2015 22:12.

[5] Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Berlin, 1779, S. (ohne Seitenzahl, Titel, 5). In: Deutsches Textarchiv.

[6] Ebenda S. 72. (Deutsches Textarchiv)

[7] Ebenda.

[8] Ein Digitalisat von Friedrich Niewöhners Veritas sive varietas : Lessings Toleranzparabel u.d. Buch Von den drei Betrügern (1983) ließ sich nicht auffinden. Doch die Deutsche Digitale Bibliothek führt wenigstens eine Inhaltsangabe, die annehmen lässt, dass sich Niewöhner in seiner Habilitationsschrift mit der Konstellation Lessing, Mendelssohn, Maimonides näher befasst hat. (Deutsche Digitale Bibliothek)

[9] Adolf Weiss: More Newuchim – Führer der Unschlüssigen. In: Digitales Judentum: Talmud.de.

[10] Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 591.

[11] Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Erster Teil. Hamburg 1767. S. 380.

[12] Xlibris: Interpretation „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. (xlibris)

[13] Frank Schlossbauer: Nathans Witz: Zur Neubestimmung des witzigen Formprinzips bei Lessing. In: The German Quarterly. Vol. 62, No. 1, Focus: 18th/19th Centuries. Gellert, Lessing, Goethe, Fr. Schlegel, Novalis, Kleist, Buchner (Winter, 1989), pp. 15-26, Published By: Wiley.

[14] Ebenda S. 15.

[15] Textbuch Bridge Markland.

[16] Gotthold Ephraim Lessing: Nathan … [wie Anm. 5] S. 116.

[17] Zu E.T.A. Hoffmann und dem Schrecken der Automaten siehe: Torsten Flüh: Aus Beethovens … [wie Anm. 2].

[18] Es gibt eine umfangreiche und kontroverse Diskussion um den „Schachtürken“. Der Einfachheit halber sei auf den Wikipedia-Artikel verwiesen: Schachtürke.

[19] Vgl. unter anderem: Torsten Flüh: Körperschlachten. Zu Sebastian Hartmanns Der Zauberberg beim digitalen Theatertreffen 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Mai 2021.