Sanatorium – Tuberkulose – Freiheit
Das Gespenst der Epidemie
Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann
Ein striktes Zeitregime der „Liegedienst(e)“, Mahlzeiten, Spaziergänge, des Temperaturmessens, der Abendgesellschaft und Nachtruhe herrscht im Sanatorium „Berghof“, das sich leicht als das historische Sanatorium Schatzalp entschlüsseln lässt.[1] Es bringt paradoxer Weise die Zeit zum Verschwinden, indem sie konsumiert wird. Letztlich wird es ein eigentümlicher Zeitverlust von sieben Jahren sein, den Hans Castorp in der Höhenregion oberhalb von Davos Platz zu verbuchen haben wird. Dieser Zeitverlust wird wiederholt und als „Exkurs über den Zeitsinn“ oft voller Ironie besprochen, weil ständig das Leben vermessen wird.
Insofern das Sanatorium als Konstruktion von Körper, Gesundheit und Krankheit seine eigene Zeitordnung generiert, gibt es einen Wink auf die heutzutage Lockdown genannte Praxis der Kontaktbeschränkung, die ihrerseits eine der Quarantäne ist. Das Sanatorium wird im 19. Jahrhundert aus der schleichenden Tuberkulose-Epidemie geboren. Doch in Thomas Manns humorvollem Bildungsroman wird von Infektion und Epidemie erstaunlich wenig, fast gar nicht gesprochen. Aber viel gelacht. Das Sanatorium ist bei Mann ein Ort der Absonderung von der geschäftigen Welt im Flachland, in dem allerdings mehr Kontakte gesucht als beschränkt werden. Zugleich komponiert Thomas Mann seinen Roman mit dem Literaten Lodovico Settembrini nach Dante Alighieris Divina Commedia.
Die Konstruktion Sanatorium findet ihr Ende, als seit den 50er Jahren zunehmend Medikamente zu ihrer erfolgreichen Behandlung zum Einsatz kommen und Gesundheitsämter in Deutschland zwischen 1939 und 1983 durch „Röntgenreihenuntersuchungen“ die „gefährliche Seuche“ stoppen und beenden können.[2] Einen Impfstoff, um den Körper gegen das Mycobacterium tuberculosis zu immunisieren, gibt es bis heute nicht.[3] Robert Kochs Versuch, einen Impfstoff zu entwickeln und durch Tests an sich selbst wie an seiner Geliebten und späteren zweiten Ehefrau Hedwig Freiberg sowie an seinem japanischen Assistenten Kitasato zu bestätigen, 1890 auf dem X. Internationalen Medizinischen Kongress in Berlin auf politischen Druck(!) vorgestellt, schlug nach einem kurzzeitigen Tuberkulin-Tourismus-Boom in Berlin spektakulär fehl.
Seit den 60er Jahren wurden Tuberkulosespezialisten wie Thomas Manns Direktor des Sanatoriums „Berghof“ „Hofrat Behrens“ z.B. zu Asthmaspezialisten in Davos. Anders gesagt: Mit dem Ende der Tuberkulose-Epidemie werden beispielhaft in Davos Sanatorien zu Kliniken für Asthma und Allergien, bevor sie wie die Schatzalp in luxuriöse „Berghotel(s)“ und Wellness Resorts mit „Sommerrodelbahn“ und „Geschichtsblog“ verwandelt wurden.[4] Das Sanatorium war nicht zuletzt ein Geschäftsmodell. Christian Virchow berichtet, wie er im Oktober 1959 in ein „Tuberkulose-Sanatorium“ als Assistenzarzt eintrat, später die Leitung übernahm und die „Klinik“ modernisierte, um „Asthmaspezialist und Allergologe“ in Davos zu werden.
„Dank unterschiedlicher tuberkulostatischer und tuberkulocider Medikamente, die immer wirkungsvoller wurden, nahm die Zahl der Kranken ab; in den westlichen Ländern begann die Tuberkulose bedeutungslos und damit historisch zu werden.“[5]
Der Zauberberg kann als eine Komposition aus zahlreichen Texten darunter die Göttliche Komödie von Dante gelesen werden, wie es u.a. Heinrich Detering vorgeschlagen hat.[6] So ist der Roman aus sieben Kapiteln oder Sätzen wie in der Musikliteratur und einem „Vorsatz“ komponiert. Einundfünfzig einzelne Zwischentitel oder Überschriften strukturieren den Roman thematisch zwischen „Ankunft“ über „Frühstück“, „Exkurs über den Zeitsinn“, „Freiheit“ und „Enzyklopädie“ bis „Der Donnerschlag“.[7] Im Unterschied, doch korrespondierend ist Die Göttliche Komödie in 3 Teile – Inferno/Hölle, Purgatorio/Läuterungsberg, Paradiso/Paradies – und dreiunddreißig „Gesänge“ sequenziert.[8] Es ist der „Literat“, der im Roman die Verquickung von Zauberberg und Divina Commedia, von Sanatorium und Hölle anspricht. Settembrini macht keinen Hehl daraus, dass der Aufstieg ins Sanatorium oberhalb von Davos ein Abstieg „zu uns Heruntergekommenen“ (S. 91) genannt werden muss. Er zitiert Vergil mit dem Totengott „Dis“, wodurch der Weg auf der Alp zu einem durch das Totenreich transformiert wird:
„»Unser Leutnant treibt zum Dienst. Gehen wir also. Wir haben den gleichen Weg. – rechtshin, welcher zu Dis, des Gewaltigen, Mauern hinstrebt. Ah, Virgil, Virgil!“[9][10]
Das Vergil-Zitat aus der Aeneas gibt seinerseits einen Wink auf diesen selbst als Führer durch die Unterwelt im Inferno und Purgatorio der Göttlichen Komödie von Dante. Kraft der Aeneas-Erzählung wird Vergil zum Jenseitsführer an Dantes Seite. Dante zitiert Vergil, um ihn zum Führer durch das Jenseits zu machen. Ein Zitatwissen und dessen Transformation generiert die Divina Commedia. Korrespondierend spricht Settembrini denn auch von dem Sanatoriumsdirektor, „Erfinder der Sommersaison“ (S. 97) und Arzt Behrens als „Radamanth“, dem Richter der Unterwelt, und dem Sanatorium, als „Schreckenspalast()“(S. 96). Die „Oberaufseherin“ nennt er ein „Petrefakt“ im Sinne einer Versteinerung oder eines Fossils, das dem Reich der Toten angehört. Was voller „Bosheit“ im „Geist der Kritik“ (S. 96) von Settembrini erzählt und geschmäht wird, lässt sich auf diese Weise selbst als eine Unterweltführung lesen. Hans Castorp könnte seine Erzählung beginnen wie Dante, da er als junger Mensch gewissermaßen vom Weg seiner Schiffsbau-Ausbildung nach Davos „verschlagen“ worden ist:
„Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.
Wie schwer ist’s doch, von diesem Wald zu sagen,
Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Noth;
Schon der Gedank‘ erneuert noch mein Zagen.“[11]
Die Divina Commedia wird von Dante selbst im Ersten Gesang als ein Re-Writing der Aeneas formuliert. Indem sich ein „Schatten“ als „Poet“ vorstellt, der „Anchises Sohn“ sang, wird er an der Erzählung von Dante als „Virgil“ erkannt und zu seinem Führer durch das Jenseits gemacht. Dantes Literaturwissen erkennt Vergil. Die Wissensübertragung durch das „Forschen“ in den Schriften wird sogleich poetologisch in eine Führung verwandelt. So spricht es Dante mit „Scham“, wobei diese selbst einem schuldhaften Wissen vom Unwissen entspringt. Das Erkennen durch die Erzählung lässt Dante selbst zum Menschen werden. So bemerkt schon sein Übersetzer Karl Streckfuss in einer Fußnote, dass Dante „die Werke Virgils zum Gegenstand seines fleißigsten Studiums gemacht hatte“.[12] Die Divina Commedia generiert sich aus dem Übersetzen und Re-Writing.
„„So bist du,““ rief ich, „„bist du der Virgil,
Der Quell, dem reich der Rede Strom entflossen?““
Ich sprach’s mit Scham, die meine Stirn befiel.
„„O Ehr‘ und Licht der andern Kunstgenossen,
Mir gelt‘ itzt große Lieb‘ und langer Fleiß,
Die meinem Forschen dein Gedicht erschlossen.
Mein Meister, Vorbild! dir gebührt der Preis,
Den ich durch schönen Stil davongetragen,
Denn dir entnahm ich, was ich kann und weiß.
Sieh dieses Thier, o sieh mich’s rückwärts jagen,
Berühmter Weise, sei vor ihm mein Hort,
Es macht mir zitternd Puls‘ und Adern schlagen.““ (V. 79 bis 89)
Annette Simonis hat in ihrer Thomas Mann-Lektüre wohl auf die Danterezeption mit Über Dante (1921) hinsichtlich eines „Schriftstellertypus“ hingewiesen. Doch sie geht auf den Zauberberg-Roman nicht ein. Vielmehr macht sie auf Doktor Faustus aufmerksam, dem „neun Verse aus dem zweiten Gesang von Dantes Inferno in der italienischen Originalsprache als Motto vorangestellt“ sind.[13] In Doktor Faustus wird motivisch, explizit und auf unterschiedliche Weise von Mann auf Dante Bezug genommen. Settembrini wie Serenus Zeitblom positionieren sich in den Erzählungen als Humanisten über Dante. Dante wird nach Simonis eine Art Referenzpunkt in der europäischen Kulturgeschichte nach dem, wie der Biograph Zeitblom die Persönlichkeit und Werkbiografie des Komponisten Adrian Leverkühn konstruiert.
„Der Erzähler hebt besonders die gelungene und eindringliche Vertonung jener Stelle aus dem Purgatorio, wo von dem Lichtträger die Rede ist, hervor, wobei die aufmerksamen Leser durchaus eine Selbststilisierung Leverkühns erahnen können, ohne dass diese selbstreflexive Komponente explizit erwähnt würde“.[14]
Thomas Manns intensive und langjährige Rezeption Dantes mit der Divina Commedia als Dichter des Humanismus wird fortlaufend transformiert. Gerade im Exil- ebenso wie Musik-Roman Doktor Faustus der 40er wie dem Sanatorium- und Tuberkulose-Roman Der Zauberberg der 10er und beginnenden 20er Jahre schreibt Dantes Humanismus an den Romanen mit.[15] Die Abgeschlossenheit des Sanatoriums „Berghof“ mit seinem eigenen Zeitregime bietet einen Prospekt für die humanistische Edukation Hans Castorps durch die Literaturfigur des Literaten Settembrini. Die Tuberkulose-Epidemie und die Infektionswege werden insofern um die Jahrhundertwende als ein Problem des Humanismus (S. 100) verhandelt. Zwar spricht Settembrini scherzhaft „Mischinfektionen“ (S. 98) und mangelnde Hygiene an, aber die Oberaufsicht hat der „Höllenrichter“(S. 99). Settembrinis Ironie führt den Humanismus auf und kritisiert nonchalant das Sanatorium als kapitalistische Konstruktion.
Über Settembrini lässt sich Thomas Mann regelrecht zu einer Kapitalismuskritik hinreißen. Nicht nur wird die Tuberkulose als Lungenkrankheit vom Medizinwissen mit der „Gehirntuberkulose“ ins Lachhafte gedreht. Vielmehr wird der adelig-wissenschaftliche Titel „Hofrat“ ins Unsinnige wie Kommerzielle gewendet, weil es erstens in der Schweiz keinen „Hof“ gibt, er ihn zweitens „von einem an Gehirntuberkulose leidenden Prinzen erhalten“ haben soll und drittens sich der Rat auf den „Berghof“ als Sanatorium bezieht, wo vielerlei Rat erteilt wird. (S.97) Die zuvor als Phthise, Schwindsucht oder Auszehrung benannte Krankheit wird nun metabolisch ins Gehirn verlagert. Als „Erfinder der Sommersaison“ tritt vor allem der rhetorisch verbrämte „Erwerbssinn“ des „Hofrats“ hervor. Die wissenschaftliche „Lehre“ wird vom „Hofrat“ mit einem „Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstab“ (S. 121) durchaus phantastisch nach dem „Erwerbssinn“ gewendet und medienstrategisch „in die Presse lanciert“:
„Er habe die Lehre aufgestellt, daß, wenigstens soweit sein Institut in Frage komme, die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dieses Theorem unter die Leute zu bringen gewußt, habe populäre Artikel darüber verfaßt und sie in die Presse lanciert. Seit dem gehe das Geschäft im Sommer so flott wie im Winter. »Genie!« sagte Settembrini. »In-tu-i-tion!« sagte er. Und dann hechelte er die übrigen Heilanstalten des Platzes durch und lobte auf beißende Art den Erwerbssinn ihrer Inhaber.“[16]
Die Kapitalismuskritik wird von der Ironie in einen „beißende(n)“ Zynismus transformiert. Die Welt der „Heilanstalten“ in Davos wird als ein gut florierendes System entlarvt. Dieses System aus Kapitalismus und Medizin wird lexikalisch und kompositorisch unterlegt mit der Führung durch die Hölle. Die „Patienten“ werden gar ausgezehrt und in den Alkoholismus getrieben – „daß die Leute wie die Fliegen stürben, und zwar nicht an Phthise, sondern an Trinkerlebern …“(S. 98). Der auktoriale Erzähler kommentiert die zynische Erzählung von den „Heilanstalten“ als „Wendungen und Formen, (…) grammatische Beugung und Abwandlung der Wörter“, denen sich Settembrini bediene als „viel zu klaren und gegenwärtigen Geistes, um sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen“. Über dem Sanatorium wacht der „Höllenrichter“, der dann gerade um die Ecke kommt. (S. 99) Was fast wie eine Verschwörungstheorie klingt, wird auf diese Weise als Diskurs der Wahrheit über das Sanatorium markiert.
Das Sanatorium ist gerade kein (christliches) Hospiz, vielmehr entspringt es dem Kapitalismus und der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Insoweit Settembrini mit dem Abschnitt „Satana“, was sich fast als ein Anagramm von Sanatorium oder als Pluralbildung von Satan lesen ließe, nicht nur als Figur in den Roman eingeführt, vielmehr noch das Sanatorium als kapitalistische Konstruktion vorgeführt wird, kommt diesem eine entscheidende Funktion für den Roman zu. Auf bedenkenswerte Weise werden die Sanatoriumärzte als kapitalistische Ausbeuter der Krankheit ihrer Tuberkulose-Patienten angeschrieben. Natürlich gibt es auch heute noch Heilanstalten, die sich Sanatorium nennen. Und es gibt in Sanatorien Direktoren. Sie sind in Krankenhäusern nicht nur für den wissenschaftlichen, medizinischen und organisatorischen Bereich zuständig, vielmehr noch haben sie den rechtlichen wie wirtschaftlichen Bereich der Klinik sicher zu stellen. So ist es keinesfalls Ironie, sondern systembedingt, dass während der aktuellen Covid-19-Pandemie Klinikdirektoren über leere Intensivbetten klagen. Die Klinik hat sich nicht erst in den letzten Jahren zu einem Wirtschaftsunternehmen gewandelt.
Die thematischen Titel der Abschnitte wie u.a. „Freiheit“ geben einen Wink auf Thomas Manns Kompositionsverfahren. Es geht weniger darum, einen Begriff zu bestimmen, als vielmehr ihn durchzuspielen. Das geschieht äußerst kunstvoll. So bietet ein kurzer Wortwechsel zum anstehenden Datum des ersten Oktober zwischen Hermine Kleefeld, Rasmussen und Gänser das Vorspiel zum Thema „Freiheit“. Hermine nennt das Sanatorium nicht nur ironisch „Lustort“ (S. 335), sie fühlt sich vielmehr „um das Leben betrogen“, weil doch die Lust und Wollust wenigstens seit Voltaire und der Aufklärung im 18. Jahrhundert zur libertären Lebenspraxis gehören.[17] Doch das Sanatorium als Ort der Unfreiheit ist paradoxerweise ein Lustort „in des Wortes zweifelhaftester Bedeutung“ (S. 335) für Hermine Kleefeld und ihre Freunde nach Settembrini. Indem die rhetorischen Mittel oder „klassischen Mittel der Redekunst“ (S. 336) Ironie und „Paradoxe“ (S. 337) angesprochen werden, geben sie zugleich einen Wink auf Thomas Manns Kompositionsweise. Sie folgt den Praktiken der Rhetorik und setzt diese ein, um die Romanhandlung voranzutreiben.
Das Thema Freiheit wird insofern mit dem Schauplatz des Romans selbst verknüpft. Das Sanatorium wird zu einem Ort der Freiheitsversprechen durch eine strikt geregelte Unfreiheit auf Zeit. Einerseits schimmert dabei die Lektüre der Philosophie der Aufklärung durch, andererseits dockt Thomas Mann mit der Sexualität, den Sexualpraktiken und dem Wissen von der Sexualität an die Psychoanalyse Siegmund Freuds an. Der Zauberberg wird zu einem guten Teil nicht nur als eine éducation sentimentale, sondern als eine éducation sexuelle entfaltet. So kommt denn Settembrini über die „Analyse“ als „Werkzeug“ (S. 338) auf die „Freiheit“ explizit zu sprechen. Analyse – wie Psychoanalyse – unterwühlten „die Autorität“, „mit anderen Worten, indem sie befreit“. (S. 338) Das Versprechen der Psychoanalyse läuft auf eine befreite Sexualität hinaus. Andeutungsweise spricht Settembrini davon, dass die „Analyse“ den Weg über den „Tod“ nehmen kann, wenn nicht muss. Das betrifft nicht nur den zu analysierenden Körper.
Ironischerweise hat Hans Castorp durch ein Röntgenbild als Analysetechnik, also seinem Körper als einem toten, seine „Freiheit“ gewonnen, um sich zu einer Fortsetzung seines Aufenthalts im Sanatorium zu entschließen. Die mehrdeutige „Lichtanatomie“(S. 338), die sowohl tötet wie Licht und Erkenntnis ins Körperinnere bringt, hat seinen Körper nicht nur analytisch „durchleuchtete“ und zum toten „Skelett“ gemacht, das „Diapositiv“ (S. 366) wird später auch als „Ausweis“ (S. 367) zum rechtmäßigen Aufenthalt im Sanatorium gebraucht. Doch die Freiheit ist für Castorp nicht zuletzt eine Frage der sozialen, „seiner Klasse“ (S. 341) und der „regelmäßigen Anweisung der nötigen Geldmittel“ von „800 Mark monatlich“ (S. 342), was um 1912 ein ziemliches Vermögen gewesen sein dürfte. Der Brief an den Onkel „befestigte Hans Castorps Freiheit“[18], wie es in gesperrtem Druck in der Originalausgabe heißt.[19]
Die „mit schwarzen Papierstreifen gerahmte Glasplatte“ (S. 367) als „Legitimation“ verschafft eine „F r e i h e i t“ im Rahmen des Kapitalismus bzw. der kapitalistischen Ordnung. Thomas Manns druckgraphische Markierung des Begriffes am Ende des Abschnitts über „Freiheit“ könnte auch als eine Art Tusch gehört werden. Denn diese Freiheit ist eine mehr als exklusive – und verrät die Freiheit zugleich. Castorps Verrat an der Freiheit, indem er sie sich nimmt, sollte als Pointe nicht unterschätzt werden. Die „800 Mark monatlich“ für den Aufenthalt auf der Schatzalp werden ein relativ realistischer Betrag sein, weil Thomas Mann seine Frau Katia wegen einer Fehldiagnose auf Tuberkulose dort 1912 besuchte. Nun ist eher Heinrich als Thomas Mann als Kapitalismuskritiker gelesen worden, doch in Anbetracht der Kompositionsweise und der einmaligen druckgraphischen Hervorhebung ließe sich zumindest eine Verärgerung über die Kosten denken.
Das Freiheitsthema kehrt nicht zuletzt final im Suizid Naphtas wieder. Dr. Leo Naphtas als „Mut“ (S. 1070) gerechtfertigter Suizid geht eine radikale Diskussion über die Freiheit voraus, die zu einem Pistolenduell zwischen Settembrini und Naphta führt.[20] Der Freiheitsbegriff Naphtas ähnelt mit seiner Kritik am „Individualismus“ jenem autoritären und hierarchischen, der sich in den Milizen der radikalen Trump-Wähler in den USA Bahn gebrochen hat, indem sie ihre Freiheitsrechte mit evangelikalen Glaubenslehren verkoppeln. Naphtas kirchenhistorische Argumentation wird ebenso zusammen gewürfelt, wie sie sich oft bei Verschwörungstheoretikern findet, die selbstverständlich in Anspruch nehmen, dass ihre Erzählungen „die Autorität“ der Verschwörer untergraben und die Menschen befreien sollen.
„Man sei freilich gezwungen, in der Hierarchie eine Freiheitsmacht zu erblicken, denn sie habe der schrankenlosen Monarchie einen Damm entgegengesetzt. Die Mystik des ausgehenden Mittelalters aber habe ihr freiheitliches Wesen als Vorläuferin der Reformation bewährt, – der Reformation, he, he, die ihrerseits unauflösliches Filzwerk von Freiheit und mittelalterlichen Rückschlägen gewesen ist …“[21]
Naphta gehört nicht der Sphäre des Sanatoriums an. Er ist kein Patient des Sanatoriums, das auf ambige Weise als Ort der Freiheit wie der Unfreiheit erzählt wird und das aus der Tuberkulose-Epidemie heraus entstanden ist. Die Tuberkulose-Epidemie des 19. Jahrhunderts, die aufs Engste mit der Industrialisierung, industriellen Wohnverhältnissen und Hygienebedingungen verknüpft ist, kommt in der luxuriösen Abgeschiedenheit des Sanatoriums nicht vor. Denn dort verkehren nur Menschen der „Klasse“ Hans Castorps oder haben zumindest Zugang zu dieser. Gleichwohl werden Bauweise des Sanatoriums mit abgetrennten Balkonen in frischer Landluft und sein technisches Arsenal wie der Röntgenapparat zum Modell für den gesundheitspolitischen Kampf gegen die Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten des 20. Jahrhunderts. Ich möchte es einmal so formulieren: Thomas Mann erzählt nicht von der Epidemie, weil er sich mittendrin in der Quarantäne befindet.
Torsten Flüh
PS: Die Fotos zeigen die Trümmersäule und ihr Bildprogramm auf dem Max-Josef-Metzger-Platz in Berlin-Wedding. Der Stadtteil Wedding ist mit seinen Fabriken wie AEG, Arbeiterquartieren und Wohnmaschinen mit etlichen Hinterhöfen aus der Industrialisierung hervorgegangen. Die quadratische Stele wurde aus 40.000 Trümmersteinen der Umgebung zu Beginn der 50er Jahre von Gerhard Schulze-Seehof konzipiert. Rote, weiße und schwarze zertrümmerte Ziegelsteine wurden mit Zement verbaut und wie in der graphischen Literatur zu Bilderstreifen arrangiert. Am Fuße der jeweiligen Bildseite sind die Begriffe „Demokratie“, „Zerstörung“, „Sklaverei“ und „Aufbau“ eingelassen. Die Gegenseite von „Demokratie“ erzählt in aufsteigender Weise vom „Aufbau“, wie die der „Sklaverei“ von „Zerstörung“. Die „Sklaverei“ wird nicht mit dem Kolonialismus kontextualisiert, sondern abstrakt in der Haltung der Figuren als Gefangen- und Knechtschaft verallgemeinert. Die Stele lässt sich heute als Mahnmal an die Berliner Trümmerfrauen ebenso wie an die Opfer von Faschismus und Kommunismus rezipieren. Quasi gegenüber wurde an der Müllerstraße Anfang der 60er Jahre die Parteizentrale der Berliner SPD erbaut.
[1] Siehe dazu: Torsten Flüh: Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020. Wie die Kombucha-Brauerei Bouche in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2020.
[2] Zur Einführung und Begründung des Gesetzes über Röntgenreihenuntersuchungen schreibt der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. med. H. J. Sewering: „Die Tuberkulose sei immer noch eine gefährliche Seuche und die einzige Methode, ihrer Herr zu werden, stelle die in regelmäßigen Abständen erfolgende Röntgenreihenuntersuchung der Gesamtbevölkerung dar.“ H. J. Sewering: Der Wert der Röntgenreihenuntersuchungen für die Bekämpfung der Tuberkulose in Bayern. In: Bayerisches Ärzteblatt. Heft 6. München, Juni 1958 (PDF), S. 126.
[3] RKI-Ratgeber: Tuberkulose. Stand 21.02.2013.
[4] Siehe: https://www.schatzalp.ch
[5] Christian Virchow: Medizinhistorisches um den „Zauberberg“. „Das gläserne Angebinde“ und ein pneumologisches Nachspiel. In: Augsburger Universitätsreden 26. (Herausgegeben vom Rektor der Universität Augsburg) Augsburg: Presse-Druck, August 1995, S. 2. (PDF)
[6] Heinrich Detering: Komparatistik 3 4 Thomas Mann und Dante. PDF (ohne Jahr – vermutlich Wintersemester 2019/2020.)
[7] Thomas Mann: Der Zauberberg. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer, Mai 2012.
[8] Dante Alighieri: Göttliche Komödie. Übersetzt und erläutert von Karl Streckfuss. Braunschweig: Schwetschke, 1871.
[9] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 96.
[10] Vgl. auch: Andreas Patzer: „Joachim Ziemßen drängt zur Liegekur, und Settembrini willfährt seinem Drängen: (nämliches Zitat) Wie die Erwähnung des römischen Totengottes Dis anzeigt, entstammt dieses Hexameter-Zitat einer Unterwelterzählung, die in der lateinischen Literatur beheimatet ist.“ Andreas Patzer: Ah Virgil, Virgil! – Der Speichellecker des Julischen Hauses. In: Thorsten Burkard, Markus Schauer, Claudia Wiener (Hrsg.): Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der Neuzeit. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2010, S. 326.
[11] Dante Alighieri: Göttliche … [wie Anm. 4] S. 29.
[12] Ebenda S. 31, Fußnote 82.
[13] Annette Simonis: Ein Traum von einer schmalen Lorbeerkrone“ Zur Danterezeption bei Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal. In: Michael Dallapiazza und Annette Simonis (Hrsg.): Dante deutsch. Die deutsche Dante-Rezeption im 20. Jahrhundert in Literatur, Philosophie, Künsten und Medien. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Bern: Peter Lang, 2013, S. 22.
[14] Ebenda S. 24.
[15] Zu Doktor Faustus siehe auch: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.
[16] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 98.
[17] Zur Lust und Wollust, französisch volupté vgl. Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.
[18] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 342.
[19] Michael Neumann: Nachwort. In: Ebenda S. 1099.
[20] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 3] S. 1053-1055.
[21] Ebenda S. 1054.
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