Im Megaspeicher der Betriebssysteme

Materialität – Speicher – Digitalität

Im Megaspeicher der Betriebssysteme

Zur Fachkonferenz Microsoft Build 2022 in der Lagerhalle 1 des Westhafens

Wie sich die Einladung zur Fachkonferenz Microsoft Build Anfang Mai in mein Outlook-Postfach verirrte, bleibt ein Geheimnis der Speicher und des Internets. Immerhin funktionierte die Registrierung. Eine Woche vor Konferenzbeginn erreichte mich eine „exklusive Einladung zum Live-Event nach Berlin“ in „entspannter Konferenzatmosphäre“. Microsoft Build ist die Messe für „IT-Professionals“ mit eigenem Internetportal, Live Stream, Videos On-demand und „Techwiese“. Wie beziehungsreich die Location Westhafen Event & Convention Center, kurz WECC, für das Live Event ausgesucht worden war, wusste möglicherweise nur ein Event-Scout. Denn die Lagerhalle 1 im Westhafen entstammt einer gänzlich anderen Epoche der Speicher, Lager und Container. Dass sich im zehngeschossigen Westhafenspeicher bis 30. November 2019 die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz befand, wissen wahrscheinlich nur wenige Berliner*innen und Nutzer*innen der Ringbahn, die das unübersehbare Gebäude vorbeiziehen lassen.

Die Geschichte von Microsoft Build erzählt von der Zukunft. Mit der Keynote verkörpert Satya Nadella, Chairman und Chief Executive Officer von Microsoft, wie die Gegenwart sich die Zukunft vorstellt und sie in Animationen visualisiert wird. Im Dezember 2017 hatte er seine Autobiographie auf Deutsch veröffentlicht: Hit Refresh: Wie Microsoft sich neu erfunden hat und die Zukunft verändert. Forbes listete ihn 2019 auf Rang 6 der innovativsten Führungspersönlichkeiten der Welt. Er ist sozusagen der Vater der Cloud-Speicher bei Microsoft. Für die gestreamte Keynote steht Nadella im Poloshirt in einem wohnzimmerartigen Büro mit Retrosessel und minimalistischem Buchregal sowie digitalen Fotorahmen. Satya Nadella könnte vom Outfit und Design in Berlin nebenan wohnen. Doch das Microsoft-Entwickler-Setting für die Keynote wurde bestimmt designt in einem Studio aufgenommen. Denn über die sonstigen Lebensgewohnheiten des Multimillionärs in Bellevue im Bundesstaat Washington ist eher wenig bekannt.

Die Keynote von Satya Nadella wird auf der Seite von Microsoft Build 2022 als Video bereitgehalten. Bekanntlich gehört der Microsoft-Gründer Bill Gates zu den beliebtesten Zielen der Verschwörungsnarrative während der Covid-19-Pandemie. Das ist schon deshalb absurd, weil er längst nicht mehr das operative Geschäft von Microsoft bestimmt. Vielmehr ist es Satya Nadella, der die Agenda für die „Microsoft-Community“ von ca. 31 Millionen Entwickler („developers“) und Entwickler*innen weltweit in 10 Punkten setzt und erklärt – wohl gemerkt aus einer Art Home-Office im Retro-Design. Die Materialität des Home-Offices korreliert mit der Digitalität des Entwickelns. Die 31 Millionen Entwickler*innen und Programmierer*innen haben zumindest einen großen Einfluss auf die Weltbevölkerung von 8 Milliarden und darauf, was sie sieht und wie sie sich verhält.

Im Westhafen Event & Convention Center geht es tiefenentspannt zwischen Home und Konferenz, zwischen Zuhause und Geschäft zu. Vor den zwei Bühnen im Großen und im Kleinen Saal mit Backsteinwänden und freitragendem Eisenbetondach sind Clubsessel zum Chillen aufgebaut. Der Clubsessel im Retro-Design gehört zum materiellen Ambiente der Microsoft-Community. Da das Entwickeln und Programmieren an Rechnern mit Tastaturen geschieht, indem in einer Programmiersprache standardisierte Befehle geschrieben werden, handelt es sich um eine Tätigkeit, die hohe Konzentration erfordert. Vertippen dürfen sich Programmierer*innen nicht. Unabhängig vom Geschlecht könnte jede und jeder codieren. Microsoft setzt auf Diversity in seiner Community. Eine nach Habitus und Körperformen sichtbare Transfrau, die auf der Herrentoilette ihren Lippenstift nachzieht, ist ebenfalls zu Microsoft Build erschienen. Home im Sinne von Heim und Zuhause geht im Design von Microsoft und der Messe ineinander über.    

Wenn es die einzigartig materielle Architektur des Westhafens mit seinem zehngeschossigen Speicher, seinen Lagerhallen, seinen Hafenbecken für Massengüter wie Getreide, seinen Verwaltungsgebäuden, den Halbportalkränen und Gleisen nicht schon geben würde, hätte man diese riesige Infrastruktur für die Entwickler-Konferenz des Digitalen, Microsoft Build, erfinden müssen. Die Backsteinfassaden vermitteln eine „natürliche“ Bauweise mit Steinen aus Ton gebrannt, während schon 1895 ein erster Plan für die Hafenanlage mit Spree-Zugang zur Versorgung der industriellen Groß- und Hauptstadt Berlin entwickelt wurde und wenig später die Konstruktion der Geschosse wie Dächer aus Eisenbeton gefertigt wurden. Der Kornversuchsspeicher am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal unweit des Nordhafens wurde bereits 1897/1898 gebaut.[1] In der zweiten Phase des Kornversuchsspeichers wird eine sichtbare Betonkonstruktion erprobt. 1914 bis 1923 beginnt die BEHALA mit den Erkenntnissen der Versuche, die Lagerhallen und Speicher nach den Entwürfen von Richard Wolffenstein am Westhafen zu bauen.[2] Die Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mbH mit 100-prozentiger Beteiligung des Landes Berlin nimmt offiziell 1923 mit der Fertigstellung des Westhafens ihren Betrieb auf.

Der Westhafen war ein industrielles Zukunftsprojekt für die Versorgung der Großstadt. Doch in der Sichtweise von 1914 „orientieren sich die Lagerhallen stilistisch an der Baukunst um 1800, die in ihrer klassizistischen Schlichtheit vor dem Ersten Weltkrieg als Vorbild für eine moderne Architektur galt“.[3] Anders gesagt: Die Fassade der Lagerhalle 1 versteckt bewusst die technologische Invention der Eisenbetonkonstruktion, die heute, 100 Jahre später für das Event mit farbigem Licht angestrahlt wird. Nach Kriegszerstörungen im Zweiten Weltkrieg musste die Konstruktion zwar erneuert werden, aber die Betonkonstruktion für das Speichergebäude liegt bereits dem „zweigeschossigen Baukörper“ mit „Zwerchhäuser(n)“, „mächtigem Walmdach und den Thermenfenstern in den Giebelfeldern“ zugrunde.[4] Wolffenstein verwendete mit anderen Worten eine Retro-Architektur mit sichtbarer Materialität der Backsteine, wie heute das Retro-Design der Stühle und Tische die zu programmierende Zukunft rahmt. Es funktioniert, als müsste der Zukunft ein künstlicher bzw. materieller Anker verpasst werden. Wenn es für die Entwickler*innen so gut wie kein materielles Zuhause mehr gibt, muss ihre nomadische Existenz ständig an eines virtuell erinnern.

Die heute pittoreske und denkmalgeschützte Hafenanlage als Bestandteil eines Kanal- und Flusssystems lässt sich genauer bedenken. Walther Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt beginnt 1927 mit einer Einstellung auf eine leicht wellige Wasseroberfläche(!), die auf grafisch kreisende Streifen geschnitten wird, die sich montageartig in niedersinkende Bahnschranken verwandeln, um in Untersicht auf eine nahende Dampflokomotive geschnitten zu werden. Mit schnellen Schnittwechseln wird eine Schnellzugfahrt über Land und über Fluss- wie Kanalbrücken am Westhafenspeicher vorbei nach Berlin inszeniert.[5] Zwischen Häfen werden insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts industriell Güter in großen Mengen transportiert und ausgetauscht. Im Englischen heißen Häfen Ports. In der hier angerissenen, kleinen Geschichte der Speicher überschneidet sich der Diskurs des Westhafens mit dem der um die Welt jagenden Daten und Datenpakete, die zwischen zwei Ports(!) ausgetauscht werden. Hinsichtlich digitaler Crypto-Währungen oder im Finanzsystem entsteht sozusagen über die Tauschgeschwindigkeit zwischen den Ports eine Art Mehrwert, der das System am Laufen hält.

Bei der industriellen Großstadt Berlin ging es schon um 1900 nicht allein um einen Endverbrauch oder die Versorgung der Bevölkerung und Industrie. Vielmehr wurde der Westhafen so konzipiert, dass die Speicher und Lagerhallen einzig und allein aus den Frachtschiffen befüllt wurden, um schnell wieder durch Güterzüge oder Lastwagen geleert zu werden. Die Lagerhallen wandelten die Güter in gewisser Weise in Waren um. Vielleicht gibt es noch größere Speicheranlagen des industriellen Zeitalters in den USA oder in Liverpool. Aber in Deutschland oder ganz Europa ist der Westhafen einer der größten Binnenhäfen. Die Architektur wurde für die Distribution konzipiert: „An beiden Seiten des mittleren Hafenbeckens wurden Lager- und Speicherbauten gegenüberliegend angeordnet. Die lang gestreckten Lagerhallen 1, 2 und 3 für Stückgut sind so bemessen, dass vor jeder Halle zeitgleich zwei 600-Tonnen-Schiffe gelöscht werden konnten. Rampen an Wasser- und Landseiten sowie Ladetüren auch im Obergeschoss erleichtern das Be- und Entladen der Lagerräume, wobei die offene Konstruktion des freitragenden Eisenbetondachs eine optimale Nutzung des Dachraums ermöglicht.“[6]

Der Port benennt heute im Protokoll jene Zahlenkombination, die angibt, zwischen welchem Server- und Clientprogramm Datenpakete ausgetauscht werden. Beispielsweise geht es um den Austausch von E-Mails. Der Port 25 ist für das Simple Mail Transfer Protocol (SMTP) reserviert. Falls Sie Ihre E-Mail-Adressen selber unter Windows in Outlook einrichten oder eingerichtet haben, wissen Sie, dass Sie den Port manuell richtig einstellen müssen, um E-Mails vom Server abzurufen und einen weiteren Port zu versenden. Mit Windows 11 werden diese Port-Einstellung unterdessen automatisch in Outlook durchgeführt. Es ist allerdings so, dass zum Beispiel die Telekom oder Strato wiederum manuell eingerichtet werden müssen. Sie kennen das. Weil dann zur Sicherheit noch ein Passwort oder Kennwort abgefragt wird, das sie z.B. auf dem alten PC vor Jahren geändert und irgendwo(!) notiert, aber zwischenzeitlich vergessen haben, müssen Sie in ihrem Telekom-Mailprogramm oder bei Strato wieder ein neues Passwort eingeben … Ich gehe mittlerweile davon aus, dass es nicht nur mich Tage kostete, solche Port-Probleme zu lösen. Jede Vereinfachung führt wieder zu einer Festlegung auf z.B. den Outlook-Server von Windows.

Ist der Port erst einmal erreicht, lassen sich Datenpakete wunderbar in Ordner oder Container hin- und herschieben, um gespeichert zu werden. Die Rahmung von Microsoft Build hat nicht nur Programmierprobleme im Blick, vielmehr informieren Anne Kjaer Bathel & Anastasiya Leukhina im Kleinen Saal über die Schulungsprogramme für Frauen und insbesondere Frauen aus der Ukraine der ReDI School of Digital Integration. Die Microsoft Community braucht besonders in Deutschland programmierende Frauen. Auch Martha Splitthoff ermuntert in ihrem Vortrag Anyone Can Code – Light your Fire for Coding vor allem Frauen zum munteren Codieren. Martha strahlt während ihres Vortrags, als sei das Codieren „awesome“. Überhaupt wird im Wechsel zwischen dem Großen und dem Kleinen Saal mit Live Schaltungen die Konferenz zu einer Art Streaming Service. Überall stehen Kameras, die von einem Regiepult gesteuert werden. Ein Kameramann mit einer Steadicam wechselt zwischen den Sälen und produziert visuelle Nähe. Die Community Sessions sind zwischen Dapr – Entwicklung von Cloud-nativen, verteilten Microservices und Serverless Development mit VS Code und GitHub Codespaces durchgetaktet. Die Fachsprachen der Programmierenden bleiben geheimnisvoll. In den Community Sessions wird vorausgesetzt, dass alle wissen, worum es geht.

Nun kann man nicht gerade sagen, das der Große Saal bei den Community Sessions bis auf den letzten Platz besetzt war. Viele im Publikum wischen lieber auf ihren Smartphones herum oder Twittern, WhatsAppen oder machen Selfies. Die beschworene Community der großen Zahl von 31 Millionen Developers zersplittert am 24. und 25. Mai 2022 im WECC. Intensive Gespräche oder Diskussionen werden in den Community Sessions eher nicht geführt. Eine Moderatorin und ein Moderator wissen, was sie fragen müssen. So erfährt der Berichterstatter, dass es auch kostenlose Programme gibt. – Awesome! – Unterdessen sorgt die Graphikdesignerin und DJ VVET. alias @vvievvirddaswetter für das relaxed Ambiente. Als Hybrid Event lässt Microsoft Build alle an allem teilhaben ob vor Ort oder vor dem Screen, wobei das Live des vor Ort unbedingt mit dem Screen des Smartphone verkoppelt werden muss. Gleichzeitig führt die große Offenheit nicht zu mehr Gemeinschaft. Jede/r programmiert vielmehr allein und kann durch den richtigen oder falschen Code alles verändern. Oder der große Datenaustausch führt zu spam-verstopften Postfächern, E-Mail-Adressen, an die man nicht mehr herankommt, unfassbaren Mengen von inkriminierten Fotos oder Datenträgern, Speichern und Containern, die mit Fotos derart ungeordnet vollgestopft sind, dass ein ganz Bestimmtes sich nie wieder finden lässt.

In einer Fishbowl Discussion sollte am 24. Mai Satya Nadellas Keynote besprochen werden. Der Berichterstatter konnte allerdings aus Termingründen nicht daran teilnehmen. Deshalb wird die Keynote einmal anders nach der Goldfischglas-Methode analysiert. Wir suchen uns die Goldfische einfach mal einzeln heraus. FinanzNachrichten.de berichtete am 25. Mai um 15:07 Uhr zum Aktienkurs der Microsoft Corporation, dass das Kommunikations-Tool Teams eine Reihe neuer Funktionen erhalte, von denen Live-Share „wohl die spannendste“ sei.[7] Während immer mit Algorithmen programmiert wird, bleibt die Einordnung „wohl die spannendste“ ziemlich elastisch. Wie konkret wird Nadella in seiner Keynote? Satya Nadella eröffnet seine Keynote mit den Fragen „What can we build?“ und „What does the world need?”.[8] Die Fragen werden grafisch in Kreisen eingeblendet und die Syntax ist durch Farbgebung zusätzlich strukturiert, „can“ und „build“ sowie „world“ und „need“ werden farblich hervorgehoben. Natürlich stecken Codes hinter den animierten Grafiken, die sich überschneiden sollen. Obwohl sich die Fragen kaum einfacher formulieren lassen, konstruieren sie geradezu ein Weltrettungsnarrativ. Das Coding und die Software von Microsoft soll die Welt nämlich vor den großen Gefahren retten. Immerhin unterscheidet sich das Narrativ der Rettung der Welt von einer Eroberung derselben.

Das Codieren und Programmieren wird von Satya Nadella eröffnend auf geradezu schlichte Weise mit einem Weltnarrativ verknüpft, das gleichsam mythologisch mit einem Cover der Newsweek vom 27. Januar 1975 verknüpft wird.[9] Ein mittelalterlicher Ritter auf einem Pferd, auf dessen Helm das Präsidenten-Siegel der USA prangt und dessen Physiognomie an Gerald Ford erinnern soll, hebt seine Lanze gegen den dreiköpfigen, feuerspeienden Drachen von „INFLATION“, „RECESSION“ und „ENERGY“. Die mythologische Karikatur der Newsweek ist ebenso bedenkenswert, wie deren Kombination mit dem Cover der Zeitschrift Popular Electronics über „World‘s First Minicomputer …“ aus dem gleichen Monat. Um Geschichte und den historischen Moment herzustellen, wird auf den Januar 1975 und dessen historischen Durchbruch wie seinen Schrecken zurückgegriffen. Auf frappierende Weise erinnern die zitierten Cover an die materiellen Retrosessel und transformieren die Frage „What can we build?“ in eine Geschichte kontinuierlicher Entwicklung des Digitalen, der „Minicomputer“ zur Rettung der Menschheit.

Nadella knüpft mit Inflation, Rezession und Energie an ein zumindest für Amerika populäres Krisennarrativ an, das wiederholend als Problem der Welt bemüht wird. Die Cover sollen allerdings nicht zu präsent werden. Sie behaupten lediglich eine Wiederholung der Geschichte, die sich mit ähnlichen Mitteln abwenden lasse. Als Krisen, denen der durchaus etwas zweifelhafte, republikanische Präsident Gerald Ford heute entgegentreten könnte und müsste, hätten Russia, China, Climate Change, Guns etc. auf den Drachenhälsen stehen können und müssen. Gegen den Protektionismus Donald Trumps entwickeln die chinesischen Programmierer*innen seit 2019 allerdings ein eigenes Betriebssystem, das schon auf den Rechnern von Behörden und öffentlichen Einrichtungen als UOS (Unity Operating System) installiert wird.[10] Anders gesagt: In der Diversität von Nadellas Microsoft Community und des „Imagine Cup (…) for the innovators“ gibt es zwar noch Portraits von Chinesen, doch die Volksrepublik China bricht gerade als Markt weg. Was für China technologisch möglich ist, gilt noch lange nicht für die Russische Föderation. Doch Microsoft beteiligt sich an den internationalen Sanktionen gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.   

Nadellas Lösung der Krise erscheint im Video in einer Adressenzeile: „developers and researchers using technology to adress sustainability, inflation, and recession, digital art“.[11] Die Grafik ist komplex, obwohl sie animiert nur wenige Sekunden eingeblendet wird. Denn sie benutzt die Oberfläche des Programms DALL-E, einem Programm für die Produktion von Bilder nach den in „natürlicher Sprache“ eingegebenen Begriffen.[12] Die Bildleiste wird also von einer AI bzw. einer künstlichen Intelligenz generiert. Die Unterschiede der Bilder von z.B. Satya Nadella und seinem Home-Office oder der Cover von Popular Electronics und Newsweek wird damit verwischt. Im schnellen Schnitt der Bildsequenzen schwinden die Unterschiede der Bilder und ihrer Herkunft. Während des Public Viewings der Keynote fielen dem Berichterstatter, diese Unterschiede überhaupt nicht auf. Im Fluss der Bilder und des Sprechens werden virtuelle Anker geworfen, um die Unterschiede zwischen KI und Kamera für die Zukunft verschwinden zu lassen. Auf diese Weise wird die enorme, mediale Konstruktion und das Script der gesamten Keynote erkennbar. Die Zukunft hat längst begonnen, während noch über die neuesten Funktionen von Dapr, Azure, DALL-E und Microsoft Teams diskutiert wird.

Die Keynote von Satya Nadella in ihrer ganzen Konstruktion zu besprechen, sprengte den Rahmen dieses Blogs. Der vermeintliche Fachbezug der Konferenz Microsoft Build im Westhafen in Berlin kann indessen ebenso als ein kulturelle Schnittstelle betrachtet werden. Microsoft programmiert mit seinen Programmen eben auch die Möglichkeiten zukünftiger Bild- und Anwendungswelten. Das ist nicht nichts. Denn Programmiersprachen sind nicht irgendwelche Sprachen, sondern solche die die Wahrnehmungspraktiken von „natürlichen“ Sprachen und Bildern verändern. So wird denn der Name von DALL-E mit dem im Englischen als i ausgesprochenen e als ein Kofferwort von WALL-E und Salvador Dalí hörbar.[13] Ob es sich bei den Bildern unterdessen um solche handelt, die wie bei Dalí aus Träumen und Sprachoperationen hervorgegangen sind, wäre zu untersuchen.

Torsten Flüh


[1] Zum Kornversuchsspeicher und seiner Geschichte siehe: Torsten Flüh: Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher. Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 9, 2018 22:10.

[2] Denkmaldatenbank: Westhafen.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Diese Sequenz variiert in unterschiedlichen, kursierenden Schnittfassungen. Da der Film unterschiedliche Bahnstrecken und Zielbahnhöfe kombiniert, lässt sich der Westhafenspeicher nur annährend bei 3:31 identifizieren. Das Zusammenspiel von Wasserfläche, Wasserstraßen und Eisenbahn gibt bei Ruttmann einen Wink auf die Großstadt als Ziel und Speicher eines großflächigen Netzes. Siehe z.B.: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt ist ein deutscher experimenteller Dokumentarfilm von Walther Ruttmann, der im September 1927 in Berlin uraufgeführt wurde. Zeitreise.

[6] Denkmaldatenbank … [wie Anm.2].

[7] t3n: Microsoft Teams bekommt Live-Share und mehr neue Funktionen. In: FinanzNachrichten 25.05.2022 15:07.

[8] Microsoft Build 2022: Keynote Satya Nadella. Video 44:11 min. In: Microsoft.

[9] Ebenda 01:24.

[10] Siehe Wikipedia: Unity Operating System.

[11] Microsofte Build 2022: Keynote … [wie Anm. 8] 02:11.

[12] Siehe Wikipedia: DALL-E.

[13] Ebenda.

Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis

Kantate – Serie – Mathematik

Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis

Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle

Am 21. Mai 2022 wurde die Aufführung der Kantaten 8, 84 und 105 nach dem Bach-Werke-Verzeichnis durch Mitglieder der Berliner Philharmoniker mit Anna Prohaska, Christoph Ainslie, Patrick Grahl und Bernd Tobias unter der Leitung von Sir Simon Rattle derart frenetisch vom Publikum gefeiert, dass sich das Ensemble wider die strikte Regel des Orchesters nach dem Abgang vom Podium, nicht noch einmal zum Applaus auf diesem zu erscheinen, dazu entschied, doch ein weiteres Mal hervorzukommen. Die Kantate als kirchliche Lied-Form des Barock hat in jüngerer Zeit ein intensiveres Interesse im Konzertsaal erfahren, während sie zugleich aus der Liturgie schwindet, weil die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich immer weniger auf den Besuch der Gottesdienste und die Einnahmen aus Kirchensteuern verlassen kann.

© Frederike van der Straeten 

Die Entdeckung der Kantate, insbesondere der bis zu geschätzten 300 Kantaten von Johann Sebastian Bach für das Konzertpodium, fällt zusammen mit dem Schwinden der gesellschaftlichen Kraft der Evangelischen Kirche wie der Katholischen Kirche in Deutschland. Nach einer kurzen Sichtung der Forschungslage, die allein die Praxis hervorhebt, dass Bach für jeden Gottesdienst zu seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig für die evangelischen Kirchen der Stadt habe komponieren müssen und dass verschiedene Textquellen wie ein Lied von Caspar Neumann oder der Choral der Kantate 105 mit dem Text des Hamburger Barockdichters und Gründers des Elbschwanenordens Johann Rist von ihm zu fünf bis sechsteiligen Kantaten kombiniert und komponiert worden sind, verebben die Fragen nach der Praxis und Form der Kantate. Doch die in Orden hoch organisierte barocke, meist geistliche Dichtung um 1700 ist mit der Wissenschaft auf Basis der Mathematik tief verflochten.

© Frederike van der Straeten

Die Produktion, Komposition und Praxis der Kantate entspringt nicht zuletzt der Serialität, die sich aus dem Kalender des Kirchenjahres wiederholend und wiederholbar ergibt. Johann Sebastian Bach unterlag insofern einem gewissen Produktionsdruck durch den Rhythmus des Kirchenjahres. Im „Late Night“-Konzert wurden nun mit Sir Simon Rattle drei kompositorisch recht unterschiedliche Kantaten auf liebevolle Weise mit hoher Virtuosität herausgearbeitet. Jede Kantate ein klangliches Juwel, das zum Funkeln gebracht wird. Das widerspricht unterdessen nicht nur der Aufführungspraxis im Kirchenraum innerhalb der Liturgie, vielmehr noch werden die Instrumentalisten wie die Vokalisten selten von einer so hochkarätigen Qualität gewesen sein. Die Kantate kann zu Bachs Zeiten in einzelnen Teilen im Wechsel mit Predigt, Lesungen der Episteln wie Evangelien aus dem Alten und Neuen Testament, Glaubensbekenntnis und Vaterunser, Psalm, Fürbitten und Segen aufgeführt worden sein. Die Gottesdienstpraxis, eine Kantate diesem voranzustellen, lässt ihr bereits eine konzertante Form zu eigen werden.

© Frederike van der Straeten

Die Kantaten werden heute nach dem Textanfang des ersten Satzes benannt wie BWV 8 mit »Liebster Gott, wenn werd‘ ich sterben«. Johann Sebastian Bach kombiniert hierfür einen „unbekannten Dichter nach einem Lied von Caspar Neumann“ mit „Daniel Vetter (Nr. 6)“.[1] Caspar Neumann wie Daniel Vetter sind Zeitgenossen Bachs, die heute allerdings nahezu vergessen sind. Keine „großen Namen“, die dennoch und gerade deshalb in die Komposition eingebunden wurden. Sie sind Quellen oder Fragmente, die wie bei Caspar Neumann noch einmal durch einen „unbekannten Dichter“ bearbeitet wurden. Dies gibt einen Wink auf die Praxis des Dichtens und Komponierens. Es geht um kleine Verschiebungen nach gewissen Regeln und keine gänzlich neuen Inventionen. Denn Caspar Neumann (1648-1715) ist als Theologe und Statistiker in die Deutsche Biographie eingegangen.[2] Die Kombination aus Theologie und Statistik als mathematische Wissenschaft lässt sich als barocke Signatur bedenken.

© Frederike van der Straeten

Als „Verfasser geistlicher Lieder“ gehört Caspar Neumann zum Textkorpus für Bachs Kirchenmusik.[3] Seine Kirchenlieder und Gebetsammlung Kern aller Gebeter und Bitten, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Altern zu gebrauchen von 1680 wird noch 1815 wiederaufgelegt.[4] Der Titel der Sammlung formuliert mit der Wiederholung „alle(r)“ Gebrauchsmöglichkeiten eine nahezu totale Abdeckung des protestantischen Lebens. 1798 ist das Lied »Liebster Gott, wenn werd‘ ich sterben« in Martin Grünwalds Andächtiger Seelen, vollständiges Gesangbuch, darinnen der Kern … als Nummer 800 enthalten.[5] Doch Neumann bedichtet nicht nur das Sterben, er erforscht es als Pastor in Breslau zugleich mit der Schlüsselwissenschaft seiner Zeit. Er „unternahm als erster den Versuch, Geburts- und Sterbefälle statistisch zu erfassen, und erstellte darüber 1687-91 sorgfältig ausgearbeitete Tabellen aus den Kirchenbüchern der ev. Gemeinden Breslaus.“ Diese Forschungspraxis kann heute „als bahnbrechend für die moderne Bevölkerungsstatistik betrachtet werden“.[6] Die Mathematik wird von ihm eingesetzt, um göttliches Wirken in den Sterbefällen zu entschlüsseln.  

Die Praxis der Montage zur Generierung der Kantate BWV 8 wird in der Kombination eines Liedes von Caspar Neumann mit dem Choral »Herrscher über Tod und Leben« des Leipziger Organisten und Komponisten Daniel Vetter deutlich. Der Dirigent und Musikologe Melvin Unger hat kürzlich die Choral-Fassung von Daniel Vetter mit der Johann Sebastian Bachs verglichen und herausgearbeitet, dass Bachs Setzungen im Abgesang signifikant kürzer als in seiner Vorlage sind.[7] Das heißt zweierlei: Montage und signifikante Änderung als ein nicht zuletzt mathematisches Prinzip bringen die Kantate als Partitur wie als Text hervor. Und die Reimformen der Texte stellen einerseits eine rhythmische Geschlossenheit her, andererseits verschlüsseln sie die Syntax. Sir Simon Rattle setzt bei seinem Dirigat weniger auf eine Textverständlichkeit als auf den instrumentalen und vokalen Klang.
„Liebster Gott, wenn werd ich sterben?
Meine Zeit läuft immer hin,
Und des alten Adams Erben,
Unter denen ich auch bin,
Haben dies zum Vaterteil,
Dass sie eine kleine Weil
Arm und elend sein auf Erden
Und denn selber Erde werden.“

Bereits im Chor-Teil wird das Reimschema – ABAB CCAA – variiert, um vermeintlich mit der A-Endung -ben in -den zu enden. Die Rhythmisierung und Schematisierung der Sprache und des Sprechens als Gesang korrespondiert mit einem tänzerischen Rhythmus und der hellen, freudigen Tonart, E-Dur. Die Frage nach dem Sterbezeitpunkt, den Caspar Neumann mit seinen Listen und Tabellen mathematisch nach Regeln erforscht, aus denen sich letztlich eine moderne Lebensversicherung berechnen ließe, wird insofern nicht als Schrecken, sondern mit einer fast freudigen Gewissheit gestellt. Die Regelhaftigkeit oder auch Berechenbarkeit des Sterbens erleichtert. Allein die Frage nach dem Tod als Schrecken, die nach Grünwald nicht bei Caspar Neumann vorkommt[8], wird im zweiten Teil als Tenor-Arie, wunderbar von Patrick Grahl gesungen, »Was willst du dich, mein Geist, entsetzen?« im dunkleren Cis-Moll gesetzt.
„Was willst du dich, mein Geist, entsetzen,
Wenn meine letzte Stunde schlägt?
Mein Leib neigt täglich sich zur Erden,
Und da muss seine Ruhstatt werden,
Wohin man so viel tausend trägt.“[9]

Der Schlusssatz der Cantate als Choral entspricht, dann auch textlich wieder ganz Neumanns Lied. Bachs Invention und Abweichung besteht insofern vor allem in einer Formulierung des Schreckens, der sprachlich und wohl auch klanglich nicht bei Neumann und Vetter artikuliert wird. Der Choral als Schlusssatz betont die Geschlossenheit und Berechenbarkeit des christlichen Lebens und Sterbens nach Anspruch und Lehren der evangelischen Kirche. Für Neumann und Vetter geht dies bruchlos auf. Doch Johann Sebastian Bach formuliert für den 24. September 1724 einen nicht nur musikalischen Bruch als Zweifel, bevor nicht zuletzt musikalisch alles „(n)eben frommen Christen“ als Ordnung wieder hergestellt wird.   
„Herrscher über Tod und Leben,
Mach einmal mein Ende gut,
Lehre mich den Geist aufgeben
Mit recht wohlgefasstem Mut.
Hilf, dass ich ein ehrlich Grab
Neben frommen Christen hab
Und auch endlich in der Erde
Nimmermehr zuschanden werde!“[10]

Sir Simon Rattle erweist sich mit seinem „Late Night“-Kantatenabend einmal mehr als Bach-Forscher, indem er drei eher seltener aufgeführte Kantaten in ihrer Vielschichtigkeit auslotet. Bereits 2014 hatte er mit den Berliner Philharmonikern die Johannes-Passion eingespielt, nachdem er anlässlich des 50jährigen Jubiläums des Philharmonie-Neubaus 2013 die Matthäus-Passion aufgeführt hatte. Beim Musikfest 2021 hatte John Eliot Gardiner mit der Gegenüberstellung von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel einen Beitrag zur Kantatenforschung geleistet.[11] Er führte die Choralkantate »Christ lag in Todes Banden«, BWV 4, mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir auf. Die von Rattle ausgewählten Kantaten sind mit den 6 und 5 Sätzen facettenreicher. Für »Christ lag in Todes Banden« konnte Bach auf ein Lied von Martin Luther zurückgreifen, während in BWV 8, 84 und 105 stärker das Kombinatorische als Kantatenpraxis betont wird. Denn in »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke« und »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« werden Texte von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, und Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt, Psalm 143,2 und Johann Rist kombiniert und komponiert.

Die Praxis der Abweichung und Kombinatorik lässt sich ebenso für die Kantate BWV 84 beobachten. »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke« für Sopran und Chor wurde zu einem Triumph für Anna Prohaska. Mit dem Wechsel von zwei Arien, zwei Rezitativen und Choral bietet die Kantate eine Möglichkeit zur barocken Gesangskunst. 1728 hatte Picander in Cantaten auf die Sonn- und Fest-Tage durch das gantze Jahr in Leipzig die Kantate »Ich bin vergnügt mit meinem Stande« veröffentlicht, die allerdings erst von Carl Philipp Emmanuel Bach mit dem Originaltext komponiert wurde.[12] Picander arbeitete auch mit Bach an der Matthäus-Passion. Die Variation von „Glücke“ und „Stande“ könnte dem kompositorischen Arbeitsprozess geschuldet sein. Indessen findet sich bei Grünwald die Formulierung „Ich bin vergnügt“ in drei Variationen: „Ich bin vergnügt in meinem Herzen, und“, „Ich bin vergnügt, nach Gottes willen“ und „Ich bin vergnügt und halte stille, wenn“.[13] Weitere Variationen lauten auf „Ich bin mit Gott vergnügt, der alles“ und „Ich bin mit dir, mein Gott, zufrieden“. Grünwalds „Alphabet-Register“ gibt einen Wink auf die barocke Kompositionspraxis. Dabei ist Grünwald keineswegs vollständig, denn die Kombinationen mit „Glücke“ und „Stande“ fehlen.

Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt wird mit dem Text für den Choral »Ich leb indes in dir vergnüget« von Grünwald 1798 nicht ins evangelische Gesangbuch aufgenommen. Die zwölf Strophen ihres Kirchenliedes »Wer weiß, wie nahe mir mein ende?«, das Bach mehrfach verarbeitet hat, wurde allerdings sehr wohl von Grünwald als Nummer 762 aufgenommen. Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt gibt mit der Veröffentlichung ihrer nahezu 600 Geistliche(n) Lieder 1685 einen weiteren Wink auf die protestantische Praxis der Dichtung in deutscher Sprache im 17. Jahrhundert. Übersetzungen, Wiederholungen, Rhythmisierung und Variationen lassen bereits für Johann Sebastian Bach einen Textkorpus entstehen, aus dem er wiederum schöpfen und variieren kann. Erst im 19. Jahrhundert wird Bach aus einer kollektiven Text- und Musikproduktion isoliert und individualisiert. Die barocke Praxis der Dichtung setzt weniger auf Individualität als vielmehr auf eine Erfüllung des kirchenmusikalischen Programms, in dem das Subjekt als Ich, wie mit der Kantate »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke«, einzig und allein in seinem Verhältnis zu „Gott“ formuliert wird.

Es fällt uns im 21. Jahrhundert schwer, das Regelwerk der Kantatenproduktion zu erfassen. Doch den Regeln lässt sich sehr wohl nachspüren. Eine weitere Textquelle sind die Psalmen, wie Bach den Psalm 143,2 für die Kantate zum 9. Sonntag nach Trinitatis mit »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« verarbeitet. Das Datum des Kirchenjahres gibt bereits einen Textkorpus vor, der sich für Bach kombinieren lässt. Grünwald bietet nicht zuletzt ein „Register über die biblischen Stellen, darüber Lieder vorkommen, auf die Nummern der Gesänge gerichtet“. Möglicherweise hat Grünwald diese Kombination aus seiner eigenen Gottesdienstpraxis als „gewesener Archidiaconi in Zittau“ erstellt. Doch das Register zeigt hier die Regelhaftigkeit an, die schon für Bach verpflichtend war. Der Psalm wird thematisch kombiniert mit einem Gedicht von Johann Rist, dessen Vater zwar Pastor war, der aber als Lehrer und Dichter reüssierte. Rists Dichtungen gehören ebenfalls mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen bis 1668 zu jenem prägenden Textkorpus, auf den Bach für seinen Choral »Nun, ich weiß, du wirst mir stillen« zurückgreifen kann, obwohl Rist eher der weltlichen Dichtung nach antiken Vorbildern zuneigte, wie mit Des Daphnis aus Cimbrien Galathee von 1642 in Hamburg anklingt. Bach greift auf Johann Rists Himmlische Lieder von 1641 zurück.
„Nun, ich weiß, du wirst mir stillen
Mein Gewissen, das mich plagt.
Es wird deine Treu erfüllen,
Was du selber hast gesagt:
Dass auf dieser weiten Erden
Keiner soll verloren werden,
Sondern ewig leben soll,
Wenn er nur ist Glaubens voll.“.[14]

Das „Late Night“-Konzert ist ein eher kleines Konzertformat, das Simon Rattle seit einigen Jahren entwickelt hat. Mit den Bach-Kantaten schöpft er alle Möglichkeiten dieses kleinen Formats aus. Ob es die Solisten wie der Flötist Michael Hase oder Jonathan Kelly an der Oboe sind, alle wären erwähnenswert an dieser großartigen Ensemble-Leistung. Was vermeintlich klein ist und wenig beachtet wird, wurde hier zu einem nuancenreichen Feuerwerk entfaltet. Gerade die heute befremdenden Praktiken der barocken Dichtung und Komposition wurden damit bedenkenswert. – Das Konzert wird noch für die Digital Concert Hall bearbeitet.

Torsten Flüh

Berliner Philharmoniker
»Late Night«-Konzert mit Simon Rattle
vom 21. Mai 2022


[1] Zitiert nach: Berliner Philharmoniker (Hg.): Late Night. Mitglieder der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, Anna Prohaska, Christopher Ainslie, Patrick Grahl, Tobias Berndt. Berlin, Samstag 21.05.22.

[2] Peter Koch: Neumann, Caspar. In: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 156 [Online-Version].

[3] Ebenda.

[4] Caspar Neumann: Kern aller Gebeter und Bitten, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Altern zu gebrauchen. Breslau 1680. 8

[5] Martin Grünwald: Andächtiger Seelen, vollständiges Gesangbuch, darinnen der Kern … : Mit einem Anhange von Morgen- Abend- und … , Zittau, 1798. Siehe Digitalisat der Staatsbibliothek Berlin.

[6] Peter Koch: Neumann … [wie Anm. 2].

[7] Melvin Unger: Cantate Auf sechzehnten Sonntage auf Trinitatis „Liebster Gott, wann werd ich sterben.“ Melvinunger.com Dec-12-2021.

[8] Siehe Martin Grünwald: Kern … [wie Anm. 5] S. 847 (Digitalisat).

[9] Zitiert nach: Walter F. Bischof: BWV 8 Liebster Gott, wenn werd ich sterben. In: ders.: Bach Cantata Pages. University of Alberta, Edmonton. (Link)

[10] Ebenda und bei Martin Grünwald: Andächtiger … [wie Anm. 8].

[11] Siehe: Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[12] Siehe Bach digital: Ich bin vergnügt mit meinem Stande.

[13] Martin Grünwald: Andächtiger … [wie Anm. 5] Alphabet-Register, auf die Nummer und Zahl der Blätter gerichtet (ohne Seitenzahl).

[14] Zitiert nach: Walter F. Bischof: BWV 105 Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht. In: ders.: Bach Cantata Pages. University of Alberta, Edmonton. (Link)

Vom Kampf gegen die Desinformation

Information – Wissen – Wikipedia

Vom Kampf gegen die Desinformation

Zur Diskussionsveranstaltung Für freies Wissen – gegen Desinformation im Rahmen der 27. Mitgliederversammlung des Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung freien Wissens e.V.

Der Veranstaltungsort Amplifier im Amperium am Humboldthain war beziehungsreich für die Mitgliederversammlung des Trägervereins der digitalen Lexikon-Bewegung Wikipedia gewählt. Die Transformation des denkmalgeschützten ehemaligen AEG-Geländes mit Turbinenhalle, Hochspannungswerk und weiteren Gebäuden nach den Plänen von Peter Behrens hat als Amperium eine weitere Stufe erreicht. Die internationale Einheitsbezeichnung für die elektrische Stromstärke Ampere gibt einen Hinweis auf den Stromverbrauch beispielsweise eines Computers und des Internets in Kilowattstunden. Ein Amplifier ist schlechthin ein Verstärker des elektrischen Stroms. Wikipedia verstärkt gewissenmaßen Wissensprozesse weltweit. Im Hochspannungswerk grüßt Peter Behrens (German Architect, Painter, Designer and Typographer) als Graffiti:
WELCOME HOME – ALL YOU BLOGGERS, COWORKERS, CAPITALISTS & CREATIVES, TECHIES, DIGITAL NATIVES & IMMIGRANTS, DREAMERS & DOERS!

Am Vorabend der Mitgliederversammlung ging es in kleinerem Rahmen hybrid, wie es heißt, vor Ort und per Chat im Internet um Wikipedia als Informationsbasis und die Desinformation. Selten zuvor war das von den aktiven Mitgliedern des Vereins kompilierte Wissen politischer und begehrter als seit dem 24. Februar 2022. In Russland werden ganze Wikipedia-Seiten heruntergeladen, bevor der Zugang durch das Putin-Regime blockiert wird, wie der scheidende ehrenamtliche Vorsitzende des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, Lukas Mezger, in der Gesprächsrunde mit Pia Lamberty und Irene Plank, moderiert durch Vera Linß, recht früh verriet. Gleichzeitig verbreiten Plattformen wie RT DE, also der deutschsprachige Sender Russia Today aus Moskau und Berlin, Desinformation über den Krieg Russlands in der Ukraine. Zugleich führt die Desinformation zur Diskreditierung der Information westlicher Medien. Laut einer Umfrage des von Pia Lamberty gegründeten gemeinnützigen Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) glaubt ein Drittel der Befragten, dass „die Berichte westlicher Medien nicht vertrauenswürdig“ sind.

Plötzlich rückt die gezielte Desinformation im Unterschied zur Information in den gesellschaftlichen und informationspolitischen Fokus. Das ist eine semantische Verschiebung gegenüber den Verschwörungstheorien, die ab März 2020 den Diskurs zum Virus Sars-Cov-2 und der Pandemie angriffen und Sinn stifteten.[1] Denkwürdig bleiben die Einlassungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, vom 17. April 2020 zum Ursprung des Virus gegen alle verfügbaren wissenschaftlichen Standards.[2] Informationen stiften keinen Sinn. Erst die Kontextualisierung und die Bestimmung eines oder mehrerer Urheber machen Sinn. In Verschwörungstheorien wird „ein Bedürfnis wirksam, komplexe Zusammenhänge auf einfache Sinngebungen zu reduzieren, wodurch eine psychotische und kollektive Dynamik in Gang gesetzt wird, die eigenen Ängste und Versagungen auf unbekannte Kräfte und geheime Mächte zu projizieren“.[3] Desinformationen sollen dagegen die Verarbeitung von Informationen von vornherein beeinflussen, unterwandern, verfälschen, entwerten.

Im Oktober 2020 machte die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amtes von Irene Plank darauf aufmerksam, dass „Soziale Medien … reichweitenstarke Kraftzentren der digitalen Kommunikation“ seien, „die autoritäre Staaten wie China und Russland intensiv für ihre Propaganda und Desinformation“ nutzten. Die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amts trete „ihnen mit faktenbasierter Information entgegen“.[4] Denn die EU erlebte 2020 „rund um die Corona-Pandemie“ durch eine „Flut an Desinformationen“ den „ersten großen Belastungstest“ für das im März 2019 „zur Überwachung von Falschmeldungen auf der EU-Ebene“ Rapid Alert System (RAS).[5] Am 11. Oktober 2021 erklärte die Bundesregierung unter Angela Merkel auf „eine Kleine Anfrage der FDP“, dass RAS gegen Desinformation „dem gemeinsamen Austausch der EU-Institutionen und der EU-Mitgliedstaaten über eine verschlüsselte digitale Plattform“ diene.[6] Allerdings blieb dabei die Frage offen, ob Donald Trump in seinen psychotischen Reden selbst Desinformation produzierte und verbreitete oder er „nur“ russische Desinformation reproduzierte.

Das Auswärtige Amt musste im Zuge der Informationen um die Europäische Flüchtlingskrise 2015 feststellen, dass durch Desinformationen auf Sozialen Medien wie Facebook, Twitter und dem russischen Telegram die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik durchlässig werden. Das hatte einen Paradigmenwechsel im Auswärtigen Amt zur Folge. Im Gespräch des Rahmenprogramms der Mitgliederversammlung von Wikimedia sagte Irene Plank, dass sie zum ersten Mal anlässlich der Flüchtlingsbewegungen mit dem Problem massiver ausländischer Desinformation konfrontiert worden sei. Eine „Neubestimmung als Bereich der Strategischen Kommunikation innerhalb der Abteilung für Kultur und Kommunikation war die Erkenntnis des sogenannten Review-Prozesses 2015“. Denn dieser hatte deutlich gemacht, „dass in der Außenpolitik die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen“ und die Bundesregierung deshalb ihre „Politik besser kommunizieren“ müsse.[7] Die Digitalisierung von Wissen durch Algorithmen hat zu einer größeren, schnelleren und grenzenlosen Verbreitung von Information wie auch von Desinformation geführt. Anders gesagt: die Ambiguität des Wissens ist gesteigert worden. Das muss eine Informationsgesellschaft entweder aushalten oder aktiv regulieren.

Desinformationen bedrohen und gefährden natürlich „das freie Wissen“ von Wikipedia – „Wir befreien Wissen“. Nichts muss Verschwörungstheoretikern und Desinformanten verlockender erscheinen, als ihre Narrative in den Lexikon-Artikeln von „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ einzuspeisen.[8] Auf der Hauptseite steht unter „Themenportale“ und „Zufälliger Artikel“ gleich „Mitmachen“ in der Navigation. Wikipedia existiert durch das Mitmachen ehrenamtlicher Lexikon-Autor*innen – weltweit. Die Online-Enzyklopädie – „Wissen. Von Vielen. Für Alle.“ (Slogan auf dem Podium der Mitgliederversammlung) – generiert auf auch unsichere Weise das Wissen über die Welt von heute. Hochaktuell. Wissenschaftlich. Transparent. Wikipedia wird geglaubt. Mit dem Budget aus Beiträgen von mehr als 500.000 Mitgliedern und Spendern von Wikimedia Deutschland stärkt und ermöglicht der Verein weniger finanzstarke Wikipedia-Plattformen. Wikimedia funktioniert als ein Global Player im zirkulierenden Wissen der Welt. Die Suchmaschinen wie Google listen Wikimedia meistens an erster Stelle der Ergebnisse, wenn keine WERBUNG oder Eigenseite davor kommt. Der Google-Algorithmus weiß alles, kann es aber nicht immer einordnen.

Wikipedia ist eine durch und durch erstaunliche Wissensbewegung von ehrenamtlichen Autor*innen. Doch von den mehr als eine halbe Million Mitglieder in Deutschland ist nur ein Bruchteil als Autor*innen aktiv. Zugleich versteht sich die „Wikimedia-Bewegung“ als Sammlung von Werten, Projekten, Aktivitäten und Organisationen. Mit der Formulierung von Begriffen – wie Wikimedia-Bewegung – wird Wissen kompiliert, generiert und publiziert. Als umso erstaunlicher muss der Umstand bedacht werden, dass Wikipedia als Wissensinstanz durch die zunehmend verbreiteten Verschwörungstheorien und Desinformationen während der abflachenden Covid-19-Pandemie unbeschädigt blieb. Der Rahmen aus Werten wie Redefreiheit, Wissen für jeden, gemeinschaftliche Teilung und Equity als Steigerung von Equality, indem nämlich Menschen mit Einschränkungen bei der Überwindung von Barrieren geholfen wird, etc. und einem hohen Grad professioneller Institutionalisierung durch die Wikimedia Foundation und ihre „chapters“ schützt sich die Bewegung und ihr Wissen vor einsickernde Desinformation.

Im ABC des Freien Wissens, das am 19. März 2021 mitten im Lockdown mit dem Buchstaben Z „Zwanzig Jahre Wikipedia – Wohin steuert das 8. Weltwunder?“ unter Beteiligung des prominenten Bloggers Sascha Lobo und mit Grußwort des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier feierte, stand am 2. Oktober 2014 mit dem D nicht etwa die Desinformation zur Debatte im Salon, sondern der „Datenberg. Big Data – Datenschutz oder Datenschatz?“.[9] Der „Datenberg“ ist heute weitaus besser zu bewältigen als die Desinformation. Denn die Desinformation geht schneller Verbindungen mit dem Wissen des Subjekts ein, wozu Pia Lamberty als Sozialpsychologin am Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) forscht. Sie gilt als Expertin für Verschwörungstheorien in einer empirisch ausgerichteten Sozialpsychologie und promoviert als externe Doktorandin an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Bereits in seiner Begrüßung verwies der Geschäftsführende Vorstand von Wikimedia Deutschland e.V., Christian Humborg, auf die Emotionalität als Faktor der Digitalität. Die Rationalität und Berechenbarkeit der Digitalität schließt Gefühle nicht aus, vielmehr werden sie hervorgerufen und verstärkt.

Die Emotionalität spielt nach Pia Lamberty eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle bei der Akzeptanz von Verschwörungstheorien und Desinformationen, indem „der Verschwörungsglaube ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit“ befriedige. „Das heißt, man kann sich darüber überhöhen und das Gefühl vermitteln, besonders zu sein, weil man über Geheimwissen verfügt, von dem der „naive“ Rest der Menschheit nichts weiß. Dieses Phänomen ist gut in den Sozialen Medien zu beobachten, wenn Verschwörungsideologen dort sehr lautstark und selbstbewusst ihre Thesen präsentieren.“[10] Die digitalen Sozialen Medien generierten insofern über die Sprache der Verschwörungstheorien ein emotionalisiertes Wissen, das sich als ein besseres aus der Passivität des allgemeinen Wissens heraus- und darüber emporhebt. Es ginge deshalb um eine Form von Wissensdruck, der sich einer digitalen Informationsflut entgegen zu stellen beansprucht, um eine „eigene“ Deutungsmacht zu gewinnen.

In welchem Verhältnis steht ein emotionaler Glaube an Verschwörungsnarrative zur Wahrnehmung des Angriffskriegs auf die Ukraine? Am 6. April 2022 verwies Pia Lamberty auf eine Studie von Cosmo, in der gefragt wurde, „inwiefern Menschen denn zum Beispiel glauben würden, dass der Krieg in der Ukraine nur der Ablenkung der Corona-Pandemie dienen würde.“[11] In dieser Studie wurde eine Korrelation zwischen Impfverweigerung und dem Krieg in der Ukraine aufgedeckt. „Bei Menschen, die mindestens einmal geimpft sind, waren das elf Prozent. Bei Menschen, die noch nicht geimpft sind, waren es 43 Prozent. Das ist schon ja fast die Hälfte eben derer, die nicht geimpft sind und damit auch eine größere Gruppe der Mobilisierung.“[12] Der eigene Körper als „Feld des Imaginären“, wie es Jacques Lacan einmal formuliert hat[13], spielte insofern für die Leugnung des Krieges eine prominente Rolle. Die Akzeptanz von Desinformation und ihre (digitale) Verkörperung in Sozialen Medien, die zugleich als Selbstperformanz gepostet wird, macht insofern kaum einen Unterschied beim Inhalt der Desinformation.

Lukas Mezger betonte im Gespräch mehrfach die Wissenschaftlichkeit als Standard von Wikipedia und den regulierenden Schwarm. Wie wird die Wissenschaftlichkeit als Form in den lexikographischen Artikeln von Wikipedia angewendet? Wie wird der Faktencheck praktiziert? Die Verfahren der Lexikographie haben eine gewisse Bandbreite und Elastizität, die sich insbesondere für das Wissen von Wikipedia in der Covid-19-Pandemie bewährt hat. Schnell wurde die Wissenserschütterung der Pandemie durch das Zitieren wissenschaftlicher Quellen und insbesondere durch die Statistiken und Erfahrungswissen stabilisiert. Die Generierung von Zahlen durch z.B. Umfragen lässt wie bei der Frage nach der Wirksamkeit von Desinformation in der Bevölkerung schnell Verhältnisse entstehen – ein Drittel der Befragten -, die strategisch bewertet werden können. Zahlenwerte generieren Fakten. Wenn sie dann von einer seriösen Quelle mit Orts- und Zeitangabe zitiert werden können, werden sie als wissenschaftlich akzeptiert. Die Wissenschaftlichkeit funktioniert wie es Friedrich Nietzsche einmal formuliert „sammelnd, ökonomisch, machinal“.[14]

Was macht der Schwarm mit der Lexikographie? Lukas Mezger als Vorsitzender des Präsidiums von Wikimedia Deutschland gebrauchte mehrfach den Begriff Schwarm als regulierende Kraft des Wissens auf Wikipedia. Damit knüpft er an die Rede und das Wissen von der Schwarmintelligenz an.[15] „Je größer der Schwarm, desto schneller wird Desinformation auf Wikipedia identifiziert und korrigiert“, sagte Mezger in etwa. Die Lexikographie von Wikimedia generiert sich insofern aus einem permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler ehrenamtlicher Autor*innen, die vielleicht nicht immer mehr wissen, aber zusammen genauer und schneller, sagen wir, Wissenssprünge aufspüren und stufenweise korrigieren. Laut Wikimedia Deutschland „editieren (weltweit) mehr als 125.000 Freiwillige regelmäßig Wikipedia und ihre Schwesterprojekte“. Das unterscheidet Wikimedia dann doch vom RAS des Auswärtigen Amtes auf Europa-Ebene als Strategie gegen Desinformation. Während RAS Informationen der Bundesregierung strategisch verbreitet und verstärkt, generiert Wikimedia das Wissen auf Wikipedia durch einen permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler Freiwilliger, der Schwarmintelligenz genannt wird.

Torsten Flüh   


[1] Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.

[4] Auswärtiges Amt: Feature Strategische Kommunikation. Berlin: Auswärtiges Amt 10.2020. (PDF ohne Seitenzahl).

[5] Ebenda (S. 4).

[6] Rapid Alert System (RAS) gegen Desinformation. Auswärtiges/Antwort – 11.10.2021 (hib 1056/2021). In: Deutscher Bundestag (Hg.): Parlamentsnachrichten.

[7] Auswärtiges Amt: Feature … [wie Anm. 1].

[8] Wikipedia: Hauptseite.

[9] Wikimedia: Das ABC des freien Wissens.

[10] Zitiert nach: Hertie Stiftung: „Vorsicht, Verschwörungsglaube. Sozialpsychologin Pia Lamberty über Verschwörungstheorien und ihren Einfluss auf unsere Gesellschaft. Ohne Datum. (vermutlich vor dem 24. Februar 2022)

[11] Lea Utz: Warum Deutschlands Verschwörungsideologen Putin supporten – und wieso wir das nicht hinnehmen dürfen. In: BR Bayern 2 vom 06.04.2022.

[12] Ebenda.

[13] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18. Siehe auch: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.

[14] Siehe zur Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[15] Zur Schwarmintelligenz siehe: Torsten Flüh: BärCODE für die Berliner Luft. Zum Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021. Und: Schwärme und das Waldbühnen-Konzert, das nicht stattfand. Berliner Philharmoniker sagen ihr Waldbühnen-Konzert 2011 in letzter Minute ab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 4, 2011 20:54.

Innere Stimmen

Angst – Sirenen – Krieg

Innere Stimmen

Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022

Was passiert, wenn der Krieg real wird? Mona Winters Hörspiel Tot im Leben hatte gestern Abend, Freitag, den 29. April 2022 auf RBB Kultur seine Ursendung. Es wird nun in der Mediathek für ein Jahr verfügbar sein. Zwei Kriege werden von Mona Winter in ihrem Hörspiel besprochen: der Zweite Weltkrieg und der Syrienkrieg. Die Figur Gisi weiß vom Zweiten Weltkrieg nur durch die Erzählungen und Übertragungen der Mamá, deshalb kennt sie die Angst des Krieges, die Kriegsangst und möchte, dass sie vorbei ist. Die Figur Maya berichtet von ihren Kriegserlebnissen in Syrien seit 2011. Der Krieg in Syrien wird als Bürgerkrieg/Civil War verortet, obwohl Russland und die USA zutiefst involviert waren und sind. Am 25. April 2022 warnte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor einem dritten Weltkrieg und den Einsatz von Atomwaffen.  

Die Sirenen in Deutschland und besonders in Berlin wurden nach dem Ende des Kalten Krieges in den 90er Jahren abgebaut. Sirenen locken und töten in Homers Odyssee. Doch bereits am 21. März 2022 berichtete rbb24, dass in Berlin für den Katastrophenschutz als Lehre aus der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 und  hinsichtlich der „Ukraine-Krise“ bis zu 400 Sirenen auf Verwaltungsgebäuden installiert werden sollen. In Mona Winters Hörspiel jaulen die Sirenen auf. Sie warnen eröffnend: „Es passiert – Was soll man sagen? Glaub ja nicht, dass es vorbei ist – Ich komm über dich – Wann immer wo immer“. Die Rückkehr der Sirenen, die im Hörspiel nie wirklich weg waren, verletzen ein Sicherheitsgefühl der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Im Ahrtal hat ihre Abwesenheit zu Toten geführt. Sogleich wurde Tot im Leben wegen seiner unzeitigen Zeitlichkeit zum Hörspiel des Monats gewählt.

Als Bildmaterial werden in dieser Besprechung, das muss vorausgeschickt werden, Fotos vom Plötzensee mit der Freibad-Architektur aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eingefügt. Denn im Hörspiel spielt ein frühmorgentliches Schwimmtraining, zu dem Gisi von ihrer Mamá gezwungen wird, eine wichtige Rolle. Weiterhin werden Fotos von den Kriegsgräbern des Friedhofs Plötzensee eingefügt. Sie sind eine Recherche über die Eigentümlichkeit deutscher Kriegsgräber auf deutschen Kirchhöfen. Denn anders als bei privaten Grabstellen auf städtischen und konfessionellen Friedhöfen laufen die Nutzungsrechte nicht nach einer bestimmten Zeit ab. Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft unterliegen einem dauerhaften Ruherecht laut Gräbergesetz.
„Die heutige Opfergräberanlage befindet sich auf dem Gelände des (ehemaligen, T.F.) Neuen St. Paul-Kirchhofs. Sie besteht aus den alten historischen Feldern der Abteilung N und P, welche in den Jahren 1945 bis 1948 mit etwa 2.500 Toten in Einzel- und Sammelgräbern belegt wurden. Die Hälfte der Toten ist bis heute unbekannt.“[1]

Die Sirenen dringen in die Körper ein. Sie gehören seit langem zum Körper der Menschen. Jacques Lacan hat es einmal so formuliert: „Die Beziehung zum eigenen Körper charakterisiert beim Menschen das letztlich reduzierte, aber wahrhaft irreduzible Feld des Imaginären.“[2] Die auditive Verlockung, das Hörspiel, das schon die Sirenen Homers aufführen, dringt stärker noch in Odysseus‘ Körper ein als das, was er sieht. Der „süße Gesang“ der Sirenen dringt Odysseus so sehr in den Körper, beherrscht ihn, dass er „heißes Verlangen fühlt“ und seinen „Freunden Befehle“ gibt, ihn vom Mast loszubinden.[3] Was die Sirenen singen, wird von Homer nicht erzählt. Es geht einzig und allein um die auditive Wahrnehmung des Gesangs als süßen. Odysseus‘ Freunde haben sich zur Sicherheit indessen Wachs in die Ohren gestopft, reagieren nicht auf den „Gesang“ und die „Befehle“. Stattdessen rudern sie nur umso schneller an den gefährlich lockenden Sirenen vorbei.

Für Mona Winters Hörspiel empfiehlt es sich, die – warum nicht: homerische – Kluft zwischen dem Auditiven und dem Visuellen im Voraus zu bedenken. Visuell werden die Sirenen Mischwesen aus Tier und Mensch. Auf Vasenmalereien seit dem 5. Jahrhundert vor unserer europäischen Zeitrechnung werden die namenlosen Sirenen zu Vögeln mit Krallen und einem weiblichen bzw. bartlosen Profil.[4] Deshalb lässt sich sagen, dass sie Mischwesen aus Tier und Mensch, aus Mann und Frau sind. Die Figur der Mischwesen macht die Tiere menschlich und vice versa, ebenso wie Männer weiblicher werden und umgekehrt.  Sirenen lassen sich geschlechtlich zunächst schwer fassen und einordnen. Im 19. Jahrhundert erhalten ihre Körper weiblichere Züge. Der verzweifelte, eröffnende Ausruf der Sirene – „Es passiert – Was soll man sagen? Glaub ja nicht, dass es vorbei ist – Ich komm über dich – Wann immer wo immer“. – lässt sich denn auch nicht so genau als männlich oder weiblich von der Stimme her einordnen. Vielleicht am ehesten eine helle, jüngere Männerstimme. Und dann das Aufheulen der Sirenenmaschine. Mein Nachbar Hasan kennt die Sirenen aus dem Irakkrieg. „Dann kamen die Flugzeuge am Himmel.“

Serielle Grabsteine der Kriegsgräber auf dem Friedhof Plötzensee.

Sirenen sind Maschinen, die akustische Signale produzieren, die bei Mona Winter allerdings ebenfalls sprechen. Sie sind mit einem anderen Wort: Konfliktmaschinen. Sie warnen vor einem Konflikt und dienen Konflikten. Denn sie funktionieren im Hörspiel als eine Art Streitobjekt der Tochter mit der Mutter. Unterschiedliche Formen des Wissens treffen aufeinander. Gisi will sich aus dem Wissen von Krieg und Geschichte befreien. Wozu braucht man noch Sirenen? Wollten sich die Nachkriegsgenerationen nicht immer von den Kriegsgeschichten trennen? Haben die Geschichten von den Russen, die auf Katzen schossen und nach „Urke, Urke“ fragten oder so … und Uhren meinten, nicht enden wollen? Müssen Geschichten nicht irgendwann einmal – Verdammt noch mal! – enden? Es entsteht ein Wissenskonflikt. Oder kehren die Kriegserzählungen immer wieder?
Mamá      Früh genug, Gisi, wirst du dich daran gewöhnen.
GISI        An die Sirene?! Seh ich nicht ein. Ist das nicht alles schon mal passiert? Also unsere Geschichte. (Pause) Frage mich: Was kann die denn schon ausrichten?
MAMÁ   Sei ehrlich, wir brauchen sie! Immer wieder. Eine Kassandra …
GISI (verwirrt, aggressiv) Damit unser Leben wieder perfekt ist? Ehrlich…? Ach was… bitte, ich kapier nicht…also … das ist kalter Kaffee …Vielleicht könnte mir irgendeiner mal erklären …Unsinn…Total-Unsinn… Sag: wozu? …gerade eine Sirene?“[5]

Natürlich hat Mona Winter Tot im Leben nicht punktgenau für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen geschrieben. Vielmehr setzt das Hörspiel mit dem Syrienkrieg ein, der schon wieder aus den – „Pling!“ – News, Eilmeldungen von YouTube und Tagesschau – verschwunden war. Sogar die Flüchtlingskrise von 2015 war aus den Breaking News verschwunden. Nicht einmal die AfD interessierten 2021 Flüchtlinge besonders. „Corona“ bot ein größeres Erregungspotential. Aber auch das spielte dann zur Bundestagswahl im September 2021 fast keine Rolle mehr. Ebenso interessiert Putins Rede vom 24. März 2022 schon fast niemanden mehr.[6] „Pling!“ Stattdessen werfen sich die Meuten lieber auf einen Bundeskanzler, weil er nicht oft genug sabbelt. „Pling!“ Friedrich Merz, die Opposition sucht sich ihr Mütchen zu kühlen, schon lockt machtpolitisch „Pling!“ die nächste Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Newsfeed! So geht das Diskursgeschäft – „Pling!“. Schwere Waffen und zu allem Überfluss – „Pling!“ – Alice Schwarzer, sozusagen die Anti-Scholz, Frieden schaffen ohne Waffen. Die Sirenen machen heute „Pling!“.

Abt. N, in dem zwar noch Namen auf Stahlplatten stehen, aber das Einzelgrab in Reihen aufgelöst ist.

Das Hörspiel passt in der Weise, wie das „Pling!“-Gewitter heute keine Reflektion mehr zulässt, um die Angst selbst zu reflektieren. Woher kommen Ängste? Wann werden Ängste besonders wirksam? Müssen wir vor den Drohungen mit dem dritten Weltkrieg Angst haben? Die Reaktionen sind sehr verschieden, viele Menschen beginnen wegen der Nachrichten Lebensmittel, z. B. Sonnenblumenöl in Wohnzimmer- und Kleiderschränken zu bunkern. Wann löst die „Pling!“-Taktung eine lähmende Angst aus, fesselt? Hat sie das schon? Drohungen sollen Angst auslösen, damit sich die Verängstigten unterwerfen! Hilft denn dagegen gar nichts? „Gibt man sich zu sehr ihren Tönen hin, droht man sich in seinen Ängsten zu verlieren“, sagt Mona Winter. Töne sind noch keine Geschichte. Töne sind eher das maschinelle Jaulen der Sirenen und das „Pling!“-Gewitter, die Newsmaschine. Es geht um die ständige Wiederholung der Töne, des immer gleichen Tons: „Pling!“ Jeder Ton wird ein Befehl. Die geflüchtete Syrerin Maya berichtet indessen in O-Tönen davon, wie man die Angst gegen den Autokraten und Patriarchen Assad umdreht:
„Es ist wahr: In Syrien gab es eine Revolution. Eine echte. Ich meine… so eine ohne Propaganda. Menschen sind friedvoll auf die Straße gegangen. Wie in Belarus … wie im Libanon. Diese friedliche Gesinnung machte Assad mehr Angst als alles andere. Also schleuste er Agents Provocateure in die Demos. Natürlich um die Situation aufzuheizen, zu kriminalisieren.“

Der mütterliche Zwang zum Schwimmen nervt Gisi. Mona Winter spielt den Zwang zum Schwimmen in seiner faschistischen Dimension durch. Das Schwimmen selbst könnte Gisi vielleicht gar Freude bereiten. Doch es sind die Übertragungen der Zwänge der Mutter aus dem faschistischen Regime, die Gisis Widerstand einsetzen lassen. Mamá ist außer Stande, ihre eigene Zwanghaftigkeit zu überdenken. Die Zwänge beherrschen Mamá und ihre Generation. Sie finden sich sogar noch in viel jüngeren Generationen wie den 1933-Geborenen, die bis heute andauern und sogar noch gegenüber dem Verhalten der Enkel artikuliert werden. Die Autorin legt diese Zwanghaftigkeit frei.
„MAMÁ   Mach bitte kein Popanz draus! Wen wundert‘s, dass tausend Leute dann vor dir ins Becken
springen… tauchen (Pause) naja,sich ertüchtigen…und stählen …
GISI       Kaltwasser-Selbstertüchtigung? N‘en rosiger Gedanke…
MAMÁ     Tut mir leid, was soll jetzt schaden? Na, komm schon! Mach hin! Nichts simpler als einfach
mal zu schwimmen … (lacht) In kompletter Selbstertüchtigung … haha! Schwimmen…
schwimmen …
GISI       Wenn du meinst: …gegen den Strom.“

„Abt. N Reihe 15 Nr. 5 Walter Kirsten * 20. 9. 1907 gest. April 1945“

Die dramaturgische Montage, Formulierungen, Schlüsselworte als Auslöser in der Dialogregie, deckt nicht nur die Zwänge der Kriegsgeneration aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Vielmehr gelingt es der Autorin und Regisseurin so, die faschistische Struktur des Patriachats als Tyrannei des Assad-Regimes freizulegen. Maya erzählt Gisi quasi von ihrer Mutter. Faschismus heiße, „zum Sagen zwingen“, hat Roland Barthes einmal gesagt.[7] Er heißt, das Vorgeschriebene und Vorgesprochene zu sagen, zu wiederholen, damit es inkorporiert wird, zur eigenen Wahrheit des Körpers wird. Die Körperlichkeit des Schwimmens überschneidet sich an diesem Punkt.
„MAYA (lacht/ Syrien-Sounds) Gegen den Strom schwimmen … das klingt gefährlich in meinen Ohren …
Als ich fünfzehn war, entschied sich ja mein Vater zurück nach Syrien zu gehen. Seit den 70er
Jahren herrschte hier immer eine Diktatur. Wir erlebten die als Alltagstyrannei!
SIRENE      Schrei – Ich Zeder und Mordio
In jeder Sache, die man macht. Das fühlt man in der Schule. Man fühlt, dass der Diktator
überall ist. Auch in der Familie. Ehrlich gesagt, so etwas wie Freiheit … kannte ich nicht.
SIRENE    Schrei – Ich – Um dein Leben – Gehör zu finden – Für ein Leben – Ist keine Verführung – Kein
fauler Zauber“  

„IN DER REIHE 12 DER ABTEILUNG N RUHEN: … Sowie 25 UNBEKANNTE MÄNNER“

Das Hörspiel Tot im Leben recherchiert und inszeniert Geschichten, die Deutsche hätten hören können, wenn sie den Geflüchteten aus Syrien und dem Irak z.B. Gehör geschenkt hätten. Mona Winter gibt nicht nur den Geflüchteten eine Stimme, sie weckt die inneren Stimmen, die nur zum Schweigen gebracht worden waren. Wie wird in Deutschland geschwiegen? Es wird im Garten gesoffen, damit sich das Leben und die Sirenen nicht melden. Tot im Leben gibt einen Wink auf die Fremdenfeindlichkeit gar in Ostdeutschland. Vielleicht ging es dabei nie so sehr um das Fremde und Andere, als vielmehr um das Eigene mit seinen Sirenen. Denn die Zwänge und Reglementierungen in der DDR haben sich in die Körper eingegraben. Die Ambiguität des Eigenen wie z.B. in der DDR und die permanenten Sirenen machen es so schwierig, sich gegen das Jaulen zu wehren. Es kommt – ja – von Innen.

„IN DER REIHE 4 DER ABTEILUNG P RUHEN: …
SOWIE 22 UNBEKANNTE MÄNNER, 4 UNBKANNTE FRAUEN UND EIN UNBEKANNTES KIND“

Maya lehnt Hoffnung auf den Kollaps des Assad Regimes in Syrien ab. Gisi weiß nicht, was sie tun soll. Hoffnung ist trügerisch. Die Sirenen werden im Hoffen auf Ruhe nicht schweigen. Gisi lässt sich durch Mayas Erzählungen inspirieren. Denn es gibt eine Gemeinsamkeit der Regime auf der arabischen Halbinsel und in Russland. Diese Gemeinsamkeit lässt sich identifizieren jenseits der Propaganda als Sprachmaschine im Krieg. Ob es ein religiös verbrämtes oder laizistisches Regime ist, die Figur des Patriarchen wird von Assad wie Putin aufgeführt. Sie lässt sich in den durch Angst herrschenden Tyrannen oder Diktator transformieren. Sie sind beide zutiefst in ihre eigenen Zwänge verstrickt. Doch das ist keine Legitimation dafür, dass wir uns ihnen unterwerfen.
„MAYA    Ich lebe jetzt nicht in Syrien. So kann ich nicht sagen: Ich habe keine Hoffnung für Syrien. Die
Menschen, die in Syrien leben, haben Hoffnung. Das ist self-defence mechanism … Ich glaube,
es geht nicht über Hoffnung – für mich. Es geht über: WAS EIGENTLICH SEIN MUSS. Und
sein muss: dass diese Regierung raus aus der Macht geht. Jede Diktatur. Jede sexistische,
patriarchalische – RAUS! Und nur mit justice, die wir definieren. Und erreichen wollen … Und
dafür lebe ich …
HOFFNUNG BRINGT MIR NICHTS“

„DEN TOTEN DES WELTKRIEGES 1939-1945 ZUM GEDENKEN DEN LEBENDEN ZUR MAHNUNG UND VERPFLICHTUNG“

Das Eigentümliche der Sirenen als Mischwesen erregt nicht zuletzt den Zorn der Patriachen. Sie brauchen eine dichotomische Struktur von Mann oder Frau, von Mensch oder Tier, von Russe oder Ukrainer, um ihrer Macht Geltung zu verschaffen. Sie formulieren die Dichotomisierung gar als Natur. Das gilt für Kyrill I., Patriarch von Moskau und aller Rus, Baschar al-Assad wie für Wladimir Wladimirowitsch Putin. Kyrill I. hat die menschliche Vielfalt als Sünde und Abweichung vom „menschlichen Verhalten“ markiert.[8] Dabei geht es nicht zuletzt um eine geschlechtliche Hierarchie des Mannes über die Frau. Sexismus ist immer patriarchalisch. Wenn Männer sich auf der 56. Biennale von Venedig beschweren, dass die Urinale abgedeckelt wurden, dann gibt es einen Wink auf eine peniszentrierte Welt. Auf einmal werden Praktiken des Mannes und des Mannseins spürbar, weil sie vereitelt werden. Die Kunstbiennale ist sicher nicht der schlechteste Ort, um Praktiken zu hinterfragen. Mona Winter jedenfalls hat mit Tot im Leben genau hingehört, um hörbar zu machen, was nicht in die Geschichten vom Krieg passte.

Torsten Flüh

Mona Winter
Ursendung
Tot im Leben
mit Patrycia Ziolkowska, Kristof van Boven, Oda Thormeyer, Jörg Pose, Mariana Karkoutly u.v.a.
Regie: Mona Winter
Musik: Bülent Kullukcu
Nächste Sendung auf rbbkultur 01.05.2022 14:00 Uhr
Mediathek/Archiv


[1] Infotafel: Friedhof am Plötzensee – Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Berlin 2014.

[2] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.

[3] Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 236. (Deutsches Textarchiv)

[4] Siehe Wikipedia: Odysseus und die Sirenen (Vasenbild, ca. 475–450 v. Chr.)

[5] Mona Winter: Tot im Leben. Berlin 2022.

[6] Siehe zum Angriffskrieg und Präambel der UN-Charta: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.

[7] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1980, S. 19.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.

Das Phallus-Paradox der Homophobie

Männerbild – Patriarchat – Prozesstexte

Das Phallus-Paradox der Homophobie

Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2

Im Rahmen von Я выхожу!” Berlin trifft Minsk fand am 21. April 2022 die Premiere der Produktion P for Pischevsky statt. Russisch können eher wenige Deutsche lesen. Я выхожу! heißt Ich gehe raus! Es ist ein Romantitel von Raman Bandarenka, der am 12. November 2020 von Anhängern des Lukaschenko Regimes getötet wurde. So ganz weiß der Berichterstatter dann trotzdem noch nicht, um welchen Ausstieg es genau geht. Der aus der belarussischen Gesellschaft, indem man einen Nachtclub in Minsk besucht, um sich über den belarussischen Alltagsstress hinwegzuraven? Als Raver stylt man sich, konsumiert schon mal ein Pils oder eine Pille und raves, was im Englischen mit rasen ebenso wie delirieren und tanzen in Verbindung gebracht wird. Kurz: Rave ist eine Praxis des Ausstiegs. Mikhail Pischevsky war bis Mai 2014 Raver und verstarb an den Folgen einer homophoben Attacke am 15. Oktober 2015 in Minsk.

Rave wird insbesondere in Belarus/Weißrussland als politisch praktiziert und mit dem Hashtag #musikwaffe versehen. Anna Fillipova formulierte am 11. September 2020 auf www.gq.ru: „Rave ist eigentlich die Waffe des Proletariats im 21. Jahrhundert.“ Die „Waffe des Proletariats“ gibt zumindest von der Lexik zu denken. Die Künstlerin Nadzia Sayapina propagierte im November 2020 „Rave statt Erntedank“.[1] Am 16. Oktober 2020 fand im ukrainischen Kiew in der Bar Chwiljowi eine Art „politischer Rave“ von Belaruss*innen im Exil statt.[2] Der Berliner Premiere im HAU ging am 17. Januar 2021 das Streaming von P for Pischevsky voraus. Anders gesagt: die Premiere im HAU2 war nicht nur tief verflochten mit der Pandemie, den Protesten in Belarus zwischen 24. Mai 2020 und 25. März 2021, sowie Fluchtbewegungen in die Ukraine nach Kiew, vielmehr ist sie jetzt auch mit dem Angriffskrieg des homophoben Wladimir Wladimirowitsch Putin verknüpft. Am 30. April gibt es die nächste Aufführung von P for Pischevsky in Dresden-Hellerau.

P for Pischevsky ist eine Art postdramatisches Dokumentartheater mit Rave und DJ Gleb Kovalski. Doch getanzt wird nur auf der Bühne von den Performer*innen Maryna Shukiurava, Oliver Bennett und Jos McKain. Gleb Kovalski aus Minsk kommt schließlich mit seinen meterlangen Haaren in hochhackigen Lacklederstiefeln und kleinem Schwarzen auf die Bühne, um den Text der Verteidigerin im Mordprozess gegen Lukaschewitsch, den homophoben Angreifer Mikhail Pischevskys, zu verlesen. Gleb Kovalski hat einen Instagram Account und bewegt sich genderfluid zwischen Minsk, Kiew und Berlin. Ihre/seine techno mixes & live set recordings wie MOONSISTERS24h können durchaus an die frühen Electronic Works von Éliane Radique erinnern.[3] P for Pischevsky ist nicht zuletzt queeres Rave-Theater. Die Texte aus dem Prozess um den Tod Pischevskys werden zu einer Waffe gegen die politische – homophobe – Justiz des Lukaschenko-Regimes umgewandelt. Indem Homophobie von der Richterin nicht als Tatmotiv genannt und anerkannt wird, leugnet sie regimegetreu diese.

Gleb Kovalski ist als queerer oder genderfluider DJ und Sound Designer hinter dem Publikum nicht nur für den Sound zuständig. Vielmehr sind Rave und DJ, das Musikmachen mit der geschlechterunterwanderden Praxis die Hauptakteure, soweit es bei einem 4- bzw. 5-Personenstück überhaupt Nebenrollen geben kann. Susanne Sachsse wird mit ihren Textpassagen als Video-Projektion auf dem Vorhang eingespielt. Maryna Shukiurava tanzt und singt Klagelieder. Wäscht den Körper des Sohnes im Koma. Sie spricht auch die Mutter auf Russisch. Wiederholt tanzen die Performer*innen ekstatisch kurze Passagen zur Musik von Gleb Kovalski. Lichtblitze zucken. Misha Ksiushina schaltet Live-Visuals von der Bühne auf den Vorhang. Der homophobe Angreifer im Trainingsanzug, Lukaschewitsch, trainiert seinen Körper. Es geht viel um Körper, Körperlichkeit und der Performanz der Körper.

Auf dem halbtransparenten Vorhang wird ein Portrait von Pischevsky im Raver-Look projiziert. Es erscheinen auf diesem nicht nur technischen Vorhang auch die Protokolltexte in Russisch, Englisch und/oder Deutsch, je nachdem in welcher Sprache sie gerade nicht gesprochen werden. Der Vorhang funktioniert auch als visueller Raum des Imaginären. Akustisch gibt es einen permanenten Wechsel zwischen den drei Sprachen, was durchaus eine Herausforderung ist. Um die Texte ganz in der jeweiligen Übersetzung lesen zu können, werden sie zu schnell gesprochen. Der Vorhang wird nicht nur zur lichttechnischen Projektionsfläche von Erinnerungen, Portrait (Hanna Kruk), das sich auch Motion Graphics (Motis Studio, CHEAP) zusammensetzt oder Texten, er wird auch zu einem Zwischenraum, in dem das Imaginäre verhandelt wird.
„Da Lukaschewitsch offiziell arbeitslos ist, zahlt er eine Entschädigung von umgerechnet 3 EUR pro Monat. Das homophobe Tatmotiv wurde vom Gericht erneut geleugnet.“

© Dorothea Tuch

Die Prozesstexte als Stücktext werden so montiert, dass sie einander entlarven. Es sind vor allem die Texte der Richterin und der Verteidigerin von Lukaschewitsch am Schluss, die als paradoxe Rhetorik aufblitzen. Gleichwohl ist die regimegetreue Rhetorik der Richterin scharf wie ein Schwert. Der Angegriffene wird in einen Angreifer nicht zuletzt wegen seines Verhaltens als Raver verdreht. Aber die langen Textpassagen aus dem Prozess blitzen eher auf, als dass sie sich genauer bedenken ließen. Das liegt zunächst an der Mehrsprachigkeit, aber auch der Regie von Vladimir Shcherban. Die Prozesstexte, die so sehr in die Aufmerksamkeit gerückt werden sollen, fliegen delirierend vorbei. Dass allerdings Gleb Kovalski ausgerechnet das Plädoyer der Verteidigerin spricht, die jeglichen homophoben Hintergrund des Angriffs leugnet, lässt eine Kluft zwischen dem Text und seiner Performanz aufbrechen.

© Dorothea Tuch

P for Pischevsky handelt vom Körper und der Körperlichkeit. Denn die Körper gehorchen im Rave nicht dem Diskurs der (staatlichen) Macht. Sie gehorchen nicht dem Aufmarsch der Körper bei der Militärparade zum 9. Mai 1945 in Minsk im Pandemie-Jahr 2020. Zuckende, springende Körper gibt es bei keiner Militärparade. Die in Reih und Glied marschierenden Soldatenkörper symbolisieren nicht nur die belarussische Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und die zentralisierte Macht Lukaschenkos. Sie imaginieren vielmehr die Staatsmacht als funktionierenden Körper. Für die Minsker Rave-Szene und den politischen Protest wurde im Mai 2020 diese Körperlichkeit des Raves mit anderen Worten von Pascha Danko zum Thema.
„,Tagdessiegestagdesabsuden‘ ist eine ausschließlich kulturelle Veranstaltung von Gleichgesinnten des Kulturzentrums ,Korpus‘.
Im einzigen Land, das in einer so schwierigen Zeit eine Militärparade veranstaltet und priorisiert, ist es aus unserer Sicht die einzig mögliche Reaktion auf die Panzer in der Hauptstadt, diese Absurdität auf die Spitze zu treiben und der Angst ins Gesich zu lachen.
Mit diesem Video wollen wir weder jemanden beleidigen oder verletzen, noch das Gedenken an den Sieg am 9. Mai 1945 verhöhnen. Denken Sie daran: Panzer, Schusswaffen, Rauchen sowie der Verzicht auf Selbstisolation und soziale Distanz können Ihrer Gesundheit schaden“.[4]  

© Dorothea Tuch

Pascha Danko hat den Rave in die Dimension des Politischen für Minsk und Belarus in gerückt. Denn der Körper und seine geschlechtliche Performance war besonders im Oktober 2020 in Minsk politisch geworden. Und das hat bis heute nicht nachgelassen. Das Imaginäre des Körpers, wie Jacques Lacan davon gesprochen hat, entfaltet seine politische Kraft gegen die Doxa als vorherrschenden, geschlechtlichen Diskurs in Belarus wie Russland. In Berlin findet aktuell und mit der „pARTisankA-Party“ Ein Waldmarathon am 28. April ab 19:00 Uhr im HAU2 die „Party“ statt, die in Minsk, Kiew und Moskau zur Zeit nicht stattfinden kann.
„Beim „politischen Rave“ am 16. Oktober 2020 in Kiew waren Leute dabei, die sich vorher wahrscheinlich nicht als Fans dieser Kultur betrachtet hatten, keine politischen Aktivist:innen waren, keine Repressionen oder Angst davor erlebt hatten, die nicht in ein anderes Land geflohen waren, um sich psychisch zu erholen oder vorübergehend Zuflucht zu suchen, wie ich nach meiner Verhaftung, Leute, die nicht wussten, dass sie jemals Unterstützung ihnen unbekannter protestierender Belarus:innen tanzen würden. Einst als eine Art Protest mit Musik als Waffe entstanden, ist Rave nach und nach zu einer Massenerscheinung geworden, für alle möglichen Gesellschaftsschichten in verschiedenen Ecken der Welt attraktiv, notwendig und verständlich. Somit gehört er mittlerweile weder zur Untergrund- noch zur Elitekultur. Auch der belarussische Protest 2020 ist spontan, wenn auch nicht zufällig zu einer Massenerscheinung und monatelang zu einer Lebensweise vieler Menschen geworden.“[5]

Alexander Lukaschenko und Wladimir Wladimirowitsch Putin gehören seit Jahrzehnten zu jenen Politikern, die Homophobie in ihren Staaten als Programm propagieren. Geschlechtliche Vielfalt und geschlechtliche Wechsel gehören für sie zu kulturellen wie staatlichen Verfallserscheinungen, die aus dem als weiblich bzw. „weibisch“ markierten Westen als Schwächung bzw. mit den Worten aus der Kriegserklärung vom 24. Februar 2022 als „Entartung“, „Zersetzung“ und „gegen die menschliche Natur“ importiert werden. In der Transkription der Rede Putins in der ZEIT wurden diese entscheidenden Formulierungen ausgelassen[6], weil sie offenbar nicht als maßgeblich oder als redundant gelesen wurden. Indessen hat Deniz Yüzel in seinem Beitrag in der WELT diese Passage am 28. Februar zitiert und hervorgehoben. Qua Lexik oder Schlagworte wurde die Kriegserklärung homophob formuliert:
„In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört, jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“[7]

Deniz Yüzel hat die Schlagworte – „zersetzen“, „Entartung“ und „gegen die menschliche Natur“ – der relativ komplexen Syntax als von Putin im Kontext der Homophobie gebrauchte identifiziert. „HASS AUF HOMOSEXUELLE Die radikalen Putin-Sätze, die zu wenig Beachtung gefunden habe“ (Die Welt 28.02.2022) „(U)nsere traditionellen Werte“ als genuin russische Kultur werden von Putin als Identität postuliert, die vielfältige Geschlechtsoptionen ausschließt. Ohne die „traditionellen“ Geschlechterrollen anzusprechen, die in der Sowjetunion bzw. Sowjetkultur als Menschenbild gesprengt wie zugleich heteronormativ eingehegt wurden, spricht Putin einen Diskurs als eine Art russisches Sozial(ge)wissen an, das den sowjetkulturellen Kontext versteht. Paradoxerweise wurden Art und Natur der Geschlechter der Russen von Patriarch Kyrill I. dann auch noch mit seiner Predigt am Vergebungssonntag, dem 6. März 2022, bestätigt und quasi transzendiert.[8]  
„Patriarch Kirill painted the Russian invasion of Ukraine in more apocalyptic colors as a conflict “far more important than politics.”
“If humanity accepts that sin is not a violation of God’s law, if humanity accepts that sin is a variation of human behavior, then human civilization will end there,” send there.”[9]
(„Wenn die Menschheit/der Humanismus akzeptiert, dass Sünde kein Verstoß gegen Gottes Gesetz ist, wenn die Menschheit/der Humanismus akzeptiert, dass Sünde eine Variation des menschlichen Verhaltens ist, dann wird die menschliche Zivilisation dort enden,“)

Die „traditionellen Werte” gehen nicht nur in der Sowjetkultur auf, sie werden vielmehr vom KGB-Mann und Putin-Intimus Kyrill I.[10] in ein göttliches Gesetz verwandelt, so dass die Werte zur Religion werden. Kyrill I. hat im Namen des Gottesgesetzes (God’s law) die westliche Humanität wie den Humanismus der Aufklärung für Null und nichtig erklärt, wenn sie die „Sünde“ gegen das Geschlecht und die sexuellen Praktiken akzeptiert. Es geht also historisch nicht nur zurück ins 19. Jahrhundert, sondern ins fundamentalistische Mittelalter. Bemerkenswert ist die Dehnbarkeit des Begriffes Sünde (sin), die anspricht, was nicht ausgesprochen werden darf. „Variation“ und Diversität als Geschlechtervielfalt werden zur Sünde erklärt. Es geht dabei keinesfalls um eine Exegese des Alten oder/und des Neuen Testamentes als Texte, die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) längst zu einer anderen Auslegung gekommen ist, wie Bischof Dr. Christian Stäblein mit seiner Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen 2021 bekundet hat, vielmehr geht es um eine qua Amt – Patriarch – rein patriarchale Machtoperation. Was vermeintlich als Geschichte und Tradition in die Vergangenheit verlängert wird, konstruiert eine imaginäre Sünde als Zeichen des Gesetzesbruchs. Das Moskauer Patriarchat schafft sich seine Gesetze, um seine Macht zu installieren! – Der vielgeübte Versuch, Kyrill und Putin aus der Geschichte zu verstehen, erweist sich an dieser Stelle als eklatanter Fehler.

Kyrill I. wie Putin müssen permanent von „Degradierung“, „Entartung“ und der „menschliche(n) Natur“ nach einem Gesetz Gottes sprechen, um den Phallus aufzurichten. Sie postulieren dabei allererst, was „Natur“ ist. Wer allerdings derart psychotisch vom Phallus spricht und ihn mit Waffengewalt, ja, einem Angriffs- und Vernichtungskrieg verteidigen muss, gesteht zugleich ein, dass er imaginär da ist, ihn aber real nicht gibt. Putin wie Kyrills Reden und Predigten beschwören einen Körper als phallischen Männerkörper, als Gott wie auch als „unser Volk“, der sich einzig und allein als imaginär erweist. Jacques Lacan hat diese Formen des Redens als Psychose besprochen. Denn das Phallus-Paradox organisiert sich dadurch, das von etwas gesprochen wird, was Zeichen geworden ist.
„Auf eine allgemeine Weise ist das Material der eigene Körper. Die Beziehung zum eigenen Körper charakterisiert beim Menschen das letztlich reduzierte, aber wahrhaft irreduzible Feld des Imaginären. Wenn irgendwas beim Menschen der imaginären Funktion entspricht, wie sie beim Tier wirksam ist, so ist es all das, was ihn in elektiver, aber stets äußerst schwer erfaßbarer Weise zur allgemeinen Form seines Körpers in Beziehung setzt, wo dieser oder jener Punkt als erogene Zone bezeichnet wird. Nur die analytische Erfahrung hat erlaubt, dieses Verhältnis, immer an der Grenze des Symbolischen, in seinen letzten Beweggründen zu erfassen.“[11]  

Die Homophobie, die Wladimir Wladimirowitsch Putin mehrfach geleugnet hat, um ihr qua Gesetz eine nur umso mächtigere Form zu geben, gibt einen Wink auf „die menschliche Natur“, die göttlich sein soll und keinesfalls human, wenn man Kyrill I. folgen will. Das Zölibat in der Russisch-Orthodoxen Kirche und im Moskauer Patriarchat wäre ebenso zu bedenken. Durch das Zölibat als geleugnete Sexualität gelingt es den Popen überhaupt sich imaginär unter dem Phallus über die Menschen/Männer zu erheben. Das Kriegsverbrechen der Vergewaltigung kann dann als Sünde beim Popen als menschliche Schwäche gebeichtet und verziehen werden. Das Menschliche gibt es nur durch „God’s law“ bzw. durch den Patriarchen. Wird dieses Menschliche erweitert oder geschlechtlich fluid, greift es den Phallus selbst an. Die Angst vor dem Humanum wie dem Humanismus verteidigt ein Gesetz, das selbst nicht funktioniert. P for Pischevsky deckt die Sprachoperationen auf, die die Homophobie als Struktur der Macht bestätigen, indem sie geleugnet wird. Homophobie ist zutiefst im Körper des Mannes eingeschrieben, weil er ein normiertes Männerbild lieben muss. Anders formuliert: Putin und Kyrill haben Angst vor dem, was sie zu verteidigen suchen. Man kann das „unsere traditionellen Werte“, „unser Volk“ oder „menschliche Natur“ nennen.

Torsten Flüh

Ein Waldmarathon
pARTisankA-Party
HAU2
28. April ab 19:00 Uhr

Nebenan/Побач
Kunst aus Belarus
P wie Pischevsky
Hellerau Großer Saal Sa. 30.04.2022 21:30


[1] Zitiert nach: pARTisanka/HAU (Herausgeber:in): pARTisankA N°35, Berlin 2020, S. o.Seitenzahl (98).

[2] Ebenda S. 99.

[3] Zu Éliane Radique siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[4] Pascha Danko zitiert nach: pARTisanka/HAU (Herausgeber:in): pARTisankA … [wie Anm. 1] S. 100.

[5] Ebenda S. 100-101.

[6] Die Rede von Wladimir Putin im Wortlaut. In: Die ZEIT 24. Februar 2022, 5:59 Uhr.

[7] Zitiert nach: Sabine Hannakampf, Christian Knuth: Kriegsgrund Schwulenhass: Patriarch Kyrill I. stützt These von Deniz Yücel. In: männer* vom 9. März 2022.

[8] Ohne Autor: Russian Church Leader Appears to Blame Gay Pride Parades for Ukraine War. In: The Moscow Times March 7, 2022.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. zur Funktion von Kyrill I. auch: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[11] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.

Kraft des Gedenkens

Gedenken – Trauer – Lied

Kraft des Gedenkens

Zum Gedenkkonzert Quand on n’a que l’amour und der Aktion Kinder brauchen Hoffnung

Am 7. April 2022 veranstaltete der dänische Tenor Mads Elung-Jensen mit den Goldvögeln in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Gedenkkonzert. Geplant war dieses Konzert wohl zunächst zum Gedenken an alle Menschen, die wegen der Pandemie Leid und Trauer erfahren. Doch nun wurde es ebenso den Menschen gewidmet, die wegen des Krieges in der Ukraine Leid und Trauer erleben. Das Gedenken der Menschen in Berlin und fast überall auf der Welt wird auf einmal durchkreuzt vor allem von zwei unterschiedlichen Beweggründen: Pandemie und Krieg. Die ökumenische Karfreitagsprozession von der evangelischen Kirche St. Marien am 15. April kreiste mit ihren Lesungen um das Thema Einsamkeit, weil die Covid-19-Pandemie viele Menschen mit Isolation und Einsamkeit konfrontiert hat.

Eine Aktion kann auch eine Form des Gedenkens sein. Noch bis zum 19. April findet an der Auferstehungskirche in der Friedensstraße von Berlin-Friedrichshain die Aktion „Kinder brauchen Hoffnung“ statt. Sie wurde am 12. April mit einem Friedensgebet und einem Infostand in der Kirche mit Edeltraudt Pohl und Christine Cyrus eröffnet. Am Ostersamstag findet um 20:00 Uhr eine Lesung von Gedichten aus der Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina Die verlorene Harfe auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch statt. Vor der Kirche sind Kinderwagen und Kinderspielzeug installiert, die in den ukrainischen Farben eines blauen und eines gelben Streifens angemalt sind. Zu den Toten und vom Tode bedrohten Menschen in der Ukraine gehören Babys, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Schon am 21. März meldete die Ukraine 115 getötete Kinder.

Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt das Gedenken als ein „verstärktes denken“.[1] Ansonsten wird es vielfältig und variabel gebraucht. Es lässt sich schwer festlegen. Das Gedenken überschneidet sich mit dem Denken und wurde häufig auch mit dem Gedächtnis gleichgesetzt. Ohne weiteres gibt es in Deutschland eine Gedenkkultur der Gedenktag und der Gedenkstätten. Insofern die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche schon dem Namen nach der Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. gewidmet wurde, wird an ihr gar ein sich überlagerndes Gedenken praktiziert. Denn der vom Zweiten Weltkrieg ruinierte Turm der alten Kirche wurde zum Gedenken an den Krieg und seiner Opfer stehen gelassen, was sich bautechnisch als äußerst prekär erwiesen hat, weil es wohl kaum etwas Schwierigeres und Aufwendigeres gibt, als Ruinen zum Gedenken zu erhalten. In Europa und insbesondere in Deutschland hat sich seit 1945 eine weltweit einzigartige Gedenk- wie Erinnerungskultur entwickelt. Aber niemals zuvor wurde das Gedenken an Krieg und Pandemie derart überlagert wie jetzt.

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist ein besonders prominenter Gedenkort. Nicht nur das dynastische Gedenken an den Gründer des Deutschen Kaiserreichs, Wilhelm I., wurde hier seit dem 1. September 1895 gestaltet. In der Gedenkhalle des alten Turms des heutigen Ensembles wurde in Mosaiken das Gedenken an den verstorbenen Kaiser wie die Reichsgründung in Bildern visualisiert. Oder auch andersherum: Die prunkvollen Bilder sollten das Gedächtnis erzeugen. Die Turmruine wurde nach 1945 zum Mahnmal gegen den Krieg weltweit und insbesondere gegen den Angriffskrieg des Deutschen Reiches auf Polen 1938 und die Sowjetunion 1941. Die Gedenkhalle wurde so umgewidmet mit dem Nagelkreuz von Coventry als Geschenk. Denn dort hatte am 14. November 1940 die deutsche Luftwaffe die Kathedrale bombardiert und zerstört. Doch am 19. Dezember 2016 kam es auf dem Breitscheidplatz zum Anschlag des islamistischen Terroristen Anis Amri mit einem Sattelzug. 13 Personen starben auf dem Weihnachtsmarkt. Seit 2017 gibt es das Mahnmal der Riss auf den Treppen zur Kirche.   

Die Einzigartigkeit des Gedenkens in diesen Tagen und Wochen muss erst einmal realisiert werden. Am 18. April 2021 fast genau vor einem Jahr fand in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und anderen Orten in Berlin das zentrale „Gedenken für die Opfer in der Corona-Pandemie“ statt.[2] Obwohl seither ungleich mehr Menschen an Sars-Cov-2 verstorben sind – gestern, Gründonnerstag, wurden 309 Todesfälle gemeldet –, wird ihrer aller Voraussicht nach nicht extra auf höchster politischer Ebene gedacht werden. Das Gedenken geschieht entweder zu früh oder spät. Es ist allerdings wohl niemals zu spät, einem oder mehrerer Menschen zu gedenken. Doch diese Art des unzeitgemäßen Gedenkens ließ sich gar im Gedenkkonzert der Goldvögel spüren. Mads Elung-Jensen hatte mehrere Texte während der Pandemie und des Lockdowns geschrieben, die von Matt Long in eine eindrückliche, nuancenreiche Musiksprache eingebettet wurden.

Die Goldvögel – Rolando Guy, Mads Elung-Jensen, Daniel Wendler, Matt Long – kennen sich mit der musikalischen Gestaltung von Trauer aus. Von Juli bis September 2021 veranstalteten sie fünf Konzerte zu Trost und Trauer in der Kapelle des Friedhofs der Friedrichwerderschen Gemeinde an der Bergmannstraße in Kreuzberg. Trauer hat für Mads Elung-Jensen etwas mit dem Erzählen von Trennung, Verlust und Leere, aber auch mit Liebe zu tun. But Broken Lovely ist mir Matt Longs Komposition zu einer Art Melodram geworden. Gefühle werden um das Wort Liebe und den Verlust durchgespielt. Der Liederzyklus Das rote Haus mit Der innere Saboteur, Das schwarze Loch, Die alte Wunde und Leg Deinen Panzer weg verarbeitet die Gedanken und Emotionen, die durch den ersten Lockdown im März 2020 und den weiteren Verlauf der Pandemie ausgelöst wurden. Sie mögen bei jeder und jedem anders gewesen sein, aber die Überraschung und die Härte des Ereignisses sind bislang selten formuliert worden. Jetzt, quasi zu Beginn des dritten Jahrs der Pandemie kam Das rote Haus zu Uraufführung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Suizide, die vom Lockdown ausgelöst wurden oder als Corona-Suizide öffentlich verhandelt worden sind. Die Rede von den Corona-Suiziden vom Mai 2020 ist fast völlig vergessen.[3] Wer will sich heute noch daran erinnern, dass Suizide im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu einem Argument für Corona-Gegner wurden?! Es gab derartige Zuspitzungen, die allerdings nie in größerer Quantität bestätigt werden konnten, während im dritten Pandemie-Jahr mit Impfstoff und besseren Behandlungsmöglichkeiten über Wochen täglich zwischen 200 und 350 Menschen in einer hochentwickelten Informationsgesellschaft sterben. 2020 ging es um einzelne Suizide. Mads Elung-Jensen formuliert in Der innere Saboteur wie die Ausnahmesituation des Lockdowns einen Menschen mit seinen Abgründen konfrontiert. Das erinnert an den titelgebenden Chansonier Jacques Brel, der eine Art Diskurs der abgründigen Liebe wie in Quand on n’a que l’amour oder Ne me quitte pas entwickelte, die zum Programm gehörten. Das „feine() rote() Haus“, das sich ein Mensch „selbst gebaut“ hat, erweist sich als brüchig. Er muss sich mit seinen Zwängen auseinandersetzen.

Der Liederzyklus Das rote Haus besticht in seiner musikalischen Ausgestaltung durch die Stimmungswechsel in einer fast an Franz Schubert erinnernden Härte. Ein Du wird mit sich und seinen Verhaltensweisen konfrontiert. Das funktioniert nicht nur hinsichtlich der Erfahrungen in einer Pandemie, vielmehr gewinnt Das schwarze Loch eine allgemeinere Bedeutung der Selbstbefragung. Der Lockdown wird eher zum Auslöser der Zweifel an der Lebenspraxis und der Selbstbefragung ebenso wie der Ermutigung zur Verhaltensänderung, als dass er deren Ursache wäre. „Liebes Kind, du schaffst es doch.“ Traumatologisch wird Die alte Wunde angesprochen. Das „verstärkte Denken“ findet als ein rasendes Drehen im Kopf statt. Da erinnert viel an Schubert, den der Liedsänger kennt. Traum- wie Traumabearbeitung mit Schubert, sozusagen:
„Im Kopf da dreht’s
lass es nun raufen,
so wie es will
an diesem Tag.“[4]

Die Erfahrung des Lockdowns als radikale Isolation mehr als die der Pandemie – oder gehören sie traumatologisch doch zusammen? – setzen bei Elung-Jensen einen kathartischen Prozess in Gang. Leg deinen Panzer weg pendelt zwischen Zuversicht, Angst und neuem Leichtsinn. Vielleicht war das im Sommer 2021 nach der ersten Impfung schon das Gefühl, dass die Pandemie beherrschbar werden könnte und frau/man sich nun wieder unter Menschen begeben könnte und sollte. Der zweite Lockdown im Frühjahr 2021, in dem zum zweiten Mal das Osterfest nun wegen besonders hoher Infektionszahlen fast gänzlich ausfallen musste, hatte dazu geführt, dass sich viele Menschen einen emotionalen „Panzer“ zulegten. Das war nicht einfach, sich nach der wiederholten Isolation zu öffnen.
„Du sitzt so still und
schaust hinaus,
du kennst dich gar nicht mehr,
kein Rauschen schrill
kommt in dein Haus,
wüst scheint es grad und leer.“

Die Goldvögel haben eine queere Gedenkkultur mit ihrem Konzert entwickelt. Denn die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche liegt nicht nur unweit der Schöneberger Schwulenszene. Rolando Guy, Daniel Wendler, Mads Elung-Jensen und Matt Long haben während der Pandemie auch für sie sehr untypische Formen der Isolation erlebt. Hinzukommt, dass sie als Schwule wie z.B. Roland Schernikau hinlängliche Erfahrungen mit der AIDS-Pandemie, Isolation und Ausbruchspraktiken gemacht haben. Doch bei vielen Ähnlichkeiten verlief diese gänzlich anders mit weitaus weniger Infektionsfällen. Dennoch führte sie ebenso zur Isolation für die meisten Infizierten, die zunächst von Peter Gauweiler und Horst Seehofer in Bayern in Camps isoliert werden sollten. Zwischen Jacques Brel, Francesco Paolo, vielen anderen und Edith Piaf haben sie eine queere Form des Gedenkens aus der Szene heraus entwickelt. Großartige Performer mit Stimmmaterial und Eigeninitiative. Zum Gedenkkonzert steuerte Erling Viktor minimalistische Kathedralen in schwarzer Tusche bei.

An der Auferstehungskirche nimmt das Gedenken andere Formen an. Hier steht das Entsetzen über die Bedrohung der Kinder während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Mittelpunkt. Kinder brauchen Hoffnung erinnert sowohl an die getöteten Kinder als auch an die besondere Hilfsbedürftigkeit von Kindern, die in einem Krieg traumatisiert werden. Klaus-Dieter Ehmke hatte spontan die Idee, Kinderwagen, Koffer und Kinderspielzeug zu sammeln, mit blauen und gelben Streifen zu versehen und vor der Kirche an mehreren Orten zu platzieren.

Ad hoc ist ein Programm für die Karwoche und Ostern entstanden, das seinesgleichen sucht. Gründonnerstag haben bereits Geflüchtete aus Kiew über ihre Flucht berichtet. Für Ostersamstag ist nachmittags Basteln von Friedenstauben und das Anmalen von Ostereiern mit Kindern geplant. Am Ostersonntag hat die Organistin Martina Kürschner mit der jungen Anne Macauley ein Konzert um ein Kinderlied herum vorbereitet.

Frohe Ostertage

Torsten Flüh

Kinder brauchen Hoffnung
Auferstehungskirche

17.04. Nach dem Ostergottesdienst behängen Kinder die Objekte mit Friedenstauben
            20:00 – 21:00 Uhr Musik in der Kirche:
            Konzert um ein Kinderlied herum
            Anne Macauley und Martina Kürschner
18.04.  20:00 -21:00 Uhr Musik in der Kirche: „Verwandlung“
19.04.  18:00 Uhr Friedensgebet mit Pfarrerin Marlén Reinke
            20:00 – 21:00 Uhr DANKE-Schön-Essen als Finissage für alle.

Die Goldvögel

Künftige Termine des Quartetts unter: Mads Elung-Jensen


[1] Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: GEDENKEN.

[2] Siehe Bundesrat: 18.04.2021: Gedenken für die Opfer in der Corona-Pandemie. (online)

[3] Torsten Flüh: Wissen um den Tod. Zum Suizid und Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juli 2020.

[4] Matt Long/Mads Elung-Jensen: Das rote Haus. Zitiert nach Programmzettel vom 7. April 2022.

Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne

Propaganda – Bücherverbrennung – Russland

Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne

Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat

Am 28. März 2022 wurde Propaganda zum DWDS-Artikel des Tages[1] erklärt. Seit Anfang der 50er Jahre war der Gebrauch des Begriffes bis in die Nullerjahre des neuen Jahrtausends ständig gefallen, um auf eher niedriger Gebrauchsfrequenz bei knapp unter 5 je einer Million Tokens zu verharren. Mit den Reden von Wladimir Putin am 21. und 24. Februar 2022 hat der Gebrauch des Begriffs einen kometenhaften Anstieg erfahren. Die Suchkombination „Putin Propaganda“ zeigt jetzt (9. April 2022, 20:02) bei Google 111.000.000 Treffer innerhalb von 0,50 Sekunden an. Vor drei Tagen waren es noch ca. 2 Millionen weniger. Zugleich verschiebt sich der Begriff der Propaganda von einem ideologischen Kontext zu einem Modus der permanenten Wiederholung in einem Krieg der russischen Falschmeldungen und Drohungen.

Putins Reden zeichnen sich durch einen permanenten Modus der Wiederholung und kühne Montagen aus. In seiner Rede vom 24. Februar beginnt Putin damit, was er bereits am 21. gesagt hatte und betont diese Wiederholung, als solle sie Kontinuität und Kausalität herstellen. Vielfach wurden die Reden auf ihre Ideologie hin gelesen und gar als Putinismus diskutiert. Doch als Ideologie taugen die Reden wenig, wenn man sie wie den Leninismus-Stalinismus in den 1920er Jahre als „proletarische Ideologie“ gebraucht, die die sehr subjektive Triebkraft der proletarischen Revolution ausmachte, worauf Slavoj Žižek Anfang der 90er Jahre einmal mit dem „Spectre of Ideology“ hingewiesen hat.[2] 2022 ist alles anders. Die Praxis der Montage im vermeintlich freien und spontanen Sprechen Putins gibt vielmehr einen Wink auf solche der – postmodernen – Literatur, die Narrative wie bei Vladimir Sorokin auf ironische Weise montiert und dekonstruiert, um ihren Aberwitz offen zu legen. Bei Sorokin wird eine Bücherverbrennung ironisch und abgründig – bei Putin stumpfsinnig.

Vladimir Sorokin hat in seinem Text Манарага 2017 (Manaraga) den Begriff Bücherverbrennung nicht gebraucht. Womöglich hat Wladimir Putin indessen von diesem skandalösen, „postmodernen“ Buch gehört, vielleicht es gar heimlich gelesen, als er behauptete, in Deutschland, in Berlin werde russische Literatur verbrannt. Das Tagebuch eines Meisterkochs, so der deutsche Untertitel, beginnt mit dem „13. März“ eines zunächst ungenannten Jahres, das in einer nicht allzu fernen Zukunft liegen könnte. Die illegale Gourmet-Mode „Book `n΄ Grill“ ist ausgebrochen, so dass der Meisterkoch zur Eröffnung eine Erstausgabe von Fjodor Dostojewskijs Roman Der Idiot verbrennt, um „Schaschlyk vom Stör“ zu grillen.[3] Der Koch spricht „leidlich Französisch, Deutsch und Bayrisch“, hat aber mit „dem mündlichen Russischen … Probleme“[4], weshalb eine deutsche Herkunft trotz seines ungarischen Vornamens Géza und seines russisch-klingenden Nachnamens Jasnodvorskij wahrscheinlich ist. Für seine „Lesung(en)“ hat er sich indessen auf russische Literatur verlegt.[5] Bei den Lesungen verbrennt er vorzugsweise antiquarische Ausgaben russischer Literatur aus „Bibliomuseen der Welt“.[6]

Das Verbrechen der Bücherverbrennung dient Vladimir Sorokin auf subtile Weise nicht dem Hass auf Bücher und/oder ihrer Autoren, sondern dem gastrophilen Genuss. Dafür liest und „verbrennt“ Sorokin montageartig Georges Feydeaus schwankhaft-groteske Komödie Der Floh im Ohr von 1907 und Ray Bradburys mehrfach zitierten Science-Fiction Fahrenheit 451 (z.B. S. 118) von 1953, in dem ein Staat verboten hat, Bücher zu besitzen und zu lesen. Dieses Verbot ist in Manaraga nicht mehr nötig, weil die „Gutenberg-Epoche (…) passé (ist), die Elektrizität (…) den Sieg davongetragen (hat)“ und „die Menschheit aufhörte, Bücher zu drucken, und nur die besten der vorhandenen in den Rang von Museumsstücken erhob“.[7] Was in der Literaturgeschichte zur Praxis der Ordnung von Literaturen gehört, „die besten … in den Rang von Museumsstücken“ zu erklären, hat im Roman konkrete Folgen. Die Ambiguität der Praktiken wird en passant freigelegt. Sorokin gebraucht Worte wie „lesen“ oder „Lesung“ ebenso anders wie zynisch. Russland und Russisch sind im „Postsowjetrussland“ aus der Mode gekommen, weshalb russische Meisterköche englische Roman verbrennen:
„Doch da die Russen nun einmal ihrer alten Ordnung verlustig gegangen waren, fanden sie sich in die neue Lage schnell hinein – und arrangierten sich nicht schlechter als andere, das muss man ihnen lassen: drei berühmte Book-`n΄-Grill-Meisterköche, die ausschließlich auf englischen Romanen grillen – unter ihrem russischen Namen.“[8]      

Sorokins Montagetexte sind, um im Bild zu bleiben, messerscharfe Gegenwartsanalysen der russischen Gesellschaft in ihrer globalen Verflechtung. Seine Texte lesen, heißt Russland lesen lernen. Die Weltgemeinschaft der „Book-`n΄-Grill-Meisterköche“ wird aus der subjektiven Haltung eines von ihnen, Géza Jasnodvorskij, als internationale, hochkriminelle Mafia beschrieben, in der eben auch Russen „mitlesen“. Um an die Bücher als „Scheite“ zu gelangen, müssen die „Meisterköche“ kriminell handeln und mit gewalttätigen Antiquaren Geschäfte machen, als werde mit Rauschgift im großen Stil gedealt. Dabei geht es um sehr viel Geld – „10 000 Pfund für den Abend“ –, so dass Sorokin Narrative der Kriminalliteratur nutzt.
„Ich blättere und sage: »Hoffentlich diesmal ohne Körperverletzungen?«
»Mach dir keine Hoffnungen, Géza!«, lachen die beiden.
»Ach. Ist wieder Blut geflossen?«
»Ein paar Nierenschläge, das ist alles.«
»Tz-tz. Musste das wieder sein …«
Erstaunlich, dass es immer noch einzelne Leute gibt, die das Buch hochhalten.“[9]

Seit Manaraga ist das Verbrechen der Bücherverbrennung ironisch und gesellschaftskritisch im 21. Jahrhundert als Gourmet-Trend angekommen. Gourmet-Trends sind schick und teuer geworden. Literaturen transportieren keine Ideologie mehr, sondern werden nach „Gewichtsklasse(n)“ abgemessen. – „Vollwertiger Roman, mittlere Gewichtsklasse: 720g, 509 S., Velinpapier, Ganzleinen. Ausreichend für acht Spieße.“[10] – Auf der Zunge der Gourmets zergeht die Literatur nun nach den knallharten Gesetzen des Marktes, der Kenner der Gerüche – „Die früheste Turgenjew-Gesamtausgabe riecht nach eingelegtem Obst. Der Gesammelte Dostojewski nach Teer, Tolstoi wiederum nach Apfelpastillen, mit Bärengalle versetzt.“[11] – und der Flammbarkeit des Druckpapiers bei ca. 451° Celsius(!), die Meisterköche hervorbringen. Die „Molekulartechnik“ erinnert nicht von ungefähr an die Molekularküche von Ferran Adrià. Géza hat sich seinerseits 3 Flöhe, gekauft, die ihn mit unterschiedlichen Wissensformen informieren.
„Wobei das mich betreffende Monstrum doch sehr viel weiter nördlich von hier seine Höhle hat: im Berg Manaraga. Ein schöner Berg. Manaraga heißt Bärentatze auf Nenzisch, so hat mich der Floh informiert. Passt! Ein steinerner Bär, der dem Himmel droht. Der Großen Küche, genauer gesagt. Und unsereins soll ihn erlegen …“[12]

Das Bild des Bären als Imagination Russlands kehrt in den Texten Sorokins mehrfach wieder. In Manaraga ist er zu einem „steinerne(n) Bär(en)“ geworden, „der dem Himmel droht“, wie der sowjetische Monumentalsoldat von Lew Kerbel des Sowjetischen Ehrenmals über dem Massengrab der Soldaten am Brandenburger Tor in Berlin von 1945. Monstrum, Berg und Bär verschmelzen in der Tagebucheintragung vom 25. März. Nach Dirk Uffelmann pflegt Sorokin in Manaraga „einen islamophoben Diskurs, den die Autorinstanz weder als gut oder schlecht noch als gerechtfertigt oder xenophob bewertet“.[13] Die Islamophobie des Tagebuchschreibers als Meisterkoch ist eine spezifisch russische, die sich nicht einfach als eine mit der Globalisierung verwandte Angst abgleichen lässt. Uffelmann sieht eine narrative Kluft zwischen dem „ausschließlichen Denken des Erzählers in Kategorien von russischer Kultur und Nationalliteratur“ und „der postdystopischen Welt von 2037“.[14] Die nationale und kulturelle Unbehaustheit zeigt sich an der Figur des Tagebuchschreibers Géza Jasnodvorskij, dass er wohl russische Literatur „liest“ in dem Doppelsinn von verbrennen und verstehen, aber kaum russisch spricht, obwohl sein Text in Russisch geschrieben wird. Im Ergebnis diagnostiziere Sorokin „die reaktionäre, globalisierungskritische und islamophobe Litanei seines Icherzählers als xenophob, paradox und selbstzerstörerisch“[15], schreibt Uffelmann. Man könnte dies heute eine Vorstudie zu Wladimir Putins Kriegspolitik von 2022 nennen.

Der in Moskau geborene Autor Vladimir Sorokin hat 2018 mit Zeichnungen von Ivan Razumov den Text Das weiße Quadrat[16] veröffentlicht, in dem in der gleichnamigen „Sendung“ mit vier Gästen das Russlandbild diskutiert wird. Der Text entwickelt sich aus einer postmodernen Montage unterschiedlicher Texte zwischen russischem Konstruktivismus wie Malewitsch, Quizshow, der antiken Schindung des Marsyas und Dostojewski. Er ist dem Theaterregisseur Kirill Serebrennikow gewidmet, der sich nach unbestätigten Meldungen zwischenzeitlich in Deutschland aufhalten soll, nachdem er Ende März 2022 in Moskau in einem politischen Gerichtsverfahren freigesprochen worden war.[17] Der Text spielt im Fernsehstudio in Moskau, auf dem verarmten Land, vor der Kirche des Heilkundigen Pantaleon, im Filmstudio, im Fernsehen und schließlich auf dem Roten Platz, auf dem Alex aus Stanley Kubricks Clockwork Orange schließlich einer Kolonne vorausläuft.[18] Text und Zeichnungen geben in der Kombination eine eigene Visualität ab. Noch bevor der Text beginnt, tritt ein Bär mit einer zaristischen Krone mit Kreuz und Pelzkrempe auf. Er spielt vor einem Publikum auf einem Akkordeon.[19]

Das Russlandbild im russischen Fernsehstudio wird zu einem Problem des Geschlechts. Während ein Moderator „die Staatsform“ als „eine föderative Demokratie (…) inklusive Präsident und Parlament“[20] voraussetzt, sollen 4 Gäste ihr Bild beschreiben. „Irina, Angestellte im öffentlichen Dienst, Juri, Soldat, Anton, Theaterregisseur, Pawel, Geschäftsmann“[21], sollen ihr eigenes Bild beschreiben. Die Frau aus dem „öffentlichen Dienst“ sülzt poetisch von Russland als Lied: „Ein russisches, ganz klein wenig trauriges, langes Lied.“[22] Der „Stör“ kommt in ihrer Erzählung als Pastetenfüllung vor. Der „Stör“ als Geschmackserinnerung verknüpft. Der Theaterregisseur Anton sieht dagegen „unser Land als riesige, gigantische, jedes Menschenmaß sprengende Laus. Steinhart gefroren und in tiefer Anabiose.“[23] Laus und Floh korrespondieren mit einander als parasitäre Menschenplagen. Für den Soldaten Juri „war Russland immer eine Art Höhle. Eine Höhle der Geheimnisse.“[24] Juri meint, es gehe „nicht nur um Gold, um Erdöl oder Gas. Russland ist reich an inneren Werten, also an dem, was es in sich hat, in seiner Seele. Das Geistige! Das ist unser größter Reichtum.“[25] Und für den Geschäftsmann Pawel ist Russland „immer mit der Vorstellung des Kampfes verbunden“. „Kampf ums Überleben, um einen Standpunkt, um Komfort, treue Freunde, die Liebe, nicht zuletzt ums Geschäft.“[26] Er ruft die „Sowjetunion“ als gemeinsame Erinnerung, als Gemeinsamkeit auf.

Das Geschlecht als Frage der Herkunft und Gemeinsamkeiten[27] wird in der russischen Fernsehsendung Das weiße Quadrat zum Streitpunkt zwischen dem Moderator, Pawel, Irina, Anton und Juri. Die Debatte spitzt sich zu, bis Pawel zu einem Punkt kommt, der zwischenzeitlich an erschreckender Aktualität gewonnen hat. Apple hat seinen Verkauf von iPhones in Russland eingestellt.[28] Pawel konnte 2018 noch sagen: „Das iPhone wird in Amerika hergestellt. Russlands Problem besteht darin, dass Mensch und Staat für sich existieren. Zwischen ihnen gähnt eine Kluft. Und sie wächst. Deshalb wird der Überlebenskampf von Jahr zu Jahr schlimmer.“[29] Die Gemeinsamkeiten der 4 Gäste im Studio und des Moderators sind beim Russlandbild kaum auszumachen. Aber sie haben ihre Herkunft aus der Sowjetunion, die in den Weltraum mit Juri Gagarin vorstieß, ein eigenes Internet entwickeln wollte und Atomwaffen konstruierte. Seit weit über 20 Jahren hatte es Russland 2018 nicht geschafft, an die Entwicklung westlicher Industrienationen anzuschließen. Stattdessen wurde das iPhone zum Statussymbol nicht nur für Fernsehmoderatoren wie dem in Das weiße Quadrat. Wo es kaum noch Gemeinsamkeiten gibt, muss ein Feind geschaffen werden.

Rhetorisch wird von Putin ein alter Feind im Innern propagandistisch recycled. Immer wieder wird vom Moderator der Talkshow die „Fünfte Kolonne“ ins Spiel gebracht, die wie „korrupte() Beamte()“ dem russischen Staat schadet. Der Begriff „Fünfte Kolonne“ ist äußerst beweglich und wird in Deutschland eher für eine „Fünfte Kolonne“ aus Moskau gebraucht.[30] Bernard-Henri Lévy sah im November 2015 Marine Le Pen als „Moskaus fünfte Kolonne“.[31] In Putins Russland wird er als bekanntes Zitat aus Stalins Zeit des Großen Terrors in den 30er Jahren gegen den ultimativen, inneren Feind verwendet. Der Staat muss von der „Fünften Kolonne“ und wer dazu erklärt wird, gesäubert werden. Die „Fünfte Kolonne“ formuliert und reproduziert ein totalitäres Phantasma der Reinheit.  
„Den verdeckten Regieanweisungen Stalins folgend und unter dem Beifall handverlesener Claqueure im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses schließt Wyschinskijs Tirade mit den Worten:
„Das genau ist diese Fünfte Kolonne, dieser Ku-Klux-Klan, die zerschlagen und erbarmungslos ausgerottet werden müssen! Ihr Spiel ist entlarvt! Die Maske des Verrats ist ihnen heruntergerissen worden! Erschießen, zerdrücken muss man dieses verfluchte Natterngezücht!““[32]

Vladimir Sorokins Das weiße Quadrat besticht dadurch, dass es als Montage aus Texten zu Russland exakt jene neuralgischen Bereiche anspricht, die mit der Erklärung des Angriffskrieges auf die Ukraine aufgebrochen sind. Kurz: Die Studiogäste bekommen „Weißen Pep“ gespritzt im Land des Psychopharmaka- und/oder Alkoholmissbrauchs, woraufhin sie nicht mehr wissen, was sie tun. Eine dionysische Orgie im Studio wird losgetreten. Die auch Porno ist und von Ivan Razumov so gezeichnet worden ist. Schließlich wird der Moderator auf das weiße Quadrat gebunden und gehäutet. Die Haut des Moderators wird aufgerollt und mit einer goldenen Krawattennadel zu einem Ring geformt, der dem Regisseur aus der Hand in den Schnee vor dem Studiofenster fällt, wo ihn schon eine Krähe stibitzt, die damit davonfliegt, als ihre Artgenossen sie verfolgen. Der Menschenhautring fällt auf einen Lastwagen, der 6 Stunden 18 Minuten damit auf der Jaroslawer Chaussee fährt… Auf dem Land herrscht so große Armut und Brutalität, dass Sascha nicht nur falschen Honig aus „Melasse, altem Honig und Stärke“[33] vor der Kirche des Heilkundigen Pantaleon als „rechtgläubige(n) Honig“[34] verkauft, vielmehr noch wird der Ring in einer Suppe gekocht und teilweise verspeist. 

Der verstörende Ring aus Menschenhaut als Inkorporation der Schrecken des 20. Jahrhunderts, als Medizinverbrecher in den deutschen Konzentrationslagern Verwertungsexperimente mit der Haut von Menschen, Juden, anstellten, wandert in Das weiße Quadrat wie das Ringlein von einem Ort zum andern. Neben Tauben fliegen auf der Schlusszeichnung Krähen und eine Elster mit dem Hautring samt golderner Krawattennadel über dem Roten Platz am Kreml. Das Titelbild gibt ein Zoomorpher mit Nashornkopf ab, über dessen Horn der Hautring mit Nadeln hängt. Zoomorphe spielen in den Texten von Sorokin wiederholt eine Rolle. Das Politbüro auf der Tribüne am Mausoleum ist zoomorph geworden. Das ist ebenso witzig wie schrecklich. Denn ein regulierendes Politbüro gibt es im Herrschaftsapparat von Putin nicht mehr. Die Trennung zwischen Mensch und Tier hat sich in den Zoomorphen offenbar verabschiedet. Humanismus gibt es mit den Kolonnen auf Roten Platz nicht mehr. Der Mensch, insbesondere als russischer, war schon im Fernsehstudio vor laufender Kamera zum Tier geworden. Ein Medieneffekt nur? Oder der unerbittliche Kampf ums Überleben, den Pawel artikuliert hatte?

In der Erzählung Lila Schwäne des Bandes Die rote Pyramide (2022) wird das Trauma der „Fünften Kolonne“ von Sorokin in die Verkündigung eines „Fünften Imperiums“ transformiert. Wie zu Stalins Zeiten wird eine „große Umgestaltung der Welt“ von einem General versprochen: „er trug eine kleine Ikone vor der Brust, die Juri Gagarin mit einem goldenen Heiligenschein zeigte“.[35] Die Ikonographie der Sowjetunion wird mit dem „goldenen Heiligenschein“ Juri Gagarins ins Religiöse gesteigert. Das ist ebenso paradox wie konstruktiv. Denn Juri Gagarin sollte als erster Mensch in einem speziell für ihn entwickelten, indessen fehlerhaften Raumanzug mit Helm im All die sowjetische Wissenschaft gegen die Religion verkörpern.[36] Auf dem Bleiglasfenster im Foyer des Audimax der Humboldt-Universität zu Berlin erscheint Juri Gagarin in seinem orangefarbenen Anzug mit Helm in einem Ensemble von Wissenschaftlern wie Albert Einstein.[37] Die abstruse Ersetzung des Helms durch einen goldenen Heiligenschein füllt auch eine Leerstelle aus.
„Die überirdische Strahlung russischer Geistigkeit geht von ihm (Jossif Stalin, T.F.) aus! Tief durchdringt sie den Planeten! Posaunentöne hallen durch die Welt: Völker und Staaten, bereut, kehrt ein unter der Flagge des Fünften Imperiums, und ihr werdet teilhaftig der großen Umgestaltung der Welt!“[38]

Die Ersetzung der Wissenschaft durch einen religiös gefärbten Personenkult macht die entscheidende Transformation der traumatischen Sowjetunion in das „Fünfte Imperium“ aus. Ironischer Weise wird mit dem „Fünften Imperium“ die inkriminierte „Fünfte Kolonne“ in ein Versprechen umgewandelt. Die Form des Personenkults in der Erzählung Lila Schwäne nimmt nahezu hellsichtig Putins Stadionrede vom 18. März 2022 anlässlich der Annexion der Krim vorweg.[39] Das Reden wird für den Personenkult zur Machtpraxis, wenn Jewgeni vom „Bund russischer Künstler“ mit gekreuzten „Armen vor der Brust“ wie der Moderator in Das weiße Quadrat verkündet:
„»Wir können über alles reden«, sprach er, »wir müssen es sogar! Flüsternd in den Ecken zu stehen wie der schimmelige liberale Klüngel, genügt nicht. Reden Tag und Nacht, stündlich, minütlich, sekündlich, damit man versteht, in welch großartigen Land wir leben und wie viel wir gemeinsam zu tun imstande sind, wie vieles wir noch vor uns haben und was für einen vortrefflichen Präsidenten, was für hervorragende Militärs, Generäle, Starzen und Heilige, Väter, Mütter, Brüder Ehefrauen, Kinder, wir überwinden jedes Hindernis, finden für alles eine Lösung, vorausgesetzt, wir reden, Reden ist die Hauptsache!«“[40]

Das „Fünfte Imperium“ als Transformation der Sowjetunion wird von Sorokin mit dem Zitat der Reise nach Petuschki von 1969 des sowjetischen Schriftstellers Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew angedeutet und paraphrasiert. Ob die Transformation ein Fiebertraum von Alex nach einem „Seeteufel und Koks“ ist oder die lila Schwäne doch ein Zeichen für ein Unheil sind, das über Russland hereinzieht, bleibt offen. Sie könnten auch nuklear verstrahlt sein. Ob sich Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt haben oder nicht. Die Erzählungen wendet sich in einen morgentlichen F*ck, bevor am „Morgenhimmel“ ein „ebenmäßiger violetter Keil“ aus einem Schwarm Schwäne entsteht. Der Traum artikuliert die sowjetische Angst vor der atomaren Bedrohung, wenn sich die Nuklearwaffen als unzureichend erweisen sollten. Der Einsiedler deutet „seltsame Vogelschwärme (, wo die R-20 stationiert sind)“ als Bedrohung.
„»Dieser Vorfall bedroht die Sicherheit unseres Staates, er könnte uns alle in eine schreckliche Katastrophe stürzen. Russland könnte seinen Atomschild verlieren, seine Sicherheitsgarantie.«“[41]

Sorokins Traumerzählung Lila Schwäne und das Trauma bedingen einander. Im Traum liegen die Männer wenigstens homoerotisch beieinander – „In unmittelbarer Nähe, die Wange an Jewgenis Oberschenkel geschmiegt, der BRK-Mann. Hinter dem General dessen Hand ihm als Kopfstütze diente, der Grobschlächtige; seine Füße in den Jockeystiefeln lagen auf dem zuckenden Gesäß des Weißborstigen.“ Und der F*ck mit Alja wird zum Sprachabenteuer und zur Ekstase, in der das Lila ebenfalls wiederkehrt. Krieg, Angst und Sex liegen nah beieinander, lassen sich kaum voneinander unterscheiden.
„was sind da punkte sind das blasen lila blasen im martini im schweren meer was solln im meer die lila punkte immer mehr punkte im meer he was soll das was soll das was kann das sein und wo kommt das her warum wozu warum warum warum wieso die punkte im glas im pokal he hallo ihr punkte was soll das was wohin jetzt wo fliegt ihr nun hin nein wartet wohin ihr wohin ihr blasen im meer bla bla lila woha woha-aha ah-ha-a-a-a-a-a-aahh?!
Er stöhnte auf, umklammerte sie.“

Neben Lila Schwäne aus dem Bereich von Drogen, Angst, Krieg und Sex als russische Männerseele loten die Erzählungen Die rote Pyramide, Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge, Wellen, Das rostige Mädchen, Der Fingernagel, Der Tag des Tschekisten, Das Tuch und Hiroshima diese weiter aus. In Wellen verschmilzt das delirante Nachdenken nach dem Sex wiederum mit Kriegstechnologie – „Sein Hirn aber, sein mächtiges Hirn ließ sich Zeit: »… wie sie … wie sie das macht (…) … die Welle bricht los, bricht los … sie wird gigantisch sein … einhundert Megatonnen … eine Megatonne ist gleich eine Trillion Kilokalorien … einhundert Trillionen … also … der Energiefluss pro laufendem Meter der Wellenfront … die von den Wellen abgetragene Gesamtenergie bleibt praktisch (…) … eine Welle … Wasser … Wassermann … Kapitäne …« Er war eingeschlafen.“[42] – Wellen der Erregung werden mit Wasser- und Druckwellen verschnitten. Krieg und Sex als Penetration und Ejakulation werden von Sorokin metonymisch verkoppelt. Dadurch wird nicht zuletzt das permanente Reden von der Kriegstechnologie und der Atomwaffe in ihrer sexuellen Dimension entlarvt. – Der Erscheinungstermin für den Erzählband Die rote Pyramide war der 10. Februar 2022, vierzehn Tage vor der Kriegserklärung Putins.

Torsten Flüh

Vladimir Sorokin
DAS WEISSE QUADRAT
Aus dem Russischen von Christiane Körner.
Mit Zeichnungen von Ivan Razumov.
No. 17 | 172 Seiten mit zahlreichen zwei Farben (rot/schwarz)-Abbildungen, Format 18 x 18 cm, Hardcover in Fadenheftung mit einfarbiger Prägung, Kapitalband, farbigen Vor- und Nachsatz 
1. limitierte Auflage von 1000 durchnummerierten Exemplaren
ISBN  978-3-945867-17-4
EUR 28,00

Vladimir Sorokin
Die rote Pyramide
Erzählungen
Übersetzt von: Dorothea Trottenberg, Andreas Tretner
Gebundene Ausgabe 22,00 €
E-Book 18,99 €
Erscheinungstermin: 10.02.2022


[1] DWDS: Propaganda.

[2] Žižek hatte das Gespenst der Ideologie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion analysiert. Slavoj Žižek: The Spectre of Ideology. In: Slavoj Žižek (ed.): Mapping Ideology. London/New York: Verso, 1994, S. 9.

[3] Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, S. 5.

[4] Ebenda S. 19.

[5] Ebenda S. 12.

[6] Ebenda S. 27.

[7] Ebenda S. 13.

[8] Ebenda S. 19.

[9] Ebenda S. 27.

[10] Ebenda S. 5.

[11] Ebenda S. 31.

[12] Ebenda S. 158.

[13] Dirk Uffelmann: Vladimir Sorokins Diskurse. Ein Handbuch. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, S. 227.

[14] Ebenda S. 230.

[15] Ebenda S. 231.

[16] Vladimir Sorokin: Das weiße Quadrat. Berlin: circonis circonia, 2018.

[17] Meldung: Regisseur Kirill Serebrennikow nach Deutschland ausgereist. In: nachtkritik vom 31. März 2022.

[18] Dirk Uffelmann hat die Ausgabe von Das weisse Quadrat durch Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski nicht berücksichtigt. Siehe Dirk Uffelmann: Vladimir … [wie 13] S. 276.

[19] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] ohne Seitenzahl (S. 12-13).

[20] Ebenda S. 16.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Ebenda S. 21.

[23] Ebenda S. 25.

[24] Ebenda S. 29.

[25] Ebenda S. 30.

[26] Ebenda S. 32.

[27] „größere Gruppe, deren Mitglieder durch bestimmte Merkmale, Gemeinsamkeiten miteinander in Beziehung stehen“ in DWDS: Geschlecht.

[28] Chip: Apple stellt Verkäufe von iPhones und Co. in Russland ein. Deutsche Presse-Agentur (dpa) 04.03.2022, 06:23.

[29] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] S. 42.

[30] Siehe Wikipedia: Fünfte Kolonne.

[31] Bernard-Henri Lévy: Moskaus fünfte Kolonne. In: IPG 03.11.2015.

[32] Robert Baag: Stalins Schauprozesse gegen den vermeintlichen Gegner. In: Deutschlandfunk 30.10.2012.

[33] Vladimir Sorokin: Das … [wie Anm. 16] S. 131.

[34] Ebenda S. 135.

[35] Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2022.

[36] Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017 21:47.

[37] Vladimir Sorokin: Lila Schwäne. In: ders.: Die … [wie Anm. 35] (nach E-Book ohne Seitenzahl zitiert).

[38] Torsten Flüh: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 17, 2015 20:52.

[39] Siehe Torsten Flüh: Animierte Winterreise südafrikanisch. Zu William Kentridges Mosse-Lecture Image & History. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 6, 2014 21:01. (Erstes Foto rechts, mittig, oben).

[40] Vladimir Sorokin: Lila … [wie Anm. 37].

[41] euronews: [LIVE] Putins Rede anlässlich der Krim-Annexion in einem Moskauer Stadion. Live übertragen am 18.03.2022.

[42] Vladimir Sorokin: Lila … [wie Anm. 37].

[43] Ebenda.
[44] Vladimir Sorokin: Wellen. In: ders.: Die … [wie Anm. 35].

Komische Verspätung à point

Krieg – Hörspiel – Sprache

Komische Verspätung à point

Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste

Das Hörspiel ist in der Akademie der Künste in der Sektion Film- und Medienkunst angesiedelt, so dass Cornelia Klauß zu einem Abend des öffentlichen Hörens im Foyer am Hanseatenweg am Dienstag einlud. Die auditive Kultur des Hörspiels, die vor allem von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gefördert wurde und wird, hat es in Zeiten visueller Medien nicht leicht. Der wichtigste Hörspielpreis, für den der Regisseur Oliver Sturm mehrfach nominiert wurde, ist seit 1952 jener der Kriegsblinden, kurz „Kriegsblindenpreis“. Das Visuelle funktioniert anders als das Auditive. Prominent geht es in dem Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Regie von Oliver Sturm um Gespräche, die Sprache und das Sprechen über den Krieg der Schwestern Elfriede und Hannelore im Mädchenzimmer. Das ist seit dem 24. Februar 2022 auf eine andere Weise unheimlich und irgendwie nah, obwohl es um Kriegserzählungen des Zweiten Weltkriegs inklusive Adolf Hitler geht.

Seit dem 27. Februar 2022 ist der Krieg näher in unsere Wahrnehmung gerückt, Gefühle, Erinnerungen drängen sich in den Alltag. Alte Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt haben, beginnen plötzlich von ihren Traumata auf die eine oder andere Weise zu sprechen. 2015 Geflüchtete, die z.B. 2003 als Kind den Krieg gegen Saddam Husseins vermeintliche Chemiewaffen im Irak erlebt haben, möchten sich am liebsten in den Schutz eines Kellers begeben – umgehend. Wladimir Wladimirowitsch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hat alles verändert. Für alte Deutsche sind es Putins Worte und wie er spricht, seine Rhetorik, die Kriegstraumata aufbrechen lassen. Auf einmal wird der Pferdewagen mit allem Hab und Gut wieder vom russischen Tiefflieger in Brand geschossen und das 12jährige Mädchen versteht nicht, warum die Großmutter weint, wie sie nie zuvor geweint hat. Die öffentliche Hörspielanhörung im Foyer der Akademie der Künste musste wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie mehrfach verschoben werden. Jetzt war sich Anna Pein nicht sicher, ob ihr Hörspiel wegen des Putinschen Krieges gegen die Ukraine und seiner Schrecken überhaupt aufgeführt werden sollte.

Welches Szenario eröffnet das Hörspiel mit dem das Kinderzimmer militarisierenden Titel Mädchenzimmer mit Soldaten? Was haben Soldaten überhaupt im Mädchenzimmer zu suchen? Gewiss die Jungs spielten mit Spielzeug-Soldaten, aber Mädchen? Zwei Mädchen erzählen einander in ihrem Zimmer vom Krieg und vom Lazarett, von den verwundeten Soldaten und den Krankenschwestern. Sie spielen Krieg mit Worten und Gefühlen. Die Mädchen, Elfriede und Hannelore, begeben sich in einen „männliche(n) Kosmos aus Schmerz, Erotik, Tapferkeit und Schuld“[1], wie es auf der Einladungskarte der Akademie der Künste heißt. Welche Rolle spielt der Vater? Was kristallisiert sich im Krieg an der Figur des Vaters? Im Gespräch nach dem Hören wird Anna Pein gesagt haben, dass ihr Hörspiel auf der Erzählung einer alten Frau basiere und der Sohn dieser Frau wird aus dem Publikum bestätigen, dass die fiktiven Figuren im Hörspiel sich in Wirklichkeit durch die Spiele im Mädchenzimmer gestärkt hätten.

Der Schauplatz des Krieges wird im Hörspiel vor allem zu einem Erzählort und Hörraum. In der Hörspielproduktion spricht man von Atmo für eine akustische Atmosphäre, eine Art Rahmung, die das Stück, den Text über die Sprache und das Sprechen hinaus lebendig mache. Die Atmo wird im Mädchenzimmer mit Soldaten ein Raum des Hörens aus diffusen Geräuschen und Stimmen. Alles beginnt mit dem Spiel einer Glasharfe (Komposition: Gerd Bessler)[2], das akustisch fremdartig und diffus wirkt, um sogleich mit rhythmischen Schlägen gegen Gläser im Accelerando vorangetrieben zu werden. Ein Rauschen kehrt mehrfach wieder. Trommelwirbel. Radio. Kriegsmeldungen. Doch schon der atmosphärische Klang von traditionell norddeutschen Gerichten wie „Schwarzsauer“, „Birn‘, Bohn‘ und Speck“, „Milchreis“ stellen Atmo her. Die Namen von Speisen auszusprechen, den Klang der Namen zu genießen, kann bei den Zuhörer*innen Speichelfluss auslösen – oder auch nicht. Sind das Realitätseffekte? Oder wird es hier erotisch in einem Hörspiel zum Krieg im Feldlazarett? Krieg und Erotik?

Der Hörspieltext von Anna Pein zieht die Zuhörer*innen in die Kriegsszenarien von Elfi (Mira Partecke) und Hanne (Laura Maire) hinein. Das Puppenhaus, mit dem die Mädchen spielen, „wird bevölkert von bolschewistischen Spioninnen, französischen Flittchen und deutschen Zauberern“[3], heißt es auf der Einladungskarte. Die Rollen werden nach Hörbuch statt Drehbuch verteilt. Wird dann das Spiel mit den Soldaten und Krankenschwestern erotisch, gar sexuell? Die Puppen beginnen zu sprechen wie Puppe Liese (Cathlen Gawlich), Puppe Olga (Gosia Konieczna) und Puppe Peterchen (Jan Wawrczeck). Sprechende Puppen im Hörspiel sind unheimlich. Puppen mit einem Eigenleben durch Sprechen. Sprachpuppen. Verpuppungen der Sprache. Im März 2022 wird das noch unheimlicher, weil der Text „jenseits aller political correctness (…) eine bizarre Perspektive auf die Kriegszeit (wirft) und (…) kollektive Erinnerungen in Gang“ setzt.[4] Die kollektive Erinnerung wird plötzlich Gegenwart.

Wann beginnen Puppen im Mädchenzimmer mit (eigenen) Stimmen zu sprechen? Gerät da etwas außer Kontrolle im Spiel von Elfi und Hanne? Was passiert, wenn im Spiel aus Elfriede Elfi und aus Hannelore Hanne wird? Der Vorname Hanne wird auch als männliche Koseform wie beim Berliner Fußballspieler Hanne (Johannes) Sobeck gebraucht.[5] Ferner gibt es die alte Redensart „Hannemann, geh du voran“, wenn jemand in einer unangenehmen oder gefährlichen Situation vorausgeschickt wird, um erst einmal abzuwarten, was passiert.[6] „Hannemann, geh du voran“ wurde im Krieg als Schnack gebraucht. – Guck du man mal erst, ob wir den Keller, den Bunker schon verlassen können. Können wir schon das Puppenhaus verlassen? – Das geschlechtliche Spiel mit den Namen durch Abkürzung und Verniedlichung bleibt nicht folgenlos. Und dann unterhalten sich die Mädchen mit verstellten Erwachsenenstimmen über das Fiebermessen im „Po“: „Für einen Mann ist das knorke.“ (00:06:20)

Für die Anhörung des Hörspiels im Foyer der Akademie der Künste am Hanseatenweg geht das Licht wie im Kino aus. Licht aus für das Kopfkino des Hörspiels. Hochwertige Boxen werden von der Klangregie so ausgesteuert, dass die Atmo zur Geltung kommt. Wer macht das noch bei sich zuhause, dass das Hörspiel im Dunkel gehört wird? Hier geht es um das Hin- und nicht das Weghören wie mit dem gekoppelten Headset auf der Straße. Der Sound vom Headset sorgt für einen Flow durch die Stadt, durch den Alltag. Hinhören darf man im Alltag eigentlich nicht, weil man dann z.B. vom Auto, den leisen E-Cars und E-Rollers, der Tram überfahren wird. Den Flow spürt man mehr, als dass man ihn hört. Im Foyer der AdK beeindruckt die ausgesteuerte Atmo. Was macht das mit dem Texthören? Hanne und Elfi sprechen authentische Redensarten nach, die dann allein auf der Ebene der sprachlichen Verkopplung weitergesponnen werden:
„Mir ist so heiß. Mein Blut rauscht. Hört ihr mein Blut rauschen? Das ist das Fieber, mein Lieber. Wie zuhaus am Meer. Das ist mein Heimweh, das ich hör. Wo kämst du her, du Teddybär? Wo die Nordseewellen rauschen an den Strand. Da liegt meine Heimat Helgoland. Nimm mal die Mundharmonika. Woo die Nordseewelllllen rauschen an den Strand …“ (00:07:30)

Das leidenschaftliche Rauschen des Blutes als sexuelle Erregung der Frau und Mutter wird von den Mädchen nicht nur mit dem „Fieber“ und rektalen Fiebermessen assoziiert, vielmehr wird es mit dem „Heimweh“ nach der „Heimat“ und den „Nordseewellen“ verknüpft. Dass die Nordseewellen in Anna Peins Hörspieltext „rauschen“ und nicht wie im Original „trekken“ oder „spülen“ an den Strand, gibt einen Wink auf die subtile Übertragung des Rauschens auf die Heimat. So ganz wissen die Mädchen nicht, was da rauscht. Das Rauschen als ein mediales Ereignis der Radiowellen im Analogen ließ sich nicht verstehen. Im Digitalen gibt es kein Rauschen mehr, wenn es nicht Atmo herstellen soll. Doch die Verknüpfung des Begehrens, sagen wir zumindest, nach körperlicher Nähe und Sex, wenn im Hörspiel entgegen des patriarchalen Kriegsdiskurses frau im Krieg getrennt vom Mann ist, wird ebenso atmosphärisch wie durch sprachliche Akzentuierungen im Hörspiel in einer Ordnung von Begehren, Heimweh, Heimat und nahezu ohrenbetäubenden Rauschen angeschlagen. Das heimische Mädchenzimmer wird mit dem Rauschen unheimlich.

Ihre Lecture nach der Anhörung setzte die Medientheoretikerin Claudia Reiche unter den das Hörspiel zitierenden Titel „Komisch, ne, dass man was fühlen kann, was es gar nicht gibt…“ Von heimlichen Un-Mädchen und scherzendem Schmerz. Reiche hört das Hörspiel auf die Gefühle und das Fühlen hin, das die Mädchen gleich zu Beginn ansprechen. Obwohl der Puppe ein Bein fehlt, schmerzt es. „Macht es Gefühle. Das tun die Mädchen auch. Sie machen sich Gefühle. Heimlich. Sie spielen verbotene Gefühle durch“[7], sagt Reiche. Wir können nicht fühlen, noch nicht einmal sehen, dass das Bein der Puppe fehlt. Im Hörspiel tritt das Sprechen stärker hervor als in anderen Medien. Das Sprechen in einer Atmo soll uns vor Augen führen, was der Text anbietet. Wir hören die Mädchen sprechen.
„„Schneid es einfach ab. –  Das ist ja schon abgeschnitten.“ Das Wiedergänger ‚Bein‘ – Bein in Anführungszeichen -, das Wort-Bein.  Der Start des Textes gibt eben schon fast eine Kurzfassung von Inhalt und Verfahren der ganzen Konstruktion.“[8]

Das Fühlen und das Aufrufen von Gefühlen im Spiel der Mädchen, das ein Hörspiel abgibt, passiert nicht nur im Krieg des nationalsozialistischen Deutschland, das in einem vorgetäuschten Grund einen Angriff auf Polen verbrochen hatte. Es spielt ebenso in der Rede Putins vom 24. Februar 2022 eine eröffnende Rolle, wenn er davon spricht, „was uns besonders beunruhigt und besorgt“.[9] Unruhe und Sorge sind starke Gefühle, die von Putin strategisch und/oder tatsächlich artikuliert und gefühlt werden. Wer ist „uns“? Sprich Putin von sich selbst in der Rhetorik des Pluralis Majestatis? Oder spricht er mit den angesprochenen „Sehr geehrte(n) Bürger(n) Russlands! Liebe Freunde!“ sich verbrüdernd von „uns“. – Gefühlsübertragung: Unsere Unruhe und Sorgen, die ich Euch jetzt benenne und erkläre. – Vielleicht wussten die „Bürger Russlands“ gar nicht so genau, was sie fühlen, bis es ihnen Putin erzählte, um seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu legitimieren. Reiche schaut da noch genauer hin:
„Nun kann der Satz daraufhin auch so gelesen werden: politisch: Etwas, das es gar nicht gibt, wie – sagen wir: den Krieg, zu fühlen, ist möglich, dort wo er gerade einmal nicht herrschte, im sogenannten Frieden — aber ebenso gälte: der Krieg, den es gibt, um dich und mich herum, nahe oder näher, das wäre nicht wirklich zu fühlen, da es Grauen jenseits eines Vorstellbaren, jenseits des Sprechbaren  beinhaltet… Also ein verdoppeltes Verfehlen als Treffer: „dass man fühlen kann, was es nicht gibt“ und „dass es etwas gibt, was man nicht fühlen kann“ …“[10] 

Anna Pein formulierte zur Eröffnung des Gespräches mit Claudia Reiche ein Gefühl der Peinlichkeit darüber, ihr Hörspiel in Zeiten des Krieges wiederzuhören. Oliver Sturm äußerte gar Zweifel, ob das 2006 vom WDR produzierte Hörspiel heute in Zeiten des Krieges und der Missbrauchsdebatte überhaupt noch eine Chance hätte, von einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt und ihrer Hörspielredaktion produziert zu werden. Das wäre genderpolitisch sensibel wenn nicht gar politisch verwerflich, political in-correct. Am 13. September 2021 war es als Kindliche Abrechnung mit dem Krieg wieder gesendet worden und steht seither zum Hören und Downloaden bis 13.09.2022 zur Verfügung. Ist der Hörspieltext aus dem Mädchenzimmer mit Missbrauch und Krieg experimentell oder unangemessen? Ist das Hörspiel seit dem gegen jedes Völkerrecht verstoßenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine falsch geworden? Was hier vom Krieg zur Sprache und zu Gehör kommt, berührt plötzlich Anna Peins Gefühle und unsere durch die Bilder von zerstörten Wohnhäusern und ganzen Städten anders – und peinlich. Der „scherzende() Schmerz“ passt und passt nicht im „Prozess der Traumabewältigung“[11].

Jacques Lacan hat sich in seinen in freier Rede gehaltenen, monologischen Seminaren nicht systematisch zum Krieg geäußert, obwohl Sigmund Freud bereits 1915 in der Zeitschrift Imago seinen zweiteiligen Aufsatz Zeitgemäßes über den Krieg und Tod veröffentlichte.[12] Auf den Teil Die Enttäuschung des Krieges folgt als zweiter Unser Verhältnis zum Tod. Freud geht es mit der „Enttäuschung des Krieges“ nicht zuletzt um die Frage der Intelligenz. Enttäuschung heißt auch, dass sich die Welt, Freud, die Gesellschaft über den Frieden getäuscht hatte. Während die Intelligenz als Regulator gedacht wird, in den ersten Tagen des Krieges wiederholt die Intelligenz Putins beschworen und Fragen der Intelligenz aufgeworfen wurden, hat sich die Intelligenzdebatte angesichts des vernichteten Mariupol und seiner Bevölkerung verabschiedet. Freud macht 1915(!) in seinem Aufsatz auf das Problem der Intelligenz aufmerksam:
„Menschenkenner und Philosophen haben uns längst belehrt, daß wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt könne nur verläßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei; im gegenteiligen Falle benehme er sich einfach wie ein Instrument zuhanden eines Willens und liefere das Resultat, das ihm von diesem aufgetragen sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen affektive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen, die nach Falstaffs Wort so gemein sind wie Brombeeren, in der Welt der Interessen so unfruchtbar.“[13]

Das intelligente „Streiten mit Gründen“ wird von Sigmund Freud witzig mit einer Anspielung auf Shakespeares komödiantische Figur Falstaff gewendet. Als es ernst wird, spielt Freud auf einen Witz, eine witzige Formulierung Falstaffs in King Henry IV. an: „If reasons were as plentiful as blackberries, I would give no man a reason upon compulsion, I.”[14] (Wenn Gründe so gemein/reichlich wären wie Brombeeren, so sollte mir doch keiner mit Gewalt einen Grund abnötigen, nein.) In der Übersetzung wird plentiful zu gemein, was sowohl als „allgemein“ verfügbar wie als „niederträchtig“ gebraucht werden kann.[15] Beide Leseweise funktionieren bei Freud. Wenig später werden die Gründe als Brombeeren noch einmal witzig gewendet: „Shall the blessed sun of heaven prove a micher and eat blackberries?“[16] (Soll die gesegnete Sonne des Himmels ein Schulschwänzer werden und Brombeeren naschen?) Die Gründe bzw. Vernunft und Verstand in der Bedeutungsbreite von reason werden von Falstaff als Brombeeren gründlich verspottet. Sie sind meistens nicht nur sauer, sondern wachsen in einem stacheligen Gestrüpp, in dem man sich verfangen und verletzen kann. Intelligenz hätte sich somit im Krieg von vornherein verabschiedet. Sie stirbt mit dem ersten Schuss nach der Kriegserklärung, während nach Freud Gefühle – „Gefühlsleben“, „Gefühlsregungen“ – obsiegen.   

Freud spitzt die Funktion der Gefühle im Krieg sogar noch zu, indem er behauptet, dass die „psychoanalytische Erfahrung“ zeige, „daß sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen“ begegne.[17] Gefühle machen, nach Freud, im Krieg dumm. Aber das Sprechen von Gefühlen macht diese auch. Die ausgesprochenen Gefühle erzeugen Widerstand gegen Vernunft und Verstand. Der Krieg funktioniert über eine Psychose, die nach Jacques Lacan macht, dass überall „Zeichen“ gesehen bzw. gehört werden. „Nicht nur, daß er belauert, beobachtet, überwacht wird, daß man spricht, sagt, andeutet, daß man ihn anschaut, ihm zuzwinkert, sondern das strömt über – Sie werden gleich die Ambiguität sich breitmachen sehen –“[18] Der Psychotiker muss indessen immer auch von dieser, seiner Zeichenhaftigkeit der Welt sprechen. Er wird in eine Sprache hineingezogen.

Doch die Sprache des Psychotikers ist nach Lacan seltsam. „Falls es möglich ist, daß jemand in einer Sprache spricht, die er überhaupt nicht kennt, werden wir sagen, daß das psychotische Subjekt die Sprache nicht kennt, die es spricht.“[19] Gleichzeitig sind Lacans Seminare in freier Rede entwickelt und abgehalten worden, um erst nachträglich von Jacques-Alain Miller als Text hergestellt und als Bücher veröffentlicht zu werden.[20] Abbrüche der Rede, Auslassungspunkte und Gedankenstriche kommen in der Textgestalt häufiger vor. Reiche knüpft auf der Ebene der Medientheorie an Lacans Psychose-Rede an, wenn sie das Hörspiel analysiert:
„Insgeheim, so wird das Hörspiel es zeigen, ginge es dabei in Umkehrungen um etwas, das einem angetan wurde. Sei es, dass die Mädchen den nacherzählten oder phantasierten Missbrauch verarbeiten. Sei es – nur – der zugemutete Verlust eines symbolischen Körperteils wie er im Patriarchat denjenigen auf der Seite des Weiblichen regelhaft angetan wird, folgen wir den Wegen der Freud’schen Gedanken… Es ginge dabei um die prägende Scham über einen Verlust von etwas, das es gar nicht gibt, vorgestellt wie ein männliches Organ, Einbildung des Körperbildes. Ein Glied, das immer schon fehlte, um immer wieder da zu sein: symbolisch. – Strenggenommen – für die Mädchen:  ein fehlender Verlust mit viel Gefühl, sagen wir: in der psychischen Ökonomie des Lustgewinns.“[21]

Das Gefühl der Peinlichkeit, das zurzeit beim Hören und Wiederhören von Mädchenzimmer mit Soldaten aufkommen kann, könnte etwas mit dem vorherrschenden Diskurs vom Krieg in Europa zu tun haben. Der Diskurs vom Krieg in Europa begehrt, das Sprechen vom Krieg intelligent zu beherrschen. Die Intelligenzerzählung wünscht sich, dass nicht nur Putin berechenbar(!) sein möge, sondern der Krieg eines vermeintlich militärtechnologisch hoch organisierten Landes, eines Landes, das eine Weltraumstation im All konstruierte und betreibt, kalkulierbar(!) sei. Stattdessen hören/lesen wir Tag um Tag von Verbrechen gegen das Völkerrecht, die Zivilbevölkerung bis hin zu Vergewaltigungen von ukrainischen Frauen durch russische Soldaten oder dass sich Bewohner*innen einer Stadt haben vor den russischen Soldaten nackt ausziehen müssen. Der Krieg spielt sich immer im Geschlechtlichen, im Gefühl ab. Das lässt sich schwer kontrollieren und kommt in Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein und Oliver Sturm mit spielerischer Wucht und Schrecken zur Geltung, die ebenso peinlich wie wahr sind.

Torsten Flüh

Mädchenzimmer mit Soldaten
Kindliche Abrechnung mit dem Krieg
WDR 3 Hörspiel 13.09.2021 58:23 Min.
Verfügbar bis 13.09.2022 WDR 3

Von Anna Pein
Komposition: Gerd Bessler
Technische Realisation: Rudolf Stückrath und Werner Jäger
Regie: Oliver Sturm
Dramaturgie: Martina Müller-Wallraf
Produktion: WDR 2006    


[1] Akademie der Künste: 29.3.2022, 19:00 Uhr Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein Hörspiel und Gespräch Claudia Reiche, Lecture. Berlin, Akademie der Künste, 2022.

[2] WDR3: Mädchenzimmer mit Soldaten – Kindliche Abrechnung mit dem Krieg. WDR 3 Hörspiel 13.09.2021 58:23 Min. Verfügbar bis 13.09.2022.

[3] Akademie der Künste: 29… [wie Anm. 1].

[4] Ebenda.

[5] Hertha BSC: In Gedenken an Hanne Sobeck. 17. Februar 2021.

[6] Academic: Liste geflügelter Worte/H: 17 Hannemann, geh du voran. 2000-2022.

[7] Claudia Reiche: „Komisch, ne, dass man was fühlen kann, was es gar nicht gibt.“ Von heimlichen Un-Mädchen und scherzendem Schmerz. Manuskript für den 29. März 2022.

[8] Ebenda.

[9] Siehe: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[10] Claudia Reiche: „Komisch … [wie Anm. 7].

[11] Akademie der Künste: 29… [wie Anm. 1].

[12] Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Leipzig u. Wien: Hugo Heller, 1916, S. 1-21. (Digitalisat UB Uni Heidelberg)

[13] Ebenda S. 11.

[14] William Shakespeare: King Henry IV. Act II, Scene IV. (Shakespeare MIT)

[15] DWDS: gemein.

[16] William Shakespeare: King … [wie Anm. 14].

[17] Sigmund Freud: Zeitgemäßes … [wie Anm. 12].

[18] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 16.

[19] Ebenda S. 19.

[20] „Textherstellung durch Jacques-Alain Miller“ Ebenda ohne Seitenzahl.

[21] Claudia Reiche: „Komisch … [wie Anm. 7].

Das Schicksal der Wellen

Welle – Buddha – Elektronik

Das Schicksal der Wellen

Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022

Als sollten die Electronic Works von Éliane Radigue schon vor dem Zeiss-Großplanetarium an der Prenzlauer Allee auf dem Prenzlberg in ein fernöstliches Licht getaucht werden, blühen gerade die Zierkirschen auf dem Vorplatz. Das passt zum musikalischen Schaffen von Éliane Radigue, die mit dem Konzertzyklus nicht etwa wieder-, sondern recht eigentlich erst als Pionierin der Elektronischen Musik entdeckt wird. Sie feierte am 24. Januar 2022 ihren 90igsten Geburtstag in Frankreich. Die Entdeckung ist dem Forscher*innengeist des Festivals MaerzMusik und seines Künstlerischen Leiters Berno Odo Polzer sowie Kamila Metwaly als leitender Kuratorin zu verdanken. In der Männerwelt der Elektronik wurde Éliane Radigue seit den 60er Jahren wegen ihrer Kompositionspraktiken an die Seite gedrängt. Allein in den USA wurde sie von Musikschaffenden in der Elektronik wahrgenommen. In Frankreich, nicht einmal in Paris wurde sie beachtet.

Das Denken der Welle findet sich sowohl in der Elektronik als fließender Strom wie in der Akustik des 20. Jahrhunderts als Amplitude und Frequenz als auch in der Epidemiologie. Wie präsent der Modus der Welle von kontinuierlichen Anstiegen, Abflachungen und Abfällen auch sein mag, beherrscht er die Einteilung der Zeit in unterschiedliche Bewegungen und Verläufe. Die Welle generiert in der Statistik graphisch ein Wissen über Gefahren oder Zuversicht. Als im Frühjahr 2020 das Hashtag #FlattenTheCurve auf dem Verkehrsleitsystem von Berlin angezeigt wurde, ging es darum, den Anstieg der ersten Welle der Covid-19-Pandemie abzuflachen. Als Naturerfahrung spielt die Welle eine ebenso große Rolle wie in der Musik oder in der energetischen Lebenspraxis des Buddhismus. In der elektronischen Musik von Élaine Radigue überschneiden sich früh verschiedene Bereiche der Welle.   

Die Welle eröffnet im Unterschied zum Digitalen eine Reihe von Analogien. Éliane Radigue hat wiederholt und ganz besonders in dem von MaerzMusik – Festival für Zeitfragen produzierten Film Éliane Radigue – Échoes von Éleonore Huisse und François Bonnet von der Welle und dem Ozean gesprochen.[1] Die Welle ist für sie eine Art Lebensthema. Die Wortverlaufskurve für Welle im Deutschen zeigt einen kontinuierlichen Anstieg bis zu Beginn der 1970er Jahre. Sie wird nicht nur besonders häufig gebraucht, vielmehr wird mit dem Begriff z.B. 1979 ein weibliches Wissen von Kraft und Stärke verknüpft: „Solange du dagegen ankämpfst, bist du dem Spiel der Wellen ausgeliefert.“[2] Es soll nicht versucht werden, die Wellen zu beherrschen. Frauen sollten sich nach Gerlinde Wilberg vielmehr auf die Wellen einlassen. Eine Welle reißt das Subjekt mit, um oder hinweg. Éliane Radigue hat sich auf verschiedene Wellen eingelassen und sie klanglich erforscht.

Wellen können optisch und akustisch unterschiedliche Wissensarten generieren. Kopula mit -welle setzten sich in den 60er Jahren durch, bis sie in den 1970er Jahren wieder abnahmen und seit Beginn der 2000er Jahre immer weniger Bedeutung haben wie bei der Radiowelle. Die Rede von elektromagnetischen bzw. „electrische(n) Wellen“ kam erst mit dem Artikel des heute unbekannten Physikers A. Elsas 1890 in den Annalen der Physik auf.[3] Heinrich Hertz hatte zuvor immer von „electrischen Schwingung(en)“ geschrieben.[4] Das Wellenmodell ist ein wenig aus dem Gebrauch gekommen. Aber in der Wortverlaufskurve des DWDS wird sich für 2020 und die folgenden Jahre eine neue Welle ausbilden. Es ist davon auszugehen, dass der Wissensmodus der Welle für die Jahre der Covid-19-Pandemie einen kräftigen Ausschlag in der Wortverlaufskurve verzeichnen wird. OWID führt bereits die Abgabewelle, Alphawelle, Ansteckungswelle, Betawelle, Coronawelle, Covid-19-Welle, Dauerwelle, Doppelwelle über Wildtypwelle, Winterwelle bis zweite Welle alphabetisch auf.[5] Eine Dauerwelle gab es früher nur beim Friseur für meine Mutter.

Éliane Radigue erforschte zunächst mit einem Tonbandgerät neue elektronische Klangräume. Im Pariser Apsome Studio von Pierre Henry entstehen zwischen 1967 und 1970 die Stücke Jouet Electronique (1967) und Elemental I (1968). Danach baut sie sich zu Hause ein eigenes kleines Studio mit Tonbandgeräten, Mixer, Lautsprechern und Mikrophonen, wo sie ihre Kompositionspraktiken erweitert. Zumindest im Deutschen spielen die Wellen als Stahlwelle, Tonwelle, Capstanwelle oder Motorwelle in der Konstruktion des Tonbandgerätes eine entscheidende Rolle, um elektronische Klänge zu erzeugen. Die mechanischen Wellen der Tonbandgeräte sind der Bandantrieb, der eine konstante Bandgeschwindigkeit zum Aufnehmen und Abtasten der Tonbänder gewährleistet. Verändern die Wellen ihre Geschwindigkeit, kommt es zu akustischen Effekten, die als Fehler oder Innovation wahrgenommen werden können.

MaerzMusik: Der Kosmos von Éliane Radigue. (Screenshot T.F.)

Nach François Bonnet arbeitet Radigue in jener Phase mit dem Larsen-Effekt und der Rückkopplung.[6] Die akustische Rückkopplung wurde zuerst von Søren Absalon Larsen um 1911 entdeckt. Der Larsen-Effekt ist eine besondere Art positiver Schleifenverstärkung, die auftritt, wenn eine Tonschleife zwischen einem Audioeingang z. B. einem Mikrofon-Tonabnehmer und einem Audioausgang z. B. einem leistungsverstärkten Lautsprecher besteht. Beispielsweise wird ein vom Mikrofon empfangenes Signal verstärkt und aus dem Lautsprecher geleitet. Der Ton aus dem Lautsprecher kann dann wieder vom Mikrofon empfangen, weiter verstärkt und dann wieder über den Lautsprecher ausgegeben werden. Radiques Titel Jouet Electronique gibt einen Wink auf ihr spielerisches Verfahren.

MaerzMusik: Der Kosmos von Éliane Radigue. (Screenshot T.F.)

Die elektronischen Spiele am Tonbandgerät lenken das Interesse am Klang in jene Bereiche, die als Fehler im üblichen Gebrauch des Geräts und seines Zubehörs gelten. Radigue komponiert ihre ersten Werke wie Jouet Electronique und Elemental I kleinteilig und komplex. Durch eine geringe Lautstärke, die ansteigt und wieder abfällt, ebenso wie durch Tonhöhen entstehen ruhige akustische Wellenbewegungen. Es gibt keine Klänge, die einen Gegenstand imaginieren ließen, vielmehr geht es Radigue um zeitlich strukturierte Klangereignisse im Obertonbereich. Wurden Tonbandgeräte zur Aufnahme und zum Abspielen von Musik, Klangereignissen, ethnologischen Sprachforschungen oder ganzen Hörspielen benutzt, bei denen es um eine Präzision ging, so macht Éliane Radigue die Technik selbst zum Produzenten elektronischer Musik. Ihre Kompositionen erhalten Titel, wie Usral (1969), In memoriam ostinato (1969), Stress Osaka (1969), Opus 17 (1970), Omnhtq“ (1970) und Vice-Versa (1970).

MaerzMusik: Der Kosmos von Éliane Radigue. (Screenshot T.F.)

Im Buddhismus und seinen religiösen Praktiken ist der Begriff der Leere entscheidend. Radigue begann zu jener Zeit, quasi in einer Welle der Entdeckung des Buddhismus, insbesondere des tibetischen Buddhismus wie des Zen in Europa und der europäischen Wissenschaft wie mit der Semiologie von Roland Barthes und seinem Buch L’empire des signes 1970 Meditation zu praktizieren. Die Praxis der Meditation als eine singulare Erfahrung zum 悟り Satori im Zen-Buddhismus geht aus einer langen Sitzhaltung und Ausrichtung des Denkens hervor. Sie wird von Roland Barthes mit dem pflanzenlosen Zen-Garten in Verbindung gebracht:
«Nulle fleur, nul pas :
où est l’homme?
dans le transport des rochers,
dans la trace du râteau,
dans le travail de l’écriture.»
(Keine Blumen, kein Fußabdruck: Wo ist der Mensch? Im Transport der Felsen, in der Spur des Rechens, in der Arbeit des Schreibens.)[7]

MaerzMusik: Der Kosmos von Éliane Radigue. (Screenshot T.F.)

Éleonore Huisse und François Bonnet finden mit einer Felsformation im Meer ein Bild, das an einen Zen-Garten erinnern kann. Es stellt sich anders als im Zen-Garten nicht die Frage nach dem Menschen. Vielmehr wird durch die Filmsequenz ein meditativer Blick auf das reine Geschehen in Wiederholungen mit minimalen Abweichungen gelenkt. Des Meeres Wellen brechen sich an der Felsformation, die vulkanischen Ursprungs sein könnte. Durch ein Menu-Fenster auf der Website eliane radigue entdecken lassen sich 7 Stücke von Raidque auf Souncloud anwählen. Kyema, Kailasha und Koume als elektronische Musikstücke entlehnen Begriffe aus dem Tibetanischen Buddhismus und werden ab 1975 mit einem Synthesizer des Modells ARP 2500 ausgeführt. Die elektronischen Klänge erinnern dabei an gebetsmühlenartige Wiederholungen oder auch tibetische Blasinstrumente. Vor allem Kailasha (1991) und Koume (1993) mit einer Dauer von 56:08 und 51:17 erinnern an die Meditationspraxis der Trance als einem Hinübergleiten in andere Bewusstseinsformen. Wie Viviane Waschbüsch am Institut für Musikologie der Sorbonne 2015 gezeigt hat, arbeitete Éliane Radigue bei diesen Kompositionen mit Texten des tibetanischen Buddhismus.[8]

Eliane Radigue – IMA Fiction Portrait #04 (2006) (Screenshot, Ausschnitt T.F.)

Die Kombinatorik von buddhistischen Texten und Artikulationsformen mit der Elektronik des monophonen, analogen, modularen Synthesizers ARP 2500 generiert Kompositionen, die von Éliane Radigue in Zeiträumen von bis zu einem Jahr geschrieben werden. Die Komposition wird selbst zur meditativen Praxis in mathematischen Mustern. François Bonnet schreibt, dass es der Komponistin immer darum ging, „Variablen zu finden“, um auf „bestimmte Parameter ihres Synthesizers“ einzuwirken.[9] Anders als im Modus des Digitalen erfordert der analoge Synthesizer einen konkreten, haptischen Eingriff, um die Klänge zu verändern und zu erzeugen. Radigue musste sich insofern auch bei der Ausführung der Komposition auf ein meditatives Spiel am ARP 2500, den sie mit dem Namen Jules personifizierte, einlassen. Jules wird zu einem Begleiter, mit dem sie kommuniziert. Die Transformation des elektrotechnischen Synthesizers mit seinen Drehknöpfen, Schiebern und Schaltern in „Jules“ gibt einen Wink auf die Komplexität der Klangproduktion.[10] Jules lebt für Éliane Radigue. 

Eliane Radigue – IMA Fiction Portrait #04 (2006) (Screenshot, Ausschnitt T.F.)

Im Planetariumssaal des Zeiss-Großplanetariums wurden am 22. März zwischen 20:00 Uhr und 0:00 Uhr Adnos I – III von 1974 bis 1982 aufgeführt. Mit den Konzerten im Planetarium wird der Bezug zum tibetischen Buddhismus aufgelöst, obwohl er durchaus prägend für die Kompositionen mit Jules ist. Es soll bei der Konzertreihe im Rahmen von MaerzMusik die elektronische Musik im Vordergrund stehen. Doch das Komponieren Éliane Radigues entsteht aus persönlichen Umständen. Die Konzerte sind bis 27. März sind nur vor Ort oder im Livestream zu erleben und zu hören. Die elektronische Musik von Éliane Radigue wurde u.a. auch deshalb marginalisiert, weil sie den Buddhismus und buddhistische Praktiken mit der Elektronik kombinierte. Musikologisch wird weiterhin eher vom Minimalismus ihrer Kompositionen mit dem ARP 2500 geschrieben als danach gefragt, was buddhistische Praktiken am Musikmachen verschieben.

© Camille Blake

Minimalismus oder Meditation? Das wäre eine Frage an das Komponieren von Radigue.  Am 24. März 2022 wurde neben Transamorem – Transmortem (1973) das ebenso kryptische wie einmalige Ψ 847 (1973)im Großplanetarium mit François Bonnet als Klangregisseur aufgeführt. Es sind in diesem Stück vor allem die Anschläge, die die Zeit minimalistische oder meditativ einteilen. Ψ 847 will nichts darstellen, nichts erzählen. Denn der dreiundzwanzigste Buchstabe des griechischen Alphabets in Kombination mit der Zahl 847 bringt nicht mehr als die Einmaligkeit hervor. Die Pianoanschläge werden von wellenförmigen Frequenzen überlagert und untermalt. Die erste Synthesizer-Komposition erforscht buchstäblich die technischen Möglichkeiten des Gerätes, das noch an ein Klavier erinnern kann.

© Camille Blake

Man muss sich in Élaine Radigues Musik hineinhören, ohne im europäischen Sinne verstehen zu wollen. Nach der elektronischen Phase wendet sich die Komponistin seit 2001 einem Komponieren aus der Begegnung mit Musiker*innen zu, die ihre Musikinstrumente mit ihr erforschen. Die Reihe der Occam Océan Konzerte wendet sich der Einmaligkeit der Musik als Klangforschung zu. Nun hätte der Berichterstatter überaus gern von den Livemusikereignissen des Festivals bereitet, wenn ihn nicht die 5. Welle der Covid-19-Pandemie und die nach wie vor geltenden Quarantäneregeln erfasst hätten. Dennoch lässt sich über MaerzMusik – Festival für Zeitfragen viel zu Éliane Radigue und die aktuelle Musik erfahren und von ihr hören.

Torsten Flüh   

Livestreaming

Freitag 25.03. 23:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 11
Les Chants de Milarepa I–IV (1983)

Samstag 26.03. 00:30 Éliane Radigue: The Electronic Works 12
Les Chants de Milarepa V (1983)
23:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 13
Triptych (1978)

Sonntag 27.03. 00:30 Éliane Radigue: The Electronic Works 14
Jetsun Mila (1986)
20:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 15
L’Île re-sonante (2000)
21:30 Éliane Radigue: The Electronic Works 16
7th Birth (1971)
23:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 17
Chry-ptus (1971)

Siehe Mediathek MaerzMusik 2022.


[1] MaerzMusik: Der Kosmos von Éliane Radigue: Éliane Radigue – Échos. Ein Film von Eléonore Huisse und François Bonnet. Berlin: MaerzMusik 2022. (Digital-Guide)

[2] DWDS Zitat: Gerlinde M. Wilberg: Zeit für uns – Ein Buch über Schwangerschaft, Geburt und Kind München: Frauenbuchverl. 1979, S. 56 (1992 als Taschenbuch).

[3] A. Elsas: Ueber electrische Wellen in offenen Strombahnen. Annalen der Physik, 1890, S. 53 ff.

[4] Heinrich Hertz: Ueber die Einwirkung einer geradlinigen electrischen Schwingung auf eine benachbarte Strombahn. In: Annalen der Physik, 1888, S. 155 ff.

[5] OWID: Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie. (corona)

[6] MaerzMusik: Der … [wie Anm. 1] Musikalische Untersuchung 2.

[7] Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1981, ohne Seitenzahl (S. 106).

[8] Viviane Waschbüsch: The influence of Tibetan Buddhism in the work of Eliane Radigue. ems 2015-06-03.

[9] MaerzMusik: Der … [wie Anm. 1] Musikalische Untersuchung 4.

[10] Siehe: Eliane Radigue – IMA Fiction Portrait #04 (2006). YouTube 18.02.2012.

Das Putin-Rätsel

Tyrann – Ideologe – Autokrat

Das Putin-Rätsel

Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten

Am Sonntag, den 13. März 2022, kam es in Berlin, die Staatsbibliothek Unter den Linden, Humboldt-Universität, Deutsches Historisches Museum, die Nationalgalerie und das Rathaus hatten die Flagge der Ukraine gehisst, am Alexanderplatz, auf der Karl-Liebknecht-Straße, Unter den Linden, auf dem Pariser Platz und der Straße des 17. Juni nicht nur zu einer großen Demonstration mit Zehntausenden, vielmehr gab es ebenso viele kleinere Protestaktionen. Vor der Akademie der Künste im Hanseatenweg hat Sasha Kurmaz seine Installation The Temple of the Transfiguration (2022) aufbauen lassen. Er ist 1986 in Kiew geboren und hat ein Berlin-Stipendium der AdK für Bildende Kunst erhalten. Am 15. März 2022 postete er auf seinem Facebook-Konto um 14:00 Uhr Fotos von ukrainischen „female heroes“, die in den letzten Tagen in der Ukraine getötet worden sind. Mit dem Temple of the Transfiguration visualisiert Sasha Kurmaz Machtstrukturen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche unter Moskauer Patriarchat (UOK MP).

Welche Machtpraxis schreiben wir Putin zu? Ist er Tyrann, Ideologe oder Autokrat durch seine Machtpraktiken? Worin unterscheiden sich die des fürchterlichen Tyranns von jenen des Ideologen? Verschiedentlich vermissten Kommentatoren biographisch-persönliche Fakten, die Aufschluss geben sollten über den, sagen wir ruhig, Charakter des Staatspräsidenten. Gibt es nun den megalomanischen Palast auf der Krim, den Alexander Nawalny recherchiert hat, oder nicht? Welche Frau erscheint nicht an seiner Seite? Wie reich oder wie arm ist der Herrscher aller Russen? Immer neue Experten, Slawisten, Psychologen, Militärexperten, geben ihre Einschätzungen ab. Die Bandbreite der zu Rate gezogenen Expert*innen vom Historiker Karl Schlögel über den Psychoanalytiker Slavoij Žižek – Was bedeutet es, Europa zu verteidigen? – bis zur Wirtschaftsjournalistin und Börsen-Moderatorin Anja Koch geben in unterschiedlichen Modi ihre Expertise ab. Was trägt Sasha Kurmaz künstlerische Intervention zur Annährung bei?

Neben The Temple of the Transfiguration hat Sasha Kurmaz eine Tafel mit einer ausführlichen Legende aufstellen lassen. Was ist das für ein Tempel? Zunächst erinnert er an einen schäbigen Bauwagen mit seltsamen Steckdosen und teilweise zerbrochenen Fenstern. Die Schäbigkeit verwandelt sich allerdings mit der orthodoxen Kuppel und dem goldenen Russischen Kreuz in ein machtvolles Versprechen einer Einheit von Ukrainisch-Orthodoxer Kirche und Moskauer Patriarchat. Die Herrschaft der Männer und des Patriarchen von Moskau und aller Rus Kyrill I. wird nach dem Ende der Sowjetunion im post-sowjetischen Russland und der Ukraine damit erneuert und seit 2009 restauriert. Diskussionen einer Teilhabe von Frauen und queeren Menschen, wie sie zwischenzeitlich die Katholische Kirche erreicht haben, gibt es in der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht. Der Tempel visualisiert eine Invasion und soziale Kontrolle, die lange vor dem 24. Februar 2022 begonnen hat.
The Temple of the Transfiguration besteht aus einer Kabine, die ursprünglich auf sowjetischen Militärlastwagen verwendet wurde, und einer orthodoxen Kuppel. Dieses Objekt ist der Versuch, eines der zahlreichen Beispiele für religiöse Pop-up-Gebäude zur rekonstruieren, die man heute in vielen Teilen der Ukraine vorfindet. Solche post-sowjetischen temporären Bauten tauchen in der Regel ohne Genehmigung der Stadtverwaltung in Ortschaften auf, um mittels Religion Bauland zu manipulieren und zu kontrollieren.“[1]    

Die Verquickung von sowjetischem Geheimdienst und russisch-orthodoxer Kirche als Machtapparat wird in Patriarch Kyrill I. offenbar. Wladimir Michailowitsch Gundjajew, seit 2009 zum Patriarchen geweiht, arbeitete während der Sowjetzeit als Priester und Offizier des Geheimdienstes KGB.[2] Er war somit ein Kollege des Dresdner KGB-Offiziers beim Auslandsgeheimdienst des KGB Wladimir Wladimirowitsch Putin. Beide sprechen fließend Deutsch. Denn Gundjajews Mutter war Deutschlehrerin. Ob es die deutsche oder die russische Linie ist, die eine vom Schriftsteller Marcel Beyer besonders herausgestrichene „Pedanterie“ zeitigte, lässt sich nicht entscheiden. Möglicherweise war es allerdings genau jene an typisch deutsche Rechthaberei grenzende „unerträgliche Pedanterie“, die den „gesichtslosen“ KGB-Offizier über alle Russen hinaus zum Staatspräsidenten beförderte:
„Es kann nicht nur seiner Tätigkeit als Geheimdienstmitarbeiter geschuldet sein, es muß in der Person liegen, denn es handelt sich um einen Mann, dessen Leben so wenig anekdotisches Material bereithält, daß seine Biographen es als mitteilenswert erachten, Mitgliedern eines hiesigen Anglervereins sei damals der neu beigetretene, aus Leningrad stammende Mann ausschließlich wegen seiner unerträglichen Pedanterie aufgefallen. Er habe stoisch an seinen Ansichten festgehalten, wie etwa der Köder richtig am Haken anzubringen oder die Leine in einem ganz bestimmten Winkel auszuwerfen sei, weshalb seine Vereinskollegen nahe daran waren, die Freude, an der ohnehin nicht gerade außerordentliche Freuden bescherenden Anglerei zu verlieren.“[3]  

Marcel Beyers durchaus ironische Beschreibung der Person und ihrer Biographen in der Recherche Putins Briefkasten von 2012 gibt einen Wink auf das literarische Genre der Biographie selbst. Die Aneinanderreihung, Verknüpfung und Kontextualisierung von Anekdoten generiert eine Biographie. In der Anekdote vom Anglerverein, deren Nebensächlichkeit sich für einen der mächtigsten Männer der Welt kaum überbieten lässt, wird rhetorisch ausgefeilt die möglicherweise „unerträgliche Pedanterie“ als Schwäche und Stärke zugleich lesbar. Lässt sich von da aus nicht ein Bogen schlagen zu den Auftritten Putins im Kreml, wenn die Türen aufgerissen werden von nach Nussknacker-Ballett-gleich salutierenden, goldbekordelten, durchgecasteten Jungsoldaten? Möglicherweise gibt es für jeden dieser Auftritte eine Generalprobe unter den Augen des Herrschers aller Rus, der jede Bewegung mit äußerster Pedanterie überwacht, bissig kommentiert – „Höher, höher das Kinn, Josef, zack, zack!“ – und den Winkel mit einem Geodreieck misst. „120 Grad. Josef, da gehen noch 5 Grad weniger!“ Die Pedanterie verwandelt jeden Menschen in eine Maschine, über die der pingelige Maschinist wacht. Das mag in der Kreml-Choreographie und im Imaginären funktionieren, bei den russischen Landstreitkräften aber offenbar nicht.

Zeigt sich nicht in der Praxis der Pedanterie das Imaginäre der Herrschaft? Die Wortverlaufskurve der Pedanterie befindet sich seit den 80er Jahre im freien Fall. Sie wird in der deutschen Sprache kaum noch gebraucht. Im Französischen und Italienischen wird der pedante für den Schulmeister gebraucht. Das Schulmeisterliche steht allerdings kaum mehr im Programm der Pädagogen. Frühe Pädagogiken um 1800 schaffen nach Anja Lemke ein systematisches Verhaltensdesign avant la lettre, das mit dem Schulmeisterlichen korrespondiert. Goethe schreibt an Schiller, dass sein Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre „Maschinen hat“ (S. 184), die ihn in Bewegung setzen und die Bildung des Wilhelm Meister antreiben. Insofern lässt sich sagen, dass der Schulmeister immer auch die Maschine als Verhaltensmodell im Blick hat. Als Synonyme verwendet man Kleinlichkeit, Bürokratismus, Korinthenkackerei.[4] Bekanntlich scheiterte die Pedanterie der Stasi spektakulär. Der Überwachungsapparat zur Machtsicherung der Funktionäre in der DDR, verzettelte sich buchstäblich in Karteikarten und Tonbändern etc., ohne dass die Stasi 1989 die Macht der Montagsdemonstrationen richtig einschätzen konnte. Pedanterie und Geheimdiensttätigkeit bedingen einander, wobei die Pedanterie immer in einen Machtverlust umschlagen kann.

Wiederholt ist es zu bedenkenswerten Fehleinschätzungen von Geheimdiensten nicht nur des sogenannten Ostblocks, sondern auch von CIA und BND zuletzt in Afghanistan oder in Kiew gekommen. So meldete das Redaktionsnetzwerk Deutschland am 25. Februar 2022 um 20:06 Uhr: „Vom russischem Angriff überrascht: BND-Chef musste Ukraine mit Auto verlassen“.[5] „Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, ist am Mittwoch in die Ukraine gereist. Dann wurde er vom russischen Angriff überrascht. Der Rückweg war beschwerlich.“ Putin ist bis heute ein pedantischer KGB-Offizier geblieben, der sich wie bei Kyrill I. mit ehemaligen KGB-Offizieren umgibt. „KGB“ und „Kirche“ operierten und operieren in der Ukraine offenbar gemeinschaftlich. Sasha Kurmaz lässt in The Temple of the Transfiguration die Transformation und Verklärung vermeintlich glorreicher Zeiten sichtbar werden.
„Darüber hinaus (über den „hybriden“ Krieg und den „Informationskrieg“, T.F.) beteiligte sich die UOK MP aktiv an nachrichtendienstlichen Aktivitäten und bot Deckung für die Aktivitäten russischer FSB-Agenten auf ukrainischem Gebiet. Während der Annexion der Krim halfen orthodoxe Priester der UOK MP russischen Spezialeinheiten und pro-russischen paramilitärischen Gruppen bei der Entwaffnung ukrainischer Militäreinheiten.“[6]  

Marcel Beyers Anekdote von der „unerträglichen Pedanterie“ findet nicht nur in der überwiegend männlichen Welt des Angelvereins statt, vielmehr wird sie zur obsessiven Kontrolle durch Geheimdienste eingesetzt. Die Dimension der Kontrolle bei Putin wurde in den historischen Analysen bislang weniger analysiert. Karl Schlögel und Ulrich Schmidt trafen am 22. November 2018 in der Mosse-Lecture Russland Versteher – Wenn es denn welche gäbe! aufeinander. Karl Schlögel analysierte als einen besonderen Bereich das russische Stadtbild und seine Veränderungen, wie die öffentlichen Plätze von Orten der offiziellen Machtdemonstration durch Aufmärsche zu Marktplätzen und zivilgesellschaftlichen Räumen wurden. Im essayistischen Modus seiner historischen Analysen kam Putin eher marginal vor, der das Narrativ „eines äußeren Feindes und der Fünften Kolonne“ als „Programm für das Licht am Ende des Tunnels“ vorführe.[7]  Putin sei ein „Meister in der Verwirtschaftung unverheilter Traumata“. In der Mosse-Lecture zum Semesterthema „Autokratien. Herausforderungen der Demokratie“ spielte bereits 2018 die Annexion der bis dahin ukrainischen Krim eine Rolle. Schmid wies daraufhin, dass das „Russland-Verstehertum“ ein „deutsches Phänomen“ sei.[8] Die offizielle politische Rhetorik in Russland sprach nach Schmid nicht von „Annexion“, sondern von „Wiedervereinigung“ mit der Krim, was bei einigen deutschen Politiker*innen 2014 für Verständnis sorgte.[9]

In der Monopolisierung von Macht und Geschichtserzählung hat sich Wladimir Putin in seinen Reden am 21.[10] und 24.[11] Februar 2022 lehrbuchgleich als Autokrat in Szene gesetzt. Die visuelle Rahmung beider Reden ist nicht unerheblich. Beide Reden hielt Putin als Videobotschaft aus einem präsidialen Arbeitszimmer am leergeräumten Schreibtisch mit Fahnen und zwei beigen Tastentelefonen, die aus den 80er Jahren stammen könnten. Putin liest die Reden offenbar nicht von einem Blatt oder einem Teleprompter ab. Die Geschichte in nicht immer beendeten Sätzen soll sowohl spontan, ad hoc wie beherrscht wirken. Zu Beginn der ersten Rede rückt Putin seine Krawatte zurecht, als müsse die epochale Bedeutung dieser Rede unterstrichen werden. Für die Botschaft der neuen Ordnung muss die Krawatte ordentlich sitzen. Die Kameraeinstellung für die zweite Rede weicht leicht ab, insofern nun eine graue Telefonanlage mit Minibildschirm stärker ins Bild gerückt wird. Putin sieht und hört alles. Er will aber auch, dass er von allen gesehen und gehört wird. Die Telefonanlage funktioniert als Machtapparat, der eine nahezu pedantische Kontrolle der Kriegsabläufe vorgibt.
„Sehr geehrte Bürger Russlands! Liebe Freunde!
Heute halte ich es erneut für notwendig, auf die tragischen Ereignisse im Donbass und die zentralen Fragen der Gewährleistung der eigenen Sicherheit Russlands zurückzukommen.
Ich möchte mit dem beginnen, was ich in meiner Rede vom 21. Februar dieses Jahres gesagt habe. Es geht darum, was uns besonders beunruhigt und besorgt, um diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden.“[12]

Die Herrschaftsform der Autokratie zeichnet sich nach der Formulierung der Mosse-Lectures als eine aus, „die auf Selbstermächtigung und Machtmonopolisierung gründet und die sich durch den Ausschluss des Anderen und Fremden konsolidiert.“[13] Das Eigene und das Andere werden denn auch von Putin in seiner Rede sogleich thematisch angeschlagen – „eigene() Sicherheit“ und „Bedrohungen … im Westen“. Die Form der Dichotomisierung eines Konflikts wird von Putin in, sagen wir ruhig, freier Rede, gesetzt, entwickelt und durchgespielt. Er gebraucht wichtig Schlüsselworte wie „Neonazis“ und „entnazifizieren“, um seinen Angriffskrieg zu legitimieren. Derartige Begriffe haben zu einer breiten, oft irrlichternden Diskussion über die Staatsform und Machtpraktiken Putins geführt. In seinem Interview mit Beat Soltermann für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) spricht der St. Gallener Slawist Ulrich Schmid allerdings weniger von Putin als Autokrat. Er bedauert vielmehr: „Wir haben Putin als Ideologen unterschätzt.“[14] Er verneint indessen, dass Putin ein Faschist oder Russland ein „faschistischer Staat“ sei. Zeigt sich in den beiden Reden Putin als Ideologe? Die Einordnung Putins und seiner Handlungen schwankt offenbar. Oder entsprechen sie Autokratien wie „die ,elektorale‘ Autokratie im Rußland Putins“, wenn man sie „als Hybride verstehen (kann), die die sozialen Systeme von Wirtschaft, Politik und Recht engst möglich verkoppeln“?[15] Die visuellen wie rhetorischen Inszenierungen der Reden passen eher zu einem Autokraten als zu einem Ideologen.

Putins Rhetorik hat es bewirkt, dass ideologische Argumentationsketten durcheinandergewirbelt werden. Faschismus, „Autokratismus“[16] und Tyrann stehen plötzlich als Begriffe und Wahrnehmung nebeneinander. Diese Art Begriffsverwirrung ist nicht etwa zufällig oder nur propagandistisch, vielmehr gehört sie zur Rhetorik Putins. Sie gehört zu seinem Erzählstil. Der bis dato nur von Donald Trump als Präsident der USA 2020 bezüglich des Ursprungs von Sars-Cov-2 übertroffen worden ist, wie mit Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens thematisiert wurde. Hat Putin, wie häufig en passant von Karl Schlögel fallen gelassen wird, „Postmoderne“ gelernt? Signalbegriffe wie „Faschismus“ oder „Genozid“ bezüglich der ukrainischen Politik werden nicht nur an russische „Bürger“ und „Freunde“ adressiert, sie führen sogleich wie im SRF zur Frage, ob Putin Russland in einen „faschistischen Staat“ verwandelt habe. Slavoj Žižek hat aus Ljubiljana, Slowenien, in diesen Tagen auf die Begriffsverwirrung aufmerksam gemacht:
„Ist das Problem wirklich der ukrainische Faschismus? Da hilft es, Russland selbst zu betrachten: Putins intellektueller Leitstern ist Iwan Ilyin, dessen Werke wieder gedruckt und an die staatlichen Apparatschicks und Militärs verteilt werden. Nachdem er Anfang der 1920er Jahre aus der Sowjetunion verbannt worden war, vertrat Ilyin eine russische Version des Faschismus: des Staates als einer organischen Gemeinschaft, die von einem paternalistischen Monarchen regiert wird und wo die Freiheit zurückstehen muss.“[17]

Putin stellt keine Frage, sondern er beantwortet alle Fragen, ohne gefragt worden zu sein. Er beantwortet Fragen im Voraus. Damit ist er erstens nicht postmodern und zweitens vermeintlicher Herrscher des Diskurses bzw. der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Derart klare Antworten sind selbst in der Wissenschaft unter den Historikern unüblich. „Die Antwort ist klar, verständlich und offensichtlich. Die Sowjetunion wurde Ende der 1980er Jahre schwach und brach dann völlig zusammen (…)“[18] Die einleitenden rhetorischen Fragen nehmen die Antwort vorweg, die das „russische Trauma“ anspricht. Oder ist das russische Trauma der Sowjetmensch in seinen standardisierten Zimmern und den Ängsten, etwas Falsches zu sagen, wie es der junge Slawist Ivan Kulnev in seinen Collagen bearbeitet hat und 2017 mit Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen besprochen worden ist? Die Antworten des sowjetischen Projekts bestanden wie beim Verb oktobern für eine Art sowjetische Taufe in einer Transformation von Begriffen. Währenddessen hat sich der Moskauer Finanzdistrikt in ein megalomanisches Hochhausviertel verwandelt und die russischen Oligarchen fahren (fuhren) mit den größten Yachten um die Welt. Auf Bali sitzen nun nach Kriegsbeginn und erfolgten Sanktionen tausende Russen fest. Man könnte fragen, an wen sich Putin mit dieser rhetorischen Milchmädchenrechnung wendet, wenn es nicht offensichtlich wäre. Nämlich an jene Abermillionen russische Bürger, die weiterhin in der sowjetischen Platte in Woronesch leben und schwerlich wie die Moskauer Schwulen aus den Hotels und Dienstleistungsunternehmen für das Wochenende nach Barcelona fliegen konnten! Die Antworten der Geschichte sollen die innenpolitischen Probleme verdrängen.  

Die Figur des „paternalistischen Monarchen“ bei Iwan Ilyin ist in den paternalistischen Erzähler, dem Vater als Wirklichkeitsproduzenten gewichen. Wladimir Wladimirowitsch Putin ist immer rasiert, trägt Anzug mit Hemd und Krawatte und fördert plötzlich dadurch visuell geradewegs das Gegenmodell Wolodymyr Selenskij als aufbegehrenden Sohn, dem selbst im Deutschen Bundestag applaudiert wird. Klassischer könnte die Rollenverteilung kaum sein, die sich spürbar gegen Putin wendet. Das ist keinesfalls ein Nebenschauplatz des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges, der nach „Putins Hofphilosoph Alexander Dugin“ nur „wirklich entscheiden (kann)“, wie ihn Žižek zitiert. „Wenn Putin über die „Entnazifizierung“ der Ukraine spricht, sollten wir uns an seine Unterstützung für Marine Le Pens Nationale Sammlungsbewegung in Frankreich, Matteo Salvinis Lega in Italien und andere wirklich neofaschistische Bewegungen erinnern.“[19]

Die genaue Analyse der Reden und Putins Reden ist wichtig. Vieles spricht dafür, dass sich Putin kein postmodernes, sondern ein recht altes, sowjetisches Redenmodell inkorporiert hat. Der haltlose Missbrauch von Begriffen, um Wirklichkeit zu produzieren, sollte einfach ignoriert werden. Ist er wohl gar ein Symptom der Pedanterie? Eine gewisse Obsession für den Missbrauch von Begriffen lässt sich in beiden Reden beobachten: „fundamentale Bedrohung“, „Kriegsmaschinerie“, „Terrorismus“, „Extremismus“, „Lügenimperium“, „Anti-Russland“, „extreme Nationalisten und Neonazis in der Ukraine“, „kriminelle Befehle“, „Wiedervereinigung mit Russland“, „Volksrepubliken“, „Artikel 51 Absatz 7 der UN-Charta“, „demilitarisieren“, „russische Spezialoperation“, „entmilitarisieren“, „entnazifizieren“, „vor Gericht bringen“, „Aneignung der Ukraine durch das Nordatlantische Bündnis“, „Freiheit“, „Recht“, „volksfeindliche Junta“, „Neonazis“, „Gerechtigkeit und Wahrheit“, „Intelligenz“.[20] 

Putin gebraucht und missbraucht eine ganze Reihe von Begriffen, die im internationalen Diskurs der Nachkriegszeit besonders wirkmächtig waren. Und er kennt zweifelsohne als ehemaliger KGB-Offizier und Männerfreund des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder das begriffliche Instrumentarium des Westens. – Aber bei Putin haben auch Männerfreundschaften ihre Zeit und ihren Zweck. – Er weiß, welche Begriffe vorkommen müssen, um verstanden zu werden. Und gerade deshalb hinterließen die Reden eine tiefe Verstörung bei den Analysten im Westen, wenn man es einmal so sagen will. Der widerrechtliche oder dysfunktionale Gebrauch der Begriffe ließ BILD hilflos von einer „irre(n) Rede“ sprechen. Irre war die Rede vielleicht nicht, aber berauscht von der eigenen Macht als Mann, der jetzt alles sagen darf und will. Der ultimative Missbrauch der Begriffe korreliert mit den Putins Artikulationen und Inszenierungen von Potenz (Macht/Vermögen) und Vergewaltigung wie sie mit Fragen der Intelligenz kürzlich besprochen worden sind. Die Performanz von Männlichkeit und Macht ist dem 69jährigen wichtig.

Am wirkungsvollsten lässt sich die rhetorische Figur der Drohung am Schluss beschreiben, indem er eine „Bedrohung für unser Land und unser Volk“ insinuiert. Als letzten Satz schiebt er die ultimative Drohung hinterher: „Ich hoffe, dass ich gehört werde.“[21] Putin droht mit der Atombombe. Die Drohung ist in der Politik eine vielgeübte und gut bekannte rhetorische Figur als lateinisch argumentum ad baculum. Im Englischen gibt es für eine Reihe Formulierungen appeal to forceappeal to powerappeal to briberyargument to the cudgel oder appeal to the stick. Statt mit vernünftigen oder intelligenten Argumenten wird mit Macht – Atommacht – und Gewalt – Vernichtungskrieg – gedroht. Vernunft und Intelligenz als Mittel der Diplomatie werden für nichtig erklärt. Rhetorisch ist deshalb der vorausgegangene Zuruf „Ihr habt Macht, ihr braucht keine Intelligenz.“[22] aufschlussreich. Geht es doch nach wie vor um die Frage, wie intelligent Putin sei. Wie intelligent ist aber jemand, der seinen Hörer*innen entgegenruft: „Ihr habt Macht, ihr braucht keine Intelligenz.“ Damit wird zumindest das Modell der Intelligenz, mit der sich Macht erlangen lässt, annulliert.

Ist es eine Formulierung der Macht, wenn Putin hofft – „Ich hoffe“ –, gehört zu werden? Ist eine Drohung ein Zeichen der Stärke, um einen Krieg zu beginnen und ihn eskalieren zu lassen? Hatten wir Putin am 21. Februar 2022 nicht gehört? Wenn man gehört wird, auf einen gehört wird, dann könnte das für Macht sprechen. Wer nicht gehört wird, hat keine Macht. Hat Putin sich in ein Gehörtwerden hineingeredet? Er hat sich zumindest reden gehört. Der Wunsch gehört zu werden, spricht zweifelsohne stark aus dem Schlusssatz. Aber er schließt auch ein, dass er trotz der Gespräche am meterlangen Tisch, trotz des Arsenals an Telefonen und trotz der Videobotschaft nicht gehört wird. Man könnte das die ultimative Angst des Vaters, der das Gesetz verkörpert, die Angst des Patriarchen von Moskau und aller Rus, des ehemaligen KGB-Offiziers Kyrill I. nennen, dass die transformierten Militärkabinen und Kathedralen leer bleiben und sie nicht mehr gehört werden. Dann werden sie zusammen mit der ultimativen Vaterfigur des Papstes, lateinisch papa, fast plötzlich hinweggerissen.

Auf der Demonstration am 13. März 2022 zeigten sich viele Menschen mit der ukrainischen Flagge in Blau und Gelb. Noch interessanter waren die Demonstrant*innen mit den weiß-hellblauen Flaggen, bei denen der Berichterstatter zunächst Schwierigkeiten hatte, sie ein- oder zuzuordnen. Finnland? Nein, das wäre ein blaues Kreuz. Am Brandenburger Tor erklärte eine junge Frau in perfektem Deutsch, sie sei Russin und habe zwei ukrainische Großväter. Sie sei vor 14 Tagen nach Deutschland gekommen und Jüdin. Die Flagge, die sie zeige, sei eine neue russische Flagge, aus der das Rot in der russischen Flagge entfernt worden sei, weil es für das Blut des Krieges stehe. Wir kennen die Herkunft dieser Flagge nicht. Aber sie war vielfach auf der Strecke der Demonstration zu sehen. Eine Flagge ist ein Hoheitszeichen. Sie beansprucht mittelbar oder unmittelbar die Macht eines Landes. Während Putin sich noch in den Insignien der Macht zwischen den Russischen Flaggen per Video produziert, werden genau diese Insignien mit Smartphones und einer neuen Flagge hundert- oder gar tausendfach in Frage gestellt.

Die Vielfalt war dann an „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protestaktionen auffällig. Viele junge Russ*innen und Ukrainer*innen sprachen z.B. seitlich der Russichen Botschaft in Berlin oder bei #PUTINSTOPKILL am Brandenburger Tor. Ein russisches Paar tanzte nah an der Siegessäule auf der Straße des 17. Juni ein perfektes Pas de deux. Tänzer*innen aus russischen Ballett-Compagnien verlassen St. Petersburg und Moskau. Opernchöre singen die ukrainische Nationalhymne und vieles mehr, was sich nicht beherrschen lassen will, Menschen, die sich der Drohung Putins nicht unterwerfen wollen, bilden eine Mehrheit, die nach dem Demokratieindex[23] für die Ukraine auf Platz 79 mit einem „Hybridsystem“ noch 2020 kaum vorstellbar schien.

Torsten Flüh  


[1] „Das Projekt wurde im Jahr 2021 begonnen, konnte aber aufgrund der von Russland am 24. Februar 2022 eingeleiteten umfassenden Invasion der Ukraine nicht abgeschlossen werden. Seitdem ist es Sasha Kurmaz nicht gelungen, das Land zu verlassen.“
Sasha Kurmaz: The Temple of the Transfiguration. Berlin, 2022. (Deutsche Übersetzung von Anne Diestelkamp).

[2] Wikipedia: Kyrill I..

[3] Marcel Beyer: Putins Briefkasten. Acht Rechercehn. Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 11.

[4] Siehe: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Pedanterie.

[5] RND: Vom russischem Angriff überrascht: BND-Chef musste Ukraine mit Auto verlassen. In: RND 25.02.2022 20:06 Uhr.

[6] Sasha Kurmaz: The … [wie Anm. 1].

[7] Karl Schlögel: Russland Versteher – Wenn es denn welche gäbe! In: Mosse-Lectures 01.12.2022 um Minute 105.

[8] Ebenda um Minute 116.

[9] Ebenda um Minute 120.

[10] NTV: LIVE: #Putin hält Rede an die Nation zur Russland-Ukraine-Krise. YouTube: 21.02.2022.

[11] phoenix: Wladimir Putin zum Angriff Russlands auf die Ukraine am 24.02.22. YouTube: 24.02.2022.

[12] Die Rede von Wladimir Putin im Wortlaut. In: Die ZEIT 24. Februar 2022, 5:59 Uhr.

[13] Mosse-Lectures: Autokratien. Herausforderung der Demokratie. Berlin 2018.

[14] Echo der Zeit: Ist Russland unter Putin ein faschistischer Staat? SRF: 15.02.2022 19:18.

[15] Mosse-Lectures: Autokratien … [wie Anm. 13].

[16] Ebenda.

[17] Slavoj Žižek: Was bedeutet es, Europa zu verteidigen. In: Project Syndicat Mar 2, 2022.

[18] Die Rede … [wie Anm. 12].

[19] Slavoj Žižek: Was … [wie Anm. 17].

[20] Die Rede … [wie Anm. 12].

[21] Ebenda.

[22] Ebenda.

[23] Wikipedia: Demokratieindex.