Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Reich – Deutschland – Imagination

Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich

Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy

Am 28. März hielt John Connelly in der American Academy in Berlin am Wannsee seinen Vortrag The Power of the „Reich“ in the German Imagination. – Was war das „Reich“? Wie kehrte es als Deutsches Reich, Kaiserreich und Tausendjähriges Reich wieder? Was macht den Begriff „Reich“ so attraktiv, dass sich heute deutsche Staatsbürger hinter einem machtlosen Adligen, Heinrich XIII. Prinz Reuss, als „Reichsbürger“ zu einem terroristischen Staatsstreich versammeln und diesen in gewissen abstrusen Details planen, woraufhin der Generalbundesanwalt einschreiten muss und ihn Bundespolizisten in Tweed und Handschellen abführen müssen? Das imaginäre „Reich“ kursiert weiter in Texten, Gesprächen, Debatten und Medien. In seinem Vortrag forschte der Sidney Hellman Ehrman Professor of European History an der University of California, Berkeley, John Connelly der Wandlung dessen nach, was mit dem „Reich“ verknüpft wurde und wird.

.

Eine Transformation des Reichs wurde am 4. April mit der Anbringung der Großen Kartusche am Eosanderportal des wiederaufgebauten Berliner Schlosses wieder sichtbar. Die nicht erst beim Wiederaufbau verspätete Anbringung der Großen Kartusche als Hoheitszeichen muss in der Geschichtserzählung der Gesellschaft Berliner Schloss e. V. nur ein wenig gegen den Strich gelesen werden, um die Konstruktion von neobarocker Schlosskuppel mit der zentralen Schlosskapelle und Kartusche zu hinterfragen.[1] Johann Friedrich Eosander hatte 1707 für das zentrale Schlosstor in barocker Weise den Konstantinbogen des antiken Roms nachempfunden. Einem antiken Torbogen eine neobarocke Kuppel aufzusetzen, wie es König Friedrich Wilhelm IV. selbst in drei Architekturzeichnungen tat, musste eine Umdeutung des Schlosses, der Herrschaft und des Verhältnisses zur Evangelischen Kirche zur Folge haben.

.

Die zivilgesellschaftlich heute durch Spenden finanzierte Große Kartusche wurde erst 1902/1903 in der Blüte des Kaiserreichs am Eosanderportal angebracht. Das darf man eine gehörige Verspätung des Bauelementes aus zwei Adlern, die einen königlichen vergoldeten Adler mit Zepter und Reichsapfel umrahmen, unter einer vergoldeten Krone, mit Palmenwendeln, einer Halskette und Orden, nennen. Auf der Brust trägt der Adler die Initialen FR für Fredericus Rex, König Friedrich. Gemeint ist mit diesem historistisch, neobarocken Element Friedrich I., der durch den Schlossbau 1705 Preußen als Königreich legitimiert hatte, um sich in Königsberg aus dem Kurfürstenstand zum König krönen zu lassen.[2] Die aktuelle Vervollständigung der Schlossfassade sollte in ihrer Geschichtskonstruktion zukünftig erinnert werden. Für das Imaginäre des Kaiserreichs musste die Geschichte des Berliner Schlosses lückenlos sein. Die Große Kartusche kann insofern mit der Verspätung als ein Indiz für den deutschen „Sonderweg“ der Nationenbildung gesehen werden, den John Connelly in seinem Vortrag zur Transformation des Reichsbegriffs darlegte.

.

John Connelly hatte für die Ankündigung seines Vortrags als Visualisierung des Kaiserreichs Anton von Werners zweieinhalb mal zweieinhalb Meter großes Gemälde Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles in der dritten Fassung gewählt. Man darf davon ausgehen, dass der Moment der Proklamation mit geschwenkten Hüten und Kappen so nie ausgesehen hat. Die dritte Version erhielt Otto von Bismarck zu seinem 70. Geburtstag 1880 vom Kaiserhaus, der Familie Hohenzollern, geschenkt. Anton von Werner fertigte für seine Gemälde mehrere Tausend Handzeichnungen an.[3] Besonders viele werden dem Werkkreis der Kaiserproklamation zugerechnet. Einerseits wäre 1871 medienhistorisch durchaus eine Fotografie für diesen geschichtsträchtigen Anlass möglich gewesen. Doch bedurften Fotografien jener Zeit eine lange Belichtungszeit, weshalb die Bilder bestimmt verwackelt gewesen wären. Fliegende Hüte undenkbar. Die Skizzen zur ersten Fassung von 1877 sind vielfältig und werden offenbar erst Jahre nach dem Ereignis angefertigt, um ein Bild nach einem Darstellungskanon der Königs- und Kaiserproklamation zu generieren.

.

Der Vortrag von John Connelly ist weiterhin auf der Seite der American Academy verfügbar.[4] Nach einer Eröffnung des Abends durch den Präsidenten der American Academy Daniel Benjamin stellte Jan C. Behrends als Professor für Osteuropastudien an der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) den Vortragenden als herausragenden Experten für Osteuropa, Deutschland und die Nationenbildung vor. Beide erwähnten in ihren Vorstellungen John Connellys fast tausend Seiten starkes Buch From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe von 2020.[5] Die Nationenbildung hatte er bereits in jenem Großwerk erforscht. Seine Einleitung beginnt er mit dem Paradox, dass niemand von den „Yugoslaws“ vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges gehört hatte:
„War broke out in Europe in 1914 because of a deed carried out in the name of a people no one had previously heard of.
That June, after years of internecine turmoil and armed conflict in southeastern Europe, a Bosnian Serb named Gavrilo Princip shot and killed Franz Ferdinand, heir of the Habsburg throne, in Sarajevo. The assassin said he was acting to defend the interests of the Yugoslaws, or South Slavs, who were seeking independence from the Austro-Hungarian monarchy.“[6]

.

Ein nie gehörter Name und der Begriff „Reich“ liegen bei John Connelly methodologisch nah beieinander. Er untersucht in seinem Vortrag mit „Reich“ die langfristigen Folgen des Aufstiegs Deutschlands zur Nation im Kaiserreich, die gleichzeitig imperial, ethnisch und konfessionell lutherisch sein sollte – ein Land, das einen riesigen Raum in Mitteleuropa einnahm und versuchte, Millionen unterschiedlicher Menschen zu ethnischen Mitbürgern zu machen. Die Vielfalt der Menschen in jenem Raum wird zu Deutschen im Deutschen Reich normalisiert. Den Begriff „Reich“ verfolgt er bis kurz nach dem Fall Roms zurück. Mit dem imaginären „Reich“ versucht Connelly, die zerstörerische Rolle zu erklären, die die jüngere „Deutsche Frage“ spielte. Der Bogen der visuellen Materialien zum „Reich“, die John Connelly vorstellt, reicht von der Briefmarke mit dem Portrait Friedrich Eberts und der Aufschrift „Deutsches Reich“ aus der Weimarer Republik über das Luther-Denkmal in Eisleben bis zu Darstellungen der Krönung Karl des Großen.

.

Die Nationenbildung verläuft für John Connelly zentral über den Gebrauch des Begriffs „Reich“ als Name und den Narrativen wie Bildern, die mit ihm insbesondere in Preußen und damit Berlin verknüpft werden. Bis zum Ende des Deutschen Reiches und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – für einige allerdings darüber hinaus – kursierte die Imagination eines einheitlichen, geschlossenen Reichs. Deshalb machte Connelly auf Hitlers Rede vom „Heim ins Reich“ bei der ebenso manipulierten wie willkommenen Besetzung Österreichs durch die deutschen Nationalsozialisten mit dem gebürtigen Österreicher Adolf Hitler aus Berlin aufmerksam. Im Namen des Reichs wurden zwei Nationen vereinheitlicht, um im „3. Reich“ aufzugehen, die sich noch im 18. und 19. Jahrhundert zuletzt 1866 im Deutschen oder Preußisch-Österreichischen Krieg u.a. aus konfessionellen Gründen heftig bekämpft hatten. Der Begriff stellt eine Einheit und ethnische Zugehörigkeit her, die es so nie gegeben hatte. Dem Fragmentarischen der politischen und wirtschaftlichen Reichsrealität wird seit dem 19. Jahrhundert, forciert seit dem Kaiserreich eine Normalisierung entgegen gesetzt. Damit das „Reich“ nicht zuletzt im Zuge der Industrialisierung mit einem neuartigen Schienennetz real wird, müssen die Menschen beispielsweise ähnlich aussehen oder im Unterschied zu anderen ähnlich gemacht werden. – Ich komme darauf zurück.

.

John Connelly zitiert nicht zuletzt des AfD-Politikers Alexander Gaulands Rede vom „Vogelschiss“ als geschichtslosem Zwischenfall in der Geschichte des Deutschen Reichs. Am 2. Juni 2018 hatte Gauland als Partei- und Fraktionschef der AfD im Bundestag vor der Nachwuchsorganisation seiner Partei, der Jungen Alternative gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.[7] Damit hatte der 77jährige, 1941 geborene Gauland allerdings genau das Narrativ der Nationalsozialisten vom „Tausendjährigen Reich“ übernommen und bestätigt. Gauland hatte weiter ausgeführt: „Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen. Gerade weil wir die Verantwortung für die 12 Jahre übernommen haben, haben wir jedes Recht den Stauferkaiser Friedrich II., der in Palermo ruht, zu bewundern. Der Bamberger Reiter gehört zu uns wie die Stifterfiguren des Naumburger Doms.“[8] Er benutzt zwar nicht den Begriff „Reich“, aber die „deutsche Geschichte“ und das vereinigende Personalpronomen 1. Person Plural „wir“, um das imaginäre „Deutsche Reich“ aufzurufen.

.

Im weiteren Verlauf seines Vortrages kam John Connelly auf Martin Luther und seine Verteidigungsrede vor dem „Reichstag“ zu Worms am 18. April 1521 zu sprechen: „Ich stehe hier. Ich kann nicht anders. Amen“.[9] Martin Luther sei in der Mitte der deutschen Dialekte in Eisleben aufgewachsen, wo jetzt auf dem Marktplatz ein Luther-Denkmal stehe. Die Rolle Martin Luthers bei der Generierung der deutschen Sprache durch seine Bibelübersetzung ist gewiss entscheidend. Das hatte allerdings in Eisleben kaum nennenswerte Spuren hinterlassen bis 1883, als der Magistrat der durch die Industrialisierung zu einem gewissen Wohlstand gekommenen Stadt von dem Berliner Bildhauer Rudolf Siemering zum 400. Geburtstag des Reformators ein Bronze-Standbild des Reformators aufstellen ließ. Es gehört zu jenem visuellen Nationalisierungs- und Vereinigungsprozess durch Martin Luther, der bereits 1805 mit Johann Gottfried Schadows Entwurf eines Denkmals für den Marktplatz von Wittenberg eingesetzt hatte. Schließlich wurde Schadows Luther am 31. Oktober 1821 mit einem Sockel aus Granit und einem Baldachin aus Berliner Gusseisen von Karl Friedrich Schinkel eingeweiht. Damit war der Prototyp für alle weiteren Luther-Denkmäler geschaffen, die nur noch mehr oder weniger z.B. in der Körperfülle abgewandelt wurden.[10]

.

Die Ausführungen zum „Reich“ im 2. Reich bzw. Kaiserreich unter der Führung Preußens bzw. dem Hause Hohenzollern als Kaiserhaus von John Connelly können in vielerlei Hinsicht bei der Bilderproduktion unterstützt werden. Erst kürzlich hat sich Johann Gottfried Schadow als zentrale Figur der sogenannten Berliner Klassik in der Bilderproduktion für die Nation, Preußen und Berlin erwiesen. Um 1805 noch vor der Besetzung Berlins durch die Truppen Napoleons treibt Schadow die Frage nach der Nation um. Einerseits entwirft er ein Luther-Standbild, andererseits hatte er schon 1802 in seinem Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia das Projekt einer „Nationalphysiognomie“ mit der Methode der Vermessung öffentlich gemacht.[11] Eunomia nach der griechischen Göttin für gesetzlich Ordnung nannte sich 1801 mit der ersten Ausgabe im Untertitel selbst „Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten“.[12] Sie wurde bis 1805 in Berlin herausgegeben. In der Zeitschrift wird u.a. in der Rubrik „Politische Zeitgeschichte“ über den Begriff der Nation debattiert.[13]

.

Das Projekt der Nationalphysiognomie hat Schadow offenbar bis zu seinem Tod 1850 in Berlin weiter beschäftigt. Schadows Begriff „der einen Menschenrace“ bleibt für die „Nationalphysiognomie“ unscharf. Genauere Untersuchungen zur Genese und Produktion einer „Nationalphysiognomie“ stehen aus. Er macht Skizzen von Chinesen, Türken, Afrikanern und anderen Besuchern Berlins und vermisst sie. 1803/04 bedauerte er, dass er aufgrund des Turbans des türkischen Gesandten Mehmed Essad „den Durchmesser des Schädels nicht nehmen konnte“.[14] Aus Gips formt er „Selim da Dafour“ (1807) und den „Kaffernprinzen“ (1823). Der gesellschaftliche Rang hat insofern Einfluss darauf, ob Schadow die Person für sein Projekt vermessen und in Gips formen konnte oder nicht. Das wenigstens ambivalente Projekt der „Nationalphysiognomie“ war für die Ausstellung vor allem durch das Material Gips ins Interesse geraten. Die Erwähnung in dem autobiographischen Text für die Zeitschrift Eunomia findet allerdings in einem Kontext der Frage nach der Nation statt. Einerseits hatte sich Eunomia das revolutionäre Motto „Omnibus aequa.“ (Alle gleich) gesetzt, andererseits führen Schadows Vermessungsmethoden zu einer ethnologischen Ausdifferenzierung, um zu entscheiden, was zur Nation bzw. „Nationalphysiognomie“ gehören soll und was nicht.

.

Ein wichtiges Scharnier in der Umdeutung der Rede vom Reich in Verbindung mit dem Gottesgnadentum bildet der Aachener Kongress oder Monarchenkongress vom 29. September bis 21. November 1818. „Vor allem Zar Alexander war bestrebt, die Monarchien Mittel- und Osteuropas vom aufgeklärten Absolutismus abzubringen und sie auf die Lehre vom Gottesgnadentum einzuschwören“, hat erst kürzlich Andreas Gängel hervorgehoben.[15] Die Berliner Eisengießkunst und Karl Friedrich Schinkels Entwürfe zum Denkmal für die „Preußischen Befreiungskriege“ auf dem nach einer Order des Königs genannten „Kreuzberg“ gegen das postrevolutionäre, napoleonische Frankreich stehen im engen Konnex mit der neuen Imagination des Reiches. Das Eiserne Kreuz als Orden für die Kriegsteilnahme und das christliche Kreuz sollen sich spätestens mit dem Denkmal in der Imagination überschneiden. Schinkels Entwurf für das Eiserne Kreuz löst sich im neuen Design vom christlichen Malteserkreuz und lässt es dennoch durchschimmern. Erst verschwommen im Verlauf des Kaiserreichs bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlicher. Bereits am 26. September 1815 hatte der russische Zar Alexander (orthodox) mit Kaiser Franz I. (römisch-katholisch) und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen (lutherisch-protestantisch) die Heilige Allianz gegründet[16], um die revolutionären Kräfte abzuwehren.[17]

.

Wann kippt das Ringen um die deutsche Nation genau zum monarchistischen Kaiserreich? Die Märzrevolution von 1848 hat sich in diesen Tagen zum 175. Mal gejährt. Sie wird gar von Jochen Bittner im Leitartikel für DIE ZEIT erwähnt: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist.[18] In Berlin baute Friedrich August Stüler als Schüler von Karl Friedrich Schinkel seit 1845 die Kuppel des Berliner Schlosses nach den Skizzen Friedrich Wilhelm IV.. Albert Dietrich Schadow, der Sohn Friedrich Gottliebs, war Bauleiter an dem fast acht Jahre andauernden Großbauprojekt. Die Bildung eines Reiches nach einer demokratischen Ordnung wird vor dem Schloss durch Schüsse auf die Revolutionäre und Industriearbeiter von August Borsig auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor beendet. In seiner heute vieldiskutierten Inschrift auf der Kuppel gebraucht der König nicht den Begriff „Reich“, aber er proklamiert es, während 1848 in der Frankfurter Paulskirche über eine Reichsverfassung debattiert wurde und die Revolution vor seinem Schloss blutig niedergeschlagen worden war.

.

Politik- und industriehistorisch ist der Bau der Kuppel eng mit der Revolution von 1848 und der Frage der Nation als einer des Reichs verzahnt. So gesehen wohnte der Anbringung der Großen Kartusche unter der Schlosskuppel im 175. Jahr der Märzrevolution eine gewisse Ironie bei. Durch die Rekonstruktion der Fassade und Kuppel durch einen zivilgesellschaftlichen Verein werden aktuell die Paradoxien der Geschichte am Berliner Schloss wieder sichtbar, aber nur wenig diskutiert. Schließlich wird 1853 unter dem vergoldeten Kreuz, den vergoldeten Palmwedeln und den schwarzen Englein aus Eisenguss eine goldene Inschrift auf hellblauem Hintergrund stehen, die auch 1853 fast unmöglich zu lesen gewesen sein wird. Gleich einer geheimen Agenda soll jeder sehen, dass da etwas geschrieben steht, aber nicht lesen können. Unter der Kuppel ziemlich entrückt, aber weithin deutlich zu sehen, feierte der König und das Haus Hohenzollern Gottesdienst. Die Dramaturgie und das Versprechen der Kuppelinschrift sollte erst 52 Jahre später 1905 mit der Weihung des Berliner Doms durch Kaiser Wilhelm II. als Materialisierung des Kaiserreichs von Julius Raschdorf in Erfüllung gehen:
„Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

.

John Connelly verwies auf das lutherische Vaterunser mit der Formulierung „Dein Reich komme“. Als nicht mehr allgemein bekannt und seltener praktiziert, darf man anmerken, dass zur Bekundung der höchsten Autorität die Gemeinde das Vaterunser im Stehen betete und betet. Das Vaterunser war und ist Bestandteil jedes Gottesdienstes. Es wurde und wird in den Gottesdiensten insofern permanent wiederholt. So auch im Berliner Dom, wo der Kaiser mit seiner Familie zumindest oft in der Kaiserloge saß. Finanziert war der Dombau vom Evangelischen Kirchenbauverein worden, der 1890 als Folgeorganisation der Kirchenbaukommission von Kaiser Wilhelm I. 1888 gegründet worden war,. Der Evangelische Kirchenbauverein wurde vor allem durch die Großindustrie und Unterstützer wie dem Fürsten von Donnersmarck, d. i. Guido Henckel von Donnersmarck, der die Orgel stiftete, finanziert.[19] Mit der elektrisch betriebenen Orgel und einem elektrischen Aufzug für die Mutter des Kaisers etc. war der Berliner Dom 1905 bei seiner Weihung zugleich eine Leistungsschau vor allem der Berliner Industrie.

.

Nicht nur visuell, sondern gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitisch wird der Berliner Dom zur Manifestation der Rede vom „Reich“ umgeben von einem städtebaulichen Ensemble, das die Kathedrale des Protestantismus mit der Lutherrose über dem Portal zum Dreh- und Angelpunkt des Machtanspruchs in der Welt macht. Kaiser Wilhelm II. konnte sich als Karl der Große der Moderne imaginieren. In die neuen Wohn- und Arbeiterviertel des industriellen Berlin um 1900 pflanzte der Evangelische Kirchenbauverein unter der Schirmherrschaft der Kaiserin Auguste Viktoria neogotische Backsteinkirchen. Auguste Viktoria, genannt im Berliner Volksmund „Kirchenjuste“, weihte die neuen Kirchen häufig ein und spendete eine Bibel für den Altar. In der Imagination des imperialen Geschenks wird noch mehr als 100 Jahre später von der Bibel gesprochen, die die Kaiserin schenkte, während vergessen worden ist, dass sie vom Evangelischen Kirchenbauverein und seinen Mitgliedern aus sozial- und wirtschaftspolitischen Interessen finanziert worden war.

KOMMET HER ZU MIR ALLE DIE IHR MUEHSELIG UND BELADEN SEID, ICH WILL EUCH ERQUICKEN

Die Anbringung der Großen Kartusche dauerte von morgens um zehn bis spät in den Abend hinein. Erst am nächsten Morgen fotografierte der Berichterstatter die Große Kartusche mit aufgesetzter Krone. Der Orden und Teile der goldenen Kette fehlen noch. Die Anbringung des Bauelementes dauerte trotz moderner Technik einen ganzen Tag und machte deutlich, dass die im Kaiserreich konstruierte und am Eosanderportal angebrachte Große Kartusche eine technologische Meisterleistung gewesen sein muss. Paradoxerweise wird der technologische Fortschritt zur Historisierung eingesetzt.       

Torsten Flüh

American Academy
John Connelly:
The Power of the “Reich” in the German Imagination.
Video vom 28. März 2023.


[1] Gesellschaft Berliner Schloss e.V.: Große Kartusche. (online)

[2] Siehe zur Schlossarchitektur als Machtpolitik: Torsten Flüh: Angenommen. Zur Architektur und den ersten 100 Tagen des Humboldt Forums sowie Durchlüften – Open Air im Schlüterhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. August 2021.

[3] Siehe: Dominik Bartmann: Anton von Werner – Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs (18. Januar 1871) (1877). (Online-Projekt)

[4] American Academy: John Connelly: The Power of the “Reich” in the German Imagination. Berlin 28. März 2023.

[5] John Connelly: From Peoples into Nations – A History of Eastern Europe. Princeton: Princeton University Press, 2020.

[6] Ebenda S. 1.

[7] Siehe: DW: Gauland bezeichnet NS-Zeit als „Vogelschiss in der Geschichte“. 02.06.2018.

[8] Siehe AfD-Bundestagsfraktion: Wortlaut der umstrittenen Passage der Rede von Alexander Gauland. (Pressemitteilung)

[9] Dieser Wortlaut wird allerdings in der Darstellung der Stadt Worms zum Reichstag als „später“ als zusätzlich gekennzeichnet. Siehe: Worms: Der Wormser Reichstag 1521. (online)

[10] Bereits 2014 hatte das Projekt Cranach Digital Archive die Bildpolitik Lucas Cranachs zur Verbreitung von Darstellung oder Porträts Martin Luthers umfangreich erforscht. Zum Druck der neuen Bibeln gehörte zugleich eine Bildproduktion. Siehe: Torsten Flüh: Lucas Cranach im digitalen Umbruch. Zwischen Werkkatalog und Datenbank: Cranach Digital Archive. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2014 18:48.

[11] Siehe Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[12] Feßler und Rhode (Hg.): Eunomia. Berlin 1801-1805. (Digitalisat)

[13] Ebenda. Politische Zeitgeschichte. Jahrgang 1 S. 379. (Digitalisat)

[14] Das Porträt en face und im Profil ist im Katalog zur Ausstellung aufgeführt. Allerdings wird der Text der Tafel zur Zeichnung aus der Ausstellung im Katalog nicht abgedruckt. Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 281.

[15] Andreas Gängel: Das Kriegsdenkmal – ein Kriegsdenkmal preußisch-russischer Verbundenheit. In: Verein für die Geschichte Berlins: Mitteilungen 119. Jahrgang, Heft 2, April 2023, S. 27.

[16] Torsten Flüh: Vom … [wie Anm. 13].

[17] Die Religionszugehörigkeit des Hauses Hohenzollern in Berlin-Brandenburg war seit der Reformation variabel, um es einmal so zu sagen. Es gab mehrere Wechsel. Kurfürst Johann Sigismund war 1613 zum Calvinismus übergetreten. Der Hof nutzte die reformierte Parochialkirche. Um 1815 findet insofern eine Normalisierung zur protestantisch-lutherischen Kirche statt.

[18] Jochen Bittner: Hauptsache, Ordnung – Warum man Deutschland leider immer noch anmerkt, dass eine demokratische Revolution einst gescheitert ist. In: DIE ZEIT 5. April 2023, S. 1 (Print).

[19] Zur Baugeschichte des Berliner Doms siehe u.a.: Torsten Flüh: Gemeinsam Haltung zeigen. Zum Konzert „Künstler stehen zusammen“ im Berliner Dom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2019.

Zwischen Ton und Stille im Festivalstrudel

Hören – Geschlecht – Text

Zwischen Ton und Stille im Festivalstrudel

Zu den Performances von Claire Chase, Liping Ting, Rafał Ryterski, Noa Frenkel mit Werken von Liza Lim, Luigi Nono, Chaya Czernovin, Pauline Oliveros bei MaerzMusik 2023

Am 19. März fanden im Kulturquartier Silent Green gleich 7 audiovisuelle Performances statt. Der Begriff der Musik wird in den zeitgenössischen Kompositionen durch erweiterte Spiel- und Gesangspraktiken, Elektronik und Instrumentenforschung beim Festival MaerzMusik unablässig befragt und ausgeweitet. Was ist ein Ton? Welche Rolle spielt die Lautstärke? Welche das Geschlecht und geschlechtliche Zuschreibungen? Welche Gesangspraktiken lassen sich neu entdecken? Timo Kreuser legt mit seinem Ensemble PHØNIX16 gleich eine ganze Spur im Festivalprogramm mit Grenzräumen des Hörens. Dafür nutzte er mit seinem Ensemble im Silent Green auch den Hof vor der Kuppelhalle. – Gong – Klack – Ein Gong, Klangsteine und sehr langsame Bewegungen der ganz alltäglich gekleideten Ensemblemitglieder. Meditation.

.

Zwischen den Performances der amerikanischen Starflötistin Claire Chase, Gong und Sonic Meditations von Pauline Oliveros durch PHØNIX16 ereigneten sich breitangelegte Exerzitien des Hörens für das Publikum. Wie hören Sie? – Wie hörst Du Musik? – Hörst Du, wie Du hörst? – Headset- oder Headphoneträger*in immer und überall? – Joggst Du mit Musik auf den Ohren durch die Stadtnatur? – Die akustische und soziale Praxis des Hörens hat sich in letzter Zeit durch die Kopplung von Smartphone und Kopfhörern verschoben. Es wird gestreamt und gehört, was das Zeug hält. Oder hören wird dann gerade nicht oder weg oder unbewusst? Die Praktiken des Hörens haben sich verschoben. Gibt es überhaupt noch jüngere Menschen, die sich nicht permanent beschallen lassen? Musik und das Hören von Musik verändern sich.

© Fabian Schellhorn

Claire Chase kündigte in ihrem kurzen Konzert am Nachmittag in der Kuppelhalle eine weitere Weltpremiere innerhalb ihres langfristig angelegten Kompositionsprogramms Density 2036 an. Sie hat bereits mehr als 100 Kompositionsaufträge für die unterschiedlichen Flöteninstrumente von der Piccolo- über die Pan- bis zur Kontrabassflöte vergeben. Einerseits ist für sie die Flöte das älteste in der Instrumentengeschichte, andererseits ermutigt sie in Kooperation mit Komponist*innen, die Spielpraktiken zu erweitern. Mit Liza Lim hat sie Sex Magic für Kontrabassflöte, „electronics and an installation of percussion instruments“ entwickelt. Am Nachmittag spielte sie auf einer Bassflöte das erste Stück aus Sex Magic. Am Abend fand die Europäische Erstaufführung des mehrteiligen, feministischen Musikstücks über weibliche Sexualität in der Betonhalle statt.

.

Die Flöte in ihren unterschiedlichen Ausfertigungen ist für Chase nicht nur ein Blas-, vielmehr ein Ateminstrument. Das Atmen und nicht nur das Blasen mit den Lippen des Labialinstruments Flöte wird mit erweiterten Spielpraktiken zu einem musikalischen Experiment. Claire Chase ist 2017 Professorin für „Practice“ am Institut für Musik der Harvard Universität geworden und nimmt derzeit den namhaften Barbara Debs Composer’s Chair an der Carnegie Hall in New York für die Saison 2022-23 wahr.[1] Mit ihrem Programm Density 2036 dockt sie in der Musikgeschichte an Edgar Vareses Density 21.5 von 1936 an. Welche Implikationen bringt Density 2036 zum einhundertjährigen Jubiläum von Vareses Komposition mit?

.

Varese hatte sich mit dem Titel auf die Dichte und das entsprechende Gewicht von 21,5 Gramm der Platinflöte von Georges Barrère bezogen.[2] Insofern wird die Mehrdeutigkeit von physikalischer wie musikalisch-kompositorischer Dichte von Chase für ihr Projekt aufgenommen. Im Deutschen lässt sich mit der Dichte ebenso an die Dichtung als Poesie denken. Barrère war 1936 bereits selbst zur Legende geworden, insofern als er 1894 in der Uraufführung von Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune die Flöte gespielt hatte. Statt einer Erzählung vom Faun komponierte Debussy nach seiner Formulierung „différentes atmosphères“.[3]

.

Die Figur des Pans knüpft bei Claire Chase ebenfalls für die gleichnamige Komposition von Marcos Blatter als eine dem Faun verwandte an. Pan ist nicht nur als männliches Mischwesen aus Mensch und Ziegenbock der Erfinder der Panflöte und Hirtengott aus der griechischen Mythologie, vielmehr schwingen in Pan bei Claire Chase und ihrer Performance auch Erotik und die knabenhafte Figur des Peter Pan von J. M. Barrie mit.[4] In Pan geht es Chase zugleich um das gemeinsame Musikmachen. Am 24. Februar 2023 hat sie mit Casa Circulo Cultural-Mitgliedern in der Soundbox der San Francisco Symphony zusammen mit Marco Balter Pan aufgeführt.[5] In der Kuppelhalle lud sie die Zuhörer*innen ebenfalls ein, einen Ton zu machen, der sich dann in der Halle veränderte. Chase hat im Musikinstitut der Havard Universität das Curriculum ganz grundlegend verändert.
“In the concert hall and in the classroom, she is equally attuned to “the art of doing, and also the play of doing and the rigor of doing,” she explains. “I think about those three things—the art, the play, and the rigor—as inseparable.””[6]

.

Das Publikum wird an jenem Nachmittag nach dem Chase-Konzert nicht zuletzt durch Marisol Jiménez mit dem Gong im Hof der ehemaligen Feierhalle in die Klangpraxis anders einbezogen. Claire Chase beobachtete die Szene aufmerksam. Denn das Berliner Publikum aus Musiker*innen, Künstler*innen und Besucher*innen ließ ich augenblicklich von der Stille zwischen Gong und Klack faszinieren. Als sei für einen Moment die Zeit stehen geblieben, hielt das Publikum inne, um nur ja nicht Stille und Meditation zu stören. Die Konzentration der Meditation übertrug sich mit dem Schlag des Gongs. Das Publikum machte mit. Was als artifizielle Aktion mit gewöhnlichen Steinen stattfand, korrespondiert mit der fernöstlichen Tradition der „Klangsteine“, wie sie im September mit dem Gastspiel des National Gugak Centers aus Seoul beim Musikfest in der Philharmonie aufgeführt wurde.[7]

.

Die unterschiedlichen Räume des Silent Green verwandelten sich wie die Rampe hinunter zur Betonhalle in temporäre Bühnen. Die taiwanische Performance-Künstlerin Liping Ting führte auf dem Weg zur Klangperformance von Rafał Ryterski Echoing Contemporary auf. Sound, Licht, Körperbewegungen wiederholen ablaufende Handlungen. Mit Silberfolien, die wie kleine Umschläge gefaltet sind, hüllt sich Liping Ting ein oder lässt sie im Raum rascheln. Diese Folien werden als Notfalldecken, Hitzefolien oder Wärmedecken verwendet. Sie sollen den Menschenkörper schützen und sind aus strapazierfähigem, isolierendem Mylar-Material, das von der NASA für die Weltraumforschung entwickelt wurde. Zugleich erzeugen sie mit der Licht- und narrativen Klanginstallation visuelle und akustische Effekte. Echoing Contemporary konzipiert Ting als „poésie d’action“, was sich als Poesie durch die Aktion ebenso wie poetische Aktion denken lässt.

.

Die Poesie der Aktion entfaltet im wahrsten Sinne des Wortes zu unterschiedlichen Zwecken einsetzbare Silberfolien, die zwischen extraterrestrischer Raumfahrt und Lebensrettung auf Erden eingesetzt werden. Sie werden zweckentfremdet und zugleich verdichtet. Der Modus der Wiederholung korrespondiert mit dem der Kontrolle, wenn Liping Ting mit ihrem Körper arbeitet. Zugleich wird so von ihr die Performance als Meditation praktiziert. Denn sie kontrolliert ihre Bewegungen wie eine Extremsportlerin. Sie sagt, dass sie sieben Stunden meditiere, bevor sie ein Stunde performe, wie es im Programmheft heißt. Die Praxis der Meditation durch Wiederholung und Kontrolle in Kombination mit akustischen Ereignissen findet insofern auch hier statt. Einzelne Personen aus dem Publikum sind fasziniert, lassen sich in die Meditation hineinziehen. Andere gehen vorüber oder fotografieren die Lichteffekte.

.

Rafał Ryterski reagierte 2021 mit Haphephobia zusammen mit Aleksander Wnuk programmatisch auf die Covid19-Pandemie. Die Haphephobie von dem griechischen Verb ἅπτειν (haptein) wie berühren, tasten oder kontaktieren wird von Ryterski mit politischem Statement aufgeführt. Die Angst vor der Berührung war 2020 nicht neu, woran Ryterski mit der Erinnerung an die AIDS-Pandemie aufmerksam machen will.[8] Als polnischer „LGBTQ+“-Aktivist und Komponist erinnert er nicht nur an die Pandemie, sondern ebenso an die Angst vor der Berührung von mit HIV infizierten Menschen in den 80er und 90er Jahren. Bekanntermaßen führte die Covid19-Pandemie zu Kontaktbeschränkungen in Deutschland und anderen Staaten. Ryterski hat für seine Performance eine Art Plexiglaskäfig bauen lassen, dessen Flächen mit Sensoren präpariert sind. Das Reiben, Schlagen oder Trommeln auf den Flächen wird elektronisch verstärkt und verarbeitet.

.

Geschlecht und geschlechtliche Praktiken waren entscheidend für die Entstehung und den Titel der Komposition. Das Stück ist, wie Ryterski auf seiner Website schreibt, auf Anregung Jerzy Kornowicz für das WE’RE HERE-Konzert in Warschau 2021 komponiert worden. Es beginnt mit leisen, kaum wahrnehmbaren Tönen, durch das einzelne, zögerliche Berühren der linken Plexiglaswand mit einzelnen Fingern der linken Hand. Die zaghafte körperliche Berührung unter Menschen wird nicht zuletzt als erotische Praxis wahrgenommen. Es lässt sich ebenso daran denken, dass die erste Berührung von Angst vor einer Abweisung begleitet wird. Zwischen Angst vor Abweisung und Infektion durch einen Krankheitserreger lässt sich somit eine vieldeutige Haphephobie denken. Ryterskis Percussion Performance steigert sich in einen lauten, schnellen gesteigerten Tanz, nach dem er eine Wand öffnet und aus dem Plexiglaskäfig entflieht. Haphephobia wurde von der Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert.

© Fabian Schellhorn

Es irritiert, dass im Programmheft von MaerzMusik der durch die sexualautoritäre Politik der polnischen Regierung relevante „LGBTQ+“-Hintergrund nicht erwähnt wird. Das Programmheft belässt es bei der Formulierung, dass Haphephobia, die „Angst berührt zu werden und andere zu berühren“ erkunde.[9] Natürlich ist Haphephobie nicht auf die „LGBTQ+“-Community in Polen beschränkt, aber Rytersky hat das Stück aus einem besonders sensibilisierten, queeren Wissen heraus komponiert. Rytersky spricht mutig und explizit die politische Situation in Polen an und rahmt damit seine Komposition deutlich. Wobei die Offenheit für weitere Interpretationen in der Musik immer gegeben sein mag. Dennoch es ist eben nicht „weniger“ wichtig, wenn der konkrete Entstehungskontext von Ryterski selbst herausgestellt wird. Vielmehr gehört es zum Diskurs der Musikgeschichte z.B. auch bei Karol Szymanowski, woran Yannick Nézet-Séguin erst im September mit den Philadelphians beim Musikfest erinnert hat, dass das Geschlecht in seiner Mehrdeutigkeit zur Marginalisierung von Komponist*innen beigetragen hat und im Konzertbetrieb weiterhin beiträgt.[10]
„On the other hand, year 2020 was a very difficult one in Poland and poles, regarding presidential elections, LGBTQ+ protests, Woman protests and many more. Ryterski wanted to create a piece, that would somehow embrace all these elements, while also remaining much more open for the interpretations.”

.

Noa Frenkel präsentierte in ihrem neuen Liedkonzert Longing, Belonging wieder in der Kuppelhalle einerseits eine Reihe von Liedern und Texten, die von Sebastian Schottke mit Elektronik live bearbeitet wurden. Andererseits nennt sie die Lieder „Lost and Found Texts“. Die Kompositionen von Luigi Nono, Dániél Péter Biró, Yannis Kyriatkides, Alvin Lucier, Chaya Czernowin und Caroline Shaw setzen weniger auf eine Textverständlichkeit als vielmehr auf eine Befragung der Texte und ihrer Textlichkeit. Dániel Péter Bró, Yannis Kyrakides und Chaya Czernowin waren anwesend und traten zum Schlussapplaus mit auf, was insofern erwähnt werden soll, als es deutlich macht, dass das Festival MaerzMusik immer auch ein großes Treffen der Komponist*innen Szene für zeitgenössische Musik ist. Die Performer*innen und Komponist*innen hören sich oft gegenseitig ihre Stücke an. Das Festival ist immer zugleich eines für das Publikum und ein großes, zwangloses Treffen der Szene.

© Fabian Schellhorn

Noa Frenkel knüpft mit ihrem Programmtitel an einen Text aus John O’Donoghues Textsammlung Eternal Echoes an. Als irischer, theologischer Philosoph schrieb der mit 53 früh verstorbene O’Donoghue über die Zugehörigkeit und die Sehnsucht, dass sie zusammen gehörten. Die Zugehörigkeit biete der unstillbaren menschlichen Sehnsucht Schutz. „As memory gathers and anchors time, so does belonging shelter longing. Belonging without longing would be empty and dead, a cold frame around emptiness.”[11] Die Mezzosopranistin verfügt über ein breites Repertoire zwischen barockem Gesang und zeitgenössischer Musik. Das Wort in der Liedkomposition wird etwa in Dániel Péter Birós Hadavar (2011) mit einer einzigartigen Praxis der jüdischen Liturgie für heilige Texte befragt. Denn es geht hier weniger um das Textverständnis als um die Artikulationspraxis in der jüdischen Liturgie.

.

Das Verhältnis von Text und Artikulationspraxis spielt für Noa Frenkel nicht zuletzt durch die Elektronik mit echoartigen Effekten eine wesentliche Rolle für ihr Liedprogramm. Seit der Romantik, wenn man so will, kommt es im deutschen Lied auf eine Textverständlichkeit an. Doch es gab und gibt in der Liedpraxis immer zugleich andere Praktiken. Das wird ebenso deutlich in Yannis Kyreakides Fire of Myself (2003) wie in Chaya Czernowins Shu Hai Miamen Behatalat Kidom (Shu Hai Practices Javdin) von 1997. Sie hat dazu formuliert, dass in der musikalischen Komposition der Gedichte alles weggeschnitten sei und „used to illuminate each other in an imaginery inner space (inner theater)“.[12] Es gibt Töne, aber keine verständlichen Worte. Durch die Vermeidung einer Verständlichkeit, was sie immer sein könnte, entsteht im Konzert von Noa Frenkel eher eine imaginäre oder meditative Atmosphäre.  

.

Die Europäische Erstaufführung von Liza Lims Sex Magic als Reflektion weiblicher Sexualität durch Claire Chase mit großer Installation auf der Bühne war gewiss der Höhepunkt des zweiten Festivaltages. Liza Lim gehört aktuell zu den international wichtigsten Komponist*innen, die gesellschaftliche Themen und Diskurse in ihren Kompositionen verarbeiten. Sie ist seit 2022 gewähltes Mitglieder der Berliner Akademie der Künste. Lim positioniert ihre Kompositionen zwischen Transkulturalität, Anthropozän, Kapitalismuskritik und mit Sex Magic weiblicher Sexualität und ihrer transkulturellen Geschichtlichkeit. Das ist vor allem kein einfaches Themen, wenn es um eine Darstellung von Sexualität in der Musik und einer leicht misszuverstehenden Bühneninstallation geht. Auf andere Weise, um nur daran zu erinnern, geht es mit Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune ebenfalls um die Darstellung von Sexualität in der Musik. Zur Aufführung waren mit Rebekka Saunders, Chaya Czernowin, Gastkurator und Komponist Enno Poppe und vielen anderen bestimmt die wichtigsten Performer*innen und Komponist*innen in der Betonhalle zugegen.

.

Weiblichkeit wird von Liza Lim mit der Bühne als machtvolles Arrangement aus Blumen, Früchten, Kontrabassflöte, Elektronik, Lichterketten, einer riesigen Trommel und Perlenschnüren visualisiert. Claire Chase wird auf einem erhöhtem Podium mit der Kontrabassflöte, die sie „Bertha“ nennt, zur Priesterin eines weiblichen Rituals. Das namentlich weibliche Geschlecht der Kontrabassflöte wird von Lim in der Partitur erwähnt. Die sonoren Töne der riesigen Kontrabassflöte werden durch Praktiken des Schlagens erweitert. Im zweiten Teil nach Pythoness für Kontrabassflöte mit dem Titel Oracles verwendet Lisa Lim zusätzlich Kaurimuscheln, eine „womb-bell“, eine Pedalbasstrommel, eine aztekische „death whistle“, ebenso wie eine Okarina und die Stimme.[13] Mit Pythoness knüpft Lim an die Figur der Pythia als Wahrsagerin in Delphi aus der griechischen Mythologie an. Wegen der Pandemie bedingten Beschränkungen, kann die Inszenierung und Aufführung vom 18. März auch als eine eigentliche szenische Uraufführung gedacht werden.

© Fabian Schellhorn

Die Elektronik wurde von Senem Pirler, die als Klangkünstlerin und Komponist*in in Brooklyn lebt und arbeitet gesteuert. Die Darstellung einer alternativen weiblichen Kultur ist der Komponistin ebenfalls so wichtig, dass sie sie als Konzept der Partitur vorausschickt und ausführlich erläutert. Insofern wird Liza Lim zu einer transkulturellen Forscherin, die sich in erweiterten Spielpraktiken und Klangräumen hören lässt. Der hohe Grad der Konzeptualisierung wird ebenso durch das Glossar der Partitur vermittelt.
“Cowrie shells have been widely circulated as a form of currency, particularly in the Arabic and African worlds taking on a raft of symbolic meanings including associations with fertility and pregnancy. Amongst their many uses, cowries have been employed in rituals for increase, for divination and healing, as amulets to ward off the evil eye, to pay for the passage of the dead, in dowries and love magic.”[14]

© Fabian Schellhorn

Liza Lim möchte mir ihrer Komposition nicht weniger als die Welt durch mehr Weiblichkeit verändern. Das ist ein hoher und nicht leicht einzulösender Anspruch. Sex Magic endet mit einem Zitat aus dem Gedicht Ulysses von Alfred Tennyson als sechstem Teil der Komposition unter dem Titel Telepathy. Die Emphase des 1842 veröffentlichten Gedichts formuliert als dramatischen Monolog die Hoffnung auf eine neue Welt. Lin nimmt damit eine fast schon befremdliche Form der Utopie im 19. Jahrhundert für das 21. Jahrhundert auf.
„The long day wanes
the slow moon climbs
Come, my friends
Tis not too late to seek a newer world.”

.

Die Aufführung von Sex Magic und ihre Performer*innen wurden ausgiebig gefeiert, obwohl die Direktheit der rituellen Darstellung von Weiblichkeit manch einer Komponisten-Kollegin vielleicht auch zu direkt oder gar komisch vorkam. Dennoch erweitert Liza Lim mit dem breiten Klangspektrum und dem vielschichtigen Spiel der Narrative und Versprechen die Debatte um Weiblichkeit in den Künsten. Liza Lim ist als internationale Komponist*in äußerst produktiv und will sich in aktuelle Debatten einmischen. Damit werden ihre Kompositionen zu musikalischen Statements, die vor allem bei jüngeren Menschen ankommen könnten. Als Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg 2021-22 hat Liza Lim an ihrem Projekt Post-Human Songs for the Anthropocene gearbeitet.  

.

Als eine Art Late-Night-Performance führte PHØNIX16 im Rahmen von Grenzraum HÖREN 8 eine etwas schwierige Form der Meditation durch Pauline Oliveros Sonic Meditations von 1971 auf. Das Schwierige daran war vor allem die körperbedrohende Lautstärke der Aufführung. Pauline Oliveros mag eine Pionierin der Elektronik sein, doch Ohrstöpsel halte ich immer noch für ein musikfeindliches Requisit. Wahrscheinlich waren die Dezibel genau kalkuliert und das Experiment lockte auch viele Hörer*innen an. Aber der Berichterstatter musste die Betonhalle wegen der Lautstärke nach kurzer Zeit verlassen.

Torsten Flüh

MaerzMusik im Radio

31. März, 20:03 Uhr
asamisimasa-zyklus“ von Mathias Spahlinger
(22. März, Kammermusiksaal der Philharmonie)
Deutschlandfunk Kultur

6. April 2023, 00:05 Uhr
ensemble mosaik
(21. März, Haus der Berliner Festspiele)
Deutschlandfunk Kultur


[1] Siehe: Claire Chase: Professor of the Practice, Harvard University Department of Music: DACA Seminar.

[2] Siehe: Wikipedia (englisch): Density 21.5.

[3] Debussy zitiert nach: Wikipedia: Prélude à l’après-midi d’un faune.

[4] Zur Figur Peter Pan siehe auch: Torsten Flüh: Kindsein bittersüß. Robert Wilsons gefeierter Peter Pan mit Musik von CocoRosie. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 19, 2013 18:29.

[5] Siehe: Claire Chase: Pan.

[6] Lucy Caplan: “The Art, the Play, and the Rigor” Flutist Claire Chase marks a key change for Harvard music. In: HAVARD MAGAZIN May-June 2018.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas. Zur begeistert aufgenommenen Vorführung von Jongmyo Jeryeak des National Gugak Centers in Seoul beim Musikfest Berlin 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2022.

[8] Siehe: Rafał Ryterski: Haphephobia.

[9] Berliner Festspiele (Hg.): Paul Rabe (Redaktion): MAERZMUSIK 18.3.2023. Berlin 2023, S. 7.

[10] Siehe Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[11] Zitiert nach: Noa Frenkel: Longing, Belonging. Lost and Found Texts. Berlin 2023.

[12] Ebenda S. 3.

[13] Partitur: Liza Lim: Sex Magic. Berlin: Ricordi, 2020. (Online)

[14] Ebenda.

Die Jalousie, die Box und die Porreestange

Synapsen – Internet – Musiktheater

Die Jalousie, die Box und die Porreestange

Synapsenreizende Eröffnung des Festivals MaerzMusik 2023 mit Michael Beils Hide to Show

Die Jalousien rauschen hinunter. Projektoren werfen soeben aufgenommene Szenen auf die Jalousien. Die Musiker*innen des Nadar Ensembles drehen an den Jalousiestangen. Die Lamellen schließen oder öffnen sich. Außen? Innen? Oberflächeneffekt! Jede Musiker*in spielt in einer Box von Jalousiebreite für sich – und mit allen anderen. Die Ebenen der Live-Visuals von Warped Type überschneiden sich mit den unsichtbar sichtbaren Live-Musiker*innen. Die Jalousie und das Drehen an der Stange oder das Ziehen am Jalousieband funktionieren wie das Wischen auf dem Smartphone. Michael Beil fragt nach der „Unsichtbarkeit in aller Öffentlichkeit“, nach dem Alleinsein in einem Raum. Die Premiere war für Mai 2020 geplant. – Doch dann beamten uns die Kontakteinschränkungen im März 2020 wirklich allein in einen Raum. Wenig später wurde die Kontaktperson neu formatiert.[1]

.

Das Festival MaerzMusik musste 2020 wegen der Einschränkungen durch die Maßnahmen zur COVID-19-Pandemie plötzlich abgesagt werden. Die für 2021 und 2022 unter der Leitung von Berno Odo Polzer entwickelten digitalen Formate konnten das Festival nur notdürftig ersetzen. Festival hat immer etwas mit Come together, Meet & Greet, CU again oder schlicht „Familie“ zu tun. Es ist ein Austausch im geteilten Raum, in geteilter Luft. Seit März 2023 haben die Berliner Festspiele mit MaerzMusik ein neues visuelles Erscheinungsbild, weil nicht zuletzt Matthias Pees neuer Intendant geworden ist. Die Pandemie hat tatsächlich für einen Bruch gesorgt. Kamila Metwaly ist neue Künstlerische Leiterin von MaerzMusik geworden und der seit langem dem Festival verbundene Komponist und Dirigent Enno Poppe hat das Gastkuratorium übernommen. Plötzlich nach drei Jahren Corona ist die Eröffnung ausverkauft.

.

Matthias Pees begrüßte als neuer Intendant der Berliner Festspiele in der Library of MaerzMusik als eine Art Leselounge die Gäste des Eröffnungskonzertes Hide to Show. Die Installation und die Leselounge, die täglich zwischen 14:00 und 18:00 Uhr bis zum 26. März bei freiem Eintritt im Haus in der Schaperstraße geöffnet ist, geben einen Wink auf das neue Zusammenkommen. Die Eröffnungsrede von Matthias Pees fiel kurz und wenig programmatisch aus. Die Library of MaerzMusik selbst ist wohl gar schon ein Wink auf das Programm. Der Diskurs und das Lesen sind offener geworden als zu Zeiten des „Festivals für Zeitfragen“. Online-Festivals haben sich vor allem durch Zuhörer- und Zuschauerschwund ausgezeichnet. Als Experiment hat es sich als nützlich erwiesen, aber nicht die Form des Live-Streams bestätigen können.[2] Matthias Pees lädt ein ins Festival als „Pluriversum“. Damit knüpft er an den neuen Intendanten und Chefkurator des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) Bonaventure Soh Bejeng Ndikung an, der am 14. März sein Programm und Team vorgestellt hatte.

.

Das neue Zusammensein im Pluriversum, das das hegemoniale Konzept eines Universums ablöst, verlangt Liebe und Respekt. „HKW shall be a space in which love, respect, and generosity are realized through daily practice”, hatte Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, den viele nur kurz Bona nennen, auf der Pressekonferenz mit Live-Musik gesagt. Vielleicht ist das genau die Formulierung und Formel, der die Kulturen aktuell bedürfen. Denn Liebe, Respekt und Großzügigkeit werden aktuell an vielen Orten der Welt bedroht, bekämpft und in Frage gestellt. Die tägliche Praxis von Liebe, Respekt und Großzügigkeit kann nicht zuletzt in der Library of MaerzMusik stattfinden. In der Bibliothek finden sich neben Partituren von Rebekka Saunders, Enno Poppe und Chaja Czernowin ebenso Publikationen von Savvy Contemporary wie We have dilivered ourselves from the tonal – of, towards, on, for Julius Eastman (2020) mit Beiträgen u. a. von Elaine Mitchener, Kamila Metwaly, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und Berno Odo Polzer.

.

Kamila Metwaly hat zuvor seit 2017 mit Savvy Contemporary im Wedding an der Reinickendorfer Straße gearbeitet.[3] Sie ist Musikjournalistin, elektronische Musikerin und Kuratorin. Seit 2018 ist sie wesentlich an der Wiederentdeckung von Julius Eastman und Halim El-Dabh beteiligt. Die steile Karriere von Kamila Metwaly von Kairo über Berlin und Donaueschingen (2021) zurück nach Berlin gibt zugleich einen Wink auf eine Diskursverschiebung, die mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im Kulturquartier Silent Green eingesetzt hat.[4] Das pluriverse Zusammenkommen und Afrika werden für die nächsten Jahre eine prominentere Rolle spielen. Die mit der Installation fast schon institutionalisierte Bibliothek eröffnet die Teilnahme und Teilhabe am Diskurs. Räume zum Lesen und zum Zusammenkommen lassen sich einerseits als Anachronismus wahrnehmen, andererseits bieten sie damit eine Gegenbewegung zu Praktiken im Internet. Der während der Pandemie durchaus als vorteilhaft empfundene Rückzug auf digitale Plattformen und Arbeitstreffen lässt sich kaum verstetigen. Das Menschliche entsteht durch körperliche Praktiken.

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Hide to Show wurde von Michael Beil mit der Frage nach dem Alleinsein und der Vereinsamung an der Schnittstelle von Musiktheater, Elektronik und Internetpräsenz entwickelt. Damit nahm Beil mit den Liedtexten von Charlotte Triebus eine Fragestellung vorweg, die in den digital begleiteten Lockdowns als eine entscheidende aufbrach. Denn die Frage schneidet das Feld von Internet und Ich, Digitalität und Politik, Welt und Autorität an. Franz Kafka hat in seinem ebenso um Aufmerksamkeit wie um Bewältigung seiner „Furcht“ vor dem Vater ringenden Brief 1917 formuliert: „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal.“[5] Der Brief erreichte den Vater nie. Mit dem Smartphone in der linken Hand auf dem Sitzsack werden wir heute alle zu kleinen Kafka-Vätern. Avital Ronell hatte im Juni 2010 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung mit Kafkas Brief an den Vater die Frage nach der Autorität im Kontext der amerikanischen Politik und der Bush Administration gestellt.[6] Politik hat seither weiterhin massiv an Autorität eingebüßt und zugleich im Zeitalter des Smartphones zu einer direkten Einflussnahme bei zeitgleicher Vereinsamung geführt. Ubiquitärer Hass ist zu einem Mittel der Politik geworden.

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Das Smartphone erlaubt die Handhabung von Internet und Welt durch einen Wisch als Vote. „Algorithms, ones and zeros. I will always be a network, you are all alone“, dichtet Charlotte Triebus und singen die Musiker*innen auf der Bühne. Über das Smartphone, das in seiner senkecht-quadratischen Form, den Boxen auf der Bühne mit den Jalousien ähnelt, wird das Ich immer vernetzt und dabei allein sein. Das Alleinsein durch die Handhabbarkeit des World Wide Web formuliert ein wesentliches Paradox der Digitalität. In diesem Jahr gibt es keine Live-Streams vom Festival, obwohl überall jüngere Menschen mit sicherlich verlinkten Kameras umherlaufen und speichern. Zugleich wird das SP von den Festivalbesucher*innen ständig gezückt wie ein Abwehrwaffe gegen zu viel Algorithmus oder Nähe. Mein persönlicher Algorithmus hat mich mit einer ganzen Kette von Entweder-oder-Entscheidungen mit einem Zeitpuffer ins Haus der Berliner Festspiele gebracht. Das mit dem Algorithmus ist ja so eine Fiktion des Ichs. Die ganze Realität ist gescriptet, sonst wäre ich gar nicht angekommen, wo ich war. Anziehen, losgehen, gehen, links in die Müllerstraße zur U-Leopoldplatz einbiegen, runtergehen, in die U6 einsteigen …

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Die Synapsen werden von Warped Type, Andreas Huck und Roland Nebe, ordentlich gereizt. Michael Beil setzt auf Tempo und Volumen. Vor der Einlasstür wird vor Stroboskopeffekten gewarnt. Ohrstöpsel können vor Eintritt angenommen werden. Mein Algorithmus sagt: „wenn ich ins konzert gehe, dann will ich hören bis an die grenzen“. Deshalb nehme ich heute keine Ohrstöpsel. Das Hören und das Sehen sollen direkt von den Synapsen an die Gehirnzellen weitergeleitet werden. Dafür habe ich ja schließlich Ohren und Augen, die durch die Synapsen auf mein Ich wirken. Das Ereignis und Ich im Raum mit ca. 600 anderen, teilweise geladenen Gästen und Mitwirkenden. Nora Eckert habe ich schon vor der Tür getroffen und und und Die Synapsen sind meine Stecker zur Welt. Sie sind so ein analoges Kommunikationsmodell. Ohne Synapsen kommt nichts an bei mir. Okay, das Ich ist allein, wenn es keine Kontakte hat. „Sketch me, mask me, crop me, get my parodies‘ avatar. (Online is the new alone.)”, hat Charlotte Triebus schon vor Corona-Kontaktbeschränkungen getextet.[7]

© Fabian Schellhorn – Hide to Show Michael Beil / Nadar Ensemble

Hide to Show ist tolles Musiktheater über das paradoxe Leben im Internet. Algorithmen und Visual Effects sind technisch avanciert. ABER, wie funktioniert denn das nun mit der Unsichtbarkeit der Musiker*innen in den Boxen? Jalousiestange und -band werden von ihnen per Hand betätigt. Das ist noch nicht einmal digitales Schnickschnack. Eher witzig: Null und Eins, Auf und Zu, Hoch und Runter und Hoch … Aber nicht im Lehnstuhl oder Sitzsack. Das macht dann schon einen Unterschied. „It’s an imitation. There’s remedy for reality“, heißt es in einem Lied. Das kann sowohl heißen, dass das Drehen und Ziehen in den Boxen mit den Jalousien eine Imitation des Internetverhaltens mit dem SP sind, als auch, dass das Smartphone die Welt imitiert. Oder wir nutzen das handliche Ding wie einen Weltzugang. TicToc inbegriffen. In einer kurzen Szene auf der Jalousieoberfläche tanzt eine Person mit zwei Lauchstangen in den Händen. Sie trägt Gummistiefel und einen Sonnenhut. Das ist ja sowas von real: Tanzen mit zwei Porreestangen in den Händen. Fast bäuerlich. Real and rural.

Michael Beil arbeitet mit einer guten Praxis von Humor: Am Schluss tanzen alle Ensemblemitglieder in Gummistiefeln mit Sonnenmützen und Lauchstangen in der Hand vor den Jalousien. Das TicToc- oder sonstwo geteilte Video ist, wie man sagt, viral geworden. Es ist in die Körper eingedrungen und mutiert. Auf den weißen Sweatshirts steht über der Brust Hide to Show. Die paradoxe Titelformulierung. Wird nicht nur durch Jalousien verborgen, damit auf ihnen Videos projiziert werden, als ob die Musiker*innen spielten? Was gezeigt wird, verbirgt vielmehr das Alleinsein. Wie allein muss eine Person sein, um TicToc-Star zu werden? Musikalisch verarbeitet Michael Beil z.B. In My Room von den Beach Boys. Parodieren ist eine recht fröhliche Praxis des Humors. – Und dann treffen sich zwei Menschen im Lockdown mit der Frage: Bist Du einsam? – Ich bin einsam. – Zwei Einsame machen zusammen oft noch kein Zusammensein oder gar eine Gemeinschaft. Auch das muss einmal angemerkt werden. Aber mit einem Festivalbesuch könnte das anders werden.

Torsten Flüh

MaerzMusik 2023
Programm
bis 26. März 2023   


[1] Siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Geströmtes Festival am Bildschirm. Zur Eröffnungsveranstaltung von MaerzMusik 2021 – Festival für Zeitfragen im Livestream. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. März 2021.

[3] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. IN NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[4] Siehe dazu: Torsten Flüh: Das Maximale an der Minimalmusik. MaerzMusik 2017 eröffnet mit Julius Eastman, Catherine Christer Hennix und Uriel Barthélémi. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 19, 2017 16:10.

[5] Franz Kafka: Brief an den Vater (Projekt Gutenberg)

[6] Siehe Avital Ronells Lektüre des Briefes in: Torsten Flüh: „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.“ Avital Ronells Vortrag „What Was Authority?” im Trajekte-Tagungsraum des Mosse-Hauses. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 1, 2010 21:07.

[7] Zitiert nach Rebecca Diependaele: Hidden in Plain Sight. In: Programmheft: MaerzMusik: Hide to Show 17.3.2023. Berlin, 2023, S. 11.

In der Hand kaum auszuhalten

Krieg – Fibel – Bild

In der Hand kaum auszuhalten

Zum Konzert Die Kriegsfibel in der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich des Jahrestages von Putins Angriffskrieg auf die Republik Ukraine

In der Friedrich-Ebert-Stiftung fand am 2. März in der Hiroshimastraße 17 in Berlin das musiktheatralische Konzert Die Kriegsfibel mit Marie-Luise Kunst, Felix Meyer, Johannes Feige und Jörg Mischke statt. Die FES als sogenannte parteinahe Stiftung der SPD engagierte sich damit im Programmbereich Kultur & Politik mit ihrer Referentin Franziska Richter für das Gedenken an den Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Republik Ukraine. Anknüpfend an Bertolt Brechts Kriegsfibel mit Zeitungsausschnitten und 69 vierzeiligen Versen zu diesen inszenierten die Musiker*innen eine bild- und textreiche Revision der über 365 vergangenen Tage des Krieges in den Medien.

.

Das Ausschneiden von Fotos und Kriegsberichten aus der Zeitung, das Bertolt Brecht im Exil seit 1939 unregelmäßig praktizierte, führte 1955 zur Herausgabe des Buches Kriegsfibel durch Ruth Berlau im Eulenspiegel Verlag.[1] Brechts Dramaturg und Mitarbeiter am Berliner Ensemble Peter Palitzsch hatte das Buch mit den „Fotoepigrammen“ gestaltet. Beim Eintreten in den Konferenzsaal der FES liest und schneidet Felix Meyer an einem alten Küchentisch Kriegsartikel aus Zeitungen unter einer Kamera aus. Im Bühnenraum sind 4 Leuchtgloben mit hellen Flecken, die Krisen- oder Kriegsherde markieren könnten, verteilt. Über der Bühne erscheinen im Wechsel das Ausschneiden und News der letzten Monate wie ein Bild Gerhard Schröders.

.

Das Medium Zeitung führt 2022/2023 in der Medienflut zum Krieg von Social Media und Fernsehen, Dokus und News fast schon eine marginale Rolle. Felix Meyer hat den Kopf am Küchentisch über der Zeitung auf den Arm gestützt. Die Geste des Denkers, bevor das Konzert mit seiner Bilderwucht beginnt. Die meisten Menschen und vor allem die jüngeren halten heute allerdings das Smartphone in der rechten Hand und wischen. Gelesen wird im Tempo des Wischens durch die Alerts, latest & breaking News aller Kanäle. Mehr als jemals zuvor hat sich der Angriffskrieg Wladimir Wladimirowitsch Putins auf die Republik Ukraine in einen globalen Alert-Tsunami der Bilder und der Narrative verwandelt.[2]

.

Walter Benjamin konnte im März 1934 im Umfeld zu seinem Buch EINBAHNSTRASSE noch in seinem Text Die Zeitung von einer „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ schreiben.[3] Rainald Goetz habe am 22. Februar 2023 im Berliner Wissenschaftskolleg eine flammende Rede auf die „Zeitung“ gehalten, wie es im Untertitel des Abdrucks in der ZEIT heißt. Da hat der Titelredakteur lexikalisch etwas geschummelt. Denn die gedruckte Rede geht mehr über eine „Zeitschrift“ im Format „Heft“. Hefte sind auch handlich. Nämlich die „Zeitschrift für Ideengeschichte“. Auf die „reale() Zeitung“, soweit ist es gekommen, geht Goetz nur anlässlich der „Ankündigung von Springerchef Döpfner, daß es bei Springer bald keine gedruckten Zeitungen mehr gibt,“ ein.[4] Die Zeitung wird exemplarisch nur mit der „Tageszeitung WELT“ im Druck besprochen:
„Die Tageszeitung WELT druckt schon seit einiger Zeit ihre Artikel, die oft viel interessanter sind, als es das snobistische Vorurteil gegen die Welt wissen will, vor allem im Feuilleton so irr über die Doppelseite hin gelayoutet, daß man die Zeitung mehrfach mühsam umfalten muß, um einen Artikel ganz lesen zu können, so als sollte auch noch den letzten Anhängern der realen Zeitung, die die sogenannten Inhalte immer noch auf Papier gedruckt aufnehmen wollen, der Spaß an der Sache endgültig verleidet werden.“[5]

.

Das goetzsche Umfalten ist jenseits einer an Literaturen interessierten Szene dem Wischen gewichen. Während das von Goetz gefeierte Format „einer großen Zeitungsseite von etwa 40 auf 57 Zentimeter, die er eine extrem angenehme Standardgröße” nennt, vor allem unhandlich ist z.B. in der 2. Klasse des ICE, wird die Welt auf dem denglischen Handy handlich. Auf den iPhones, Handys, Mobiles oder Smartphones werden die Alerts von oben nach unten, links nach rechts, unten nach oben und rechts nach links mit dem Zeigefinger einfach ins Off gewischt. Wir müssen angesichts des Krieges in der Ukraine mehr über das Wischen sprechen und singen wie in der FES. Das kritisierte Umfaltenmüssen war nicht nur schlecht oder gut. Es erforderte von den Leser*innen eine zeitungsspezifische Handhabung, Praxis, die das Umblättern für das Buch oder die Zeitschrift erweiterte. Literaturen stellen gewisse lebens- wie lesenspraktische Anforderungen. Doch diese kommen im Alert-Tsunami gar nicht erst zum Zuge. Das Konzert Die Kriegsfibel reagierte auf diese praktische Verschiebung.

.

Die Fibel spielt weiterhin an auf das Format Buch, obwohl es nach dem „Zeitungskorpus“ des DWDS seit den 1980er Jahren stark aus dem Gebrauch gekommen ist.[6] Sie wird als „bebildertes Lesebuch“ genutzt, wobei sich bei Brechts Kriegsfibel das Verhältnis von Bild und Text mit den Zeitungsausschnitten bereits umdreht. Sie wird zu einem bedichteten Fotobuch. Die Verse werden nachträglich zu den Fotos formuliert. Diese Nachträglichkeit der Verse kommt beispielsweise bei dem anfangs eingeblendeten Zeitungsfoto mit der Bildunterschrift „The face of the German Army in Russia now appears frozen, dazed, ehausted of will or pride. These were once crack troops, the terror of the world of 1940 and 1941 but the farther they got into Russia, the less they liked cold and ample room to die in. However, as the Russians advance westward, the warmer it feels and the more delightful the prospect.”[7] Marie-Luise Kunst hält es auf der Bühne am Mikro als Cover im Arm. Brecht schnitt die Bildunterschrift mit aus. Doch sein Vers schlägt einen anderen, mitfühlenden Ton an, wenn es heißt.
„Seht unsre Söhne, taub und blutbefleckt
Vom eingefrornen Tank hier losgeschnallt:
Ach selbst der Wolf braucht, der die Zähne bleckt
Ein Schlupfloch! Wärmt sie, es ist ihnen kalt.“[8]

.

Im Unterschied zur wenigstens polemischen Bildunterschrift in der englischsprachigen Zeitung formuliert Brecht mit der Zeigegeste auf das Foto, „Seht unsre Söhne“, Empathie für die deutschen Soldaten, indem er sie als „Söhne“ benennt. Für die englischsprachige Zeitung waren die acht Gesichter auf dem Foto „The face of the German Army“ und „once crack troops“. Die Empathie gegenüber den gefangengenommenen deutschen Soldaten – Stalingrad wird nicht genannt – mit dem Aufruf, sie zu wärmen, steht im Widerspruch zur Rhetorik des Krieges und Sieges über „the German Army“. Dass unter den Fotografierten ebenso Beteiligte an Kriegsverbrechen sein könnten, die die „Wehrmacht“ und entsandte Polizeieinheiten beim Vormarsch in russischen Dörfern und Städten begangen hatten, bleibt ebenfalls unerwähnt. Brechts Vers ist empathisch und mehrdeutig. Denn „der Wolf“ kann ab 1941 ebenso als Adolf Hitler im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ gelesen werden. Dann hätte Hitler die Söhne geraubt.

.

Der Raub und Verrat der Söhne als Soldaten in einem Angriffskrieg schimmert als Narrativ in Brechts „Fotoepigramm“ durch. Narrative sind hartnäckig, resistent und übertragbar. Das gilt insbesondere für vermeintlich und tatsächlich hierarchische Befehlsketten, die die Armee strukturieren. Die Kriegsführung des Kriegsverbrechers Putin hat allerdings in den vergangenen Monaten auch immer wieder gezeigt, dass die Hierarchie eine Fiktion und brüchig ist. In der Praxis werden Kriegsverbrechen wie in Butscha begangen, für die niemand und am allerwenigsten der Präsident im Kreml verantwortlich sein will. Dennoch gehören sie zur strukturellen Praxis des Angriffskrieges. Der ukrainische Präsident Selenskyj und sein Umfeld haben frühzeitig erkannt, dass (russische) „Söhne“ zu Kriegsverbrechern werden können. Das dokumentarische Theaterstück Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ) in der Schaubühne hat dies mit Smartphone-Telefonaten zwischen russischen Soldaten an der Front und ihren Frauen bzw. Freundinnen eindrücklich vorgeführt.[9] Befehlsketten werden mit aktuellen Medien auch umgangen.

.

Im Musiktheaterstück Die Kriegsfibel forschen die Musiker*innen den medialen Strukturen des Krieges nach. Bereits Hanns Eisler hatte begonnen, die Kriegsfibel mit den Versen als Lieder zu komponieren. Sie entwickelt als Fotobuch eine eigene Dramaturgie, wenn sie mit einem Foto von Adolf Hitler am Rednerpult gestikulierend – rechter Arm ausgestreckt und Blick nach oben gewendet, als solle aus dem Himmel eine Botschaft kommen –, und einem Foto aus dem Krieg in Spanien 1928 einsetzt. Sie endet mit einer Frau, die mit Säcken und Taschen als Flüchtende in den Trümmern einer deutschen Stadt ausruht und in die Kamera blickt. Ruth Berlau setzte der Kriegsfibel ein kurzes Vorwort vorweg:
„… Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.“[10]

.

Berlaus Programm, Bilder lesen zu lehren, wird nicht anders als in der Bild-und-Textpraxis der Kriegsfibel vermittelt. Wie erfolgreich dieses breit angelegte Medienprogramm war oder wurde, wissen wir nicht. In Berlaus Formulierung wird der Begriff Krieg nicht einmal gebraucht. Stattdessen wird eine mediendidaktisches Leseprogramm formuliert, das sich vor allem gegen den „Kapitalismus“ wendet. Die Bildunterschrift zu den frierenden Soldaten und Brechts Vers geben auch einen Wink auf den „Kapitalismus“ als Erzähl- und Lesepraxis. In der Bildunterschrift wird eine erzählende Kausalität zwischen den „crack troops“ und dem „Face of the German Army“ hergestellt. Kapitalistisch wäre hier nicht zuletzt die Siegeslogik der Bildunterschrift. Die Frage, wie „Fotos in den Illustrierten“ zu lesen sind, bleibt weiterhin ungeklärt, wenn nicht Brechts Strategie berücksichtigt würde. Mehr noch die kapitalistische Erzähl- und Lesepraxis hat sich mit den Bildmedien, den Pics des Kriegs in der Ukraine zugespitzt. Mit den Pics wird sowohl Wissen verbreitet als auch zerstreut. Wir tun mit einem Blick auf das Smartphone in der Hand, als wüssten wir, nun alles über den Krieg.

.

Die Kriegsfibel wurde schnell als Aufruf zu einer Friedensbewegung gelesen. „Die Kriegsfibel ist Bertolt Brechts letztes lyrisches Werk und Kultbuch der frühen Friedensbewegung“, schrieb Daniel Seiffert in einer Hausarbeit 2000.[11] Wie konnte die Kriegsfibel zum „Kultbuch der frühen Friedensbewegung“ werden? Ein Aufruf zum Frieden oder zu Friedensverhandlungen wird nirgends formuliert. Ruth Berlau schreibt nicht von Frieden, sondern von „Unwissenheit“ in der Medienpraxis. Vielleicht gibt die bibliothekarische Einordnung des Buches einen Wink. In der Zentralbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum befinden sich zwei Exemplare im 5. Stock mit der Signatur „Gesch.“ wie Geschichte neben Büchern zur Geschichte Mexikos etc. Die Originalausgabe von 1955 und die Wiederauflage von 1968 anlässlich des 70. Geburtstages von Bertolt Brecht. Der medienpraktische Ansatz des Buches wurde nicht zuletzt im akademischen Apparat mit Geschichte überschrieben. Krieg sollte der Geschichte angehören, während sich die Aufrüstung nicht stoppen ließ und der Kalte Krieg tobte.

.

Die auch verfehlte Rezeption der brechtschen Kriegsfibel durch die Friedensbewegung und die Geisteswissenschaften erinnert nicht zuletzt mit dem dünnformulierten Manifest für den Frieden[12] – „Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt!“ – an „die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge“. Eine Analyse der Redeweisen und Bilderfluten wird im „Manifest“ von lateinisch manifestus wie „handgreiflich“ gar nicht erst angesprochen, weil sie zutiefst das eigene Handlungsbedürfnis bestimmen. Allein Putins Rhetorik der Drohung[13] – „Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg?“ – wird von Wagenknecht und Schwarzer kassandrahaft fragend übernommen, weil sie miserable Rhetoriker*innen sind. Friedensbestrebungen müssen nicht ängstlich bittend formuliert werden. Da macht vielmehr der sozialdemokratische, einst als Scholzomat diskreditierte Bundeskanzler einiges richtig. Das öffentliche Rede- und Geltungsbedürfnis von Olaf Scholz ist begrenzt, was ein Vorteil ist, wenn alle meinen, nach den erstbesten Bildern und Narrativen greifen zu müssen.

.

Der Begriff des Narrativs hat in den Talkshows eine enorme Karriere gemacht. Auch das ist ein Effekt des in einer Rede legitimierten Angriffskrieges. Allerdings wird der Begriff besonders häufig so gebraucht, als ob nur Putin in einem falschen, lügenhaften Narrativ rede und denke. Bertolt Brecht hat in seiner Kriegsfibel ein feines Gespür für visuelle und textliche Narrative, wie beispielsweise die „Söhne“ zu bedenken geben. Ein anderes verbreitetes Narrativ kommt schon in der Kriegsfibel mit „SEXY CARROT“ zum Zuge, das Wladimir Putin mit Stewardessen am Tisch gleich zu Anfang des Krieges in Szene gesetzt hat.[14] Ein John Bretherick aus Philadelphia schickte das Foto einer Karotte aus seinem Garten an die Redaktion einer Zeitung. Die Natur habe „a pin-up vegetable“ produziert. Eine zweibeinige Karotte, die an ein reizvolles Revuegirl erinnere. Sex und Krieg gehören als patriarchales Narrativ zusammen. Das hatte selbst Brecht verstanden, der zwar nicht auf Revuegirls, sondern eher auf intelligente Frauen wie Ruth Berlau stand.
„Damit ihr auch bekommt, was euch gefällt
Sei euch dies Rübenbildnis angeboten.
Das halt‘ euch überm Meer im Dschungelzelt!
Ein solches Bild weckt, hör ich, einen Toten!“[15]   

.

Der russische Angriffskrieg mit knatternden und bald treibstofflosen Panzern ist zu einem der Digitalität in Abwehrschildern, Drohnen, Fotos, Posts, Likes, Emoticons und Hashtags geworden. 2022/23 passt der Krieg in die „Hosentasche“, wie es im Programm zum Konzert im Konferenzsaal heißt. Die Digitalität materialisiert sich im multifunktionalen Smartphone, das wir einfach meistens links in der Hand halten und rechts den Coffee-to-go im nachhaltigen Mehrwegbecher, „mit nur wenigen Klicks ist man mitten im Geschehen, kann nahezu „live“ und in Farbe dabei sein. News im Sekundentakt, Kommentarschlachten auf Social Media, Doomscrolling, Fake News; aber auch: einende Hashtags globaler Solidarität und neue Dimensionen internationaler Spendenbereitschaft“.[16] – „emilio_morenati Kyiv, Ukraine“ postet auf Instagram das Foto aus einem Krankenhausflur direkt in die Hand auf das Smartphone. Im Gegenlicht zeichnet sich der Körper eines Mannes an Krücken ab, dessen linkes Bein oberhalb des Knies amputiert worden ist. „mental_health_esther und 12.531 weiteren Personen“ gefällt das. – Bitte? Wie kann das gefallen?!

.

Die Handlichkeit des Krieges durch die Digitalität ist für Millionen User Wirklichkeit geworden. Mit Posts und Shares, Likes und Hates nehme „ich“ möglichst lässig oder engagiert am Krieg und seinen Medienschlachten teil. Selbst die Schlachten auf den Kriegsfeldern werden digital durchdrungen. Heute erhielt ich von einer Freundin auf WhatsApp einen Twitter-Link: „Visegrád on Twitter „23-year-old Vitaly Sukhotsk has …“. Dazu meine Freundin: „Er sieht aus wie ein Bub“ Emoticon: Traurig. Das Foto: Vitaly vielleicht 18jährig in besticktem ukrainischen Trachtenhemd. Schräger, schwarzer Balken. 879 Kommentare, 1.157 Geteilt, 17.881 Herzen. „23-year-old Vitaly Sukhotsky has been killed in battle against Russian Army near Bakhmut. His task during the war was to make the mathematical calculations needed for his artillery unit. He was from a village in the Lviv region.” Dass die Ukraine und viele Kriegsberichterstatter*innen zwischenzeitlich die digitalen Medien z.B. mit dem hübschen Bubenbild von Vitaly nutzen, ist ihr gutes Recht, weil Vitali sicherlich nicht vor 13 Monaten von der Verteidigung seines Landes im Krieg geträumt hat. Aber die Fotos und Videos sind immer auch verfänglich.

.

Natürlich ist ein junger Mann von 23 Jahren viel zu jung, um in einem Angriffskrieg getötet zu werden. Sich der Drohungen aus Moskau zu unterwerfen, wie durch Friedensaktivist*innen angedacht, war natürlich keine Alternative. Aber das emotionale Potential des Fotos vermutlich aus einem heimischen Fotostudio in einem Hemd, das nicht seines gewesen sein muss, hat schon seine eigene Qualität. Das wäre heute wie damals ein Fall für ein Fotoepigramm von Bertold Brecht. In der Musiktheateraufführung wurde vielfältiges Bildmaterial projiziert und besungen. Vierzeiler sind kurz. Man hätte gern die neuen als Text gedruckt oder digital vorliegen. Vierzeiler verdichten. Sie sind aber auch schnell vorbei. Gehört hat man die Kurzlieder zum Wischen und zum Foto von den jungen Leuten, die im Frühjahr 2022 Molotowcocktails, kurz Mollis gegen russische Panzer basteln und damit nicht erfolglos geblieben sind. Was fast wie ein Spiel aussieht, gehört zum Widerstand gegen ein Regime des Terrors. Ironischerweise wurden die einfachen Brandflaschen nach Stalins „Außenminister“ Wjatscheslaw Molotow benannt.

.

Es gibt Narrative der Macht wie dem des Patriarchats und solche die weniger mächtig und subversiv sind. Bertolt Brecht und die Künstler*innen der FES können die der Macht in Vierzeilern aufbrechen. Aber es ist auch eine Frage des gedruckten Wortes, das in der Kriegsfibel die subversive Mehrdeutigkeit aufblitzen lässt. Aus der Kriegsfibel lässt sich viel zur Inszenierung von Bildern lernen. Brecht war ein Spezialist darin. Schließlich hatte er 1941 das Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Aturo Ui, das in zeitlicher Nähe zur Kriegsfibel erst postum 1958 uraufgeführt wurde, im Exil geschrieben. Doch schon das „Lustspiel“ Mann ist Mann mit dem narrativen Untertitel „Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kilkoa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig“ von 1926 ließe sich als ein Antikriegsstück lesen. In Militärbaracken wurde bislang jeder „Bub“ in eine Kampfmaschine oder/und Kanonenfutter verwandelt.

Torsten Flüh

Für Veranstaltungen des FES sollten Sie sich anmelden:
Veranstaltungen


[1] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 1955, (letzte Seite, unnummeriert)

[2] Siehe: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168. Und als Vorstufe: Torsten Flüh: Zeitung und Blog als „Literarisierung der Lebensverhältnisse“. Zu Walter Benjamins Buch EINBAHNSTRASSE und dem Nachtrag Die Zeitung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 7, 2015 19:22.

[4] Rainald Goetz: Soziale Energie. Er ist wieder da: RAINALD GOETZ hielt im Wissenschaftskolleg in Berlin eine Rede. Es war eine Feier der Zeitung und des gedruckten Wortes und die lang erwartete Rückkehr des Schriftstellers in der Öffentlichkeit. In: DIE ZEIT N° 10, 2. März 2023, S. 48. (Print)

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Wortverlaufskurve für Fibel im DWDS.

[7] Fett im Original. Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 62. (unnummeriert)

[8] Ebenda.

[9] Siehe Torsten Flüh: Kriegswinter in Europa. Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Dezember 2022.

[10] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. ohne Seitenzahl.

[11] Daniel Seiffert: „Bert Brechts Kriegsfibel“ oder „Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten“. München: GRIN Publishin, 2000. (GRIN)

[12] Sarah Wagenknecht, Alice Schwarzer: Manifest für den Frieden. (ohne Datum, ohne Ort)

[13] Zu Putins Rhetorik der Drohung siehe: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[14] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 42.

[15] Ebenda.

[16] Zitiert nach: Friedrich-Ebert-Stiftung: Vertonte Fotoepigramme zum Krieg – Eine performative Annährung aus Musik, Bildern und Social-Media-Kommentaren. Berlin 2023.

Von Bären und Schlangen

Festival – Kinokultur – Digitalität

Von Bären und Schlangen

Zu Limbo im Wettbewerb und An Atypical Orbit im Forum Extended der 73. Berlinale

Werden die ausschließlich online zu buchenden Tickets für die Berlinale die unabänderliche Zukunft des Festivals sein? – 9:55 Uhr drei Tage vor der Aufführung. Der gebannte Blick auf den Bildschirm. Welche Tickets werden freigegeben werden? Im Wettbewerb geht es heute um Limbo. Die Kreditkarte liegt bereit. Die Zeitanzeige springt auf 10:00 Uhr. Taste. Klick. Und – Für die Vorstellung nicht verfügbar. Änderung. Neuer Versuch. Und – Ticket. Immerhin Zoo Palast 1. Wenn es gar keine Schlangen am Ticketschalter gibt, wie sie natürlich noch am 27. Februar 2020 existierten, als der Berichterstatter im Friedrichstadtpalast an der Tageskasse eine Karte für die 2. Vorstellung von Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz fast mühelos bekam,[1] oder mit Akkreditierung 2012 das Schlangestehen[2] morgens vor dem Aufstehen um 8:55 Uhr in der Eichhornstraße, dann fehlt mir ein Berlinale-Gefühl.

.

Noch bis zum 5. März zeigt das 18. Forum Extended der Berlinale täglich die Ausstellung An Atypical Orbit in der Betonhalle des Kulturquartiers silent green. In der Betonhalle gibt es Schlangen. In ihrer Medieninstallation On this shore, here. setzt sich Jasmina Metwaly ein Schlangenhaupt auf den Kopf. Eine Pillenkamera schlängelt sich in Eduardo Williams‘ Speiseröhre in seiner Installation Un gif larguísimo. Internationale Premieren und eine Weltpremiere mit Tamer El Saids Borrowing a Family Album erwarten die Besucher*innen, ohne länger in der Schlange stehen zu müssen. Denn das Verschwinden der Schlangen hat nicht nur mit der radikalen Digitalisierung des Kartenverkaufs zu tun. Es ist ebenso der Schließung der Kinos im Sony Center und der Dezentralisierung des Festivals bis in die Berliner Kieze hinein geschuldet.

.

Die Berlinale hatte sich bis zur Covid-19-Pandemie zum weltweit größten, internationalen Publikumsfestival des Kinos entwickelt. Dann kamen Netflix und Amazon als Frontalangriff auf die Kinokultur. Sie war eine breite, tendenziell schichtenübergreifende Publikumskultur. Die Kinokultur verkörperte sich in der Schlange. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kündigte sich mit breiten, teilweise verstellbaren Kinosesseln eine Loungeification des Kinosaals an. Es wurde, mit einem dänischen Wort, alles so hyggelig. Riesenleinwand mit dem Kinosessel als my home is my castle. Das Kino mit einem großen Publikum und Dolby Atoms wurde zugleich zum spießigen Rückzugsort im Sessel mit Softdrink oder Bierflasche. Jetzt wird entweder alles auf das Smartphone-Format geschrumpft und gestreamt oder der Bildschirm wird mit 65“ (165,1 cm) als AV Monitoring für fast Fünfzehneinhalbtausend Euro im Wohnzimmer bestreamt. Das Publikum wird zum gestreamten Ich. The Streaming is my orbit except news!

.

Im Zoo Palast 1 bieten am 24. Februar 2023 um kurz vor 12:30 Uhr die gerafften Wellen des Kinovorhangs einen Augenfang. Wettbewerb: „Limbo. Ivan Sen – Simon Baker, Rob Collins, Natasha Wanganeen – Australien – 95‘ – Englisch.“ Der Kinosaal mit dem schon aufgesesselten Ambiente der 50er Jahre ist ausverkauft. Einige junge Leute. Rechts ein junger Mann mit Notebook und Apps. Links eine rothaarige, dünne Frau mit ihren Freundinnen so Ü70. Ach, doch noch ein Hauch Berlinale und Publikum. Der Berichterstatter atmet es ein. Das digital Ticketing hatte die Wahl bestimmt. Und sonst nichts. Limbo assoziierte der Berichterstatter irgendwie mit Tanz, was ganz falsch war. Danach noch einmal nachgelesen wurde aus einem Tanzfilm: „Travis Hurley nimmt den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aboriginal-Frau wieder auf. Die Outback-Kleinstadt schweigt, auch die Familie des Opfers, denn der Cop ist weiß und die Wahrheit komplex. Ein First-Nation-Film als nostalgisch-depressiver Wüsten-Noir.“[3] Filmbeschreibungen sind eine eigene Kunst, ein eigenes Literaturgenre des Kinos.  

.

 

Die Publikumskultur der Berlinale wird leicht übersehen und selten besprochen. Also: Aus dem Graupelgestöber in das Kinofoyer gestürmt, QR-Code auf dem Smartphone scannen gelassen, hinein, gleich rechts die Treppe hoch und links in den großen Kinosaal. Freien Sitzplatz mittig anvisiert, per Handzeichen und Mimik nachgefragt, ob noch frei, möglichst freundlich durch die Reihe gedrängelt. Publikum teilweise stehend in Gesprächen verwickelt. Punkt Zwölfuhrdreißig: Gong! Stille. Licht dimmt herunter. Rüschenvorhang hebt sich. Trailer. Dann: Die australische Wüste in Schwarzweiß. Eine Straße schlängelt(!) sich durch die Wüste mit vielen Erdhügeln. Ein PKW wirbelt auf der Straße Staub auf und fährt auf die Kamera zu. Kino. Große Exposition. Kameraeinstellung: Panorama. Großes Erzählkino. – Niemand verlässt den Kinosaal. Applaus am Schluss. – Geht alles auf Smartphone und selbst auf AV Monitoring im Wohnzimmer nicht.

Im Wettbewerb um den Goldenen Bären wird Limbo untergehen. Australien war, soweit mir bekannt, nie besonders erfolgreich im Wettbewerb. Dabei macht Ivan Sen als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann fast alles richtig. Limbo ist nicht zuletzt ein Ritt durch die Film- bzw. Kinogeschichte und Erzählformate. Limbo kommt von einem ganz anderen Ende der Welt, das sonst in farbig funkelnden Opalen wahrgenommen wird. Queensland in Australien hat den Film mitproduziert. Auch ist die bildende Kunst der Aborigines meist bunt. Doch Ivan Sen verbannt die Farbe aus seinem Film. 2002 hatte Sen mit Beneath Clouds den Premiere First Movie Award auf der Berlinale gewonnen.[4] Die labyrinthischen Erdhöhlen der weißen Opalsucher und die Opalsuche der Aborigines werden von dem indigenen Autor, Regisseur und Kameramann Ivan Sen zu einer Meditation über die First Nation im Bundesstaat Südaustralien. Der ermittelnde Cop Travis Hurley (Simon Baker) spritzt sich in seinem Motelzimmer in einem ehemaligen Opal-Stollen Heroin. Der Trip in die Opal-Hauptstadt Coober Pedy wird zu einem vielschichtigen. Ein Kammerspiel der Extreme, das nahegeht.

Über den First Nation-Spielfilm Limbo ließe sich noch viel schreiben. Er erinnert an die Western der 50er aus den USA. Aber da war eher alles clean. Alkohol und Drogen, Sex und Rassismus spielen in Limbo eine strukturierende Rolle. Weiße Männer und braune Mädchen. Im Hintergrund die Opale, die nicht sichtbar werden, weil es ein Film in Schwarzweiß ist. Die Hitze in Coober Pedy kann im Sommer über 40° C betragen. In der Sprache der Pitjandjari-Aborigine heißt der Ort kupa piti, was so viel heißt wie „Loch des weißen Mannes“. In dem ziemlich heißen Ort gibt es mehrere Höhlenmotels. Doch das Filmmotel Limbo verweist ebenso auf das lateinische limbus als Ort des Vergessens und der Vorhölle. Dazu passt dann auch der Herointrip. Ivan Sem hat diese literarischen Verweise im Blick. Europäische und Pitiandjari-Mythen werden miteinander verwoben. Überhaupt spielen dann nicht zuletzt Mythen und Migration während der Berlinale für An Atypical Orbit in der Betonhalle eine wichtige Rolle.

.

Das Kulturquartier Silent Green hat sich mit der Betonhalle in den letzten Jahren als ein Spielort der Berlinale etabliert. Das hat viel mit der unterirdischen Betonarchitektur und der Film Feld Forschung von Jörg Heitmann und Bettina Ellerkamp zu tun. Die gemeinnützige Gesellschaft macht ein anderes Kino. Keine Versesselung. Eher Bänke und Liegekissen. Für 2025 ist der Umzug des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. in Silent Green geplant. Am Rande des Festivals gelegen, lockt das Forum Extended ein besonderes Filmpublikum an. Ala Younis und Ulrich Ziemons (Co-Leitung) sowie Karina Griffith und Shai Heredia haben An Atypical Orbit kuratiert. Bereits 2022 hatten Ziemons und Younis eine faszinierende Ausstellung mit Closer To The Ground im Untergrund gestaltet. Während sich die Ausstellung 2022 auch als eine Intervention zur Covid-19-Pandemie sehen ließ, geht es in diesem Jahr stärker um Mythen und visuelle Vernetzungen. Die Kurator*innen formulieren ein Programm, bei dem es „in wechselnden Distanzen – um politische und persönliche Vermächtnisse, die oftmals in Scherben liegen“, geht.[5] In den Scherben lassen sich auch die des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mitlesen.

.

Der tibetisch-amerikanische Filmemacher und bildende Künstler Tenzin Phutsong thematisiert in seinen vier Videoinstallationen das Exil seiner tibetischen Eltern. Dreams (2022) wird als Internationale Premiere gleich auf der Betonfläche zum Eingang in die unterirdische Halle projiziert. Eine ältere Frau liegt träumend auf einer Mattratze unter einer Decke in einem grenzenlosen Raum. Ein gleichaltriger Mann legt sich zu der Frau seinen Arm um sie legend. Es sind die Eltern des Künstlers, die sich auf die Schlafmatte legen. Sie ähnelt jener, „auf der sie zu Beginn ihrer Immigration in den Westen schliefen“.[6] Die sich nach 2 Minuten wiederholende, intime Szene des Sich-zu-einander-legens und des Träumens findet an der Schnittstelle von Immigration und Zukunft des Exils statt. Träume von der vergangenen Zukunft im Exil in den USA und der Zeit in Tibet vermischen sich. In der Installation wird ebenso eine Decke aus Indien gezeigt, die in vielen tibetischen Haushalten der Diaspora zu finden ist.

.

Die Decke aus Indien visualisiert einen Teil der persönlichen Erinnerungskultur an den Beginn der Immigration des Filmemachers, wenn Tenzin Phutsong dazu sagt: „Diese Decke war einer der Gegenstände, die meine Mutter mitnahm, als wir aus Tibet in die USA immigrierten. In dieser Arbeit wollte ich zu meinen frühsten und schönsten Erinnerungen zurückkehren. Ich wollte mich an diese Zeit der Unschuld erinnern.“[7] Und möglicherweise sind derartige Decken für Kinder während der Immigration weiterhin ein Gegenstand des Schutzes. Die billigen Synthetik-Decken sind weich und erlauben, darunter zu träumen. Vielleicht muss man sich ähnliches für Kinder in den Kellern und Bunkern der Ukraine vorstellen.

.

Doch die Exilerfahrung ist dank der audio-visuellen Apps auf dem Smartphone heute vielschichtiger geworden. Mit den drei kleinformatigen Videoinstallationen Achala, Dancing Boy und Summer Grass in mit Jade und Kupfer besetzten Kästchen feiert Tenzin Phutsong die Möglichkeiten der Apps wie WhatsApp und WeChat. Die kleinen Kästchen mit den Bildschirmen sind Schatztruhen des Alltags für die seit 40 Jahren getrennte Familie des Künstlers. In Echtzeit kommunizierte und kommuniziert die Familie in den USA wieder über die chinesische Social-Media-App WeChat mit den Verwandten im tibetischen Hochland. „Die in Tibet gedrehten Szenen wurden auf der Social-Media-App WeChat zwischen Verwandten des Künstlers in Tibet und den USA geteilt und ermöglichen so medialen Zugang zu der autonomen Region.“[8] Doch was sind audio-visuelle Apps, die keine Kosten verursachen?

.

Die audio-visuelle Smartphonekultur der Apps schrumpft nicht nur das Kino, sie ist zugleich hoch politisch, worauf Tenzin Phutsong aufmerksam macht: „Anlass für die Serie war das Verbot von WeChat, das 2020 in den USA in Kraft trat und die Kommunikation des Künstlers und seiner Familie mit ihren Verwandten praktisch unterband; ein Zustand, der bis zur Wiederfreigabe der App im August 2021 andauerte.“[9] Millionen, wenn nicht schon Milliarden Menschen nutzen derartige Apps nicht nur zur nationalen, so doch zur internationalen Vernetzung aus dem Exil in abgelegenste Winkel der Welt wie dem tibetischen Hochland. Der staatspolitische Versuch, derartige Apps wie durch die USA zu regulieren und zu verbieten, wird zum Politikum. Summer Grass aus dem Alltag eines Yakhirten in Tibet dokumentiert nicht nur den bäuerlichen Alltag. Vielmehr ermöglicht die App trotz der Gefahr, dass der chinesische Geheimdienst, umgangssprachlich KeGeBo, mithört und sieht, eine durchaus kulturbeeinflussende Kommunikation.

.

In Dancing Boy von Tenzin Phutsong tanzt ein vielleicht sechsjähriger Junge in einem traditionell eingerichteten Raum mit Herd wild vor der Kamera nach einem zeitgenössischen, tibetischen Lied. Es könnte gut eine Smartphone-Kamera sein. Tanzt der Junge in seiner traditionell tibetischen Kleidung für die Kamera? Die Kamera ist mehr auf eine Totale als auf eine Naheinstellung ausgerichtet. Tanzt er für die Verwandten in den USA, mit denen er kurz zuvor tibetisch gesprochen hat? – Wir wissen es nicht. Doch fast überall auf der Welt wachsen heute Kinder mit einem Smartphone auf. Dort am Display lernen sie schon im frühesten Kindesalter Verwandte z.B. in den USA kennen. Oder sie sehen ihren Onkel aus Babylon, bevor sie sprechen können. Durch die Apps sind die Smartphone-Displays und -Kameras erst wirklich mächtig geworden.

.

In Achala spricht die Mutter von Tenzin mit ihrer Schwester in Tibet, die traditionell gekleidet ist. Aktuell sind Tibet und die Diskussion um Chinas Einfluss im Hochland aus den aktuellen Medien gerutscht. Doch Tibet und chinesische Smartphones ebenso wie WeChat bleiben ein Politikum. Insbesondere dann, wenn die Regierungen in Peking oder/und Washington Kommunikation und Informationsströme kontrollieren wollen. Achala und Tenzins Mutter wollen vor allem ihre familiäre Kommunikation aufrecht erhalten. „Sie diskutieren darüber, wie man mithilfe von Bildern in Kontakt bleibt – die sicherste Art des Austauschs, wenn die Kommunikation staatlich überwacht wird.“[10] Sie wollen sich weiterhin Bilder und Videos schicken.

.

Die Gefahren der Digitalität wie staatliche Überwachung generieren zugleich neuartige kulturelle Praktiken. Ob sie sicherer sind, bleibt offen. Das Verschicken von Bildern funktioniert anders als die Sprache, die nach kriminalisierten Worten und Begriffen von Überwachungssoftware gefiltert wird. Tenzin Phutsongs Videoinstallationen erinnern zumindest daran, dass staatliche Willkür und autokratische Regulierungen durch die Digitalität umgangen werden können. Es können immer wieder neue Praktiken entstehen, die Freiräume schaffen und Austausch ermöglichen. Und dann flimmern Animationen von Buddha mit einem Lotusblütenregen über den Bildschirm. Auf einmal wird der durchaus düstere tibetische Buddhismus bunt und fröhlich.

.

Die monumentalen Wasserfälle von Walid Raad in Schwarz-Weiß sind digital und Geschichte. Sie füllen die ganze Höhe der Betonhalle aus und donnern zu Boden. Doch die Videoinstallation ist „stumm“. Wenn man vor diesen brausenden hohen Wasserfällen steht, übt das visuelle Erlebnis eine derart suggestive Kraft aus, dass sich ein Brausen und Donnern einstellt. Es lässt sich selbst auf den Fotos hören und es wird auf dem spiegelnden Boden der Halle fortgesetzt. Geradezu winzig lassen sich dann auf den zweiten, dritten oder erst vierten Blick prominente Staatspersonen bzw. Fotopuppen am Fuße der Wasserfälle erkennen: Breschnew, Gorbatschow, Reagan, Thatcher, Mitterand.

.

Im Hintergrund der Wasserfälle unter dem Titel Comerade leader, comerade leader, how nice to see you (2022) des New Yorker Künstlers und Kunstprofessors Walid Raad liegt das Rauschen der Sprache, der Namen und Geschichte des Libanons. Raad erklärt zu seiner Videoinstallation: „In den libanesischen Kriegen formierten sich viele Milizen – fast wie aus dem Nichts. Sie wurden von unterschiedlichen Gönner*innen unterstützt, sei es finanziell oder mit Waffen. Um ihre Förderer*innen zu ehren, entschlossen sich viele Milizen, die wunderschönen Wasserfälle des Libanons nach den Regierungsoberhäuptern der Länder zu benennen, die sie unterstützten. Und wenn sich diese Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle ganz einfach umbenannt, wieder und wieder und wieder.“[11] Damit erinnert Walid Raad im Kriegsjahr 2022 nicht zuletzt an wechselnde Mythen oder Narrative, wie sie nicht nur in „den libanesischen Kriegen“ eingesetzt wurden.

.

Das Visuelle ist politisch, wird machtpolitisch genutzt und wird durch Benennung territorial in Kriegen eingesetzt. Mao, Neru, Marcos etc. waren auch dabei. An dem lokalen, libanesischen Beispiel der mehrdeutig sogenannten „Flatterhaften Fälle“ wird eine territoriale Strategie sichtbar. Die Wasserfälle und ihre Benennung ist nicht flatterhafter als die Namens- und Sprachpolitik im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Paradoxerweise wird in der Verteidigungs- ebenso wie einer vermeintlichen Friedenspolitik leidenschaftlich mit historischen und emotionalen Argumenten darüber gestritten, welche Gebiete und welche Orte einen russischen oder einen ukrainischen Namen haben sollen. Es geht immer um die Benennung als eine territoriale Besetzung. Was als eine marginale Installation zu den libanesischen Kriegen eingeführt wird, trifft eine entscheidende Praxis im Krieg. – Über An Atypical Orbit und die darin versammelten Installationen wäre nicht zuletzt mit schönen Fotos noch viel zu schreiben. Doch letztlich soll die Besprechung vor allem zum Besuch anregen.

Torsten Flüh

Berlinale
Forum Extended
An Atypical Orbit
Silent Green – Betonhalle
27.2.–3.3.: 14–19 Uhr
4.+5.3.: 11–21 Uhr
Tickets an der Tageskasse(!) oder über den Arsenal-Webshop    


[1] Siehe Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[2] Siehe Torsten Flüh: Ankreuzen, anstellen und dann beten. Berlinale 2012 und Directors Lounge. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 11, 2012 00:01.

[3] LIMBO. In: 73. Berlinale Internationale Filmfestspiele Berlin (Hg.): Berlinale Programm. Berlin 2023, S 20. (Redaktionsschluss 01.02.2023)

[4] Siehe: Berlinale: Programm: Limbo.

[5] Silent Green: Programm: An Atypical Orbit – 18. Forum Expanded.

[6] Berlinale: Tenzin Phutsong: Dreams.

[7] Ebenda.

[8] Berlinale: Tenzin Phutsong: Summer Grass.

[9] Ebenda.

[10] Berlinale: Tenzin Phutsong: Achala.

[11] Berlinale: Walid Raad: Comerade leader, comerade leader, how nice to see you.

Vom vermessenen Augenblick

Messen – Moment – Leben

Vom vermessenen Augenblick

Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie

Er ist ständig in Berlin zu sehen und wird oft übersehen: Johann Gottfried Schadow. Schon am 19. Februar wird die in mancher Hinsicht überraschende Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie zu Ende gehen. Das mag vorausgeschickt sein, weil der Berichterstatter Ende Oktober die Eröffnung versäumte und Schadow mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor wie der sogenannten Prinzessinnengruppe ohnehin im Berliner Stadtbild kaum übersehen werden kann. An der Rekonstruktion der Quadriga wird noch in einer Schau-Werkstatt der Gipsformerei im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages direkt an der Spree gearbeitet. Das Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe wird nach seiner Restaurierung und dem Ende der Ausstellung am 22. April wieder in die Friedrichswerdersche Kirche zurückkehren.

.

Quadriga und Prinzessinnengruppe sind Skulpturen, die als Bilder von Berlin zirkulieren. Ihre Entstehung wird kaum hinterfragt. Es sind aktuell zwei Gipsmodelle als Arbeitsstufen zur Marmorskulptur bzw. zum Kupferguss als Bild, die die Praktiken des Hofbildhauers des Königs und damit der drei Könige Friedrich Wilhelm II., Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. ins Forschungsinteresse rücken. Dem Originalgipsmodell der Prinzessinnengruppe „nagelte()“ Schadow 1795 nach der Präsentation in der Akademie der Künste und der vom König geäußerten Kritik an einem Blumenkorb in der rechten Hand der späteren Königin kurzentschlossen „ein in Gips getauchtes Tuch“ an[1], das seither mit seinem Faltenwurf entschieden zur Natürlichkeit der Darstellung von Luise und Frederike beiträgt. Auf das Gipsmodell folgte 1797 die lebensgroße Marmorskulptur, an die Schadow nur die letzte Hand anlegte, nachdem seine Ateliergehilfen die Übertragung vollzogen hatten.

.

Die Maße der Skulpturen spielen für die Arbeitsweise Johann Gottfried Schadows eine entscheidende Rolle. Maße und Proportionen bringen Schadows Skulpturen hervor. Sein Grabmal des Grafen Alexander von der Mark, das er für Friedrich Wilhelm II. 1788-1790 ausführte, wurde beim Wiederaufbau der Alten Nationalgalerie 1949-1958 zum Museumsobjekt. Es war zuvor in der Dorotheenstädtischen Kirche an der Neustädtischen Kirchstraße aufgestellt worden, wo es bis zu seiner kriegsbedingten Auslagerung stand. Die Kirche wurde 1965 nach Kriegsschäden in der Hauptstadt der DDR abgetragen. Für den im Alter von 8 Jahren möglicherweise vergifteten Sohn des Königs mit seiner Geliebten Gräfin Wilhelmine von Lichtenau schuf Schadow als neuer Hofbildhauer ein antikisierendes Tableau mit einer Höhe von 623 cm aus Carraramarmor, Freiburger, Kauffunger und Prieborner Marmor mit Schicksalsgöttinnen, Tor zum Hades und einer liegenden, eher überlebensgroßen Knabenfigur mit antiken Sandalen, Toga, Schwert und Helm.

.

Die patriarchale Macht Friedrich Wilhelms II. nicht zuletzt gegenüber seinem erstgeborenen Sohn und neun Jahre älteren Halbbruder Alexanders, Friedrich Wilhelm, wird durch die Ausmaße des Grabmals für ein Kind bildlich. So war es denn auch der König, der seinen Söhnen, Friedrich Wilhelm und Ludwig, Luise und Frederike von Mecklenburg-Strelitz vorstellte und die Prinzessinnengruppe wie in einem unschuldig, jungfräulichen Augenblick in Auftrag gab. Die Frage der Darstellung einer etwas freizügigen Brautschau, bei der der Vater die, wenn man so will, ebenso klassisch wie leicht bekleideten Körper der erwählten Schwiegertöchter von seinem Hofbildhauer formen und verewigen ließ, wird in der Ausstellung nicht diskutiert. Mit dem Originalgipsmodell und dem erstmals in einem Raum gegenüber gestellten Marmor treten vielmehr Arbeitsprozesse hervor, die selbst hierarchisch organisiert waren.

.

Die Macht und ihre Proportionen werden ebenso an der Quadriga mit Siegesgöttin von Schadow visualisiert. Die Pferde wurden noch während der Ausführung in Holz 1790 von 3,15 m (10 Fuß) Höhe auf 3,77 m (12 Fuß) vergrößert. Die antike Siegesgöttin Viktoria kommt auf ca. 5 m Höhe.[2] Die monumentale Skulptur wurde nach der Eroberung Berlins durch Napoleon 1806 in zwölf Kisten zerlegt und über Elbe, Rhein und französische Kanäle als Trophäe nach Paris in den Louvre gebracht. Nach dem Sieg der Preußischen Armee in den Befreiungskriegen 1814 kehrte sie in 15 Kisten auf dem Landweg über Brüssel, Aachen, Düsseldorf, Hannover, Magdeburg und Potsdam zurück. Am 24. Oktober 1806 waren Französische Truppen im Schadow-Haus unweit der Dorotheenstädtischen Kirche mit Selim aus Dafour einquartiert worden. Vergeblich bemühte sich Schadow, den Abtransport der Quadriga nach Paris durch Baron Dominique-Vivant Denon zu verhindern.[3] Indessen erregte der Afrikaner Selim im Gefolge des Brigadegenerals Charles-Étienne-François de Ruty das physiognomische Interesse des Bildhauers, der ihn 1807 in Gips abformte.[4]

Selim da Dafour, 1807 und „Kaffernprinz„, 1823 von Johann Gottfried Schadow

Das Material Gips rückt nicht nur mit dem Originalgipsmodell ins Interesse von Kunst und plastischer Kunstproduktion, vielmehr noch wird es mit der Restaurierung der Prinzessinnengruppe und dem Gipsmodell der Quadriga, vor allem aber mit dem Kopf des Selim um 1800 zu einem Träger neuartigen Wissens und von Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht. Erlaubt das Material Gips einerseits den Austausch eines Blumenkörbchens gegen ein Tuch, das zu einem „Überspieltuch“ wird, so wird das Gipsmodell der Quadriga zu einem Speicher des Wissens vom Original. Und die genau vermessene Physiognomie Selims in Gips generiert im Kontext einer Erzählung von der Nation in den Befreiungskriegen mit Karl Friedrich Schinkel, der das Eiserne Kreuz als Symbol für die Partizipation jedes einfachen Soldaten an der Nation entworfen haben wird, als Gegenpart eine nationale Physiognomie. Am Körper und insbesondere an den Formen und Maßen des Gesichts wird die Nation lesbar gemacht. Gips wird zu einem Wissensspeicher:
„Darüber hinaus konnten weitere Überarbeitungen ausgemacht werden, die unter anderem maßgebliche Formveränderungen beinhalteten: Die anatomische Haltung von Luises rechtem Arm war verändert und verfälscht worden und auch an dem imposanten Faltenspiel des Überspieltuchs, welches Luise mit ihrer rechten Hand grazil aufrecht hält, waren zahlreiche Formveränderungen ablesbar […].“[5]

.

Das „Faltenspiel des Überspieltuchs“ korrespondiert als Moment mit Schadows Konzept der Grazie. 1802 publizierte er den Text Die Werkstätte des Bildhauers in der Zeitschrift Eunomia, in dem er sein Konzept der Grazie formulierte, wobei er von „Reiz“ statt Grazie und dem Modus des Moments schreibt. Der Zeitschriftentext ist als autobiographischer Brief abgefasst: „Seit geraumer Zeit hatte ich es im Sinne, Ihnen, verehrter Freund, Nachricht zu geben, gewissermassen eine Rechenschaft abzulegen von meinem Künstlerleben.“[6] Der zeitliche Modus des Moments wird für die Grazie zum entscheidenden Modus der ästhetischen Form. Der Moment lässt sich nicht messen. Denn im nächsten Augenblick ist er bereits verloren. Es sind insbesondere die Falten eines Gewandes am lebenden Körper, die das Leben in einem Moment festhalten. Falten erhalten von Schadow im Unterschied zum Barock eine neuartige Funktion. Sie werden mit dem Leben und Lebendigem kurzgeschlossen.

.

In der autobiographisch formulierten Schrift spielen die Falten eines Gewandes beim Renaissancemaler Raphael eine wichtige Rolle. Dieser „müsse bei seinen Gewänden nicht die Gliederpuppe, sondern ein lebendes Modell, mit Gewand bekleidet, gebraucht haben, indem das höchst ungezwungene und das von einem vorigen in den gegenwärtigen Moment Uebergegangene in den Falten mit einer Gliederpuppe nicht zu erreichen sei.“[7] Das „lebende() Modell“ verbürgt das Leben in der bildenden Kunst. Später verlangt der Moment, in dem sich die Grazie zeigt, einen „an List grenzenden Beobachtungsgeist“. Die momenthafte Erscheinung der Grazie, die bereits sieben Jahre zuvor für die Prinzessinnen nicht zuletzt mit dem „Überspieltuch“ hergestellt worden war, zu erfassen, erweist sich als schwierig.
„Die besondere Schwierigkeit liege darin, »Ähnlichkeit und Anmuth zu vereinigen, in einem Moment den Reiz zusammen zu fassen, der im Leben durch das beseelte Bewegte, Mannichfaltige unendlich vieler Momente liegt«. Dies erfordere, so der Bildhauer weiter, »ein zartes Kunstgefühl und einen, möchte ich fast sagen, an List grenzenden Beobachtungsgeist«.“[8]

Originalgips

Die Frage nach dem Moment oder „Augenblick“ bei der Darstellung der Grazie beschäftigt um 1800 nicht zuletzt seit Friedrich Schillers 1793 veröffentlichten Schrift Ueber Anmuth und Wuerde nicht nur den Bildhauer Schadow in Berlin, vielmehr wird Heinrich von Kleist mit der Veröffentlichung Über das Marionettentheater am 12., 14. und 15. Dezember 1810 in seinen Berliner Abendblättern sozusagen an einem lebenden Bild als zeitgenössischem Darstellungsgenre nach der antiken Plastik Der Dornauszieher die Grazie als einen Moment des Nicht-Wissens formulieren. Kleist greift in der Kunstdebatte um die Grazie mit einer an Schadows „Gliederpuppe“ erinnernden Konstellation von Marionette, Augenblick und Wissen ein:
„Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –“[9]

.

Schadow formuliert als Bildhauer ein momentartiges Wissen von der Grazie, das sich dem Messen entzieht. Während bei ihm durch „ein zartes Kunstgefühl und einen (…) an List grenzenden Beobachtungsgeist“ die Grazie erfasst und dargestellt werden kann, parodiert Kleist den wissensförmigen Beobachtungsgeist mit dem die Grazie (zer)störenden Ausruf „er sähe wohl Geister!“. Kleist kannte die Prinzessinnengruppe von Schadow vermutlich nicht, obwohl sie als Zeichnung z.B. im Journal für Kunst und Kunstsachen, Künsteleien und Mode von 1810 kursierte.[10] Andererseits war sie der öffentlichen Ansicht und Wahrnehmung durch Luises Ehemann und König Friedrich Wilhelm III. entzogen worden. Doch Achim von Arnim hatte einen Monat zuvor am 12. November 1810 im „37te(n) Blatt“ der Berliner Abendblätter eine Übersicht der Kunstausstellung veröffentlicht, in der ein auf merkwürdige Weise entstandenes Bild der Königin eröffnend erwähnt wird:
„Allgemein war der Wunsch, das Bild der verehrten Königinn von geschickter Hand ähnlich bewahrt zu finden, unter verschiedenen, welche dieser Wunsch hervorgebracht, wurde das Bild von S c h a d o w vorgezogen, ungeachtet es blos nach anderen Bildern und nach dem Rathe verehrter Angehörigen der Verstorbenen gemahlt worden. Es übertrifft unleugbar alle Bilder, die wir von ihr zu sehen Gelegenheit hatten, die Anmuth ihrer Bewegungen, ihrer Freundlichkeit veranlassen die Maler sehr leicht, ganz fremdartige Ideale in ihr darzustellen; doch ist es unerklärlich, daß eine so allgemein bewunderte Königinn bei ihrem Leben nie von einem der besten Porträtmaler unserer Zeit gemalt worden.“[11]

.

Könnte es von Luise ein Bild nach Hörensagen von Johann Gottfried Schadow gegeben haben? Obwohl der Name Schadow ohne Vorname und als allgemein bekannt von Achim von Arnim in der Zeitung gebraucht wird, müsste es sich um dessen Sohn, den Maler Wilhelm von Schadow (1788-1862), handeln. Denn es wird „Schadows Johannes“ als ein zweites Gemälde von ihm erwähnt. Der Name Schadow wird anscheinend schon 1810 in Berlin nicht mehr automatisch für den Bildhauer gebraucht, obwohl er mit der Prinzessinnengruppe, wie in der aktuellen Schadow-Ausstellung zu sehen, eine eigene Vervielfältigung der Darstellung in Biskuitporzellan, Terrakotta, Marmor und Karton in Gang setzte. Das Bild mit der Kinnbinde entwickelte als Büste und in Gemälden sozusagen ein Eigenleben. Das gibt auch einen Wink auf das Bild Luises, das heute wie selbstverständlich mit dem Namen Schadow verknüpft wird. In Achim von Arnims „Übersicht“ kommt die „Anmuth“ vor, die indessen mit „ganz fremdartige(n) Ideale(n)“ für ein Bild kombiniert wird.

.

Im veröffentlichten Brief als Beschreibung der Kunstpraxis, der auf den 7. September 1802 mit der Unterschrift G. Schadow datiert wird, kündigt der Bildhauer bereits eine „Nationalphysiognomie“ als Projekt an. Insbesondere mit dem von Immanuel Kant seit 1775 kursierenden Begriff der „Menschenrace“ in Von den verschiedenen Racen der Menschen[12] knüpft Schadow in seinem Brief an den neuartigen Modus der Vermessung des Menschen an. Die Kombination der Nation mit dem seit Johann Caspar Lavater 1777 popularisierten Wissen vom Gesicht, der Physiognomie als ein Zeichenfeld, erhält mit dem Messen eine andere Qualität. Noch bevor Schadow 1806 auf Selim da Dafour trifft, entwickelt Schadow als Bildhauer, Vermesser und Zeichner bereits eine Matrix für die „Menschenrace(n)“. Grazie und physiognomische Vermessung des Menschen als „Nebenbeschäftigung“ der „mathematische(n) Beobachtungen“ korrespondieren bereits in der frühen Kunstpraxis miteinander.[13]  
„Und drittens die Nationalphysiognomie, nehmlich nur der einen Menschenrace, die wir unter den Namen der Caucasischen begreifen. Ich habe zu diesem Behufe Spanier, Russen, Türken, Juden u. m. a. gemessen, und nach Maassen gezeichnet, aber von allen diesen noch nicht genug beobachtet, um entscheidende Resultate aufstellen zu können.“[14]

Brustbild des Chinesen Ahok (gen. Haho), 1823

Das Fortleben der Skulptur wird am 5. Mai 1843 in der Akademie der Künste im Genre der sich in lebende Bilder verwandelnden Modelle von Johann Gottfried Schadow selbst befördert und berichtet. Die Gesellschaftskunst der lebenden Bilder war von Johann Wolfgang Goethe bereits 1809 in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften prominent verarbeitet worden als „Luciane“ im fünften Kapitel des zweiten Teils „in ihrem höchsten Glanze erschein(t). Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte.“[15] In seinem Bericht über Vorstellung lebender Bilder, welche im Saale der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin am 5ten Mai 1843 stattfand aus dem Nachlass, zeichnet Schadow neben einer Renaissancedarstellung die Prinzessinnengruppe. Als lebendes ebenso wie eingebildetes und nachgestelltes Bild wird die Skulptur wiederholt. In der Ausstellung wird Schadows Bericht in einer Tischvitrine gezeigt. Das Verstecken und Kursieren der Skulptur bis zur Vorstellung als lebendes Bildes wird selbst zum Modus der Prinzessinnengruppe.

.

Die Bildlichkeit der Prinzessinnengruppe fasziniert in der Ausstellung. Sie hat nicht zuletzt mit dem Mythos der Königin Luise und dem schon von Achim von Arnim erwähnten Fehlen eines Portraits zu tun. Das fast zu übersehende „Überspieltuch“ mit seinem „Faltenspiel“, das nur durch das Originalgipsmodell augenscheinlich wird, gehört (nicht) zu Luise und wird zur Projektionsfläche für das Leben. Der postulierte Klassizismus und die Feier Johann Gottfried Schadows als Vater des Berliner Klassizismus bricht sich an dem in Gips getauchten Tuch, das keine andere natürliche Funktion hat, als eine Fehlstelle auszubessern. Dass diese Fehlstelle störte, wurde während der Restaurierung offenbar, weil die „anatomisch unstimmige() Armhaltung Luises und d(ie) Veränderungen des Überspieltuchs, die in der Vergangenheit am Originalgips vorgenommen“ worden waren, nun hervortraten.[16] Das „großangelegte Forschungs- und Restaurierungsprojekt zur Prinzessinnengruppe“[17], aus dem die Ausstellung hervorgegangen ist, legt insofern die Arbeitspraxis Johann Gottfried Schadows mit der Fehlstelle an einem zentralen Sammlungsstück der Alten Nationalgalerie offen.

Torsten Flüh

Alte Nationalgalerie
Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
bis 19. Februar 2023

Johann Gottfried Schadow
Berührende Formen
Hg. Yvette Deseyve  für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin unter Mitarbeit von Sintje Guericke
Beiträge von T. Bräunig, A. Czarnecki, D. de Chair, Y. Deseyve, F. Göttlich, S. Guericke, R. Hofereiter, S. Kiesant, F. Labahn, A. Seidel, V. Tocha, P. Winter
304 Seiten, 318 Abbildungen in Farbe
24 x 29 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4086-6
49,90 €

Und da war sie aus Gips
Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor
Mauer-Mahnmal im Deutschen Bundestag
Schiffbauerdamm, Eingang an der Spree
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
10117 Berlin
Dienstags bis Sonntags, 11 bis 17 Uhr


[1] Ausstellungsteil: Doppelt! Die Prinzessinnengruppe in Gips und in Marmor. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen. München: Hirmer Verlag, 2022, S. 176.

[2] Die Größenverhältnisse werden aktuell während der Restaurierung des Gipsmodells von 1942 im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages erfahrbar. Siehe: Und da war sie aus Gips – Die Rekonstruktion der Quadriga vom Brandenburger Tor. Bundestag

[3] Biografie und Werk. Johann Gottfried Schadow 1764-1850. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann … [wie Anm. 1] S. 271.

[4] Forschung für die Kunst. Schadows Polyclet und National-Physiognomien. In: Ebenda S. 212.

[5] Alexandra Czarnecki, Theresa Bräunig, Friederike Labahn: Neue Wege in der Gipsrestaurierung. Zur Konservierung und Restaurierung der Prinzessinnengruppe. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 112.

[6] Gottfried Schadow: Aufsätze und Briefe. Hrsg. v. Julius Friedländer. Stuttgart 1890, S. 56. (Digitalisat: Uni Mainz)

[7] Ebenda S. 62.

[8] Yvette Deseyve: Die »Göttinnen des Publicums«. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 42.

[9] H. v. K.: Über das Marionettentheater. (Fortsetzung). In: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter I. Brandenburger Ausgabe. Basel: Stroemfeld, 1997, S. 326.

[10] Siehe: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. S. 52.

[11] aa.: Übersicht der Kunstausstellung. In: Ebenda S. 187-188.

[12] Siehe: Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[13] Gottfried Schadow: Aufsätze … [wie Anm. 6] S. 65.

[14] Zu Schadows Büsten für die Walhalla gehört als „Nationalphysiognomie“ ausgeführt zwischen 1807 und 1812 „Immanuel Kant“. Ebenda.

[15] Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. 1809. (Fünftes Kapitel, Zweiter Teil: Projekt Gutenberg.)

[16] Veronika Tocha: Originalgipse. In: Yvette Deseyve (Hg.): Johann …. [Anm. 1] S. 63.

[17] Ralph Gleis: Vorwort. In: Ebenda S. 14.

Zwischen Menschen und Maschinen

Mensch – Stimme – Maschine

Zwischen Menschen und Maschinen

Zum Semesterthema Nach der Stimme der Mosse-Lectures und Helmuth Plessner

Die vierte und letzte Mosse-Lecture zum Thema Nach der Stimme von Sigrid Weigel rückte die Dimension der Kulturforschung in die Aufmerksamkeit. Bleibt das Menschliche auf der Strecke, wenn wir Rechenmaschinen mit uns reden machen und ihnen fasziniert zuhören? Die Frage nach der conditio humana eröffnete Sigrid Weigel mit Erinnerungen an den Philosophen und Sprachforscher Helmuth Plessner und der von ihm formulierten philosophischen Anthropologie. Während aktuell häufig vom Posthumanen gesprochen und geschrieben wird, gibt die Anknüpfung an die philosophische Anthropologie einen Wink auf das Humanum, das mit der Korrelation von Stimme und Ohr gedacht wird. Sprechen wir in Verkennung der Stimme mit Cortana und Alexa? Geben sie Antwort? Oder vertonen die Stimmen lediglich Datensammlungen und Datenströme, als ob sie wüssten, wovon sie sprechen?

.

Exakt am Morgen des 2. Februars 2023 lieferte Die Zeit Ulrich Schnabels Leitartikel in Papierform mit dem Titel Selbst macht klug zum neuesten Einsatz von „KI“ durch „das Sprachprogramm ChatGPT“ aus. ChatGPT „übersteige() alles bisher Bekannte“.[1] Schnabel drängt Deutschland und Europa zu eigenen Anstrengungen bei der Entwicklung von KI als Zukunftstechnologie von epochaler wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung. Formuliert wird von Schnabel ein Wettlauf um, sagen wir, „selbst“ programmierte KIs und Sprachprogramme, damit Europa nicht weiter abhängig von den USA, deren KI-Schmieden wie Microsoft und zu einem geringeren Prozentsatz von der Volksrepublik China wird. Ob Schnabel jemals auf globalen Codierungskonferenzen wie Microsoft-Build im Mai 2022 im Westhafenspeicher war, wissen wir nicht. Zur Formulierung von Titeln für Leitartikel kann und muss an dieser Stelle einmal transparent gemacht werden, dass sie in der Regel nicht vom Autor, sondern von autorisierten Redakteuren gesetzt werden.

Esc-Enter von Rolf Wicker – Teil der Computertastatur auf dem Vorplatz zum Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin

Zeitungen auf Papier oder dem Bildschirm oder Touchpad, insbesondere Wochenzeitungen wie Der Spiegel oder Die Zeit sind hocharbeitsteilige Maschinen. – Titeln ist ein formalisierter redaktioneller Bereich. Menschliche Korrekturleser*innen in Zeitungshäusern wurden bereits in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts entlassen bzw. abgeschafft. Über den Titel Selbst macht klug ließe sich insofern einiges nachdenken. Dass der globale Journalismus zwischenzeitlich weitgehend automatisiert worden ist, wäre ebenfalls bedenkenswert. Entlassungswellen in Verlagshäusern werden zwar bedauert, aber als wirtschaftlich notwendig und plausibel akzeptiert. Mit der Sprache, der Stimme und dem Ohr geht es insofern nach Pleßner um eine „Grundschicht des Menschlichen“[2], der conditio humana und nicht zuletzt dessen, was Kulturforschung lehren kann. Bereits Thomas Macho hatte bei der Eröffnung der Vortragsreihe an die Stimmen erinnert, die wir beim Lesen und Schreiben hören. Das Selbsthören und das Hören von anderen Stimmen sind semantisch hoch aufgeladen und umstritten.

.

Der Philosoph Helmuth Plessner wird derzeit von der Sprach- und Kulturforschung recht eigentlich als zwischen 1933 und 1945 verfolgter und ausgewanderter, deutschsprachiger Sprachforscher entdeckt und rezipiert. Utz Maas schreibt im Projekt Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) über Helmuth Pleßner (die Schreibweise des Namens variiert), dass er argumentativ explizit an Husserl anschloss.[3] „Im Sinne der von ihm (…) herausgestellten leiblichen Fundierung aller höheren Fähigkeiten kommt der Lautsprache (der Stimme) zwar eine fundierende Rolle zu, aber er betonte, daß sie als mediale Besonderheit nicht mit Sprache gleichzusetzen ist (…). Pointiert entwickelte er hier das für die conditio humana grundlegende Konzept des Ausbaus der „natürlichen“ Fähigkeiten.“[4] 2019 erschien der Konferenzband Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung – Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners[5], der den 1985 verstorbenen Philosophen, Soziologen und Sprachforscher explizit in das Feld der Digitalisierung rückt.
„Mit der analytischen Perspektive der an Plessner anschließenden Philosophischen Anthropologie kann es derart gelingen, die Vielfalt dessen, was mit Digitalisierung verbunden wird, auf die Frage hin zu systematisieren, wie sich der Mensch, verstanden als gerade nicht nur kognitive und nicht nur materiale, sondern beides verbindende exzentrische Positionalität, eine Welt neu schafft, die ihn selbst potenziell überformt.“[6]

.

Sigrid Weigel stellte vor allem das konstituierende Verhältnis von Stimme und Ohr für den Menschen nach der Vorstellung durch Stefan Willer ins Interesse ihres Vortrages mit der Formulierung: „Wenn wir sprechen, gehen wir davon aus, dass jemand uns zuhört.“[7] Bedenkenswerter Weise wird dieses Verhältnis im Konferenzband überlesen, übersehen oder überhört. Richard Paluch berichtet zwar in Anknüpfung an Plessner von einem Labortest zu „(l)eiblichen Erfahrungsweisen animierter Umgebung“ bei zwei „Erstnutzer*innen von Hörgeräten“[8], dass Mechthild „sich nach vorne beugt und ihr Ohr den Sprechenden zuwende()“. Sie „möchte die anderen besser verstehen und auch auf den Sachverhalt aufmerksam machen, diese nicht hören zu können“[9]. Aber die prekäre Geste, das „Ohr den Sprechenden“ zuzuwenden, wird weder in Beziehung zur Stimme noch zur Frage des Menschlichen gesetzt. – Achtung! Wenn Sie schlecht hören, fragen Sie nie nach oder bitten gar die Sprecher*in, deutlicher zu sprechen. Die Bitte löst Aggressionen aus. Ihnen wird die Intelligenz als ein Verstehen können und damit ein Menschliches umgehend abgesprochen oder wenigstens angezweifelt. – Ich werde darauf zurückkommen.

.

Die Korrelation von Stimme und Ohr, wie sie mit Nach der Stimme in den Mosse-Lectures von Thomas Macho, Lawrence Abu Hamdan bezüglich forensischer Auswertung von Stimmen, Brigitte Lange hinsichtlich den Berliner Stimmenarchivs und Marcel Beyer angesprochen und performt wurde, blendete immer auch das Ohr ein wenig aus. Das war meistens einer methodischen Konzentration auf die Stimme geschuldet. Doch mit Sigrid Weigel wurden nun Figurationen von Stimme und Ohr: der Beichtstuhl – die Couch – das Programm in Anknüpfung an Helmuth Pleßner zum Dreh- und Angelpunkt von Tonszenarien wie „Echo in der eigenen Brust“, „Resonanz“ und einem geschärften „Ohr“ in der „Kulturwissenschaft()“ bzw. Kulturforschung. Dafür soll eine längere Passage aus seiner Einleitung in die philosophische Anthropologie von 1965 zitiert werden:
„Immerhin: es ist nur eine leere Behauptung, daß der Mensch in unendlichen Varianten lebe. Hier scheint es eine Verbindung von Endlichkeit und Unbegrenztheit, Begrenztheit und Unendlichkeit zu geben, eine überschaubare Fülle möglicher Individualitäten in unerschöpflichen Individuen -, die von unmittelbarer Bedeutung für die wissenschaftliche Erkennbarkeit der geistigen Welt ist. Die schmale Basis eines Individuums reichte zur Erfassung fremder Geistesweiten nicht aus. Wollte wirklich der Historiker sich nur auf das Echo in der eigenen Brust verlassen, so müßte er auf riesige Sphären untergegangenen Seins von vornherein verzichten. Aufs strengste hat der Geisteswissenschaftler daher zu unterscheiden zwischen einer Resonanz in seiner lebendigen Individualität und einer „Resonanz“ in den Schichten, die das Fundament für ein Verstehen fremden Geistes bilden, weil sie das „Verstehen“ selbst ermöglichen. Der Kulturwissenschaftler gewöhnt sich daran, skeptisch gegen sich, seine Zeit und Kreis der Selbstverständlichkeiten zu werden und schärft sein Ohr zur Wahrnehmung der Tiefenunterschiede der Resonanz. Denn eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten bleibt in der von keiner zeitlichen und persönlichen, rassenmäßigen und volkhaften Gestaltung je erschöpften Grundschicht des Menschlichen dem Historiker zur Verfügung.“[10]

.

Helmuth Plessner kam 1970 in seiner Anthropologie der Sinne verstärkt auf das Ohr des Menschen mit seiner Ästhesiologie des Hörens zurück. Das Ohr und die mehrdeutigen Tonszenarien wurden nun konkretisiert. Der „Modus des Hörens“ wird ihm wichtig, weil die „Philosophie des Pragmatismus“ dieser nie interessiert habe.[11] Plessner konkretisiert jetzt das Verhältnis von Ohr und Stimme insbesondere über das „Sich-selber-Hören“ als „eine Basis der Sprachbildung“, die bei „Taubstummen“ ausfalle.[12] Er bezieht sich dabei auf Herder und macht deutlich, dass das „Sprachsystem der Sprache als ein() Gefüge() aus Wortbedeutungen von der üblichen akustomotorischen Artikulationsbasis“ relativ unabhängig sei. Anders gesagt: Man muss nicht hören und sprechen können, um sich eine Sprache anzueignen. Wird Ludwig Wittgenstein in den aktuellen philosophischen Debatten um die Digitalisierung bis zur Künstlichen Intelligenz und Sprachprogrammen gern in Anspruch genommen[13], so ist es Plessner, der 1970 mit der Ästhesiologie des Hörens die Mehrdeutigkeit des Sprechens performend darauf aufmerksam macht, dass „das vitale System des Menschen“ eine entscheidende Rolle spiele.
„Die These von der Entsprechung etwa des indogermanischen Sprachbaues und der abendländischen Philosophie ist bekannt. Es bedarf nur einer kleinen Drehung, und die Sprache wird zu dem, der spricht und sagt. Selbstredend lassen sich solche Verabsolutierungen, ob im Sinne Wittgensteins oder Heideggers, nicht mit anthropologischen Überlegungen stützen oder bekämpfen. Aber sie sind symptomatisch für eine nur auf Sprache eingeschworene und verengte Blickrichtung, die sich einen Dreck um die Einbettung der Sprache in das vitale System des Menschen kümmert.“[14]

.

Sigrid Weigel bezieht sich in ihrer Plessner-Lektüre vor allem auf dessen Nachdenken von Stimme und Ohr in der Philosophie. Unterschlagen werden soll hier allerdings nicht, dass Plessner seine anthropologische Ausarbeitung mit seiner Kritik an „Technisierung“, „Möglichkeiten elektronischer Tonerzeugung“ und einer „vor nichts zurückschreckende(n) Interpretationslobby“ argumentativ verkoppelt.[15] Gerade an der Schnittstelle des „Sich-selber-Hörens“ kommen seit ungefähr seit Beginn de neuen Jahrtausends mit digitalen Ton- oder Soundprozessoren als sogenannte Cochlea Implantate zum Zuge. „Taubstumme“, um diesen Begriff einmal anzuwenden, können unter bestimmten Grundbedingungen wie einem intakten Hörnerv über CIs hören. Zum ersten Mal hörte ich um 2000 von einem seit seiner Kindheit Gehörlosen, der mittels der damals noch großen Hinterohrprozessoren hören lernte. Prof. Dr. med. Heidi Olze hat als Direktorin der HNO-Klinik an der Charité um 2010 die CI-Versorgung aufgebaut und vor allem frühzeitig bei Kindern eingeleitet und erforscht. Sie plädiert für eine synchrone Versorgung.[16] Die Operation besteht darin, dass Sonden in das Innenohr, die Ohrschnecke bzw. Cochlea verlegt werden, um die Hörnerven anders als bei einem nur verstärkenden akustischen Hörgerät, sagen wir, direkt anzusprechen.

.

Die Digitalisierung des Hörens durch ein CI dürfte aktuell in Industrieländern bereits für hunderttausende Kinder Realität sein. Dadurch wird diesen Kindern allererst ein Spracherwerb und das „Sich-selber-Hören“ ermöglicht. Der Soundprozessor hinter dem Ohr lässt sich beispielsweise mit einer App auf dem Smartphone durch mindestens 4 akustische Programme wie „Musik“, „Café“, „Gruppe“ und „Scan“ steuern. Die Programme blenden z.B. im Café oder Restaurant störende Geräusche wie Tellerklappern etc., die normalhörende Menschen ausblenden können, digital aus. Das Musikprogramm erlaubt es, jedes Knirschen des Streugutes unter den Schuhen im Winter, jede Vogelstimme und jedes Instrument in einem Symphonieorchester zu hören. Es erlaubt ebenso eine Unterscheidung zwischen „elektronischer Tonerzeugung“ und dem Ton einer erweiterten Spielweise eines traditionellen Instrumentes wie einer Bratsche. Dabei könnten unterdessen erweiterte Wissensformen eine Rolle spielen und notwendig sein. Bei Erwachsenen können die Hörnerven in der Cochlea durch Operationen, Unfälle oder Kriegshandlungen beschädigt werden, so dass kein akustisches Hörgerät mehr ausreicht. Verblüffend ist es, dass sich z.B. in einem Symphoniekonzert der akustische Höreindruck mit dem digital verarbeiteten Klang im Kopf, vielleicht besser Gehirn, zu einem sehr genauen und oft beglückenden Klangerlebnis vermischt.

.

Was heißt es, wenn ich mich durch ein digitales Programm höre und bereits zahllose Kinder sich auf diese Weise hören? Die schreibendsprechenden Programme wie ChatGPT lösen die Frage nach der Intelligenz und der vielschichtigen Macht der KI, englisch AI aus. Ohne CI-Programm könnten viele Kinder sich heute nicht selber hören und ihre Intelligenz entwickeln. Kriegsverletzte Kinder, Frauen und Soldaten erhalten durch ein CI überhaupt wieder die Möglichkeit, hörend am Leben teilzunehmen. In Deutschland ist durch Angehörige der Bundeswehr um 2010 das Recht auf eine CI-Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung erstritten worden.[17] Könnte es sein, dass ChatGPT Bedenken und Ängste freisetzt, weil es schreibt und spricht, während gleichzeitig die Weiterentwicklung von CI-Prozessoren und ihren Programmen die akustische Teilhabe am Leben überhaupt ermöglicht? Das Hören wird nur durch eine Maschine möglich. Das „Humanum“ wird mit dem Programm einer Maschine verkoppelt und möglich.

.

An dieser Stelle kann auf eine CI-Debatte unter Gehörlosen aufmerksam gemacht werden, die den Bereich der Digitalisierung ausspart. 2006 veröffentlichte der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. eine Stellungnahme zu Cochlea Implantaten, in der die „These „besseres Hören = bessere Lebensqualität““ als „nicht automatisch zutreffend“ kritisiert wird. Besondere Beachtung erhalten vor allem sprachliche und kulturelle Aspekte der „Gehörlosengemeinschaft“, die insbesondere für „gehörlose Kinder“ in Anschlag gebracht werden. „Gebärdensprache, Gehörlosenkultur und die gesetzlich geregelten Möglichkeiten zum Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern können gehörlosen Kindern Perspektiven eröffnen, die unabhängig von ihrer Hör- und Sprechfähigkeit sind.“[18] Das CI macht Angst und wird insbesondere als Gefährdung der Gebärdensprache und der Gehörlosenkultur eingeschätzt, was einen Wink gibt auf das Feld der Sprach- und Kulturforschung. Anders gesagt: Das CI lässt sich ebenfalls als eine von Sigrid Weigel formulierte „Figuration() von Stimme und Ohr“ bedenken.

.

Inwiefern sich die Gehörlosenkultur einer „Gehörlosengemeinschaft“ seit 2006 unter der zunehmenden CI-Versorgung von Kindern und Erwachsenen verändert hat, kann nicht eingeschätzt werden. 2020 erschien allerdings ein umfangreicher Artikel zur CI-Debatte mit dem Titel Ein Implantat für gehörlose Kinder, das nicht alle Eltern wollen mit dem Untertitel „Die Gehörlosen-Community fühlt sich im ihrem Kampf um Anerkennung dadurch bedroht“.[19] Die Digitalisierung durch das CI wird weiterhin als Angriff auf die „Identität und Kultur“ gehörloser Menschen betrachtet: „Für viele, wenn nicht sogar für die meisten taub geborenen Menschen ist Gehörlosigkeit keine Behinderung, sondern Teil ihrer Identität und Kultur, die von der hörenden Mehrheitsgesellschaft missachtet, diskriminiert und bedroht wird“, schreibt Marija Barišić. So wird die CI-Debatte, obwohl als marginal eingeschätzt, zu einem Feld für die Kulturforschung. Obwohl der „Soundprozessor“ im Artikel mehrfach erwähnt wird, stellt Marija Barišić ihn nicht in den größeren Kontext der Programme und der Digitalisierung. Die Stimme und das Hören von Stimmen wird allerdings mehrfach erwähnt.

.

Mit ihrem kulturwissenschaftlichen Vortrag zu Beichtstuhl, Couch und Programm macht Sigrid Weigel auf Kulturen des Sprechens und Hörens in einem historischen Abriss von den Ohrenstelen der Ägypter bis zum Programm aufmerksam. Die Kultur der Ohrenstelen wird seit langer Zeit nicht mehr praktiziert. Die Kultur der Ohrenbeichte vor allem in der Katholischen Kirche wurde seit jeher nicht nur von kleinen Mädchen als seltsam empfunden – „Ich wusste doch gar nichts zu beichten“, wiederholt meine Mutter(89) oft. Sie ist durch Kirchenaustritte allemal am Schwinden. Ob die psychoanalytische Kultur der Couch bereits ihren Zenit überschritten hat, lässt sich schwer sagen. Welche Figurationen von Stimme und Ohr die Digitalisierung noch hervorbringen wird, wissen wir nicht. Marcel Beyer machte in seiner wunderbaren Lecture-Performance eine ganze Reihe von außergewöhnlichen Vinyl-Schallplatten zum Thema, die er durch einen selten gewordenen Plattenspieler zum klingenden Rauschen brachte. Die Vinyl-Kultur, die heute eine besondere Kennerschaft erfordert und die 2016 noch mit einer Sonderedition des Brahms-Zyklus mit Simon Rattle von den Berliner Philharmonikern als Direktmitschnitt gefeiert wurde[20], ist quantitativ am Abklingen. Zweifellos ging es dabei um eine Figuration von Stimme und Ohr.

.

Beim Direktmitschnitt und Plattenspieler sind in der Vinyl-Kultur bereits Maschinen zwischen Stimme und Ohr im Spiel. Während Marcel Beyer das Rauschen und das Nicht-Verstehen der Stimmen besonders mit der Maschine des Plattenspielers vorführte, ging es den Berliner Philharmonikern um einen reinen Klang durch die Direktheit des Mitschnitts. Zur Produktion der Vinyl-Platten wurde im Emil Berliner Tonstudio mit dem Meistersaal in der Köthener Straße eine technisch hoch ausdifferenzierte Maschine eingesetzt. Die menschliche Stimme der Orchestermitglieder und ihres gefeierten Chefdirigenten wurde in der Philharmonie durch eine eigene Installation direkt aufgezeichnet, um über Plattenspieler und exquisite Lautsprecher an das Ohr genießender Kenner in aller Welt gebracht zu werden. Maschinen generieren Kulturen und gefährden andere. Immer noch haben Menschen Praktiken entwickelt, mit Kulturveränderungen umzugehen. Vielleicht ist das das Erstaunliche an der conditio humana. Die conditio humana lässt sich selbst nicht fassen, vielmehr muss sie unablässig in den Kulturen bedacht werden.

Torsten Flüh[21]

Mosse-Lectures
Nach der Stimme
Videos der Lectures auf YouTube


[1] Ulrich Schnabel: Selbst macht klug. In: Die Zeit N° 6 Print vom 2. Februar 2023 (ohne Seitenzahl).

[2] Helmuth Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin: De Gruyter, 1965, S. 16.

[3] Utz Maas: Pleßner, Helmuth. In: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945. Zuletzt aktualisiert: 03. Mai 2018.

[4] Ebenda.

[5] Johannes F. Burow,  Lou-Janna Daniels, Anna-Lena Kaiser, Clemens Klinkhamer, Josefine Kulbatzki, Yannick Schütte, Anna Henkel [Hrsg.]: Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners. Baden-Baden: Nomos, 2019.

[6] Ebenda S. 11.

[7] Zitiert nach gehörter Mitschrift während des Vortrags.

[8] Richard Paluch: Die technisch vermittelte Umweltbeziehung des leiblichen Selbstes in virtuellen Welten. In: Johannes F. Burow, …: Mensch … [wie Anm. 5] S. 153

[9] Ebenda S. 156.

[10] Helmuth Pleßner: Die Stufen … [wie Anm. 2] S. 16.

[11] Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne. In: ders.: Gesammelte Schriften III. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 343.

[12] Ebenda S. 345.

[13] Siehe zu Ludwig Wittgenstein auch: Torsten Flüh: Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur. Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2022.

[14] Helmuth Plessner: Anthropologie … [wie Anm. 11] S. 346.

[15] Ebenda S. 348.

[16] Cochlear: Prof. Dr. med. Heidi Olze: Erfolgt die Cochlea-Implantation automatisch an beiden Ohren? YouTube 25.03.2013.

[17] Vom Hörensagen durch den CI-Techniker in der HNO-Klinik der Charité mitgeteilt.

[18] Deutscher Gehörlosen-Bund e.V.: Stellungnahme zum Cochlea-Implantat (CI). (Ohne Datum ohne Ort), S.4. (PDF 2006)

[19] Marija Barišić: Ein Implantat für gehörlose Kinder, das nicht alle Eltern wollen

Mit dem Cochlea-Implantat können Menschen wieder hören. Die Gehörlosen-Community fühlt sich in ihrem Kampf um Anerkennung dadurch bedroht. In: Der Standard 8. März 2020, 12:00.

[20] Siehe: Torsten Flüh: Einzigartig direkt. Zur neuesten Veröffentlichung der Brahms-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 26, 2016 19:09.

[21] Siehe auch: Torsten Flüh: Macht ein CI schneller? Marathon-Bestzeit mit Cochlea-Implantat. In: Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft e.V. (Hrg): Die Schnecke Ausgabe 70, 2010, S. 18-19.

Zerspringende Identitäten

Moderne – Identität – Übertragung

Zerspringende Identitäten

Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele

Die Deutschlandpremiere von Ming Wongs „Lecture-Performance with Two Pianos“ Rhapsody in Yellow am Freitagabend im Haus der Berliner Festspiele mit den Pianisten Ben Kim und Mark Taratushkin riss das Publikum zu einem Begeisterungssturm hin. Das hatte natürlich mit der Musik und der artifiziellen Bildtechnik zu tun. Seit seiner Uraufführung am 12. Februar 1924 in der Aeolian Hall in New York City reißt die Rhapsody in Blue von George Gershwin Konzertbesucher auf der ganzen Welt mit. Die Hörer*innen des Zentralen Symphony Orchesters der Volksrepublik China waren ebenfalls enthusiasmiert, als Yin Chengzong 1970 nach Ausbruch der Kulturrevolution die Uraufführung des Yellow River Piano Concerto für das Revolutionsfernsehen einspielte. Nun entfacht Ming Wong mit seiner Rhapsody in Yellow ein visuelles und akustisches Feuerwerk.

.

Die entscheidende Frage nach der Identität der Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China wird von Ming Wong, der in Berlin lebt und arbeitet, mit seiner audiovisuellen Komposition Rhapsody in Yellow bearbeitet. Die Tischtennisplatte im Foyer an der Schaperstraße gibt dafür den Ort einer „Ping-Pong-Diplomatie“ ab und die Schnelligkeit des Sports wird zum Modus der Komposition. Die Frage nach der Identität kristallisiert sich um die europäische Musiktradition und Kompositionstechnik, die George Gershwin in der Rhapsody in Blue mit dem Klavierkonzert bestätigt und auf neuartige Weise mit Jazz überschreitet. 1939 hat Xian Xinghai nach dem europäischen Kompositionsprinzip – er hatte in Paris bei Paul Dukas studiert – die Kantate vom Gelben Fluss komponiert. Amerika und China finden mit einem Abstand von fünfzehn Jahren somit ihre nicht nur akustische Identität in der europäischen Musiktradition und einen europäischen Erzählmodus in der Musik.

.

Die Rhapsody in Yellow hatte ihre Welturaufführung nicht in New York, Peking, Paris oder Singapore, sondern in der Hauptstadt der Steiermark, Graz, am 22. September 2022 auf dem Festival steirischer herbst. Weil es Ming Wong um Kino und Populärkultur geht, darf an dieser Stelle angemerkt werden, dass die im wahrsten Sinne Inkarnation, Fleischwerdung des amerikanischen Traums zumindest der 80er Jahre Arnold Schwarzenegger ebenfalls in der Steiermark und gewiss mit einem Laut das Licht der Welt erblickte. Die Kombination eines Vortrages mit einem Klavierkonzert für zwei Klaviere und historischen Filmausschnitten unter Abmischung historischer Orchesteraufnahmen dürfte in dieser Form technisch absolut neu sein. Das Livekonzert verschmilzt mit fortgeschrittenster Digitalität, bis sich die Kadenzen der Rhapsody in Blue und des Yellow River Piano Concerto zur Ununterscheidbarkeit in einem Crescendo überschneiden.

.

Im September 2022 hatte Yannick Nézet-Séguin beim Musikfest die Symphonie Nr. 1 in e-Moll von Florence Price aus dem Jahr 1932 als Anknüpfung an die Symphonik Antonín Dvořáks vorgestellt.[1] Price komponierte 8 Jahre nach der Rhapsody in Blue ihre Symphonie für die Vereinigten Staaten von Amerika in einer europäischen Musiktradition. Anders als die Rhapsody in Blue verzichtete sie auf eine Kombination mit dem Jazz als Populärmusik in einer neuartigen Form. Bei der Frage um Musik als nationale Identität nimmt Antonín Dvořák z.B. mit den Slawischen Tänzen, die er zwischen 1878 und 1886 komponierte, für Tschechien in Europa eine entscheidende Funktion ein.[2] Nicht weniger wichtig wird zu jener Zeit Bedřich Smetanas sinfonische Dichtung Má vlast (Mein Vaterland) mit der ca. 12 minütigen Vltava (Die Moldau). Damit war ein musikalisches Format konstruiert, das sowohl in der Symphonie Nr. 1 von Price wie von Gershwin in der Rhapsody in Blue als auch von Xian Xinghai mit der Kantate vom Gelben Fluss wiederholt, übertragen und abgewandelt wurde.

.

Florence Price geriet mit ihrer Symphonie Nr. 1 als Frau und Farbige in Vergessenheit, während Leonard Bernstein seit den 50er Jahren die Rhapsodie in Blue für den Kanon der amerikanischen Symphonie-Konzertprogramme formalisierte. Das war insofern neuartig und überraschend, als George Gershwins epochale Komposition in die populäre Musik abgedrängt worden war. Dazu trug vor allem Paul Whitemans Revue-Film The King of Jazz (1930) bei, in dem die Rhapsody in Blue zur spektakulären Revue-Nummer mit einem ganzen Jazz-Orchester in einem riesigen türkisfarbenen Konzertflügel transformiert wird. 5 junge Männer im Frack sitzen an den riesigen Taten, als wären sie Fabrikarbeiter an einer großen Maschine und illustrieren den Klavierpart. Neuartige Überblendungen in Technicolor lassen den Pianisten im Showspektakel verschwinden. Jede Note muss betanzt und bebildert werden. Glitzernde Kristalllüster verbreiten Luxus und Wert der Komposition.

.

Die allerneuesten technischen Mittel des Farb- und Tonfilms werden von Paul Whiteman, der George Gershwin zur Komposition der Rhapsody in Blue für den Broadway angeregt hatte, mit der Musik kombiniert, um eine Visualisierung der Musik beispielsweise durch schnelle, rhythmische Schnitte zu erreichen. Die Rhapsody in Blue als Filmrevue wird auf einen afrikanischen Trommeltanz mit einem schwarzen, scheinbar nackten Tänzer geschnitten, dessen Choreographie in die weißen Körper im Frack und Zylinder der Revuegirls auf der Showtreppe übertragen wird. Anders gesagt: Paul Whiteman als Jazz-Bandleader nimmt visuell explizit ein Whitewashing des Jazz über das Format der Revue in The King of Jazz vor. Ming Wong schneidet mit exquisit aufgearbeitetem historischen Filmmaterial die visuellen Interferenzen von Rhapsody in Blue und Yellow River gegeneinander. Regionale, ethnische Volksmusik wird von Xian Xinghai und Yin Chengzong durch das europäische Kompositionsprinzip sinologisiert und nationalisiert.

        

.

Popularisierung und Kanonisierung werden von Ming Wong in seiner Lecture-Performance auf höchst unterhaltsame Weise erforscht. Für den Berichterstatter kommt es immer wieder zu Interferenzen: Klingt der Ruf des Fischers in dem chinesischen Film zum mythologischen Gelben Fluss nicht nach Karibik? Spielen da gerade zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele von Los Angeles 1932 dutzende, wenn nicht hunderte Pianisten im Stadion die Rhapsody in Blue? Militärisch-industrieller Massenaufmarsch der Pianisten? Revuefilm trifft Nation? Ming Wong hat einzigartiges Filmmaterial gefunden, aufgearbeitet und arrangiert. Zwar beginnt die Lecture-Performance mit der „Ping-Pong-Diplomatie“ der frühen 70er Jahre, aber in der Musik stellen sich die Interferenzen schon viel früher ein. Die Popularisierung der Musik im Dienste einer nationalen Identität oder besser noch umgekehrt: die Musik als Popularisierung des Konzepts nationaler Identität: Tschechien: USA: China: Volksrepublik China.

Screenshot: Ming Wong Berlin: Rhapsody in Yellow.

Henry Kissinger und Richard Nixon initiierten die Ping-Pong-Diplomatie 1971 zuerst über die gegenseitige Einladung der Nationalteams im Ping-Pong, whiff-whaff oder einfach Tischtennis. Wie Guo Liu und Alex Booth mit der Ausstellung ihrer Sammlung zur neuartigen Form der Diplomatie im Foyer zeigen, gehörten auf amerikanischer wie chinesischer Seite Bilder, Schallplatten, Porzellanpuppen wie Mao mit einem Tischtennisschläger in der Hand und Mini-Klaviere aus Eisen zur Visualisierung und Popularisierung von nationaler Politik. So gibt es denn auch Tischtennisschläger mit Karikaturen von Nixon und Mao. 1987 hatte bereits der Komponist John Adams die Oper Nixon in China mit einem kritischen Blick auf Richard Nixon komponiert, was anlässlich einer konzertanten Aufführung mit dem BBC Symphony Orchestra beim Musikfest 2012 besprochen wurde.[3] Wiederholt werden in die Lecture-Performance Ausschnitte aus Aufführungen der Oper eingearbeitet.

.

Das Arrangement der Medien auf der Tischtennisplatte visualisiert zugleich einen Wettkampf der Moderne. Die nicht zuletzt nationale Identitätsbildung der Vereinigten (und höchst unterschiedlichen) Staaten von Amerika und Chinas als Nation, während die Berechtigung einer Nationenbildung im Chinesisch-Japanischen Krieg (1937 bis 1945) von Japan bestritten wurde, fand zentral über die Musik als nationales Argument statt. Für Nixon war der erste Besuch eines westlichen Staatsmannes nach Gründung der Volksrepublik China ein globaler Mediencoup. Doch zugleich nutzte 1972 die Kommunistische Partei Chinas mit Zhou Enlai als Premierminister den Besuch zur Darstellung eines von der Sowjetunion losgelösten national-kulturellen Machtanspruches. Die Kulturrevolution, während der ab 1966 zunächst westliche Musikinstrumente wie das als bürgerlich geltende Piano massenhaft zerstört worden waren, transformierte mit Yin Chenzongs Yellow River Piano Concerto klassische westliche Musik zu einem Propagandainstrument um.

.

Die von Mao Zhedong und seiner vierten Frau Jiang Qing initiierte Große Proletarische Kulturrevolution kann einerseits als persönliche Machtstrategie  betrachtet werden, andererseits ist sie allererst eine Emanzipation von der russisch dominierten Sowjetkultur und ein Konstruktionsversuch der Identität Chinas.[4] Die Zerstörung westlicher Musikinstrumente wie dem Klavier und deren Wiederkehr unter kulturrevolutionären Vorzeichen mit Yin Chenzong unter der Fürsprache von Mao und Jiang, legt das Dilemma des multi-ethnischen chinesischen Reiches in der Moderne offen. Mao und Jiang mussten den Modus der musikalischen Identitätsbildung durch den Mythos vom Gelben Fluss als europäisches Modell – Vltava (Die Moldau) – übernehmen, um den eigenen Machtanspruch zu legitimieren. Insofern war die Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt 2017, zu einer Zeit als die V.R. China als Wiege der Globalisierung galt, unter dem Protektion von Xi Jinping in Berlin keinesfalls neu.[5] Gegen Ende der Rhapsody in Yellow spielt der Weltstar Lang Lang auf einem Konzertflügel mit dem China Philharmonic Orchestra vor dem Tor des Himmlischen Friedens zur Verbotenen Stadt das Yellow River Piano Concerto.

.

Im Zuge der Rhapsody in Yellow als Komposition von Henry Hao-An Cheng werden die beiden Klavierkonzerte zwischen Klassik und Pop in einer Art Überbietung immer ähnlicher. Damit verwischen sich einerseits Grenzen der Genres wie sie von Anfang an in den Kompositionen angelegt waren. Andererseits bleibt die Apotheose durch die kulturrevolutionäre Mao-Huldigung – 东方红 /Dōngfāng Hóng/Der Osten ist rot – ausgespart. Wenn Lang Lang mit modischem Haarschnitt und fast schon an Liberace[6] erinnerndem Outfit mit Feuerwerk über der Verbotenen Stadt das Yellow River Concerto mit großem philharmonischen Orchester vor einem Massenpublikum spielt, dann hat sich der Kampf der Identitäten in eine Interferenz von George Gershwin und Yin Chenzong verflüchtigt. Die Verbotene Stadt als zentrale Mitte von 中国/Zhongguo/Mitte Land/Reich der Mitte hat sich in eine Art Revuepanorama verwandelt. – Die Identität zerspringt im Moment der postulierten Einheit.

Torsten Flüh

Instagram

Ming Wong


[1] Siehe: Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[2] Zu Antonín Dvořáks und Bedřich Smetanas Nationalmusik siehe: Torsten Flüh: Tschechische Klassik neu formatiert. Yannick Nézet-Séguins und Lisa Batiashvilis höchst bemerkenswertes Waldbühnenkonzert mit den Berliner Philharmonikern. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2016 20:48.

[3] Siehe: Torsten Flüh: History – berauscht von Geschichte. Edgar Varèses Amèriques und John Adams Nixon in China beim Musikfest 2012. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 12, 2012 17:28.

[4] Zur Sowjetkultur siehe: Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 16, 2017 21:47.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27.

[6] Zu Liberace siehe: Torsten Flüh: Der Horror der Kandelaber. Zu Liberace – Behind the Candelabra mit Michael Douglas und Matt Damon. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 14, 2013 21:59.

Marianastic!

Männlichkeit – Runway – Fashion

Marianastic!

Zu Lucas Meyer-Leclères Fashion Show Cum Dederit in St. Marien und Lucky Love während der Fashion Week Berlin

Die Fashion Week Berlin 2023 startet nach zwei Jahren der Lockdowns im Winter fulminant durch. LML zelebriert in St. Marien eine glamouröse Fashion Show mit Orgelsound und einem berückenden Final-Solo von Lucky Love mit Masculinity. Geschlecht, Couture, Körper werden vom Designer Lucas Meyer-Leclère nach dem Format der Fashion Show neu in Szene gesetzt. Körper-Diktate, wie sie bei Klum & Co. formuliert und durchgezogen werden, verwandelt LML in Kreationen des Selbst. Das kommt bei dem überwiegend U30-Publikum in Berlins einziger wirklichen Kathedrale und ältesten erhaltenen Kirche mit Mobile-Flashs und frenetischem Beifall der geschätzten siebenhundert Individuals an.

.

Eine Fashion Show beginnt mit dem Warten vor dem Einlass. Vor der Marienkirche sind extra Feuerbecken aufgestellt, die nicht nur gut aussehen, sondern an denen sich die Besucher*innen bei ca. 0° C auch wärmen können. Bei den Fashion Shows wirkt das Publikum immer zugleich mit. Klamotten, Haarschnitte und -farben, Piercings und Tattoos, Vintage und Originals werden vorgeführt. Ein junger Mann fotografiert seine Freundin. Irgendwann nach 18:00 Uhr geht, der linke Flügel der Kirchentür auf. Helles Licht aus dem Vorraum. Wird die Registrierung auf dem Mobile – „You’re all set! Hello! Thank you for registering. We look forward to welcoming you to the show.” – kontrolliert? Die erleuchtete Tür funktioniert wie der Vorhang des Zeuxis. Wann werden wir endlich hinein und sehen dürfen, was LML-Studio uns zeigt? Die Ungeduld, die durch den gemalten Vorhang von Parrhasius in Zeuxis geweckt wird, ließ ihn siegen.[1]   

.

Die Ungeduld des Sehen-wollens muss in feinen Steigerungen geweckt werden. Die Ungeduld des Sehen- und Wissenwollens hat Jacques Lacan am 4. März 1964 an der École Normale Supèrieur in Paris mit einem Wink auf die Legende von Zeuxis angesprochen. Um die Ungeduld zu wecken, wird in St. Marien viel Personal aufgewendet, das vermeintlich kontrolliert, wer hinein und einen Platz einnehmen darf. Da gibt es so etwas wie die Crowd und die Fews. Kontrolle und Hostship überschneiden sich in den meist jungen Frauen, die die Plätze anweisen. Eine etwas reifere Frau weist in dieser Show vor dem Altarraum die exponierten Seitenplätze an. Auf den Stufen des Altarraums sitzen die Fotograf*innen mit leistungsstarken Objektiven und Blitzgeräten. Die Sensoren der Infrarot-Autofokusse werden später die Modelkörper abtasten. Nur für einen Sekundenbruchteil werden die Models am Turningpoint ihren Körper anspannen. Direkt am Catwalk und Turningpoint – LML-Studio-Logo – sitzen sich Frauen und Männer gegenüber, die ihr Styling zeigen. Probably celebrities! Eher Maßkörper und Maßkleidung.

.

Heute gehört das Smartphone zum unverzichtbaren Gadget einer Fashion Show. Flash. Das Smartphone mit Livevideomodus wird aktuell zum wichtigsten Accessoire einer Fashion Show. Flash. Und mit dem Facebook Livemodus werden im besten Fall hunderte Videos gleichzeitig von der Fashion Show gestreamt. Smartphones generieren Aufmerksamkeit wie einst die Modemagazine mit gefürchteten Modekritikerinnen wie Anna Wintour. Vermutlich sind einige Fashion-Blogger*innen anwesend. Häufiger wird das Smartphone neben der Kreditkarte auch bei Männern aus einer kleinen Umhängetasche gezogen. Die darf ein bisschen kinky wirken. Die Umhängetasche sieht nicht nach Smartphone aus, bietet allerdings genau dafür einen Stauraum. Und sie wird natürlich längst gebranded, sollte also als Marke auf den ersten Blick erkennbar sein. Marken lassen Wissen zirkulieren.

.

Die Dramaturgie der Fashion Show beginnt somit lange bevor, die Kleidungsstücke und Looks auf dem Runway oder Catwalk präsentiert werden. Wer später zur Show erscheint, zelebriert quasi seinen eigenen Auftritt. In der Marienkirche galt das umso mehr, als der Mittelgang des Kirchenschiffes mit seinen einst hochmodernen Eisenplatten aus dem 19. Jahrhundert zwischen den Kacheln als Runway genutzt wurde. Da der Berichterstatter recht zeitig über das linke Seitenschiff einen Platz auf einer Kirchenbank vorne am Turningpoint eingenommen hatte, wurde ihm die ganze Show der Late Fews geboten, während sich die Reihen füllten. Kommen Sie spät, fast zu spät! Dann bekommen Sie zwar nicht die 15 minutes of fame wie bei Andy Warhol, aber 15 Sekunden Wow! – Aufmerksamkeit. Profis aus New York, Paris oder Milano wissen das natürlich auch in Berlin zu nutzen. Die eigentliche Show dauert 10 bis 15 Minuten.     

.

Die Schnelllebigkeit der Mode, die die Fashion Shows entfachen und der sie zugleich unterworfen sind, verlangt heute paradoxer Weise Nachhaltigkeit. Junge, klimakrisengeschüttelte Menschen wollen nachhaltig konsumieren. LML produziert nachhaltig und in Handarbeit in Berlin! Möglichst hochwertiges Vintage wie das Smokinghemd zerschnitten und von Hand neu kombiniert vernäht. Das unterscheidet das Lable von der Modeindustrie des 1-EURO-T-Shirts aus den Nähmaschinenghettos der Fast Fashion von Bangladesch. Georgia Bynum schrieb 2021 in THE IMPACT OF FAST FASHION IN BANGLADESH, dass die Löhne, die in der Garment industry in der Hauptstadt Dhaka als globaler Hauptstandtort bezahlt würden, nicht einmal zum Leben reichten. Nach Merriam Webster definiert sie Fast Fashion als einen Ansatz „to the design, creation and marketing of clothing fashions that emphasizes making fashion trends quickly and cheaply available to consumers”.[2] Die Lust auf die Verfügbarkeit muss allerdings durch Werbung und Vorhänge geweckt werden. Mehrfach verbrannten oder erstickten Näherinnen in Bangladesch an ihren Arbeitsplätzen.

.

Das Paradox des Konsums sorgt für das Hintergrundrauschen jeder Fashion Show. Gerade junge Menschen, die sich in der Schule mit Klimakrise, Fast Fashion und den Bränden in den Modefabriken z.B. im Dezember 2013 – Bangladesh factory fires: fashion industry’s latest crisis[3] – beschäftigt haben, wissen, dass die Fast Fashion Industry mörderisch ist. Seit der Zeit um 2013 ist die Letalität des Konsums vom T-Shirt bis zum iphone jedem und insbesondere jungen Menschen bekannt. Während der Covid-19-Pandemie wurden die Kleidungsfabriken in Dhaka ebenso wie die Foxconn-Fabriken fürs iphone in der V.R. China zu Brennpunkten von sozialen und ethischen Fragen in der Modewelt. Georgia Bynum setzt auf wenig erfolgversprechende Reformen:
„The garment industry is deeply ingrained in Bangladesh. If the effects of the COVID-19 pandemic taught any lesson, it is that the solution is not as simple as boycotting. Removing fast fashion would be removing almost the entirety of the Bangladeshi economy. Instead, the solution is reform.“[4]

.

Die Fashion Show als Format der Präsentation von Mode ist erstaunlicherweise kaum zum literarischen Thema geworden. Sie ist ein Format, das schlechthin nicht erzählt und kaum erforscht wird. Lauren Weisbergers Roman The Devil wears Prada (2003) erzählt weniger vom Runway, denn von Machtkonstellationen in der Modewelt. Obwohl der Runway einen Raum der Macht in der Modewelt abgibt, wird die Erzählung ins Zwischenmenschliche verschoben. Gleichwohl hat Erliska Erliska 2017 mit einem marxistischen Feminismus Power and Gender Oppression[5] in dem Roman untersucht. Macht und Geschlechterunterdrückung in der Chefinnenetage der Modewelt, für die die Modejournalistin Anna Wintour sozusagen Model stand, spielen sich paradoxerweise in einem Magazin mit dem Namen Runway ab, bearbeiten diesen als Format indessen so gut wie gar nicht. Der Runway und die Fashion Show werden nahezu ausgeblendet.
„Dependence is the next indicator that shows the exercise of power over others. Here it can be seen that the proletariat’s fate is on the bourgeoisie’s hand. The condition is illustrated when Emily, Miranda’s first Assistance, repeatedly reminds Andrea that their leader, Miranda is their priority. A little mistake or ignorance means that their career in Runway will end (Weisberger, Ch.5 p.47). This is the way Miranda uses her power toward her workers by reminding them that their careers depend on Miranda’s hand.”[6]

.

Die Macht in der Modewelt wird damit nicht zuletzt vom Runway auf die Herausgeberin der Vogue bzw. Runway übertragen. Doch die Hochglanzfotos vom Turningpoint des Runways – Shoot! Flash! Turn away! – üben eine millionenfach reproduzierte visuelle Macht aus. In den internationalen Reality-Formaten von Germany`s Next Topmodel mit der Machtfigur Heidi Klum wird zwar ständig der Runway vorgeführt, um ein Casting, nicht aber die Mode zu illustrieren. Die Figur des Chefmodels Heidi Klum hat sich in der Öffentlichkeit dabei kontinuierlich zwischen Mutterfigur und Generalin über die Armee der deutschen Models entwickelt. Öffentlich werden Frauenkörper formatiert und standardisiert. Auf dem Runway wird eine strenge Selektion mit der Aussicht auf einen internationalen Modeljob betrieben. Doch der Runway selbst darf nie, thematisiert werden! Shoot! Flash! Turn away! Was auch immer auf den Fashion-Blogs oder den Seiten der Modemagazine erscheint, wird sich am Turningpoint ereignet haben. Blitzschnelle Rechenprozesse der Autofokusse schießen die Couture und das Material ab. Shoot! Flash! Turn away!

.

Die Macht der Frauen in der Modewelt wird durch patriarchale Muster der Unterwerfung generiert. In Weisbergers Roman wird die Figur der Mutter mit der des kapitalistischen Ausbeuters über Gefühle bzw. Gefühlswissen verschnitten: „Deep in her heart, Andrea feels that the relationship between her and Miranda is like a predator and baby mammals.”[7] Weisberger erzählt die Macht der Frauen als eine der Gefühle und des Gefühlswissens, das sich in Widersprüche verstrickt. Das Bild der mächtigen Frauen in der Modewelt, wird nicht nur mit widerstreitenden Gefühlen angelegt, sondern reproduziert nicht einmal so sehr auf dem Laufsteg, als vielmehr daneben das christliche Urmotiv von Mutter und Hure. Aufopferung und Geschäftssinn werden nicht nur in Miranda oder dem Model Heidi Klum reproduziert, sondern funktionieren genau in diesem kapitalistischen Modus. Ob oder wie sich die Machtverhältnissen verändern ließen wird gar nicht erst angeschrieben, weil es um vermeintlich persönliche Gefühle und Schwächen der Frauen geht. Gerade damit wird ein patriarchales Frauenmodel bestätigt. Gender und Geschlechterbilder werden allerdings auf dem Runway entworfen und reproduziert.

.

The Devil wears Prada als Erzählung aus der Modewelt könnte unappetitlich wirken, weil Sprachformen wie Verleumdung, Beleidigung und Drohung prominent angewendet werden. Doch genau diese Erzählung als vermeintliche Enthüllung über die Mechanismen der Modewelt generierte nicht nur einen hochprofitablen Hollywoodfilm mit Meryl Streep, vielmehr noch feierte das gleichnamige Musical mit der Musik von Elton John im August 2022 seine Weltpremiere in Chicago. Allerdings fiel das Musical, das möglicherweise den Runway zu sehr zur Show mit Gesang machte, durch.[8] Models sprechen nicht. In der Grand Show des Berliner Friedrichstadt Palastes oder kurz The Palace spielt der Runway immer eine prominente Rolle fürs Showkonzept.[9] Nicht zuletzt haben Designer wie Manfred Thierry Muggler, Michael Michalsky, Jean Paul Gaultier oder Philip Treacy die Kostüme für die Grand Shows entworfen. Denn jede Fashion Show erzählt vom Runway und der Modewelt. Cum Dederit, als Titel für die Herbst/Winter 23/24 Kollektion von Lucas Meyer-Leclère erzählt anders vom Runway. Die zutiefst in der Modewelt verketteten patriarchalen Machtverhältnisse und Dichotomien werden gesprengt.

.

LML-Studio arbeitet an der Schnittstelle von Design, Kunst und Diskurs, wie bereits im August 2019 mit Design Art von Donna Huanca’s Friends @ Gensler 13A besprochen wurde. Mode muss nicht neu erfunden werden, sie kombiniert als ursprüngliches Design immer mehrere visuelle und diskursive Felder miteinander. Lucas Meyer-Leclère, der in Berlin lebt und arbeitet, hat Erfahrungen bei Karl Lagerfeld u.a. in der internationalen Modewelt gesammelt. Deshalb funktioniert Cum Dederit als ganz große Fashion Show in St. Marien. Cum Dederit bringt die Evangelische Kirche in Berlin und die Gemeinde von St. Marien zusammen mit der Debatte um das Geschlecht und die Diversität. Sie sind jedem Kleidungsstück eingenäht. Auf den Pressesitzen liegt mit dem Programm Bertold Höckers Broschüre Homosexualität und Christentum aus. 2021 erklärte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ihre Schuld an queeren Menschen in St. Marien.[10] Entscheidend für den Erfolg war nicht das große Geld eines Luxusmodekonzerns, sondern Lucas‘ einzigartige Vernetzung von Kirchengemeinde und Modewelt.

.

Cum Dederit knüpft an den Psalm 126/127 an. Bekannt ist der Psalm in der Komposition von Antonio Vivaldi. Die Psalmen sind von hoher semantischer Elastizität. Denn die Psalmen aus dem Hebräischen im Buch der Psalmen im Alten Testament gelten selbst als poetisch religiöse Texte. Die Form der Psalmen nach dem altgriechischen ψαλμός psalmós wird mit Saitenspiel oder Lied übersetzt. Cum Dederit ist insofern bereits eine Übersetzung aus dem Hebräischen und Altgriechisch, wobei die hebräische Zählung um eins vorausgeht. Deshalb ist der Psalm 126 nach der hebräischen Zählung Psalm 127. Die Übersetzung von Cum Dederit ins Deutsche bietet einige Schwierigkeiten. Wörtlich müsste cum dederit mit als er gab übersetzt werden. Doch im Psalm 126 wird Cum dederit dilectis suis somnum mit Denn seinen Geliebten gibt er Schlaf übersetzt. Nach der Lateinischen Formulierung ist das göttliche Geschlecht des oder der Gebenden irrelevant. Dederit allein kippt sogar temporal ins Futur mit wird geben. Anders gesagt: cum dederit lässt mehrere Übersetzungsmöglichkeiten zu, die vor allem um die göttlich-kreative Geste des Gebens kreisen.

.

Der Runway, dessen deutsche Form als Laufsteg viel zu altbacken nach dem schmalen Präsentationsgang in einem Modehaus der 50er Jahre klingt, wird von LML-Studio exakt zum Ort der vielfältigen Überschneidungen in der Modewelt gemacht. Die Vielfalt unterläuft zugleich das Diktat, den Modebefehl beispielsweise der Männlichkeit von Boss. Der Mittelgang des Kirchenschiffes von St. Marien wird stattdessen zum Kreuzungspunkt von Ethik, Ökonomie, Klimadiskurs, Geschlecht, evangelische Kirchenpraxis und Communities. Innerhalb der 10 bis 15 Minuten wird auf dem Runway eine Art Welttheater der Geschlechter aufgeführt. LML schöpft das Format Fashion Show hochprofessionell aus und legt zugleich die Diktate und Dogmen der Modewelt offen. Das ist nicht einmal Karl Lagerfeld in Paris gelungen! Lucky Love singt in seinem Song Masculinity:
„What about my masculinity ?
What the fuck Is wrong with my body ?
Am I not enough ?
Who gives you the right to run to rules ?
What’s wrong with you ?”

.

Das Zusammentreffen der Gemeinden, einer International Fashion Community und der evangelischen Kirchengemeinde St. Marien-Friedrichswerder Berlin, wurde nur durch gegenseitigen Respekt möglich. Respekt macht Design und das kurzzeitige Zusammentreffen allererst möglich. Heidi Klum oder Anna Wintour, nicht einmal Vivienne Westwood hätten mit ihrer Macht medialer Aufmerksamkeit eine Chance im Gemeindekirchenrat aus Gemeindegliedern und Pfarrer*innen gehabt, auch nur ein Casting, geschweige denn eine Fashion Show im Mittelschiff als Runway in St. Marien zu veranstalten. Hugo Boss und Adidas wären selbst mit ihrem Kampf ums Klimalabel beim Gemeindekirchenrat abgeblitzt. Beim Kauf eines Laufschuhs werden heute die Käufer*innen von den Mitarbeiter*innen im Adidas Flagship Store auf der Tauentzienstraße per Tablet gefragt, wie klimafreundlich sie die Marke Adidas bewerten. – Statt durch ökonomische Macht wurde Cum Dederit nur möglich durch Respekt.
„What about my masculinity ?
What the fuck is wrong with my body ?
Am I not enough ?
Or even too much ?
It would be shortsighted to try
Is it coming through you mind
That I don’t care
To be a man.”

.

Marianastic als Titel lässt sich auf viele Weisen lesen. So stecken sowohl die Namen Maria wie Marian darin. In einigen Regionen und Namenskombinationen wird Maria als weiblicher wie männlicher Vorname im Deutschen verwendet, um somit das Geschlecht ambig lesbar zu machen. Von Sprache zu Sprache kann Marian, das Geschlecht wechseln. Im Deutschen ist Marian männlich, während der Name im Englischen für das weibliche Geschlecht verwendet wird. Der Name als Akt der Benennung macht das Geschlecht. Ebenso lässt sich fantastic mitlesen. Entscheidend ist für das kombinierte Titelwort, dass es im weltweiten Googlewissen so gut wie unbekannt, daher zwar einzigartig, aber arbiträr ist. Insofern passt Marianastic als Adjektiv für Cum Dederit.

.

Die Models für LMLs Cum Dederit sind divers, sie passen in kein eindeutiges Schema von männlich oder weiblich, gesund oder krank, deutsch – GNTM! – oder anders, weiß oder farbig. Ein farbiges Model hat sichtbare Pigmentstörungen, Verletzungen im Gesicht, die zu Recht an eine Maske erinnern. An dieser Maske bricht visuell das rassische Wissen. Lucky Love gehört zum Freundeskreis von Lucas und seinem Partner Jens. Und dann beginnt Lucky Love auf dem Runway leise Masculinity a cappella nach dem Furor der Orgel von Jonas Sandmeier zu singen. Sein linker Arm ist amputiert. Das ist ein Statement zum Körper in der Modewelt und in einem Moment, in dem abertausende Männer, Frauen und Kinder in der Ukraine Gliedmaßen verlieren. Danach kommt nur noch der Höhepunkt einer klassischen Fashion Show mit dem Brautmodel, das eine Frau oder Transfrau sein kann. Wer will es entscheiden?! Wer hat das Recht darüber zu entscheiden? Es geht um ein Bild von Frau. Lucas Leyer-Leclère macht für einen Moment die Anbetungsgeste der Frau. – Dann zerspringt das Modebild im Applaus, den Flashs und dem Lächeln der Models ins Nichts.

Torsten Flüh

https://www.lml-studio.com


[1] „Zeuxis malte im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Daraufhin stellte Parrhasius seinem Rivalen ein Gemälde vor, auf dem ein leinener Vorhang zu sehen war. Als Zeuxis ungeduldig bat, diesen doch endlich beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten, hatte Parrhasius den Sieg sicher, da er es geschafft hatte, Zeuxis zu täuschen. Der Vorhang war nämlich gemalt.“ (Plinius, Nat. Hist. XXXV, 64) zitiert nach: Wettstreit der Künste: Zeuxis von Sandrat. (Legenden)

[2] Georgia Bynum: The Impact of Fast Fashion in Bangladesh. In: The Borgen Project May 26, 20221.

[3] Jason Burke: Bangladesh factory fires: fashion industry’s latest crisis. In: The Guardian Sun 8 Dec 2013 13.58 GMT.

[4] Georgia Bynum: The … [wie Anm. 2]

[5] Erliska Erliska: POWER AND GENDER OPPRESSION IN LAUREN WEISBERGER’S THE DEVIL WEARS PRADA AND SETH GRAHAM SMITH’S PRIDE AND PREJUDICE AND ZOMBIES. In: Bahasa dan Seni Jurnal Bahasa Sastra Seni dan Pengajarannya, Surabaya, August 2017, 45(2):121-131.

[6] Ebenda S. 125.

[7] Ebenda.

[8] Wikipedia: The Devil Wears Prada (Musical).

[9] Siehe u.a. Torsten Flüh: Traumheftig! Die neue Grand Show THE ONE im Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 18, 2016 20:56.

[10] Torsten Flüh: Redet freundlich miteinander. Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“. In: NIGHT OUT @ Berlin 29. Juli 2021.

Vom literarischen Kosmopoliten

Theater – Roman – Pandemie

Vom literarischen Kosmopoliten

Zu Alfred Henschke genannt Klabund – Ick baumle mit de Beene im Theater im Palais und seinem Roman Pjotr – Roman eines Zaren

Der literarische Kosmopolit berlinert und heißt Klabund. Noch zu Kaisers Zeiten hätte Henschke, mit Vornamen Alfred, womöglich ein wenig provinziell geklungen. Im Theater im Palais lassen Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler begleitet von Ute Falkenau am Klavier Alfred Henschke mit seinen Texten wieder aufleben. In der Neujahrswoche wird der Apothekersohn aus Crossen an der Oder zu einem heiteren Aufmacher des Jahres und der Weltliteratur. Denn Alfred Henschke schrieb in mehreren Sprachen, forderte Kaiser Wilhelm II. 1917 wegen des Krieges in der Neuen Zürcher Zeitung zur Abdankung auf und veröffentlichte 1923, also vor 100 Jahren den Roman Pjotr – Roman eines Zaren. Mit der Eröffnungssequenz schlägt Klabund eine andere Geschichtsschreibung an: „Pjotr ist geboren. Don, Dnjepr, Wolga, Oka treten über ihre Ufer. Schlamm wälzt sich über die Weizenfelder und viele Menschen ertrinken. Winterblumen neigen gebrochen ihre Häupter. Die Haselmäuse pfeifen vor Angst.“[1]

.

Klabund, auf dessen programmatischen Namen zurückzukommen sein wird, hätte es sich nicht Freude träumen lassen, dass Pjotr im Internet heute als eine PDF der exklusiven Bodleian Libraries der University of Oxford in der 2. Auflage von 1923 allgemein zugänglich ist. Pjotr by Klabund world wide webed. Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler stellen nun Alfred Henschke neben Walter Benjamin u.a. im Rahmen der Berliner Geschichten im Theater im Palais vor. Klabund ist 2023 aus mehreren Gründen aktuell. 1925 veröffentlichte er in seiner Gedichtsammlung Harfenjule im Berliner Verlag Die Schmiede das Gedicht Die heiligen drei Könige, wurde von der NSDAP angezeigt und veröffentlichte im März einen offenen Brief mit dem Titel Gotteslästerung? in Siegfried Jacobsohns Weltbühne: „was dem einen sein Gott, ist dem andern sein Teufel“. Am 14. August 1928 starb er an den Folgen der langjährigen epidemischen, bakteriellen Tuberkulose. Krieg, Epidemie, Fieber und Tod beeinflussten Klabunds Namenswahl und Schreiben. Er war Kriegsgegner und formulierte seine Texte mit scharfem Witz.

.

Der Klabund-Abend mit Musik von Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann und Dimitri Kabalewski (1904-1987) im Palais am Festungsgraben ermöglicht einige Verknüpfungen. Bis 1945 war das Palais Amtssitz des Preußischen Finanzministeriums. Davor hatte es schon die Schuch’sche Theatertruppe beherbergt. 1950 bis 1990 wurde es das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft bzw. Haus der Kultur der Sowjetunion genutzt. Die historische Aufladung des Gebäudes mit seinem anheimelnden Kammertheater mit 99 Sitzplätzen und einzelnen Tischchen zum Abstellen z. B. eines Zsa Zsa Gabor-Vermuth-Cocktails – kriegt man ja auch nicht überall – hätte Klabund ganz bestimmt zu einer humorvollen Geschichte inspiriert. Anno 2023 nach der „Zeitenwende“ wird die kleine Bühne mit den Berliner Geschichten zum Welttheater. Klabund machte Crossen an der Oder beispielsweise mit seinem Grünberger Feldzug zum Schauplatz von Weltgeschichte und mit der Anspielung auf „die geraubte Helena“ zur Weltliteratur. In ca. 1 Stunde und 40 Minuten bringen Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler die welthaltige Literatur von Alfred Henschke dem Publikum nah. Und die hat’s in sich.

.

Pjotr, als eine Art satirischer Geschichtsroman wurde von Klabund im November 1922 im „Hause Buller in Speldorf“ geschrieben, wie es auf der Titelseite des Buches heißt. Seit 1916 hatte Klabund mit Moreau. Roman eines Soldaten und Mohammed. Roman eines Propheten (1917) eine neuartige Form der Geschichtserzählung entwickelt. 1928 erschien in diesem Titelformat noch Borgia. Roman einer Familie zu seinen Lebzeiten. Das Haus Buller in Speldorf lässt sich als Schreibort des Romans nicht verifizieren. Möglicherweise handelte es sich um ein Sanatorium an der Ruhr bei Mühlheim. Denn wie schon Moreau von Klabund 1915 in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke in Davos entstanden sein dürfte, waren die wechselnden Aufenthalts- und Schreiborte Klabunds mit seiner Tuberkuloseerkrankung verbunden. In Davos regte er gar eine „Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen“ zu schreiben an, die das Verhältnis von Isolation, Lesen und Schreiben sowie häufigen Ortswechseln anreißt.
„Man müsste einmal eine Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen schreiben, diese konstitutionelle Krankheit hat die Eigenschaft, die von ihr Befallenen seelisch zu ändern. Sie tragen das Kainsmal der nach innen gewandten Leidenschaft.“[2]

.

Thomas Mann hatte bereits 1913 an seinem Sanatorium-Roman Der Zauberberg zu schreiben begonnen, der erst 1924 erscheinen sollte.[3] Ulrike Moser führt Klabund neben Christian Morgenstern in ihrem Kapitel Das Sanatorium als Lebensform prominent an, als Beispiel für Tuberkulosekranke, die gereist seien „von Sanatorium zu Sanatorium“, „getrieben von der Hoffnung auf Heilung oder zumindest einen kurzen Aufschub“. Klabund habe „immer wieder in Davos“ gekurt, „wo er 1928 mit 37 Jahren an der Schwindsucht“ gestorben sei.[4] Paul Raabe hatte 1990 Texte zu Klabund und Davos zusammengestellt. Raabe ordnet Klabund nicht zuletzt wegen seiner Veröffentlichungen im „expressionistischen Verlag von Erich Reiss“ (in Berlin), in dem auch Moreau und Pjotr erschienen sind, dem Expressionismus zu, um auf dessen „Außenseiterposition (…), die durch seine Krankheit erklärt werden kann“, hinzuweisen.[5]

.

Um 1889 führte der Arzt Karl Turban, der selbst unter der Tuberkulose litt, einen „strengen Kurbetrieb“ mit Liegekuren ein.[6] Die „patentierten Liegestühle()“ werden von Klabund als Schicksal der Schwindsüchtige(n) formuliert: „Sie müssen ruh’n und ruh’n und wieder ruh’n“.[7] Die „langen Liegekuren“ vor allem am Nachmittag führen nicht nur zur „Muße“[8], wie es Raabe nennt, vielmehr wird der regelmäßige Zwang zum Nichtstun Denkprozesse freigesetzt haben, die ihrerseits die literarische Produktion beeinflussten. Eine Art Delirium in der Zeitform des Präsenz, wie es so markant im Pjotr gebraucht wird.
„Die Diener bekreuzen sich.
Sie wispern:
Ein Wolfskind ist geboren, ein Wolfssohn.
Die Brüder eilen, ihn zu begrüßen.
Eine alte Wölfin gelangt bis in den Hof und
jault hungrig nach dem Fenster des ersten
Stockes hinauf. Natalia Naryschkina, die
Zarenmutter, erwacht davon aus dem Schlaf.
Sie hält den Atem an und lauscht.“[9]

.

Im Sanatorium findet das Leben als Ausnahmezustand statt. Erstens werden Tuberkulosekranke abgesondert wegen der Ansteckungsgefahr. Zweitens fliehen sie ins Sanatorium, um nicht sterben zu müssen. – „Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch.“ (Alfred Henschke, 31. Juli 1913)[10] – Und drittens dreht Klabund die isolierende Praxis im nicht ganz so strengen Sanatorium Haus Stolzenfels einfach um. Das soziale Manko, das die Tuberkulose mit sich bringt, sowie die Angst vor Ansteckung und Tod – „Die Haselmäuse pfeifen vor Angst.“ – werden von Alfred Henschke als Klabund in der internationalen Welt von Davos zu Fasching am 1. März 1916 trotzig berlinernd mit einem „Nu jrade!“ umgedreht:
„Es wird dringend ersucht, bereits zum Abendessen im Kostüm zu erscheinen. Nur Damen und Herren, bei denen Tuberkeln nachgewiesen sind, haben Zutritt. Der Infektion sind keine Schranken gesetzt. Schlittelverbot! Es herrscht ein rauher, aber herzlicher Ton. Nu jrade!
I. A. Klabuntata Klabore.“[11] 

.

Auf ebenso spaßhafte wie todernste Weise wird das medizinische Wissen der Tuberkulose von Klabund im „Programm“ vom „Bazillenwalzer“ bis zur „Temperaturpolka“ literarisch transformiert.[12] Das volkstümliche Berlinern mit seinen reichen Verschleifungen und Auslassungen der Konsonanten – „Nu jrade!“ – verwendet Klabund auch, um das angstmachende Wissen zu unterlaufen. Man könnte das Humor oder eine humoristische Kombinatorik von paradoxen Begriffen nennen. Die Diagnose als Verfahren der Benennung einer Krankheit und ihrer Symptome wird durch die Kombinatorik ins Komische bzw. Lächerliche gekehrt. Klabunds frühes „Programm“ zum Fasching in der Welt der Tuberkulose gibt einen Wink auf seine literarischen Verfahren. Sie werden nicht nur gegen die Schrecken der Krankheit verwendet, vielmehr werden damit Wissensformationen angegriffen.
„Allgemeiner Rippenresektionsgesang (Chor.)
Auftreten des Prestidigitateurs »Henri bleu« sowie
der verschiedensten Rasselgeräusche.
(Liege) Sackhüpfen. (I. Preis: ein Thermometer)
Elegabal Nachtschweiss, der Künstler am Trapez
Das Tangofieber im Fiebertango“[13]

.

Das Berlinern wird von Alfred Henschke alias Klabund nicht zuletzt mit dem Gedicht Ich baumle mit de Beene in Harfenjule 1927 zur Sozialkritik eingesetzt. Gabriele Streichhahn singt Ick baumle mit de Beene nach der Komposition von Friedrich Hollaender mit dem Ton und der Gestik mädchenhafter Unschuld. Was zunächst als volkstümliches Kinderlied daherkommt, erweist sich als eine Art Autobiographie der Prostitution und sexuellen Abweichung. Prostitution als soziale Frage ist um 1920 insbesondere in den deutschen Großstädten und beispielsweise bei Magnus Hirschfeld im Institut für Sexualwissenschaften im Tiergarten ein umkämpftes Thema. 1919 hatte Hirschfeld Richard Oswald für den Film Das gelbe Haus/Die Prostitution/Im Sumpf der Großstadt (§ 184 StGB etc.) beraten.[14]

.

Klabund nutzt das Berlinern, um mit mit dem Jargon das Moralwissen der gebildeten Schichten und staatlichen, sittenpolizeilichen Macht zu konterkarieren. Während insbesondere die Katholische Kirche gegen die Prostitution mit ihrem Moralcodex argumentiert und eine erste Abtreibungsdebatte abschmettert, wird von Klabund in Ich baumle mit de Beene das Thema als Problem von ungewünschten Geburten, Bildung, Arbeitslosigkeit und Homosexualität formuliert:
„…
Neulich kommt ein Herr gegangen
Mit ’nem violetten Shawl,
und er hat sich eingehangen,
und es ging nach Jeschkenthal!
Sonntag war’s. Er grinste: „Kleene,
wa, dein Port’menée is leer?“
und ich baumle mit de Beene,
mit de Beene vor mich her.

Vater sitzt zum ’zigsten Male,
wegen „Hm“ in Plötzensee,
und sein Schatz, der schimpft sich Male,
und der Mutter tut’s so weh!
Ja so gut wie der hat’s Keener,
Fressen kriegt er, und noch mehr,
und er baumelt mit de Beene,
mit de Beene vor sich her.

Manchmal in den Vollmondnächten
is mir gar so wunderlich:
ob sie meinen Emil brächten,
weil er auf dem Striche strich!
Früh um dreie krähten Hähne,
und ein Galgen ragt, und er …,
und er baumelt mit de Beene,
mit de Beene vor sich her.“

.

Klabunds Gedichte und Texte müssen genau gelesen und gehört werden. Grammatische Volten im Genus zwischen Feminum und Maskulinum lassen ganz andere als Kinderlieder entstehen. Der Vater muss offenbar in der in Berlin allseits bekannten Justizvollzugsanstalt „Plötzensee“ eine Strafe verbüßen, weil „sein Schatz, der schimpft sich Male“, also männlichen Geschlechts ist, während weiterhin der § 175 Strafgesetzbuch zur mannmännlichen Sexualpraxis gilt. Magnus Hirschfeld hatte mit Richard Oswalds Anders als die Andern 1919 in Berliner Kinos die Folgen des § 175 zwischen Erpressung und Selbstmord thematisiert. Erst 1929 deutete sich eine Gesetzesänderung im Reichstag an. Und auch „mein Emil“ streicht oder treibt sich nicht als Freier, sondern als „Stricher“ auf dem Strich herum. Gabriele Streichhahn präsentiert das Lied mit der intendierten Unschuld auf der Bühne des Theaters im Palais, obwohl das feminine Ich sich ebenso wie die Männer prostituiert. Klabunds Stärke liegt, wie er seinen Namen ab 1916 umschreibt, in der „Wandlung“. Nicht nur der Vagabund und der Klabautermann schwingen in Klabund mit, vielmehr wird die Ruhelosigkeit des Vagabunden für den früh an Tuberkulose Erkrankten auch eine Lebenspraxis im Wechsel der Sanatorien. Er wird ein umherirrender infektiöser Schreckensmann, der sich durch das Schreiben wandelt.

.

Die Mehrdeutigkeit wird zur Signatur der Klabundschen Texte. Gern werden Angst und Schrecken in einer witzigen Wendung überhört oder überlesen. Ein derart lächerlicher Todernst wurde seit je in der deutschen Literatur – und schon bei Goethe im „Nachdenkliche(n) Leichtsinn“ – überlesen. So wird denn auch der Klabund-Abend im TiP vielschichtig und vieldeutig. Ein Augenzwinkern hier, ein Schmunzeln da, weist auf die Vieldeutigkeit des Gelesenen hin. In den 70er Jahren gab es durch die 68er ein kurzes Revival für Klabund. Aber die Klabund-Forschung bleibt dünn, wird durch das Volkstümliche wohl gar ausgebremst. Christian von Zimmermann kommentiert in der Klabund-Ausgabe 1999 Pjotr als „amoralischen Menschentypus, den der Autor ohne eigene moralisierende Parteinahme“ schildere.[15] 2023 liegen die Texte, die u.a. in Sanatorien artistisch schnell geschrieben wurden, weit zurück. Doch gerade die unscheinbaren Kurztexte greifen Themen der Moderne auf. Denn Klabund reagiert beispielsweise mit dem „Gedicht“ Leuchtet Ihre Uhr des Nachts? auf die moderne Reklame für mit Radium versehene Uhren. Die Reklamefrage, „ein gelbes Plakat mit blutroten Buchstaben (springt) in die Augen“, stürzte den Leser wie in E.T.A. Hoffmanns Sandmann die ganze Wahrnehmung ins Chaos.

.

Die Reklamefrage wird von einem in der Münchner Kaufingerstraße flanierenden Ich plötzlich persönlich genommen. Denn sie soll persönlich genommen werden. Die Folgen der Reklamefrage – gleich Millionen Reklamefragen im Internet – stürzen den Leser in eine Krise, bis er eine neue Uhr mit „Radium“ kauft. – „Ich sitze im Keller und sehe des Nachts meine Uhr leuchten. / Manchmal ziehe ich sie auf, damit mein Herz nicht stehen bleibt.“ – En passant werden zugleich nationalistische Identitätssymbole wie das „Eiserne Kreuz“ sowie Kriegssouvenirs und -parolen entwertet.
„Was nützt es, daß ich mich mit Hindenburgseife wasche? Daß ich auf der Matratze „Immer feste druff“ schlafe? Daß ich ein Portemonnaie besitze mit dem Eisernen Kreuz ins Leder gepreßt? Daß auf meinem Taschentuche die Schlacht zwischen Metz und den Vogesen abgebildet ist? Daß ich eine Armbinde trage mit der Inschrift. „Gott strafe England?“ Daß mein Tintenfaß einen 42 cm-Brummer darstellt? Daß der Federhalter, mit dem ich schreibe, aus Patronenhülsen besteht? Daß ich mich jeden Tag mit dem nach einmaligem Gebrauch unfehlbar wirkenden Entlausungsmittel „Mackensen“ entlause?
Was besagt das alles, wenn ich keine Uhr besitze, die des Nachts leuchtet?
Weinend wachte ich den Morgen heran.“[16]

.

Mit seinen sogenannten Gedichten entwickelt Klabund korrespondierend mit dem Roman Pjotr eine neuartige Form aus Erzählung und Sprachautomatik. Eine sozusagen wörtlich genommene Frage kann eine kaskadenförmige Sinnkrise auslösen. Sie funktioniert wie mit dem Reim im „Gedicht“ Ich baumle mit de Beene, in dem „schimpft sich Male“ auf „zum ´zigsten Male“ oder „dem Striche strich“ auf „so wunderlich“ reimt. Die Sprachautomatik des Reimens setzt für den jung verstorbenen, durchaus unbequemen, deutschen Dichter nicht zuletzt eine erstaunliche Produktivität frei. Unbequem war Klabund wegen der nicht nur bakteriellen, sondern der sprachlichen Infektion, die bereits einem zeitgenössischen Kritiker in der Basler Nationalzeitung aufgefallen war. Die kurzen, verdichtenden Sätze mit den widersinnigen Reimen werden als „glühende Raserei“ aufgefasst.
„Ein Mensch tobt in einer glühenden Raserei durch die Welt, stößt sich an ihr von Morgen bis Abend, sprudelt fortwährend besessene Worte, kämpft und ringt mit ihr ohne Unterlaß, lacht doch über sie, kann nicht aufhören sie zu lieben. Das ist Klabund.“[17]

.

Mit dem Berliner Geschichten hat das Theater im Palais gleich neben dem Gorki Theater ein Theaterformat entwickelt, das u.a. Walter Benjamin, Gerhart Hauptmann, Ringelnatz und Alfred Henschke auf ebenso unterhaltende wie kluge Weise ins Interesse rückt. Lockt der Alfred Henschke-Abend mit dem Jargon – Ick baumle mit de Beene –, so stellt sich mit Klabund heraus, das im Berlinern einige Sprengkraft sitzt. Ute Falkenau als musikalische Leiterin erweitert die Lesungen und Lieder mit musikalischen Entdeckungen. Berliner Geschichten können also auch ganz anders funktionieren und z.B. zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Dichter Klabund führen. – Zum Jahresbeginn 2023 erinnert Klabund an die abklingende Covid-18-Pandemie und einen russischen Zaren, vor dem alle Angst haben sollen. Die Funktion der Sprache und der Geschichtserzählungen ist mit dem russischen Angriff auf die Ukraine nur allzu deutlich geworden. Klabund zeigt, wie man folgenreich Geschichten anders erzählt.

Torsten Flüh

Theater im Palais
Am Festungsgraben 1
10117 Berlin
Berliner Geschichten
Alfred Henschke genannt Klabund. Ick baumle mit de Beene.
nächste Vorstellung am 22. Februar 2023 19:30 Uhr  


[1] Klabund: Pjotr. Roman eines Zaren. Berlin: Erich Reiß, 1923. (Digitalisat)

[2] Zitiert nach: Wikipedia: Klabund. (Das Zitat und die Bekanntschaft mit dem ebenfalls tuberkulösen, jungen Dramatiker Hans Kaltneker in Davos werden nicht von Erich Raabe in „Klabund in Davos“ erwähnt. Es handelt sich hier offenbar um ein Zitat aus der Kaltneker-Forschung jüngerer Zeit.)

[3] Zur Tuberkulose-Epidemie und Roman siehe auch: Torsten Flüh: Davoser Sonnenumläufe – Eine Revue 2020. Wie die Kombucha-Brauerei Bouche in den Georg-Knorr-Gewerbepark kam und was das mit Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu tun hat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23.Dezember 2020.
Und: ders.: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[4] Ulrike Moser: Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte. Berlin: Matthes & Seitz, 2018, S.89.

[5] Erich Raabe: Klabund in Davos. Texte Bilder Dokumente. Zürich: Arche Verlag, 1990, S. 7.

[6] Ulrike Moser: Schwindsucht [wie Anm. 4] S. 84.

[7] Erich Raabe: Klabund … [wie Anm. 5] S, 124.

[8] Ebenda S. 16.

[9] Klabund: Pjotr. [wie Anm. 1] S. 5-6.

[10] Zitiert nach Erich Raabe: Klabund … [wie Anm. 5] S. 15.

[11] Ebenda S. 20.

[12] Ebenda S. 23.

[13] Ebenda.

[14] Siehe: Torsten Flüh: Ehre und Erotik verdinglicht. Zur Sonderbriefmarke 150. Geburtstag Magnus Hirschfeld und der Ausstellung Erotik der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN  Juli 22, 2018 17:41.

[15] Christian von Zimmermann: Kommentar. In: Christian von Zimmermann (Hg.): Klabund. Werke in acht Bänden. Band 3. Heidelberg: Elfenbein Verlag, 1999, S. 312.

[16] Zitiert nach: Leselaube: Texte, Gedichte, Märchen, Zitate, Redensarten, Lieder. Klabund (eigtl. Alfred Henschke, 1890-1928) Leuchtet Ihre Uhr des Nachts?

[17] Basler Nationalzeitung zitiert nach Reklame in Klabund: Pjotr … [wie Anm. 1] S. ohne Zahl (168).