Wissen – Begriff – Pandemie
Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie
Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte
Thomas Oberender hat nach Abschluss des Jahres 2020 am 4. Januar 2021 eine Liste von rund 300 „Denk-Wende-Worte(n)“ aus Hunderten in einer Liste für die Serie Licht an – „Wie also kommen wir ans Licht?“ – der Süddeutschen Zeitung aufgeschrieben.[1] In dieser Liste findet sich ein Teil der Worte und Begriffe, die seit mehr als einem Jahr, nämlich dem 27. Januar 2020 in Deutschland und den deutschsprachigen Medien unser Wissen zur Covid-19-Pandemie bilden und abbilden. Am 28. Januar teilte Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml mit, es seien „insgesamt rund 40 Mitarbeiter der Firma …, die als enge Kontaktperson in Frage kommen“ ermittelt worden.[2] Das Wort „Kontaktperson“ erhielt schlagartig ein epidemiologisches Bedeutungsfeld, wurde in Video-Konferenzen zum Streitpunkt, erfuhr einen inflationären Gebrauch und ging in einen Gesetzestext ein.
In Thomas Oberenders Liste kommt die Kontaktperson ebenfalls unter seinen ersten 50 Worten vor, um in Komposita wie „Kontaktverfolgung“, „Kontaktketten“ und „Kontaktintensitäten“ wiederzukehren. Die Gebrauchsfrequenz für Kontaktperson müsste in der „Wortverlaufskurve“ des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache für 2020 sprunghaft angestiegen sein, was allerdings noch nicht in der Grafik abgebildet wird.[3] Google findet zwischenzeitlich 12.700.000 Seiten in 0,44 Sekunden für die Suche nach Kontaktperson.[4] Der Begriff wurde nach dem DWDS in den 1950er Jahren geprägt. Kontaktperson ist, wie es Oberender nennt, ein „Historienbild() unserer Zeit“ ebenso wie Lockdown, Home-Office und Maßnahmenpaket und viele mehr. „In dieser Sphäre der Worte, die unser Denken versorgen, gibt es also zahllose Spreader, die unseren Verstand genauso fördert wie Täuschung.“[5] Die Bedeutungsverschiebungen von Wörtern generieren Wissen, weshalb hier einmal mit der Kontaktperson diesen nachgespürt werden soll.
Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache ist ein guter Einstieg für die Frage nach der Herkunft und Bedeutung der Kontaktperson. Mit der Quellenangabe des „Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in der 3. Auflage von 1999“ wird an erster Stelle der Bedeutungen jene in der Medizin genannt, um zugleich „selten“ in die Kriminalliteratur überzugehen.[6] Der Wahrig von 1997 kennt sogar nur die Kontaktperson als „jem. der mit einer an einer Infektionskrankheit leidenden Person Kontakt hatte u. daher ansteckungsverdächtig ist“.[7] An der Verlaufskurve und den typischen Gebrauchsverbindungen der Kontaktperson lässt sich im DWDS lesen, wie häufig sie dagegen mit Agent, Attentäter, Terrorverdächtige, Unterstützer, Verdächtige, abgeschöpft etc. verwendet wurde.[8] Bis 2010 nahm die Gebrauchsfrequenz insbesondere wegen des Terrorismus zu, während gleichzeitig Quarantäne, Infizierte und nur sehr selten Patient mit der Kontaktperson verwendet wurden.
Der Bedeutungswandel der Kontaktperson ist ein interessantes Beispiel für das Wissen, das mit ihr verknüpft wird oder einhergeht. Denn sie wird selbst zum Gegenstand wie zur Schaltstelle von Wissen. Während sich Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhundert die Kontaktperson besonders in der Medizinliteratur festsetzt, und zwar so deutlich, dass der Duden wie der Wahrig sie dort fast ausschließlich verorten, hatte der Satiriker und Autor Chlodwig Poth 1974, wie Christa Rotzoll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, das „biedere() und etwas flaue() Buch“, den Roman Kontaktperson geschrieben.[9] Im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz wird Poths Romantitel überhaupt als erstes bzw. zweiunddreißigstes und letztes Suchergebnis von 1975 angeführt.[10] Vor 1975 gibt es die Kontaktperson nicht im StaBiKat. Der Romanautor und Satiriker Chlodwig Poth spielt anscheinend mit der Doppelbedeutung von Medizin und sozialer Kontaktaufnahmen, wenn Rotzoll schreibt, „einige äußere Spannung durch die Suche nach Personen, die mit Pocken-Viren infiziert sein könnten, aus dem gleichen Anlaß Einblick in verschiedene Milieus und Lebensschwierigkeiten“ gibt.[11] – Da die Staatsbibliothek „coronabedingt“ geschlossen ist, konnte Kontaktperson leider nicht ausgeliehen und gelesen werden.
Überraschenderweise wurde der Begriff Kontaktperson nach Helmut Müller-Enbergs zuerst 1958 als „vertrauenswürdige(r) Bürger“ in den „IM-Richtlinien“ des Staatssicherheitsdienstes der DDR definiert. Die effizient „KP“ abgekürzte Kontaktperson werde „zur Lösung bestimmter Aufgaben angesprochen“.[12] Das MfS-Lexikon als Online-Nachschlagewerk für die Sprache des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gibt einen Einblick in die Funktion, Benutzung und das Umfeld der KP. Auf diese Weise geht die Kontaktperson in die Sprache und Überwachungsliteratur der Stasi ein. Doch der Begriff stellt sich nach Müller-Enbergs als „unscharf“ heraus und variiert bis Ende der 70er Jahre. Über Kontaktpersonen soll nach den Richtlinien für Inoffizielle Mitarbeiter (IM) von der KP konspiratives Wissen „abgeschöpft“ werden. Denn abschöpfen, wie man etwa Fett von einer Suppe abschöpft[13], heißt nach dem MfS-Lexikon: „… die vom Informationsgeber unbemerkte Sammlung von operativ relevanten Informationen.“[14] Abschöpfen wie Infizieren lassen sich als Modi der Übertragung beschreiben.
An dieser Stelle muss einmal auf die KP als Kürzel und das Wissen eingegangen werden. Die Verwendung von Abkürzungen in der MfS-Literatur generiert ein besonders mächtiges Wissen, weil es von einem begrenzten Kreis von Mitarbeitern des MfS verwendet wird und z.B. in den IM-Richtlinien die Bürger der DDR in Kategorien einteilt. Beispielsweise wurde eine „IM-Kategorie namens „A-Quelle“ (Abschöpfquelle; Quelle)“ definiert.[15] Durch die Kategorien wird ein durchstrukturiertes System des Wissens geschaffen. Als Abbreviation könnte KP ebenso gut Kommunistische Partei heißen. Was KP heißt oder wofür es steht, erschließt sich nur aus dem Kontext oder der permanenten Wiederholung in einer Fachsprache. Zugleich wird die Abbreviation zu einem Ausschlussverfahren, durch das der Zugang zu einem Fachwissen zumindest erschwert werden soll. Man könnte sie auch eine Codierung nennen. Nur wer den Code kennt, erhält Zugang zum Wissen und kann es auch gebrauchen. Die Semiologie hat die Funktion des Codes in den 60er Jahren untersucht, so dass Roland Barthes von einer „Zirkularität des Codes“ gesprochen hat.[16] Die Zirkularität generiert Wissen, so auch mit der Kontaktperson.
Nach dem Ende des MfS und der DDR spielte die Kontaktperson im Plural vor der COVID-19-Pandemie vor allem eine Rolle in der Terrorismusbekämpfung. Das Gemeinsame-Daten-Gesetz erfuhr durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 2013 eine strenge Regelung hinsichtlich der gespeicherten Daten durch die Polizeibehörden und Nachrichtendienste des Bundes und der Länder. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das „Antiterrordateiengesetz (…) dem (Übermaßverbot) nicht vollständig (genüge), nämlich hinsichtlich der Bestimmung der beteiligten Behörden, der Reichweite der als terrorismusnah erfassten Personen, der Einbeziehung von Kontaktpersonen, der Nutzung von verdeckt bereitgestellten erweiterten Grunddaten, der Konkretisierungsbefugnis der Sicherheitsbehörden für die zu speichernden Daten und der Gewährleistung einer wirksamen Aufsicht“.[17] Der „unscharfe“ Begriff der Kontaktperson wurde nun grund- und datenrechtlich zum Problem und musste genauer definiert werden. Das Antiterrordateiengesetz wurde daraufhin 2014 hinsichtlich des Schutzes von Kontaktpersonen geändert.
Der Datenschutz nimmt sich der Kontaktperson an. Die „Anzahl der Daten“, die zu „Kontaktpersonen“ gespeichert werden dürften, werde „begrenzt“. „Eine Kontaktperson darf nicht mehr selbständig, sondern nur als sog. erweitertes Grunddatum zu einer Hauptperson hinzu gespeichert werden.“[18] Die Kontaktperson als „erweitertes Grunddatum zu einer Hauptperson“ im Datenschutz gewährt ihr paradoxerweise mehr Rechte, indem sie nicht mehr „selbständig“ gespeichert werden darf. Gerade ihre unsichere Position führte datenschutzrechtlich zu mehr Schutz der Persönlichkeitsrechte als Grundrechte einer Kontaktperson. Die Begrenzung der „Anzahl der Daten“ macht sie zu einer schützenswerten Person. Damit erhielt die Kontaktperson insbesondere durch die Verdatung eine genauere Definition. Für die aktuelle Diskussion um Daten und Datengenerierung im Informationszeitalter nimmt die Kontaktperson insofern eine entscheidende Funktion ein.
Der Kontakt und die Kontaktperson betreten die Bühne der Literaturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich aus der Mathematik die Informatik, Informationstechnologien oder Künstliche Intelligenz um Alan Turin herauszubilden beginnen.[19] Die „Lösung bestimmter Aufgaben“ durch die Kontaktperson der Stasi spielt sich in jenem sprachlichen und ideologischen Bereich von Information, Informationsgewinnung und Daten ab, die sich im 21. Jahrhundert voll ausgebildet hat. Daten gelten nun als Wissen, das verknüpft, gespeichert, berechnet und zirkuliert werden kann. Doch im Unterschied zum MfS hatte die Kontaktperson einen entscheidenden Bedeutungswandel durchgemacht. Sie gilt zunächst als Quelle von Informationen bzw. Daten, die abgeschöpft werden sollen. Im Antiterrordateiengesetz verliert sie ihre Selbständigkeit und darf nur als „Grunddatum zu einer Hauptperson“ geführt werden. Im Zeitalter der Datenverarbeitung bzw. Künstlichen Intelligenz wird die Informationsverarbeitung zu einem Problem, das rechtsstaatlich geregelt werden muss.
Der Kontakt und die Kontaktperson sind Begriffe des 20. Jahrhunderts. Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt nicht einmal den Kontakt, auf KONSTABEL folgt KONTERBUNT.[20] Die Literaturen bis ans Ende des 19. Jahrhunderts verwenden weder den Kontakt noch die Kontaktperson. Erst Meyers Großes Konversationslexikon in der 6. Auflage von 1905-1909 erklärt den Kontakt aus der Geometrie und führt die „Kontaktelektrizität“ als „soviel wie Galvanismus“.[21] Es zeichnet sich ab, dass die Kontaktperson und das Denken des Kontaktes eine relativ neue Wissensformation sind. Besuche und Treffen finden noch im 19. Jahrhundert nicht als Kontakt, aber schon gar nicht „kontaktlos“ statt. Die Kontaktperson in der Fachsprache des Staatssicherheitsdienstes wie in der Epidemiologie mussten sich erst herausbilden und formalisiert werden, um nach dem Glossar zu COVID-19 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ihre Bedeutung herauszubilden:
„Person im Umfeld eines Infizierten bzw. Erkrankten, bei der je nach Kontakt die Möglichkeit einer Ansteckung besteht und die daher ggf. einer weiteren Beobachtung und evtl. weiterer Schutzmaßnahmen bedarf.“[22]
Das absolut Neuartige der Pandemie gegenüber früheren wie der AIDS-Epidemie ist die Transformierung in ein informationelles „Kontaktgeschehen“, das über die Anzahl von Kontaktpersonen in großem Ausmaß staatlich nicht zuletzt mit einer Smartphone-App über Bluetooth-Technologie zu kontrollieren versucht wird, um zugleich vom menschlichen Verhalten wie den „Kontaktintensitäten“(Oberender) destabilisiert zu werden. Während der sogenannten ersten Welle brach eine Diskussion über eine „Kontaktsperre“ und „Kontakt-Beschränkungen“ auf. Denn die „Kontaktsperre“ erinnerte im deutschen Strafrecht an die Unterbrechung jedweder Verbindung eines Straf- oder Untersuchungsgefangenen mit anderen Gefangenen und der Außenwelt. Dafür gab es das umstrittene Kontaktsperregesetz von 1977, das zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt wurde. Bereits am 31. März 2020 hat das Bundesverfassungsgericht mit der Ablehnung des Antrags auf eine Verfassungsbeschwerde entschieden, dass die epidemiologischen Kontakt-Beschränkungen keine „Kontaktsperre“ sind. Wegen Begriffsüberschneidungen nicht zuletzt auf verfassungsrechtlicher Ebene könnte man sagen, dass sich über die Kontaktperson im Hintergrund der Pandemie und ihrer medialen Übertragung eine Auseinandersetzung zwischen Künstlicher Intelligenz wie der Corona-Warn-App und „unsere(m) Verstand“ abspielt. Nie wussten wir so viel, so schnell und so genau über ein Virus, seine Übertragungswege und seine Dynamik anhand von Zahlen und Rechenprozessen.[23]
Vor einem Jahr wussten wir sehr wenig, fast nichts, aber es gab sogleich ein Bild vom Virus nach einem Rechenmodell in allen Nachrichtensendungen, als hätten wir es. Das Bild vom Virus, das zunächst permanent wiederholt wurde, erinnerte an die Funktion eines Fahndungsfotos. Der Virustäter war visuell „identifiziert“ und gleichsam zur Fahndung ausgeschrieben worden. Zwischenzeitlich hat sich das Bild von Sars-Cov2 in vielfacher Weise ausdifferenziert. Es ist im Werbespot zum russischen Impfstoff Sputnik V eingegangen und umschließt in Bildkombinationen den Erdball, hält ihn als Geisel. Mit dem Bild sah es so aus, als hätten wir das Virus erfasst. Diese Fokussierung auf das Virus verdrängte und konkurrierte auch mit dem der Kontaktperson. Wer den Virus als Feind der Menschen, der Menschheit darstellt, verdrängt auch das Wissen um die Verantwortung über die Kontakte der Menschen untereinander. Schließlich generiert die Wissensdynamik, sozusagen systemimmanent, immer neue Mutanten, die mit dem Wissen ständig neues Unwissen generieren. Die Gefahr wird nach außen projiziert und nicht als verhaltensbedingt wahrgenommen. Jede Mutante erhält aktuell schnell eine visuelle Eigenart.
Noch in der Textfassung des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20. Juli 2000 kommt die Kontaktperson als Begriff nicht vor.[24] Zwar kommt im § 8 der „Zur Meldung verpflichtete(n) Personen“ in Abs. 1 unter Nr. 4 hinsichtlich des Rabiesvirus bei Tieren die Formulierung vor, dass „bei Tieren, mit denen Menschen Kontakt gehabt haben, auch der Tierarzt“ zur Meldung verpflichtet sei[25], aber der seit Ende Januar 2020 völlig geläufige Begriff der Kontaktperson kommt zunächst im maßgeblichen Gesetzestext nicht vor. Man könnte das eine Begriffslücke oder ein Begriffsvakuum nennen, die zugleich einen Wink darauf geben, wie ein Begriff neu geprägt wird. Erst mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Frühjahr 2020 findet im Text die „Kontaktpersonennachverfolgung“ durch das Robert-Koch-Institut in § 4 Abs. 3 Erwähnung und wird nicht zuletzt datenrechtlich geregelt:
„das Robert Koch-Institut darf im Rahmen seiner Aufgaben nach den Sätzen 1 bis 3 personenbezogene Daten verarbeiten“.[26]
Das Robert Koch-Institut wird zum Scharnier für die Kontaktperson, obwohl das Glossar für die Gesundheitsberichterstattung, kurz GBE, sie bislang nicht führt.[27] Der Stand der Gesundheitsberichterstattung des Bundes vom 14.09.2016 kennt den Begriff nicht.[28], obwohl er zu einem der wichtigsten für die Pandemie-Bekämpfung geworden ist. Im § 11 des Infektionsschutzgesetzes – „Übermittlung an zuständige Landesbehörde und an das Robert Koch-Institut“ – erscheint zum ersten Mal die Kontaktperson im Plural:
„j) bei Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19): durchgeführte Maßnahmen nach dem 5. Abschnitt; gegebenenfalls Behandlungsergebnis und Angaben zur Anzahl der Kontaktpersonen, und jeweils zu diesen Angaben zu Monat und Jahr der Geburt, Geschlecht, zuständigem Gesundheitsamt, Beginn und Ende der Absonderung und darüber, ob bei diesen eine Infektion nachgewiesen wurde, …“[29]
Die kurze Begriffsgeschichte der Kontaktperson zeigt, wie wechselhaft, aber auch anschlussfähig das Wort gebraucht wird, um Wissen zu generieren. In der Datenbank des Robert Koch-Instituts wird das Wort zum ersten Mal für das Infektionsepidemiologische() Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2006 mit lediglich 2 Nennungen nachgewiesen.[30] Selbst in der Fachpublikation kommt die Kontaktperson bzw. ihr Plural stark formalisiert nur in der Negation vor: „Infektionen bei Kontaktpersonen sind nicht bekannt geworden.“[31] Erst der ungeahnt heftige Ausbruch der Pandemie macht die Kontaktperson zur Schnittstelle des Wissens, um zugleich mit der „Kontaktpersonennachverfolgung“ durch die Gesundheitsämter massive Grenzen ihrer Praktikabilität aufzuzeigen. Letztlich wird deshalb der Inzidenzwert auf 35 gesenkt, um wieder die Kontrolle über die Ausbreitung durch Quarantäne zu gewinnen. So lange „Infektionen bei Kontaktpersonen (…) nicht bekannt geworden“ waren, hat das Modell prima funktioniert. Insofern die Infektion heute als ein Austausch von genetischen Informationen verstanden wird, basiert sie auf einer Art Übertragung feindlichen Wissens, das in den Körper eindringt und ihn zerstört, langfristig umprogrammiert oder gleich tötet.
Ebenso wenig wie wir über den Ursprung des Virus in seiner epidemiologischen Ausbreitung beim Menschen herausgefunden haben, wissen wir, wo, wann und warum es zu Mutationen kommt. Selbst die WHO hat mit ihren Nachforschungen im Januar und Februar 2021 in Wuhan, den Übersprung des Virus auf den Menschen nicht klären können. Während im März und April 2020 intensiv über den Ursprung durch eine Zoonose mit dem Pangolin, der Fledermaus oder auf dem Markt in Wuhan durch Lachs diskutiert wurde bzw. Donald Trump, damals Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, gleich ein chinesisches Labor in Wuhan verdächtigte[32], werden weder spezifische Tiere noch das Labor in der Abschlusserklärung der WHO-Delegation genannt, vielmehr wurde vereinbart, weiterhin nach dem Ursprung in zwei Phasen zu suchen: „The search for the origins of SARS-CoV-2 therefore need to focus on two phases. The first phase involves viral circulation in animal hosts before zoonotic transfer. During this evolutionary process, various animal species may serve as reservoir hosts.”[33] Der Übertragungswirt könne noch nicht identifiziert werden. Dabei geht es nicht zuletzt um die Suche nach einem Erstkontakt zwischen Tier und Mensch, der dazu geführt hat, dass sich das Virus durch das Verhalten der Menschen unter ihnen ausbreitete.
Thomas Oberenders Liste eines Jahres macht auf die Rolle der Sprache in der Pandemie aufmerksam. Sie unterscheidet sich durchaus von Staat zu Staat und Regierung zu Regierung. Er spricht davon, dass die „Sphäre der Worte“ unser Denken wie ein Virus infiziere und verändere. Dazu sollte allerdings bedacht werden, dass diese fast offensichtliche Analogie nicht nur einfach hingenommen werden muss. Vielmehr kann man sich kritisch z.B. durch Begriffsgeschichten mit der Epidemie der Worte auseinandersetzen. Gerade die Analogie von der „Sphäre der Worte“ mit einer Infektionskrankheit, mit einem Virus sollte kritisch gesehen werden. Der Begriff des Virus und wie wir ihn uns vorstellen, hat sich selbst u.a. gegenüber den 1980er Jahren gewandelt. In den 1990 traten als Echo der HIV/AIDS-Epidemie die „Computerviren“ in unser Denken von der Künstlichen Intelligenz und dem Leben. Computerviren sind Schreib-Rechen-Programme. Die Sprache und Literatur über Sars-Cov-2, die Erklärungserzählungen haben sich häufig mit jener der Computerviren verschaltet. – Es gilt das Leben unterdessen auszuhalten.
Torsten Flüh
PS: Ohne jede Spur der Covid-19-Pandemie zeigten sich am 19. Februar 2021 zwischen 16:02:25 und 16:33:14 Spuren des Lebens im Forst Grunewald.
PPS: Das Leipniz-Institut für Deutsche Sprache hat laut der Sprachforscherin Maike Park im Projekt „Neuer Wortschatz“ „über 1.200 neue und umgedeutete Corona-Wörter gesammelt“, wie das Deutschlandradio Kultur am 22. Februar 2021 meldet. Die hohe Zahl der neuen und umgedeuteten Wörter lässt sich als ein Effekt der tiefgreifenden Wissenserschütterung durch die Covid-19-Pandemie bedenken.
[1] Thomas Oberender: Die Liste eines Jahres. In: Süddeutsche Zeitung vom 04.01.2021. (Süddeutsche-Plus)
[2] Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege: Drei weitere Coronavirus-Fälle in Bayern – Zusammenhang mit dem ersten Fall – Bayerns Gesundheitsministerin Huml: Am Mittwoch sollen vorsichtshalber rund 40 Personen getestet werden. (Pressemitteilung vom 28.01.2020)
[3] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Kontaktperson. „Kontaktperson“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Kontaktperson>, abgerufen am 15.02.2021.
[4] Google-Suche: Kontaktperson. 20.02.2021 ca. 17:45.
[5] Thomas Oberender: Die … [wie Anm. 1].
[6] Digitales Wörterbuch … [wie Anm. 3].
[7] Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch. Gütersloh: Bertelsmann, 1997, S. 758.
[8] Digitales Wörterbuch … [wie Anm. 3].
[9] Chlodwig Poth: Kontaktperson. München/Gütersloh/Wien: Bertelsmann, 1975. (447 S., Ln.).
[10] Staatsbibliothek zu Berlin: StabiKat: Suche: Kontaktperson. (Suche am 20.02.2021 ca. 18:00 Uhr)
[11] Christa Rotzoll: Poth, Chlodwig: Kontaktperson. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.04.1975, S. 26.
[12] Helmut Müller-Enbergs: Kontaktperson (KP). In: MfS-Lexikon. In: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. https://www.bstu.de/mfs-lexikon/detail/kontaktperson-kp/
[13] „abschöpfen“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/absch%C3%B6pfen, abgerufen am 19.02.2021.
[14] Ebenda Abschöpfen.
[15] Ebenda.
[16] Roland Barthes: Elemente der Semiologie. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1983, S. 20. (Zuerst Editions du Seuil 1964).
[17] BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, Rn. 1-233, http://www.bverfg.de/e/rs20130424_1bvr121507.html
[18] Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit: Anti-Terror-Datei – Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. (ohne Datum nach Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 18.12.2014)
[19] Zu Alain Turing, Künstliche Intelligenz und dem Turing-Test siehe: Torsten Flüh: Shakespeare’s Machines. Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2020.
[20] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB>, abgerufen am 18.02.2021. (Konstabel)
[21] Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage, 1905–1909), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/Meyers>, abgerufen am 18.02.2021. (Kontakt).
[22] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Glossar zu COVID-19. https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/basisinformationen/glossar.html#c13200
[23] Siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.
[24] Siehe Bundesgesetzblatt Online Bürgerzugang: Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG) vom 20. Juli 2000. (Bundesgesetzblatt Teil I 2000 Nr. 33 vom 25.07.2000)
[25] Ebenda S. 1049.
[26] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG). Letzte Änderung 21. Dezember 2020. (Gesetze im Internet)
[27] Robert Koch-Institut: GBE-Glossar: K (Stand 20.02.2021).
[28] Robert Koch-Institut: Allgemeines zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Stand 14. 09. 2016.
[29] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz … [wie Anm. 26].
[30] Robert Koch-Institut: Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2006. Berlin 2007. (PDF)
[31] Ebenda S. 12 (Lassavirus) und S. 178 (Lassavirus).
[32] Vgl. zu den frühen Wissensmodellen vom Ursprung: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
[33] World Health Organization: COVID-19 Virtual Press conference transcript – 9 February 2021. (Link)
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